Wann ist weltweit ein Euro verdient? Eine Ausstellung in Berlin über Ausbeutung und Arbeit
Eine Menschentraube steht vor dem Fabriktor. Es wird heftig gestritten. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die mit großer Dramatik erklärt, dass sie nicht mehr in die Fabrik zurückgeht. Denn die Arbeitsbedingungen dort seien die Hölle. Mehrere Männer, die durch die Kleidung erkennbar keine Fabrikarbeiter sind, reden begütigend auf sie ein. Es sind Mitglieder der französischen Gewerkschaft CGT, die Ende der 1960er Jahre noch eng mit der Kommunistischen Partei Frankreichs verbunden war.
Aus dieser Zeit stammt die Episode, die in dem Film „La reprise du travail aux usines Wonder“ [1] zu sehen ist. Es war der Mai 1968, als nicht nur Studierende, sondern auch viele Lohnabhängige auf die Barrikaden gingen. Die von Filmstudenten gefilmte Szene zeigt den Moment, als die Arbeiter wieder in die Fabrik gehen sollten. Die CGT argumentierte, man habe viele lohnpolitische Zugeständnisse erreicht und man müsse einen Konflikt auch beenden können. Eine Minderheit der Beschäftigten wollte sich aber nicht mit ein Paar Prozenten mehr Lohn zufrieden geben und eine grundlegende Änderung des Systems erstreiken.
Dabei wurden sie von den Studierenden protestierenden unterstützt, die in der CGT und der KPF einen Teil des alten Systems sahen. Der Filmausschnitt wurde berühmt, weil sich fast 20 Jahre später Filmemacher auf der Suche nach der jungen Frau begaben, die so mutig gegen die Wiederaufnahme der Arbeit protestierte. Sie fanden sie nicht, drehten aber einen sehr aufschlussreichen Film [2] über den Arbeiterwiderstand jener Jahre. Die Gespräche mit den Beschäftigten, den Gewerkschaftern in unterschiedlichen Positionen und den damals rebellischen Studierenden liefern einen sehr guten Einblick in die Denkweise der unterschiedlichen Protagonisten und wecken auch Verständnis für die Position der CGT, die längst nicht so angepasst war, wie es manche der frisch zum Maoismus konvertierten Studierenden damals glaubten.
Der 1996 gedrehte Film „Reprise“ hat die Ursprungsszene ebenfalls in der kämpferischen Frau, die wohl eine Unbekannte bleiben wird. Dass wir nun die ursprünglichen Szenen, die 1968 vor den Fabriktoren von Wonder gedreht wurden, sehen können, verdanken wir der Ausstellung „Einstellung zur Arbeit“ [3], die zum Vermächtnis des Filmemachers Haroun Farocki [4] geworden ist, der im letzten Jahr starb. Obwohl der Tod überraschend kam, wussten war Menschen, die ihn näher kannten, klar, dass Farocki schwer krank war, wie sein Freund und Kollege Gerd Conradt [5] in einen posthumen Brief anklingen ließ.
Der Untersuchungsgegenstand ist die Arbeit
Farocki konnte noch das Mammutprojekt „Einstellung zur Arbeit“ beenden, das er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin und Kollegin Antje Ehmann seit 2011 realisierte. In 15 Städten auf allen Kontinenten haben sie Arbeitsvorgänge in Videos aufgenommen, die in der Regel nicht länger als 2 Minuten dauern. Dabei wird von einem weiten Arbeitsbegriff ausgegangen, wie Antja Ehmann betont.
Wer die große Halle des Hauses der Kulturen der Welt betritt, wird schnell sehen, wie vielfältig der Arbeitsbegriff des Künstlerduos ist. Da werden Stalin-Imitatoren in Russland ebenso gezeigt wie Sexarbeiterinnen, Krankenpfleger etc. Natürlich hat auch die klassische fordistische Fabrikarbeit ihren Stellenwert in der Ausstellung. Schließlich ist sie im Weltmaßstab keineswegs am Verschwinden, wie manche kurzschlüssig schlussfolgern, die die Verhältnisse in einigen europäischen Ländern auf die ganze Welt übertragen.
