Markus End begrüßt die Einsetzung einer Expertenkommission zu Antiziganismus durch die Bundesregierung

»Es geht um etablierten Rassismus«

Markus End ist Politologe und forscht an der Technischen Universität Berlin. Zudem ist er Vorsitzender der Gesellschaft für Antiziganismusforschung. Ab Mittwoch wird sich nun auch eine von der Bundesregierung einberufene Expertenkommission mit dem Thema beschäftigen. Darüber sprach mit dem Wissenschaftler für nd Peter Nowak

Am Mittwoch konstituiert sich die unabhängige Expertenkommission Antiziganismus. Die Mitglieder werden von der Bundesregierung berufen. Wie kam es zur Einsetzung dieser Kommission?

Die Verbände fordern schon seit langem, das Thema auf höchster politischer Ebene zu behandeln. Nachdem es zwei Expertenkommissionen zum Themenfeld Antisemitismus gab und sich das Konzept …

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Tief verwurzeltes Ressentiment

Eine Online-Dokumentation antiziganistischer Vorfälle in Berlin zeigt, dass Diskriminierung von Roma und Sinti in den Ämtern der Hauptstadt verbreitet ist.

Die Diskriminierung von Roma und Sinti ist bei Berliner Behörden an der Tagesordnung. Das ist das Resümee einer Dokumentation antiziganistischer Vorfälle in Berlin im Jahr 2015, die kürzlich von der Roma-Selbstorganisation Amaro Foro unter www.amaroforo.de online veröffentlicht wurde. Die wissenschaftliche und politische Auseinandersetzung mit »dem weitverbreiteten und tief verwurzelten Ressentiment«, wie der Sozialwissenschaftler Markus End den Antiziganismus bezeichnet, hat erst vor wenigen Jahren begonnen. Mit der Dokumentation wird auch deutlich, dass eine Haltung zu Roma und Sinti, wie man sie vielleicht bei Pegida und der AfD vermuten würde, auch in staatlichen Behörden verbreitet ist.

Mit stigmatisierenden und oft sachlich falschen Begründungen werden den Menschen ihnen zustehende soziale Leistungen verweigert. Amaro Foro vermittelt Betroffenen Kontakt zu Rechtsanwälten. Viele gewannen ihre Klagen gegen solche Ablehnungsbescheide.

Nur selten jedoch wird der Antiziganismus dabei so offen formuliert wie von der Mitarbeiterin eines Jobcenters, die einer serbischen Familie, die Leistungen nach SGB II beantragen wollte, entgegnete: »Ich will deine Unterlagen nicht sehen. Ich will mit Zigeunern nichts zu tun haben.« Als die betroffene Frau anfing zu weinen, sei sie von der Security hinausgeschmissen worden, heißt es in der Dokumentation.

Dass selbst juristische Erfolge noch ignoriert werden, zeigt der dokumentierte Fall einer Rumänin mit zwei minderjährigen Kindern. Sie hatte vor dem Oberverwaltungsgericht erfolgreich eine Unterkunft eingeklagt. Die Soziale Wohnhilfe wurde per Eilbeschluss verpflichtet, die Familie unverzüglich unterzubringen und die Kosten zu tragen. Da sich aber Jobcenter und Bezirksamt über die Übernahme der Kosten stritten, wurde die Familie nicht in das Hostel eingelassen, in dem sie übernachten sollte, wodurch sie bis nach dem nächsten Wochenende ohne Dach über dem Kopf blieb.

Eine Polizistin sagte bei der Aufnahme einer Verlustmeldung für ein Fahrrad, als sie die Adresse hörte, unter der das Rad zum Kauf angeboten wurde: »Die Straße ist bekannt für die Rumänen, weshalb sie sich fernhalten sollten.« Die »Rumänen« in diesem Stadtteil seien »bekannt für organisiertes Verbrechen und Diebstahl«.

Dafür, dass solche Äußerungen in Behörden zu hören sind, tragen auch Medien Verantwortung, die sich zuweilen antiziganistischer Klischees bedienen. Das zeigt das Medienmonotoring, mit dem die Dokumentation schließt. Dazu wurden Artikel aus der Berliner Presse analysiert, in denen es vergangenes Jahr um ein Haus in Berlin-­Schöneberg ging. Dort lebten zahlreiche Roma aus Osteuropa in beengten Verhältnissen bei hoher Miete. Doch von der menschenunwürdigen Unterbringung war in den analysierten Artikeln nicht die Rede. Vielmehr wurden die Mieter mit antiziganistischen Klischees belegt. Da ist die Rede von Müll, Fäkalien, Kriminalität, Gewalt gegen Frauen, Prostitution und international organisierter Kriminalität.

