„Anlass für Verfolgung“

Antiziganistisches Ressentiment und das Stereotyp der Kindesentführung. Interview mit Markus End

KONKRET: Ende Oktober führte die (falsche) Behauptung griechische Roma hätten ein blondes Mädchen entführt, in verschiedenen europäischen Ländern zu Polizeimaßnahmen. Auch in Irland wurde einer Familie von Roma ein blondes Mädchen weggenommen. Erst nach mehreren Tagen wurde das Kind wieder zu seinen Eltern gelassen. Erleben wir gegenwärtig die Renaissance eines klassisch gewordenen rassistischen Motivs?

Markus End: Das antiziganistische Motiv des Kindesraubs ist jahrhundertealt. Es geht ursprünglich auf eine Novelle des spanischen Schriftstellers Miguel de Cervantes zurück. Spätere literarische Werke, aber auch »wissenschaftliche« Publikationen, die »Zigeunern« Kindesentführungen zuschreiben, lassen sich auf diese Quelle zurückführen.

Zum Volksmythos wurde die Mär vom »zigeunerischen« Kindesraub wohl erst im 18. und 19. Jahrhundert. Seither diente sie immer wieder zum Anlaß für Verfolgungen. Als beispielsweise 1872 die Tochter eines Domänenpächters in Stettin verschwunden war, wurden polizeiliche Kontrollen von Sinti und Roma in ganz Preußen durchgeführt.

Warum tauchen diese Mythen im 21. Jahrhundert erneut auf ?

Es muß eher festgehalten werden, daß das Stereotyp vom Kindesraub nie verschwunden, sondern latent immer vorhanden war. So behauptete 2008 eine italienische Nicht-Romni in Neapel, eine Romni habe versucht, ihr Kind zu stehlen. Dies nahm die Nachbarschaft zum Anlaß, ein anliegendes campo nomadi mit Molotowcocktails und Eisenstangen anzugreifen.

Seit mehreren Monaten hält sich in verschiedenen deutschen Städten und auf Facebook die Legende, Roma würden bei H & M oder Primark kleine Kinder in die Umkleidekabinen ziehen, sie dort umkleiden, ihnen die Haare färben und sie dann entführen.

Zeigen die Nachrichten der letzten Wochen also eine europäische Normalität?

Was die Virulenz des Stereotyps vom Kindesraub betrifft, würde ich die Frage bejahen. Aber daß Medien und Öffentlichkeit weltweit unkritisch auf diesen Vorwurf Bezug nehmen, immer explizit mit Bezug auf das »Roma-sein« der Tatverdächtigen, das ist schon ein Novum.

Auf einer Pressekonferenz in Berlin beklagte der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, das Schweigen der Politiker in dieser Angelegenheit. Gibt es keine Unterstützung für die diskriminierte Minderheit von offizieller Seite?

Rose hat recht. Mir ist in diesem konkreten Fall keine Äußerung von Personen des öffentlichen Lebens bekannt, die die mediale Behandlung dieses Vorgangs, während sie geschah, kritisiert hätten. Gleichzeitig wäre eine solche Behandlung heute gegenüber keiner anderen Minderheit in Europa denkbar.

Die Haar- und Augenfarbe spieltem in der Berichterstattung eine große Rolle. Wie erklärt sich dieser Rückfall in den Old-School-Rassismus, wo doch seit Jahren selbst in rechten Kreisen der kulturelle Rassismus dominiert?

Es könnte sein, daß es sich hier um die Folge eines antirassistischen Impetus handelt. Daß aus der »Rasse« auf das Verhalten geschlossen wird, ist – mit Recht – in die Kritik geraten und verpönt. Dies hat dazu geführt, daß Darstellungen, die Andersheit rein »phänotypisch«, aber ohne Rückschluß auf Verhalten inszenieren, heute harmloser erscheinen. Wenn in staatlichen Publikationen Roma dargestellt werden sollen, werden sie gegenwärtig verstärkt wieder mit ethnischen Zuschreibungen identifiziert. In eine solche Publikation hätte ein Foto der vermeintlich entführten Maria auch keinen Eingang gefunden.

So ist also ein fehlgeleiteter Antirassismus dafür verantwortlich, daß Eltern ihre Kinder weggenommen werden?

In dieser Form würde ich den Satz nicht unterschreiben. Ich will das mal an dem Beispiel aus Irland verdeutlichen. Dort riefen Nachbarn und Nachbarinnen die Polizei, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß eine Roma-Familie ein blondes Kind haben kann. Auch für die Polizei paßte das nicht. Hier stand die vermeintliche ethnische Differenz im Vordergrund, das Stereotyp lieferte lediglich eine unterstützende Erklärung. Wäre das Kind nicht blond gewesen, hätte die Polizei ja nicht auf Basis des Stereotyps einfach DNA-Tests aller Kinder der Familie durchgeführt. Darin liegt die Differenz zwischen der konkreten Praxis und der medialen Debatte. In dieser Debatte stand der Vorwurf des »Kindesraubs« im Vordergrund. Die blonden Haare fungierten lediglich als Bestätigung.

