Cobas ante portas

Italienische Logistikbeschäftigte kämpfen gegen schlechte Arbeitsbedingungen. Einige Unternehmen machen Zugeständnisse, doch Ikea entlässt 24 Angestellte.

»Vor zwei Jahren hatte unsere Gewerkschaft in Rom drei Mitglieder. Heute sind es 3 000«, sagt Karim Facchino. Der Lagerarbeiter ist Mitglied der italienischen Basisgewerkschaft S.I. Cobas sieht den rasanten Mitgliederzuwachs als Folge eines Arbeitskampfs, der auf die Selbstorgani­sation der Beschäftigten vertraut: »Wir haben keine bezahlten Funktionäre, nur einen Koordinator, doch sein Platz ist nicht am Schreibtisch eines Büros, sondern auf der Straße und vor der Fabrik.«

In den vergangenen Monaten war er dort häufig zu finden. Denn seit 2011 kämpfen die Logistikbeschäftigten in Italien gegen ihre besonders schlechten Arbeitsbedingungen. »Regelmäßig wurde ihnen durch falsche Lohnabrechnungen ein Teil ihres Lohnes gestohlen. Sie waren nicht gegen Unfälle geschützt, bekamen kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld und hatten keine garantierten Arbeitszeiten«, sagt Johanna Schellhagen von Labournet.tv im Gespräch der Jungle World.

Besonders schlecht waren die Arbeitsbedingungen der Lagerarbeiter großer Warenhäuser, die oft aus europäischen, arabischen und nordafrikanischen Staaten angeworben wurden. Sie waren meist nicht direkt bei den Warenhäusern, sondern bei Subunternehmen angestellt. »Die Bosse haben gedacht, wir können uns nicht wehren, doch da haben sie sich getäuscht«, sagt Facchino, der in Marokko geboren wurde.

Ein zentrales Mittel im Arbeitskampf waren Blockaden, wenn Waren angeliefert werden sollten. Die Polizei ging oft mit brutaler Gewalt gegen die Beschäftigten vor. Die Bilder von Streikenden, die von der Polizei blutiggeschlagen worden waren, sorgten in Italien für Empörung. Dadurch wuchs die Unterstützung für die Beschäftigten. In mehreren Unternehmen konnten eine Verkürzung der Arbeitszeiten und höhere Löhne durchgesetzt werden.

Doch vor allem Ikea scheint entschlossen, den Streik der Beschäftigten repressiv zu beantworten. Im Juni wurden 24 Beschäftigte des Ikea-Lagers in Piacenza entlassen, alle sind Mitglieder der Gewerkschaft S.I. Cobas. Gleichzeitig wächst die polizeiliche und juristische Repression. So wurden gegen vier Mitglieder von Laboratorio Crash und gegen fünf Mitglieder des Collettivo Hobo Aufenthaltsverbote für die Orte verhängt, in denen sich die bestreikten Unternehmen befinden. Die beiden linken Gruppen unterstützen die Logistikbeschäftigten. Eine Unterstützerin, die in Piacenza wohnt, bekam eine mündliche Verwarnung mit der Aussicht auf ein Aufenthaltsverbot in ihrer eigenen Stadt. Käme es dazu, könnt sie ihre Wohnung nicht mehr legal betreten.

Dieser Repression von Unternehmen und Polizei wollen die Beschäftigten mit einer Ausweitung der Solidarität begegnen. Bereits am 25. Juni gab es den ersten Ikea-Aktionstag mit kleinen Kundgebungen vor Filialen in Hamburg und Berlin. Der zweite Ikea-Aktionstag am 26. Juli fand bereits in weiteren Städten statt. Ikea ist als internationaler Konzern ökonomisch verwundbar, wenn Kunden die Arbeitsbedingungen in den italienischen Logistikzentren nicht mehr gleichgültig sind.

Ausgangspunkt der Solidaritätsarbeit war ein Treffen europäischer Basisgewerkschafter Ende März in Berlin (Jungle World 12/2014). »Dort berichteten zwei Kollegen von S.I. Cobas über den Kampfzyklus. Danach haben wir begonnen, diesen Arbeitskampf bekannt zu machen«, erzählt Johanna Schellhagen. Mitte Mai wurde einer der engagierten Lagerarbeiter aus Bologna zu Informationsveranstaltungen nach Deutschland eingeladen. In Berlin wurde auch ein Austausch mit Gewerkschaftern aus der Logistikbranche in Deutschland organisiert. Damit wird auch noch einmal die Bedeutung der neuen Medien für die Solidaritätsarbeit deutlich. Denn zuvor hatte der jahrelange Arbeitskampf kaum Beachtung gefunden.

http://jungle-world.com/artikel/2014/31/50320.html

Peter Nowak

Wie die Krise tötet

»Neuer Widerstand wäre dringend nötig«

Eva Willig ist Rentnerin und seit Jahren in der Erwerbslosenbewegung aktiv. Über zehn Jahre Protest gegen die Agenda-2010-Politik, Zwangsräumungen und geplante Schikanen gegen Erwerbslose sprach mit ihr Peter Nowak.

