Wir sind die Zukunft« lautete das Motto einer Konferenz, zu der sich in Berlin mehrere Hundert junge Rom*nja und Sinti*zze (geschlechtergerechte Schreibweise für Sinti und Roma) getroffen haben. Unterstützt wurde diese von der Organisation Amaro Drom, die es sich zum Ziel gesetzt hat, jungen Roma und Sinti zu politischer und gesellschaftlicher Aktivität zu ermutigen. Am Samstagabend diskutierten die Teilnehmenden mit der….
„Antiziganismus austreiben“ weiterlesenSchlagwort: Antiziganismus
Antiziganismus im System
Diskriminierungen von Roma und Sinti sind auch an Berliner Behörden an der Tagesordnung
Vor wenigen Tagen ist eine Dokumentation antiziganistischer Vorfälle in Berlin im Jahr 2015 [1] ins Netz gestellt worden. Die wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung mit „dem weitverbreiteten und tief verwurzelten Ressentiment“, wie der Sozialwissenschaftler Markus End den Antiziganismus bezeichnet [2], hat erst vor wenigen Jahren begonnen.
Mit der Dokumentation wird deutlich, dass Positionen, wie man sie bei Pegida und der AfD vermutet, wenn es um Roma und Sinti geht, ganz selbstverständlich auch in Ämtern, in sogenannten seriösen Medien und von vielen Politikern verbreitet werden.
Bereits seit 2014 dokumentiert die Organisation von Romajugendlichen Amaro Foro e.V. [3], unterstützt von der Berliner Landesstelle für Gleichbehandlung gegen Diskriminierung [4] antiziganistische Vorfälle. Auf den ersten Seiten der Dokumentation werden die gesetzlichen und administrativen Rahmenbedingungen skizziert, die die Lebensbedingungen von Sinti und Roma in Deutschland massiv erschweren und so die Grundlagen für den Antiziganismus geben.
Dazu gehörten die behördlichen Anstrengungen [5], bestimmte EU-Bürger von sozialen Leistungen auszuschließen, was mit einem angeblichen Missbrauch der sozialen Sicherungssysteme begründet wurde. Dieser Vorwurf traf Roma aus Osteuropa besonders. Auch die Ausweitung der angeblich sicheren Herkunftsstaaten auf die Westbalkanländer hat zu einer Zunahme der Abschiebungen geführt. Dagegen richteten sich seit Monaten Proteste der Menschen, die von der Abschiebung betroffen sind, und eines kleineren Unterstützernetzwerkes.
„Ich will mit Zigeunern nichts zu tun haben“
Der Fokus liegt auf Diskriminierungen durch Ämter und Behörden. Mit stigmatisierenden und oft sachlich falschen Begründungen werden den Menschen soziale Leistungen, die ihnen zustehen, verweigert.
So wurde einer Familie aus Rumänien der Antrag auf Betreuungsgeld mit der Begründung abgelehnt, dass eine „dauerhafte Freizügigkeitsberechtigung“ nicht nachgewiesen wurde. „Dabei ist die Auslegung des Freizügigkeitsgesetzes offensichtlich falsch“, lautet der Kommentar von Amaro Foro. Die Organisation vermittelt Betroffenen auch Kontakte zu Rechtsanwälten. Viele Klagen gegen solche Behördenablehnungen wurden gewonnen.
Dass selbst juristische Erfolge ignoriert werden, zeigt der dokumentierte Fall einer Rumänin mit zwei minderjährigen Kindern. Sie hat vor dem Oberverwaltungsgericht erfolgreich eine Unterkunft eingeklagt. Trotzdem war die Frau mit den beiden Kindern weiterhin mehrere Tage obdachlos, weil eine Mitarbeiterin der zuständigen Sozialen Wohnungshilfe ihr falsche Auskünfte gab.
Die Ablehnungen durch die Behörden scheinen System zu haben, wie die dokumentierten Fallbeispiele zeigen. Selten wird der Antiziganismus so offen formuliert, wie von der Sachbearbeiterin eines Jobcenters, die einer serbischen Familie, die Leistungen nach SGB II beantragen wollte, entgegnete: „Ich will deine Unterlagen nicht sehen. Ich will mit Zigeunern nichts zu tun haben.“ Eine Polizistin wiederum äußerte bei der Aufnahme einer Verlustmeldung für ein Fahrrad, als sie die Adresse hörte: „Die Straße ist bekannt für die Rumänen, weshalb Sie sich fernhalten sollten.“
Stigmatisierende Berichterstattung
Dass solche Äußerungen nicht auf einer Pegida-Demo, sondern in unterschiedlichen Behörden zu hören sind, liegt auch in der Verantwortung von Medien, die sich durchaus im Kampf gegen Rechts profilieren können, aber einige Seiten weiter Artikel veröffentlichen, in denen ein antiziganistisches Klischee an das andere gesetzt wird.