Hat der Rassismus gegen Sinti und Roma in der letzten Zeit insgesamt zugenommen, oder ist lediglich die mediale Aufmerksamkeit gewachsen?

Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten kam es zu einer Renationalisierung und -ethnisierung des Politischen. Gleichzeitig verschlechterte sich die ökonomische und soziale Situation sehr vieler Roma in diesen Staaten dramatisch, weil sie aufgrund bestehender Diskriminierung tendenziell stärker vom Zusammenbruch ganzer Industriezweige betroffen waren. In dieser Zeit haben Angriffe auf Roma und antiziganistische Diskurse in fast allen Ländern Europas stark zugenommen. Diese massive Ausprägung hat der Antiziganismus in Europa bis heute mehr oder weniger beibehalten. Daß darüber in der letzten Zeit verstärkt berichtet wird, ist einer gewachsenen medialen Aufmerksamkeit in Deutschland geschuldet.

Womit ist diese gewachsene Medienaufmerksamkeit zu erklären?

Vor allem in Deutschland ist sie die Folge einer Wahrnehmung von politischen Entwicklungen in verschiedenen EU-Ländern. Hinzu kommt, daß sich auch im Wissenschaftsbereich das Thema »Antiziganismus« als Forschungsgegenstand zu etablieren beginnt. Seit dem letzten Jahr hat die Beschäftigung mit Antiziganismus vor dem Hintergrund der sogenannten Armutsflüchtlinge noch einmal zugenommen.

Während verschiedene EU-Länder in der deutschen Medienberichterstattung im Fokus stehen, scheint der deutsche Antiziganismus für die Medien kaum eine Rolle zu spielen.

Dieser Eindruck ist richtig. In den deutschen Medien wird vor allem über Antiziganismus in anderen Ländern berichtet. Daß auch in Deutschland Menschen bei antiziganistischen Angriffen verletzt werden, daß Wohnhäuser von Sinti oder Roma angezündet wurden, daß auch in Deutschland eine weitverbreitete Alltagsdiskriminierung mit schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen besteht, sorgt in den Medien hingegen selten für Schlagzeilen. Romani Rose sagte in der Pressekonferenz am 5. November, daß Roma und Sinti sich in Deutschland tagtäglich verstecken müssen – dies sei »der schlimmste Vorwurf, den man nach Auschwitz an diese Gesellschaft richten kann«.

Halten Sie die Vergleiche mit dem Antisemitismus für berechtigt?

Es bleibt wichtig, Gemeinsamkeiten wie Unterschiede herauszuarbeiten. Bezüglich des Kinderraubmotivs sehe ich zentrale Unterschiede zum Ritualmordmotiv im Antisemitismus, insbesondere in der religiösen Komponente. Eine wichtige Gemeinsamkeit besteht allerdings darin, daß, so wie der Antisemitismus nichts über Jüdinnen und Juden aber viel über die Antisemiten aussagt, auch der Antiziganismus nichts mit dem Verhalten der als »Zigeuner« klassifizierten Menschen zu tun hat.

http://www.konkret-magazin.de/hefte/aktuelles-heft/articles/anlass-fuer-verfolgung.html

aus:  Konkret 12/2013

Interview: Peter Nowak –

Zu blond für ein Romakind?

Eine neue Hetzkampagne gegen Roma in verschiedenen europäischen Ländern macht deutlich, wie schnell gegen eine gesellschaftliche Minderheit eine Hetzkampagne losgetreten werden kann

Der Anlass war eine Razzia in einem griechischen Roma-Lager, bei der der Polizei ein blondes Mädchen auffiel. Weil es nach dem Äußeren nicht zum Bild eines Romakindes passte, wurde es von der Polizei einem Heim übergeben. Nachdem ein DNA-Test deutlich gemacht hatte, dass die Romafamilie, bei der das Kind aufwuchs, nicht die Eltern des Mädchens waren, begannen wilde Spekulationen, die Roma hätten das Kind entführt.

Die Bildzeitung machte vor einigen Tagen mit der Schlagzeile auf: „Polizei rettet Mädchen vor Gypsi-Bande“. Differenzierter las sich ein Bericht über die Angelegenheit im Spiegel. Nicht nur in der Überschrift wurde von einer mutmaßlichen Entführung gesprochen. Im Text kam auch die Anwältin der Romafamilie zu Wort:

„Die Anwältin des Paares, Marietta Palavra, erklärte, die Familie habe das Kind aus einem Heim zu sich geholt, als es erst wenige Tage alt war. Dort sei es von einem ausländischen Fremden abgegeben worden, der gesagt haben soll, dass er den Säugling nicht weiterversorgen könne. Nur weil die verdächtige Frau falsche Papiere vorgelegt hätte, mache sie das noch nicht zu einer Kidnapperin, sagte Palavra. „Das Paar hat das Mädchen geliebt, als sei es sein eigenes Kind.“ Das Mädchen war in Athen registriert; die angeblichen Eltern hatten von den Behörden in der griechischen Hauptstadt eine Geburtsurkunde für das Kind erhalten.“ Die griechische Polizei wies auf unklare Angaben des Paares hin.