Die unterschiedlichen Einstellungen zur Arbeit sind kurzweilig, aber der Erkenntniswert ist begrenzt. Da wird wieder einmal deutlich, dass man die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft nicht auf den ersten Blick sehen kann und dass sie auch im Video nicht auf Anhieb zu erkennen ist. Den Einstellungen über die Arbeit sieht man nicht an, ob die Tätigkeiten auf Freundschaftsbasis, also ohne Mehrwert und Ausbeutung, verrichtet wurden oder ob etwa die Ausbeutungsverhältnisse besonders hoch sind.
So sind denn auch zwei Installationen am aufschlussreichsten, die nicht im großen Saal des HdKW [6] zu finden sind. Im Foyer finden sich Harun Farockis „Arbeiter verlassen die Fabrik in elf Jahrzehnten“ [7]. Ausgangspunkt ist die berühmte Frequenz der Brüder Lumière aus dem Jahr 1895, wo Arbeiter zu sehen sind, die ihre Arbeitsstelle verlassen [8]. Unter den 11 Ausschnitten sind mit Metropolis und Modern Times zwei Weltklassiker vertreten. Reprise ist ebenso darunter. Die Serie schließt ab mit einer Sequenz von „Dancer in the Dark“ [9], dem sozialkritischen Film von Lars van Trier.
Hauptfigur ist die fast erblindete tschechische Einwanderin Selma, die mit Sonderschichten Geld für die dringend nötige Augenoperation ihres Sohnes erarbeiten will, bestohlen und am Ende wegen Mordes an dem Dieb hingerichtet wird. Vor Gericht wurde Selma als Einwanderin und Kryptokommunistin bezeichnet, was sich strafverschärfend für sie erwies. Selma steht für eine zunehmende Zahl von Lohnabhängigen weltweit, die fern ihrer Heimat ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, besonders rechtlos sind und besonders rigiden Ausbeutungsverhältnissen unterworfen sind.
Vom Wert der Arbeit
Am überzeugendsten aber bringt eine Videoinstallation des britischen Videokünstlers Oliver Walker [10] das internationale Arbeitsregime auf die Leinwand [11]. Auf sechs Videos sind denkbar unterschiedliche Tätigkeiten zu sehen, die auch unterschiedlich entlohnt werden. Die Dauer der Videos richten sich nach der Bezahlung. Sie enden, wenn der Mensch, der diese Tätigkeit verrichtet, 1 Euro verdient.
Beim ersten Video, das eine Managerkonferenz zeigt, ist gerade mal eine Sekunde vergangen. Während ein Bauer in Ägypten dafür mehr als eine Stunde schuften muss. Walker gelingt es tatsächlich, die globale Ausbeutung in seiner Kunst sichtbar zu machen. Dieser Frage hatte sich Haroun Farocki in seinen künstlerischen Positionen seit seinem Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie immer wieder gewidmet.
In einem Gedenkvideo für den verstorbenen Künstler unter dem Titel „Wie soll man das nennen, was ich vermisse“ [12], der vor einigen Wochen im Rahmen der diesjährigen Ausstellung Berlinale Expanded zu sehen war, haben Antje Ehmann und Jan Ralske die Suche nach einer Kunst, die der Befreiung dient, als den roten Faden für Farockis Arbeit dargestellt. Diese Suche setzte ein, als er als junger Student nach den künstlerischen Mitteln suchte, um während des Vietnamkrieges die Folgen der Napalmeinsätze filmisch darzustellen [13].
„Wie können wir ihnen Napalm im Einsatz und Napalmverletzungen zeigen?“, fragt Farocki in dem Kurzfilm „Nicht löschbares Feuer“ [14]: „Wir können ihnen nur eine schwache Vorstellung davon geben, wie Napalm wirkt. Eine Zigarette verbrennt mit etwa 400 Grad, Napalm verbrennt mit etwa 3000 Grad Hitze.“
Gerade heute ist ein solches Werk eine besondere Herausforderung. Es verweist auf eine Zeit, als Bilder von politischen Verbrechen, viele Menschen zu Protest und Widerstand motivierte. Heute verwahren sich Fernsehzuschauer dagegen, dass sie durch die vielen Bilder über von Menschen gemachten Gräuel und Schrecken überall in der Welt beunruhigt werden. Nicht mehr die Verbrechen und ihre Verantwortlichen sowie die politischen Strukturen, die sie möglich machen, sondern die Bilder darüber erregen ihren Widerstand. Die Fragen, die sich Farocki und viele andere Künstler stellten, sind also heute aktueller denn je.
http://www.heise.de/tp/news/Was-ist-Arbeit-wert-2570733.html
Peter Nowak
Links:
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