Die Dokumentation endet mit einem ausführlichen Medienmonitoring. Dazu werden 17 Artikel aus taz, BZ, Berliner Morgenpost, Berliner Tagesspiegel, Spiegel-Online und Welt untersucht, die im letzten Jahr über die Grunewaldstraße 87 berichteten. In dem Haus in Berlin-Schöneberg lebten zeitweise zahlreiche Roma aus Osteuropa in beengten Verhältnissen bei hoher Miete.
Doch nicht die schlechten Wohnverhältnisse und die überhöhte Miete waren das Thema der analysierten Medien. Den Mietern selbst wurde die Schuld dafür gegeben, was in der häufigen Verwendung der Metapher vom Schöneberger „Horrorhaus“ [6] deutlich wird.
Es wird nicht über EU-Bürger berichtet, deren prekäre Lebenssituation von skrupellosen Hauseigentümern ausgenutzt wird. Die Mieter werden vielmehr an den Pranger gestellt und mit stigmatisierenden Äußerungen versehen, die in der Dokumentation hervorgehoben werden. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn auch einige der wenigen Presseberichte mit in die Dokumentation aufgenommen worden wären, die keine antiziganistischen Ressentiments bedienten und die betroffenen Mieter und ihre Rechte verteidigten.
Wie von Abschiebung bedrohte Roma vom Denkmal geräumt wurden, das an die Verfolgung ihrer Vorfahren erinnern soll
Es ist auch eine Folge des antiziganistischen Ressentiments in weiten Teilen der Gesellschaft, dass die Abschiebungen von Sinti und Roma bundesweit nur wenige Proteste [7] hervorrufen. Als am 22. Mai von Abschiebung bedrohte Roma das Denkmal [8] besetzten [9], das an die Opfer ihrer Vorfahren im NS erinnern soll und erst nach langen Kämpfen der Angehörigen fertiggestellt wurde, erfolgte die Räumung nach wenigen Stunden.
Pro Asyl schrieb [10] zur Denkmalseröffnung im Jahr 2012: „Wer ein Denkmal errichtet, muss sich auch mit dem aktuellen Rassismus gegen Roma auseinandersetzen und sich seiner historischen Verantwortung stellen.“ Der Umgang mit den Denkmalsbesetzern zeigte, dass diese Forderung heute noch aktuell ist. Die Dokumentation vom Amaro Foro könnte eine gute Grundlage für eine solche Auseinandersetzung sein und zumindest dafür sorgen, dass Behördenvertreter nicht ganz unbefangen Äußerungen von sich geben, die eigentlich nur bei Pegida und Co. erwartet werden.
http://www.heise.de/tp/news/Antiziganismus-im-System-3227242.html
Peter Nowak
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Müssen Geflüchtete hilflos und schutzsuchend sein?
Wie der Diskurs der Willkommenskultur die Errungenschaften der Refugeekämpfe der letzten Jahre verdrängt hat
„Ich, Shani Haliti, war schon im Kosovo und in Serbien Aktivist in Rroma-Organisationen. Jetzt bin ich seit 2 Jahren Aktivist bei Roma Thüringen. Ich trete dafür ein, dass Rroma und Rromnja sich gegenseitig unterstützen und einen gemeinsamen Kampf für ihre Rechte führen.“
Dies steht in einem Offenen Brief [1] eines Mannes, der täglich mit seiner Abschiebung rechnen muss. Seit mittlerweile fast alle Balkanländer von der Bundesregierung zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden, läuft bundesweit eine Abschiebewelle gegen Roma.
Zur Kenntnis genommen wurde sie schon zu Zeiten, als in Deutschland der offizielle Diskurs noch auf Willkommenskultur stand. Schon damals wurden Migranten vom Balkan der Vorwurf gemacht, sie würden die Plätze für wirklich „Hilfebedürftige“ nicht freigeben. Dabei hätten sie sowieso keine Chance, in Deutschland bleiben zu können. So wurde eine Konkurrenzsituation zwischen Geflüchteten hergestellt. Dabei brauchte man den Antiziganismus [2] gar nicht direkt benennen, der immer auch mehr oder weniger verdeckt gegen Roma in Anschlag gebracht wird.