Wenige Tage später zeigte sich, dass die Mär über ein von Roma entführtes Kind eine rassistische Projektion gewesen sind: „Die leiblichen Eltern des bei einem Roma-Paar in Griechenland entdeckten blonden Mädchens Maria sind gefunden. DNA-Tests hätten bestätigt, dass ein am Donnerstag befragtes bulgarisches Roma-Paar Maria gezeugt habe, sagte der Stabschef des bulgarischen Innenministeriums, Swetlosar Lasarow, am Freitag in Sofia. Die griechische Polizei meldete derweil die Festnahme eines weiteren Paares, das widerrechtlich ein Roma-Baby erworben haben soll.

Bei den Eltern von Maria handelt es sich nach Behördenangaben um Sascha Rusewa und ihren Mann Atanas Rusew. Am Donnerstag waren beiden in der zentralbulgarischen Stadt Gurkowo von der Polizei befragt worden. Rusewa soll in der Befragung angegeben haben, vor einigen Jahren ihre sieben Monate alte Tochter bei ihren damaligen Arbeitgebern in Griechenland zurückgelassen zu haben. Nach eigenen Angaben handelte sie aus schierer Not und mangels gültiger Papiere und wollte ihr Kind eines Tages zurückholen.“

So wird klar, dass hier nicht ein Kind von einer „Gypsi-Familie“ gerettet wurde, sondern vielmehr ihren Pflegeeltern brutal entrissen und an die Öffentlichkeit gezerrt worden ist. Es mag wohl sein, dass bei der Unterbringung des Kindes manche Regel des Adoptionsrechtes verletzt wurde. Doch in einer Gesellschaft, die es zulässt, dass Romamütter aus blanker Not ihr Kind zurücklassen, hat wohl kaum ein Recht, auf irgendwelche Formalien in dieser Richtung zu bestehen. Wenn Verhältnisse geschaffen würden, in denen auch Sinti und Roma ein menschenwürdiges Auskommen hätten, wäre schon viel gewonnen.

Wenn vom Aussehen auf die Herkunft geschlossen wird

Dass nun aber ausgerechnet die Pflegeeltern, die das Kind wohl ohne staatliche Unterstützung aufgenommen haben, als Kindesentführer an den Pranger gestellt werden, ist eine Infamie, die nur auf einen Boden gedeihen kann, wo Roma sowie jedes Verbrechen zugetraut wird . Zumal wird nicht nur bei der griechischen Polizei, sondern auch in vielen deutschen Medien davon ausgegangen, dass Roma keine blonden Kinder haben können. Diese Annahme ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar, im konkreten Fall einfach falsch, denn die Eltern waren Roma. Die Grundlage dieser Behauptung ist ein Rassismus, der aus dem Aussehen auf die Herkunft der Menschen schließen will.

Diese Weltsicht teilt die griechische Polizei mit vielen Rechtsaußengruppen in unterschiedlichen Ländern. So führte die falsche Behauptung vom blonden entführten Mädchen zu rassistischen Angriffen auf Roma in verschiedenen europäischen Ländern. Im serbischen Novi Sad versuchten Rechte einen Roma-Vater sein Kind auf offener Straße wegzunehmen, weil es nach ihrem rassistischen Weltbild zu blond war.

In Irland hatte die Polizei nach einer anonymen Denunziation zwei Romakinder vorübergehend ihren Familien entrissen und in Heime eingeliefert, weil sie für deren Rassenvorstellungen zu blond waren. In beiden Fällen konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass die von den Romaeltern vorgelegten Papiere authentisch waren. Es fragt sich aber, ob hier nur von einer Blamage der Polizei und nicht von manifestem staatlichen Rassismus gerettet werden muss.

Uraltes antiziganistisches Klischee

Der in Berlin lehrende Politologe Markus End schrieb bereits im Jahr 2011 in der Publikation „Aus Politik und Zeitgeschehen“ einen Aufsatz unter dem Titel „Bilder und Struktur des Antiziganismus“. Dort heißt es: „Die meisten deutschen Angehörigen wachsen mit solchen Vorurteilen über „Zigeuner“ auf, ohne, dass sie jemals eine/n Angehörige/n der Minderheit de Sinti und Roma kennengelernt haben. Viele dieser Vorurteile sind negativer Art, beispielsweise das Gerücht, „Zigeuner“ würden Kinder stehlen“.

End ist Mitherausgeber zweier im Unrast-Verlag erschienenen Bücher, die die antiziganistischen Zustände detailliert untersuchen. Zudem hat er in einer Studie die Forschungsansätze zum Antiziganismus und seiner Gegenstrategien vorgestellt.

Schon vor mehr 200 Jahren durchschaute der Aufklärer Jakob Grellmann das Klischee vom kinderklauenden Roma: „Mehrere Schriftsteller reden von Menschenraub der Zigeuner und beschuldigen sie, dass sie besonders Kindern nachstellen.“ Für Grellmann war bereits 1783 die Wahrheit jener Beschuldigung „durch den Umstand äußerst verdächtig, dass lange zuvor, ehe noch ein Zigeuner europäischen Boden betreten hatte, die Juden damit verschrien wurden“.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/155228

Peter Nowak

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