Zum politischen Kontext, der solche Ressentiments fördert, gehören behördliche Bestrebungen, bestimmte EU-Bürger von sozialen Leistungen auszuschließen, was mit dem Missbrauch der sozialen Sicherungssysteme begründet wird. Besonders Roma aus Osteuropa sind mit solchen Vorwürfen konfrontiert. Die Erklärung der Westbalkanländer zu »sicheren Herkunftsstaaten« hat zu einer Zunahme der Abschiebungen geführt. Dagegen protestieren seit Monaten Menschen, die von Abschiebung bedroht sind, sowie ihr kleines Unterstützernetzwerk. So versammelten sich Mitte Mai 70 von Abschiebung bedrohte Roma aus verschiedenen osteuropäischen Ländern am Denkmal für die im National­sozialismus ermordeten Roma und Sinti in Berlin. Bereits nach wenigen Stunden wurden das Denkmal und der es umgebende Platz geräumt.

http://jungle-world.com/artikel/2016/24/54227.html

Peter Nowak

Antiziganismus im System

„Anlass für Verfolgung“

Antiziganistisches Ressentiment und das Stereotyp der Kindesentführung. Interview mit Markus End

KONKRET: Ende Oktober führte die (falsche) Behauptung griechische Roma hätten ein blondes Mädchen entführt, in verschiedenen europäischen Ländern zu Polizeimaßnahmen. Auch in Irland wurde einer Familie von Roma ein blondes Mädchen weggenommen. Erst nach mehreren Tagen wurde das Kind wieder zu seinen Eltern gelassen. Erleben wir gegenwärtig die Renaissance eines klassisch gewordenen rassistischen Motivs?

Markus End: Das antiziganistische Motiv des Kindesraubs ist jahrhundertealt. Es geht ursprünglich auf eine Novelle des spanischen Schriftstellers Miguel de Cervantes zurück. Spätere literarische Werke, aber auch »wissenschaftliche« Publikationen, die »Zigeunern« Kindesentführungen zuschreiben, lassen sich auf diese Quelle zurückführen.

Zum Volksmythos wurde die Mär vom »zigeunerischen« Kindesraub wohl erst im 18. und 19. Jahrhundert. Seither diente sie immer wieder zum Anlaß für Verfolgungen. Als beispielsweise 1872 die Tochter eines Domänenpächters in Stettin verschwunden war, wurden polizeiliche Kontrollen von Sinti und Roma in ganz Preußen durchgeführt.

Warum tauchen diese Mythen im 21. Jahrhundert erneut auf ?

Es muß eher festgehalten werden, daß das Stereotyp vom Kindesraub nie verschwunden, sondern latent immer vorhanden war. So behauptete 2008 eine italienische Nicht-Romni in Neapel, eine Romni habe versucht, ihr Kind zu stehlen. Dies nahm die Nachbarschaft zum Anlaß, ein anliegendes campo nomadi mit Molotowcocktails und Eisenstangen anzugreifen.

Seit mehreren Monaten hält sich in verschiedenen deutschen Städten und auf Facebook die Legende, Roma würden bei H & M oder Primark kleine Kinder in die Umkleidekabinen ziehen, sie dort umkleiden, ihnen die Haare färben und sie dann entführen.

Zeigen die Nachrichten der letzten Wochen also eine europäische Normalität?

Was die Virulenz des Stereotyps vom Kindesraub betrifft, würde ich die Frage bejahen. Aber daß Medien und Öffentlichkeit weltweit unkritisch auf diesen Vorwurf Bezug nehmen, immer explizit mit Bezug auf das »Roma-sein« der Tatverdächtigen, das ist schon ein Novum.

Auf einer Pressekonferenz in Berlin beklagte der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, das Schweigen der Politiker in dieser Angelegenheit. Gibt es keine Unterstützung für die diskriminierte Minderheit von offizieller Seite?

Rose hat recht. Mir ist in diesem konkreten Fall keine Äußerung von Personen des öffentlichen Lebens bekannt, die die mediale Behandlung dieses Vorgangs, während sie geschah, kritisiert hätten. Gleichzeitig wäre eine solche Behandlung heute gegenüber keiner anderen Minderheit in Europa denkbar.

Die Haar- und Augenfarbe spieltem in der Berichterstattung eine große Rolle. Wie erklärt sich dieser Rückfall in den Old-School-Rassismus, wo doch seit Jahren selbst in rechten Kreisen der kulturelle Rassismus dominiert?