Wenn nun Appelle von Roma, denen die Abschiebung droht, in der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert werden, ist das eine Fortsetzung dieser Ignoranz.
An die geschichtliche Verantwortung Deutschlands erinnert
Schon Anfang Februar hat Mena, eine in Thüringen lebende Roma-Aktivistin, einen Offenen Brief [3] an Politik und Öffentlichkeit verfasst, in dem sie auch an die geschichtliche Verantwortung Deutschland erinnert:
„Wir alle wissen auch, wie viele Menschen hier in Deutschland verschleppt, gefoltert, ermordet und verbrannt wurden; ihr habt versucht, uns zu vernichten. Allein deswegen haben wir hier auf Deutschland Anspruch. In der NS-Zeit habt ihr uns in ganz Europa, darüber hinaus und auch im Balkan gejagt, um uns umzubringen. Allein deswegen haben wir haben ein Recht darauf, hier zu sein.“
Solche Töne kommen selbst bei manchen der Menschen nicht gut an, die sich irgendwo zur Willkommenskultur bekennen. Dabei ist schon die Wortwahl bezeichnend: So wird vor allem in Medien, die sich zur Willkommenskultur bekennen, von den Geflüchteten häufig als hilflosen oder schutzsuchenden Menschen gesprochen.
Diese Charakterisierung trifft für Menschen zu, die unmittelbar aus Katastrophengebieten fliehen wie aktuell aus der Gegend um die umkämpfte Stadt Aleppo, aber auch auf Menschen, die auf der Flucht vor Naturkatastrophen aller Art ihre Wohnorte verlassen. Ein Großteil dieser Menschen kehrt sofort wieder in ihre Wohngebiete zurück, wenn die unmittelbare Gefahr vorüber ist. Das gilt auch für die syrischen Oppositionellen, die mit Folter und sogar mit dem Tod bedroht sind – sowohl von der Regierung, aber auch den verschiedenen islamistischen Warlords. Nach einer Umfrage von Adopt the Revolution [4] wollen viele von ihnen nach Syrien zurückkehren, wenn die unmittelbare Gefahr vorbei ist.
Ein großer Teil von denjenigen, die aktuell nach Deutschland migrieren, fliehen aber nicht vor einer Gefahr um Leib und Leben. Sie suchen ein besseres Leben in Deutschland, weil sie keine Hoffnung mehr haben, dass sich in den Ländern, aus denen sie kommen, zu ihren Lebenszeiten etwas zum Besseren ändert. Sie sind es leid, für sich und ihre Kinder ein Leben in ständiger existentieller Not verbringen zu müssen. Das ist ein legitimes Interesse, nur ist auch den größten Verteidigern der Willkommenskultur klar, dass sie dafür in der deutschen Öffentlichkeit wenig bis kein Verständnis finden werden.
Dann ist es einfacher, das Bild von den schutzsuchenden, hilflosen Menschen zu verbreiten. Das weckt Beschützerinstinkte. Doch eine solche Sichtweise blendet die „Autonomie der Migration“ aus, die schließlich für die zeitweilig offenen Grenzen verantwortlich ist. In der öffentlichen Diskussion wird dafür Bundeskanzlerin Merkel entweder gelobt oder verdammt. Doch die eigentlichen Akteure, auf die Merkel reagierte, werden so ausgeblendet und eben zu hilflosen Menschen erklärt.
Schutzbedürftig sind die meisten Migranten in der Tat, aber oft werden sie durch die Umstände der Flucht in diese Situation gebracht. Gäbe es sichere Transitwege für die Menschen, müssten sie nicht die lebensgefährlichen Fluchtrouten wählen. Diese Forderung wird von antirassistischen Initiativen schon lange vor dem Diskurs über die Willkommenskultur geführt, hat aber in der politischen Debatte nie eine große Rolle gespielt.
Es müssen schon Diktatoren sein, die auch in der deutschen Politik angezählt sind, damit Geflüchtete eine zumindest zeitweilige Bleibeoption in Deutschland erhoffen können. Kurden aus der Osttürkei fallen ebenso wenig darunter wie Roma vom Balkan. Schließlich hat man in der Politik keine Mühe gescheut, die Zahl sicheren Herkunftsländer zu vergrößern. Schon gar nicht dürfen Migranten erklären, dass für sie die Umstände der Flucht die größte Gefahr waren.