Erwerbslosenaktivistin Eva Willig über zehn Jahre Proteste gegen die Agenda-2010-Politik und neue Zumutungen

Vor zehn Jahren begann in Magdeburg die Montagsdemobewegung gegen die Agenda 2010. Waren Sie damals davon überrascht?

Ich war vor allem erfreut, dass die Menschen aufgewacht sind und sich gewehrt haben. Sie haben damals erkannt, dass die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe Armut per Gesetz bedeutet und sie sollten leider Recht behalten.

Hat es vor den Montagsdemonstrationen keine Erwerbslosenbewegung gegeben?

Doch die gab es, 1982 gab es den ersten bundesweiten Erwerbslosenkongress. Ich bin bereits seit Mitte der 1980er Jahre in der Erwerbslosenbewegung aktiv. Zunächst engagierte ich mich in der Gewerkschaft ÖTV, ab Anfang der 1990er Jahre in unabhängigen Erwerbslosengruppen. Die Aktionen fanden oft wenig öffentliche Beachtung. Die Montagsdemonstrationen erregten dagegen Aufmerksamkeit, weil innerhalb kurzer Zeit Massen auf die Straße gegangen sind.

Warum hatte die Bewegung bereits nach wenigen Wochen stark an Schwung verloren hatte?

Dafür gibt es sicher sehr viele Gründe. Ich sehe eine zentrale Ursache darin, dass es in der Öffentlichkeit früh gelungen ist, die Diskussion von der gesetzlich gewollten Verarmung großer Teile der Bevölkerung zum angeblichen Missbrauch von Hartz IV zu lenken. Ich erinnere nur an die Kampagne gegen den Florida-Rolf, der Hartz IV bezogen hat und im Ausland gelebt haben soll. Die Boulevardpresse und viele Politiker griffen die Themen auf und hatten damit großen gesellschaftlichen Einfluss.

Sehr viele der Betroffenen haben sich auch zurückgezogen.

Viele Erwerbslose müssen unter Hartz IV um das tägliche Überleben kämpfen und haben wenig Zeit und Kraft zum Widerstand. Sie können sich oft auch die Tickets nicht leisten, um zu Veranstaltungen zu fahren. Dass ich mich nach so vielen Jahren noch immer wehre, liegt auch daran, dass ich meinen Protest auch mit kulturellen Mitteln wie Theater, Musik und Kabarett ausgedrückt habe. Widerstand muss auch Spaß machen, sonst verbittert man.

Hat die Montagsdemobewegung also keine Spuren hinterlassen?

Auch nach dem Ende der Massendemonstration engagierten sich in vielen Städten Menschen, die sich durch die Proteste politisiert hatten auf unterschiedliche Weise. Die zahlreichen Klagen vor den Sozialgerichten gehören dazu. Andere begleiten unter dem Motto »Keine/r muss allein zum Amt« Erwerbslose bei ihren Terminen. Ich habe in Berlin das Notruftelefon gegen Zwangsumzüge nach Hartz IV mitbegründet und mehrere Jahre betreut. Dort berieten wir Erwerbslose, die vom Jobcenter erfahren hatten, dass ihre Mietkosten teilweise nicht mehr übernommen wurden.

Sehen Sie darin eine Vorläuferorganisation der heutigen Kampagne gegen Zwangsräumungen?

Ich sehe da auf jeden Fall einen Zusammenhang. Viele der von Zwangsräumungen betroffenen Menschen sind in diese Situation gekommen, weil die Jobcenter die Mietkosten ganz oder teilweise nicht übernommen haben. Zudem müssen Wohngeldempfänger oft über mehrere Monate auf das Geld warten, das ihnen zusteht, weil die Ämter überlastet sind und mit der Bearbeitung der Anträge nicht nachkommen. Die Piratenfraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln will Ende August einen Antrag einbringen, der die Wohnungsämter zur Zahlung eines Säumniszuschlags an Wohngeldempfänger verpflichten soll, wenn sie die Anträge nicht in einem bestimmten Zeitraum bearbeiten.