Es könnte sein, daß es sich hier um die Folge eines antirassistischen Impetus handelt. Daß aus der »Rasse« auf das Verhalten geschlossen wird, ist – mit Recht – in die Kritik geraten und verpönt. Dies hat dazu geführt, daß Darstellungen, die Andersheit rein »phänotypisch«, aber ohne Rückschluß auf Verhalten inszenieren, heute harmloser erscheinen. Wenn in staatlichen Publikationen Roma dargestellt werden sollen, werden sie gegenwärtig verstärkt wieder mit ethnischen Zuschreibungen identifiziert. In eine solche Publikation hätte ein Foto der vermeintlich entführten Maria auch keinen Eingang gefunden.

So ist also ein fehlgeleiteter Antirassismus dafür verantwortlich, daß Eltern ihre Kinder weggenommen werden?

In dieser Form würde ich den Satz nicht unterschreiben. Ich will das mal an dem Beispiel aus Irland verdeutlichen. Dort riefen Nachbarn und Nachbarinnen die Polizei, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß eine Roma-Familie ein blondes Kind haben kann. Auch für die Polizei paßte das nicht. Hier stand die vermeintliche ethnische Differenz im Vordergrund, das Stereotyp lieferte lediglich eine unterstützende Erklärung. Wäre das Kind nicht blond gewesen, hätte die Polizei ja nicht auf Basis des Stereotyps einfach DNA-Tests aller Kinder der Familie durchgeführt. Darin liegt die Differenz zwischen der konkreten Praxis und der medialen Debatte. In dieser Debatte stand der Vorwurf des »Kindesraubs« im Vordergrund. Die blonden Haare fungierten lediglich als Bestätigung.

Hat der Rassismus gegen Sinti und Roma in der letzten Zeit insgesamt zugenommen, oder ist lediglich die mediale Aufmerksamkeit gewachsen?

Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten kam es zu einer Renationalisierung und -ethnisierung des Politischen. Gleichzeitig verschlechterte sich die ökonomische und soziale Situation sehr vieler Roma in diesen Staaten dramatisch, weil sie aufgrund bestehender Diskriminierung tendenziell stärker vom Zusammenbruch ganzer Industriezweige betroffen waren. In dieser Zeit haben Angriffe auf Roma und antiziganistische Diskurse in fast allen Ländern Europas stark zugenommen. Diese massive Ausprägung hat der Antiziganismus in Europa bis heute mehr oder weniger beibehalten. Daß darüber in der letzten Zeit verstärkt berichtet wird, ist einer gewachsenen medialen Aufmerksamkeit in Deutschland geschuldet.

Womit ist diese gewachsene Medienaufmerksamkeit zu erklären?

Vor allem in Deutschland ist sie die Folge einer Wahrnehmung von politischen Entwicklungen in verschiedenen EU-Ländern. Hinzu kommt, daß sich auch im Wissenschaftsbereich das Thema »Antiziganismus« als Forschungsgegenstand zu etablieren beginnt. Seit dem letzten Jahr hat die Beschäftigung mit Antiziganismus vor dem Hintergrund der sogenannten Armutsflüchtlinge noch einmal zugenommen.

Während verschiedene EU-Länder in der deutschen Medienberichterstattung im Fokus stehen, scheint der deutsche Antiziganismus für die Medien kaum eine Rolle zu spielen.

Dieser Eindruck ist richtig. In den deutschen Medien wird vor allem über Antiziganismus in anderen Ländern berichtet. Daß auch in Deutschland Menschen bei antiziganistischen Angriffen verletzt werden, daß Wohnhäuser von Sinti oder Roma angezündet wurden, daß auch in Deutschland eine weitverbreitete Alltagsdiskriminierung mit schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen besteht, sorgt in den Medien hingegen selten für Schlagzeilen. Romani Rose sagte in der Pressekonferenz am 5. November, daß Roma und Sinti sich in Deutschland tagtäglich verstecken müssen – dies sei »der schlimmste Vorwurf, den man nach Auschwitz an diese Gesellschaft richten kann«.

Halten Sie die Vergleiche mit dem Antisemitismus für berechtigt?

Es bleibt wichtig, Gemeinsamkeiten wie Unterschiede herauszuarbeiten. Bezüglich des Kinderraubmotivs sehe ich zentrale Unterschiede zum Ritualmordmotiv im Antisemitismus, insbesondere in der religiösen Komponente. Eine wichtige Gemeinsamkeit besteht allerdings darin, daß, so wie der Antisemitismus nichts über Jüdinnen und Juden aber viel über die Antisemiten aussagt, auch der Antiziganismus nichts mit dem Verhalten der als »Zigeuner« klassifizierten Menschen zu tun hat.

http://www.konkret-magazin.de/hefte/aktuelles-heft/articles/anlass-fuer-verfolgung.html

aus:  Konkret 12/2013

Interview: Peter Nowak –