Wenn Geflüchtete Rechte einfordern
Das würde bei der Mehrheit der Parteien und Medien nicht dazu führen, dass sichere Fluchtwege gefordert werden, sondern mehr Abschiebung: Denn Schutzbedürftige haben dankbar zu sein und keineswegs Forderungen zu stellen oder sich auf Rechte zu berufen, schon gar nicht mit Verweis auf die deutsche Vergangenheit. Deswegen wird der Offene Brief der Romaaktivistin Mena in der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert. Diese Erfahrung mussten bereits Flüchtlingsaktivisten machen, die mit den Slogan demonstrierten [5]: „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört.“
Vom 20. bis 22. August 2015 organisierten Refugees gemeinsam mit Antimilitarismusgruppen die Bodenseeaktionstage [6] gegen Waffenexporte. Der Aufruf [7] war ausdrücklich „in Solidarität mit Menschen, die vor Krieg und Gewalt geflohen sind“ verfasst. Hier traten Migranten nicht als Schutzsuchende, sondern als politische Akteure auf, was weitgehend ignoriert wurde.
Flüchtlingsselbstorganisationen wie The Voice [8] kämpfen seit Jahrzehnten um Rechte für Geflüchtete. In dieser Tradition standen auch die Refugeekämpfe der letzten Jahre. Deswegen waren der Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg [9] und die besetzte Schule [10] im gleichen Stadtteil für die Migranten solche wichtige Orte.
Der Diskurs der Willkommenskultur hat die Erfolge dieser Kämpfe wieder in den Hintergrund gedrängt. Aus Refugees, die um ihre Rechte kämpfen, wurden im medialen Diskurs wieder Schutzsuchende und Hilflose. Die Briefe der Roma-Aktivisten aus Thüringen stehen in der Tradition der Refugeekämpfe, die Rechte einfordern und keine Gnade wollen.
http://www.heise.de/tp/news/Muessen-Gefluechtete-hilflos-und-schutzsuchend-sein-3102537.html
Peter Nowak
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Zu blond für ein Romakind?
Eine neue Hetzkampagne gegen Roma in verschiedenen europäischen Ländern macht deutlich, wie schnell gegen eine gesellschaftliche Minderheit eine Hetzkampagne losgetreten werden kann
Der Anlass war eine Razzia in einem griechischen Roma-Lager, bei der der Polizei ein blondes Mädchen auffiel. Weil es nach dem Äußeren nicht zum Bild eines Romakindes passte, wurde es von der Polizei einem Heim übergeben. Nachdem ein DNA-Test deutlich gemacht hatte, dass die Romafamilie, bei der das Kind aufwuchs, nicht die Eltern des Mädchens waren, begannen wilde Spekulationen, die Roma hätten das Kind entführt.
Die Bildzeitung machte vor einigen Tagen mit der Schlagzeile auf: „Polizei rettet Mädchen vor Gypsi-Bande“. Differenzierter las sich ein Bericht über die Angelegenheit im Spiegel. Nicht nur in der Überschrift wurde von einer mutmaßlichen Entführung gesprochen. Im Text kam auch die Anwältin der Romafamilie zu Wort:
„Die Anwältin des Paares, Marietta Palavra, erklärte, die Familie habe das Kind aus einem Heim zu sich geholt, als es erst wenige Tage alt war. Dort sei es von einem ausländischen Fremden abgegeben worden, der gesagt haben soll, dass er den Säugling nicht weiterversorgen könne. Nur weil die verdächtige Frau falsche Papiere vorgelegt hätte, mache sie das noch nicht zu einer Kidnapperin, sagte Palavra. „Das Paar hat das Mädchen geliebt, als sei es sein eigenes Kind.“ Das Mädchen war in Athen registriert; die angeblichen Eltern hatten von den Behörden in der griechischen Hauptstadt eine Geburtsurkunde für das Kind erhalten.“ Die griechische Polizei wies auf unklare Angaben des Paares hin.
Wenige Tage später zeigte sich, dass die Mär über ein von Roma entführtes Kind eine rassistische Projektion gewesen sind: „Die leiblichen Eltern des bei einem Roma-Paar in Griechenland entdeckten blonden Mädchens Maria sind gefunden. DNA-Tests hätten bestätigt, dass ein am Donnerstag befragtes bulgarisches Roma-Paar Maria gezeugt habe, sagte der Stabschef des bulgarischen Innenministeriums, Swetlosar Lasarow, am Freitag in Sofia. Die griechische Polizei meldete derweil die Festnahme eines weiteren Paares, das widerrechtlich ein Roma-Baby erworben haben soll.