Sehen Sie auch wieder Anzeichen für größere Erwerbslosenproteste?

Neuer Widerstand wäre dringend nötig. Schließlich sind unter dem unverfänglichen Motto Verwaltungsvereinfachung neue Verschärfungen gegen Erwerbslose in Planung. So soll künftig noch schneller sanktioniert werden. Ab Mitte September sind dagegen bundesweite Proteste in verschiedenen Städten dagegen geplant. Am 2. Oktober soll es einen bundesweiten Aktionstag geben.

Interview: Peter Nowak

Können die Unterklassen ihre Kinder nicht selbst erziehen?

„Es geht hier um einen Systemfehler“

SOZIALPROTEST Die Agenda 2010 kostet Menschenleben, sagt Michael Fielsch – und protestiert, indem er Kreuze vor Jobcenter platziert

taz: Herr Fielsch, Sie organisieren vor Jobcentern Proteste gegen die Agenda 2010. Was genau kritisieren Sie?

Michael Fielsch: Wir platzieren im Rahmen von polizeilich angemeldeten Kundgebungen Opferkreuze, auf denen die Schicksale von Menschen stehen, die im Zusammenhang mit der Agenda 2010 ums Leben kamen. Mittlerweile konnten wir 40 Fälle mit 54 Opfern im Zusammenhang mit der Agenda 2010 dokumentieren, überwiegend handelt es sich um Suizide. Aber wir erinnern auch an Menschen, die bei Hausbränden ums Leben kamen, die von Kerzen verursacht waren, nachdem in ihren Haushalten Strom und Gas abgestellt wurden. Auch der Rentnerin Rosemarie Fließ gedenken wir, die zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung starb. Oder der Jobcenter-Sachbearbeiterin, die von einem Kunden erstochen wurde. Wir erinnern auch an die Mutter, die mit ihrem Sohn in der Wohnung verhungerte, nachdem das Jobcenter die Zahlungen völlig eingestellt hatte.

Ihr Protest ist also vor allem eine Mahnwache für die Opfer?

Ein Großteil der dokumentierten Todesfälle ist, wenn überhaupt, nur regional bekannt geworden und wurden als Einzelschicksale wahrgenommen. Wir wollen mit unserer Aktion zeigen, dass es Tausende Einzelfälle gibt und es nicht um individuelle Schicksale, sondern um einen Systemfehler geht.

Welche Reaktionen erzielen Sie mit Ihren Aktionen?

Der Zuspruch ist groß. Viele Menschen sind erschrocken, wenn sie die Opferkreuze mit den Schicksalen sehen. Die emotionale Wirkung ist auch deshalb hoch, weil es bei der Aktion keinerlei politische Propaganda gibt. Wir wollen die Menschen zum Nachdenken anregen. Es geht um Aufklärung und Bewusstmachung. Die Konsequenzen aus den Informationen muss jeder für sich selber ziehen.

Wer unterstützt Sie?

Eine kleine Gruppe von Mitstreiterinnen und Mitstreitern, die hauptsächlich von der BGE-Lobby kommen, einer Unterstützerorganisation, die sich für das bedingungslose Grundeinkommens engagiert. Wir legen großen Wert auf unsere Unabhängigkeit von politischen Parteien. Bisher haben wir unsere Aktionen hauptsächlich vor Jobcentern und belebten Plätzen in Berlin und Umgebung durchgeführt. Mittlerweile haben wir Anfragen aus dem gesamten Bundesgebiet.

Interview: Peter Nowak

Die Protestaktion findet in der Regel immer freitags statt. Infos und Orte: www.die-opfer-der-agenda-2010.de

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2014%2F07%2F28%2Fa0106&cHash=cfc76522e0f31dd63b15d7bb6574b0b9

»Die Entlassung ist ein Akt der Repression«

Aktivisten planen einen Aktionstag gegen den Möbelkonzern IKEA wegen der Entlassung von 24 Lagerarbeitern im italienischen Piacenza

Johanna Schellhagen* ist Mitarbeiterin des audiovisuellen Archivs für Arbeitskämpfe Labournet.tv und eine der Koordinatorinnen des Berliner IKEA-Aktionstages gegen die Entlassung von 24 Lagerarbeitern im italienischen Piacenza. Für »nd« sprach mit ihr Peter Nowak.

