Ein Aufruf und ein Gegenaufruf machen deutlich, wie zerrissen die Eliten in Deutschland über ihr Verhältnis zu Russland sind
Der Aufruf klingt, als wäre die alte Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre wieder auferstanden. Damals waren Aufrufe mit allgemein menschlichen Forderungen, auf die sich fast alle einigen konnten, schwer in Mode.
„Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“, konnte eine solche Parole lauten. Sie steht über einen Aufruf [1] von 60 bekannten Politikern, Wirtschaftsvertretern und Prominenten aus der Kultur, der für eine Entspannung im Verhältnis zu Russland eintritt und sich damit auch explizit auf die Entspannungspolitik der sozialdemokratischen Ära bezieht.
Dann wird gleich begründet, warum ausgerechnet Deutschland eine besondere Rolle bei der Entspannung zu Russland spielen solle, weil ohne „eine große, von Vernunft getragene Geste der Siegermächte“ und „ohne das umsichtige Handeln der damaligen Bundesregierung“ die Überwindung der Spaltung Europas nicht möglich gewesen wäre.
Hier wird umstandslos die deutsche Wiedervereinigung mit einem Ende der Spaltung Europas gleichgesetzt. Die längst dokumentierten unterschiedlichen Interessen der verschiedenen europäischen Länder, die von der Kohl-Regierung geschickt ausgespielt wurden, werden zum umsichtigen Handeln verklärt.
Deutsche Wiedervereinigung als Schlüssel für ein friedliches Europa?
Interessant ist, wer den Aufruf unterschrieben hat. Mit der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer, Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, Ex-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin und Ex-Innenminister Otto Schily sind zentrale Exponenten der rot-grünen Ära vertreten. Die CDU stellt den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog und den ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Eberhardt Diepgen.
Natürlich darf auch die Berufschristin Margot Käsmann nicht fehlen. Der Liedermacher Reinhard Mey dürfte auch schon manchen Aufruf der alten Friedensbewegung unterschrieben haben, nicht jedoch Horst Teltschik [2]. Der ehemalige Politikberater in außenpolitischen Fragen war als Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz [3] von 1998 bis 2008 eher ein Antipode der Friedensbewegung.
Insgesamt repräsentiert der Aufruferkreis den Teil der Eliten in der deutschen Bevölkerung, die auf einen Ausgleich mit Russland setzen und eine weitere Konfrontation verhindern wollen. Auch zahlreiche Wirtschaftsleute haben den Aufruf unterschrieben, die schließlich befürchten müssen, dass eine weitere Konfrontation mit Russland ihnen die Geschäfte verdirbt. Der Kreis der Aufrufer sollte wichtige Repräsentanten aus der vielbemühten gesellschaftlichen Mitte umfassen.
Die Linkspartei monierte hinterher, sie sei nicht gefragt worden. So wurde sie eher wider ihren Willen davor bewahrt, unter einem Aufruf aufgeführt zu werden, der die deutsche Wiedervereinigung als Schlüssel zu einem friedlichen Europa interpretiert. Die meisten Verfasser wissen wohl nicht, dass sie damit in der Tradition der deutschnationalen Fraktion der Friedensbewegung in Europa stehen, die sich um den sogenannten Berliner Appell [4] formierte, der bereits in den 1980er Jahren proklamierte, dass die Lösung der deutschen Frage der Schlüssel zum Frieden in Europa sei.
Zertrümmerung des Europas von Jalta bis heute
Der Subtext des Berliner Appells lautete, dass sich Deutschland in West und Ost von den Alliierten gegen den NS befreien und wieder souverän werden soll. Damit sollte die Gesellschaft von Jalta, die nach der Befreiung vom Nationalssozialismus entstanden war, endgültig der Vergangenheit angehören. Dadurch unterschied sich der Berliner Appell von der Mehrheit der Friedensbewegung, die für den Erhalt des Status quo in Europa und eine friedliche Koexistenz zwischen den Gesellschaften und Ost und West eintrat.
Große Teile der Grünen und Alternativen unterstützen den Berliner Appell und die Forderung nach Überwindung der Gesellschaft von Jalta. Sie sehen in der Forderung nach einer Entspannung gegen Russland die Fortsetzung der aus ihrer Sicht verderblichen Politik der Erhaltung des Status quo.
Besonders die Grünen Politikerin Rebecca Harms kritisierte [5] den Aufruf der 60 Prominenten, weil er keine Empathie mit der Bevölkerung in der Ukraine zeige. Damit meinte Harms allerdings die Menschen, die in der Westukraine für eine Annäherung an die EU auf die Straße gingen, einschließlich ihres rechten Sektors. Die Oppositionellen aus der Ostukraine gliederte sie schon mal aus der Bevölkerung der Ukraine aus.
Die Grüne Marie Luise Beck wollte sogar eine Geschichtsvergessenheit erkennen, wenn sich Deutschland und Russland annähern. Beck und Harms sind auch Mitunterzeichnerinnen eines Gegenaufrufs [6] („Friedenssicherung statt Expansionsbelohnung“), der Russland die Verantwortung für die Zuspitzung in der Ukraine zuschreibt.
Zunächst wird den Unterzeichnern des anderen Aufrufs nicht eine andere Position zugestanden, die es argumentativ zu wiederlegen gilt. Sie werden als wenig kompetent und unwissend beschrieben. Im Anschluss legen die Unterzeichner klar, dass sie wissen, wer in Europa der Aggressor ist.
Die beiden Aufrufe werden nicht die Massen erreichen, sie machen aber deutlich, dass man innerhalb der gesellschaftlichen Eliten zur Zeit über die Haltung zu Russland streitet. Dass es dabei nicht um so hehre Ziele wie Demokratie und Menschenrechte geht, dafür aber um so mehr um wirtschaftliche und geldpolitische Interessen, wird in beiden Aufrufen nicht erwähnt.
http://www.heise.de/tp/news/Fuer-Russland-oder-die-Ukraine-2488460.html
Peter Nowak
Links:
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