Bei den Eltern von Maria handelt es sich nach Behördenangaben um Sascha Rusewa und ihren Mann Atanas Rusew. Am Donnerstag waren beiden in der zentralbulgarischen Stadt Gurkowo von der Polizei befragt worden. Rusewa soll in der Befragung angegeben haben, vor einigen Jahren ihre sieben Monate alte Tochter bei ihren damaligen Arbeitgebern in Griechenland zurückgelassen zu haben. Nach eigenen Angaben handelte sie aus schierer Not und mangels gültiger Papiere und wollte ihr Kind eines Tages zurückholen.“
So wird klar, dass hier nicht ein Kind von einer „Gypsi-Familie“ gerettet wurde, sondern vielmehr ihren Pflegeeltern brutal entrissen und an die Öffentlichkeit gezerrt worden ist. Es mag wohl sein, dass bei der Unterbringung des Kindes manche Regel des Adoptionsrechtes verletzt wurde. Doch in einer Gesellschaft, die es zulässt, dass Romamütter aus blanker Not ihr Kind zurücklassen, hat wohl kaum ein Recht, auf irgendwelche Formalien in dieser Richtung zu bestehen. Wenn Verhältnisse geschaffen würden, in denen auch Sinti und Roma ein menschenwürdiges Auskommen hätten, wäre schon viel gewonnen.
Wenn vom Aussehen auf die Herkunft geschlossen wird
Dass nun aber ausgerechnet die Pflegeeltern, die das Kind wohl ohne staatliche Unterstützung aufgenommen haben, als Kindesentführer an den Pranger gestellt werden, ist eine Infamie, die nur auf einen Boden gedeihen kann, wo Roma sowie jedes Verbrechen zugetraut wird . Zumal wird nicht nur bei der griechischen Polizei, sondern auch in vielen deutschen Medien davon ausgegangen, dass Roma keine blonden Kinder haben können. Diese Annahme ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar, im konkreten Fall einfach falsch, denn die Eltern waren Roma. Die Grundlage dieser Behauptung ist ein Rassismus, der aus dem Aussehen auf die Herkunft der Menschen schließen will.
Diese Weltsicht teilt die griechische Polizei mit vielen Rechtsaußengruppen in unterschiedlichen Ländern. So führte die falsche Behauptung vom blonden entführten Mädchen zu rassistischen Angriffen auf Roma in verschiedenen europäischen Ländern. Im serbischen Novi Sad versuchten Rechte einen Roma-Vater sein Kind auf offener Straße wegzunehmen, weil es nach ihrem rassistischen Weltbild zu blond war.
In Irland hatte die Polizei nach einer anonymen Denunziation zwei Romakinder vorübergehend ihren Familien entrissen und in Heime eingeliefert, weil sie für deren Rassenvorstellungen zu blond waren. In beiden Fällen konnte eindeutig nachgewiesen werden, dass die von den Romaeltern vorgelegten Papiere authentisch waren. Es fragt sich aber, ob hier nur von einer Blamage der Polizei und nicht von manifestem staatlichen Rassismus gerettet werden muss.
Uraltes antiziganistisches Klischee
Der in Berlin lehrende Politologe Markus End schrieb bereits im Jahr 2011 in der Publikation „Aus Politik und Zeitgeschehen“ einen Aufsatz unter dem Titel „Bilder und Struktur des Antiziganismus“. Dort heißt es: „Die meisten deutschen Angehörigen wachsen mit solchen Vorurteilen über „Zigeuner“ auf, ohne, dass sie jemals eine/n Angehörige/n der Minderheit de Sinti und Roma kennengelernt haben. Viele dieser Vorurteile sind negativer Art, beispielsweise das Gerücht, „Zigeuner“ würden Kinder stehlen“.
End ist Mitherausgeber zweier im Unrast-Verlag erschienenen Bücher, die die antiziganistischen Zustände detailliert untersuchen. Zudem hat er in einer Studie die Forschungsansätze zum Antiziganismus und seiner Gegenstrategien vorgestellt.
Schon vor mehr 200 Jahren durchschaute der Aufklärer Jakob Grellmann das Klischee vom kinderklauenden Roma: „Mehrere Schriftsteller reden von Menschenraub der Zigeuner und beschuldigen sie, dass sie besonders Kindern nachstellen.“ Für Grellmann war bereits 1783 die Wahrheit jener Beschuldigung „durch den Umstand äußerst verdächtig, dass lange zuvor, ehe noch ein Zigeuner europäischen Boden betreten hatte, die Juden damit verschrien wurden“.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/155228
Peter Nowak
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