nd: Warum soll es am 26. Juli einen IKEA-Aktionstag geben?
Schellhagen*: Der Aktionstag wurde ausgerufen, weil im Juni dieses Jahres 24 Lagerarbeiter im italienischen Piacenza entlassen worden sind. Alle 24 sind in der kämpferischen Basisgewerkschaft S.I.Cobas organisiert. Mit dem Aktionstag wollen wir erreichen, dass sie wieder eingestellt werden. Ihre Entlassung ist ein Akt der Repression. Die Lagerarbeiter bei IKEA und anderen großen Logistikunternehmen wie TNT und DHL haben mit ihren Streiks seit 2011 immerhin durchgesetzt, dass sie entsprechend dem nationalen Tarifvertrag bezahlt werden. Vorher waren die Bedingungen haarsträubend. Regelmäßig wurde durch falsche Lohnabrechnungen ein Teil des Lohnes gestohlen. Die Arbeiter waren nicht gegen Unfälle geschützt, bekamen kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld und hatten keine garantierten Arbeitszeiten. Die Leute sind entlassen worden, weil IKEA wieder zu dieser Praxis zurückkehren möchte.

Wie ist die Situation der Entlassenen in Italien aktuell?
Die Entlassenen machen seit ihrer Kündigung im Juni eine permanente Kundgebung vor dem Warenlager von IKEA in Piacenza, das heißt, sie sind 24 Stunden vor den Toren. Einmal wöchentlich blockieren sie das Lager, unterstützt von den solidarischen Teilen der Belegschaft und von Lagerarbeitern aus anderen Städten. Sie werden außerdem von linken Gruppen wie dem Laboratorio Crash, den Clash City Workers und dem Collettivo Hobo unterstützt.Die Forderung ist die Wiedereinstellung der gekündigten Arbeiter.

Gibt es Repressalien gegen die Streikenden?
Neben der üblichen Polizeigewalt, also dem Einsatz von Pfefferspray und Knüppeln, um die Blockaden aufzulösen, gibt es unter Anderem das Verbot, sich im Stadtgebiet von Piacenza aufzuhalten. Im Zusammenhang mit dem Kampf bei IKEA gab es bereits mehrere solcher Aufenthaltsverbote: gegen zwei Lagerarbeiter, gegen den Sprecher der S.I.Cobas, gegen vier Mitglieder des Laboratorio Crash, und gegen fünf Mitglieder des Collettivo Hobo. Besonders schwerwiegend ist, dass eine Genossin, die in Piacenza wohnt, eine mündliche Verwarnung bekommen hat mit der Aussicht auf ein Aufenthaltsverbot in ihrer eigenen Stadt. Außerdem ist ein Genosse vom Laboratorio Crash zu zwei mal sechs Monaten Hausarrest verurteilt worden.

Warum ist von diesem Streik in Italien hierzulande so wenig bekannt, obwohl seit Monaten andauert?
Dass die hiesige »linke« Presse sich nicht für einen seit drei Jahre andauernden, erfolgreichen Kampfzyklus der ärmsten Teile der italienischen Arbeiterklasse interessiert, liegt vermutlich daran, dass sich die Italienkorrespondenten dieser Personengruppe nicht verbunden fühlen. Ich finde es schwer zu verstehen, wieso nicht alle vor Freunde ausrasten, wenn sie davon hören, dass Migranten sich militant und erfolgreich gegen die barbarische Ausbeutungspraxis bei IKEA TNT, DHL und ähnliche Konzerne zur Wehr setzen.

Welche Rolle kann labournet.tv bei der Solidarität spielen?
Wir haben von dem Kampfzyklus gehört, weil zwei Genossen von den S.I.Cobas im März in Berlin waren. Seitdem haben wir versucht, Informationen darüber hier zu streuen. Wir haben ein langes Hintergrundinterview gemacht, Videos zu den Streiks und Blockaden aus dem Internet gefischt, deutsch untertitelt und auf labournet.tv veröffentlicht und einen Mobilisierungsclip für die Aktionen gegen IKEA geschnitten.

Wir haben einen engagierten Lagerarbeiter aus Bologna zu Informationsveranstaltungen in die BRD eingeladen, Protestaktionen vor IKEA mit organisiert und uns mit den italienischen Unterstützergruppen ausgetauscht. Zudem haben wir versucht, mit Kollegen die in Berlin in der Logistikbranche arbeiten darüber ins Gespräch zu kommen.

In Berlin ist eine Kundgebung vor der IKEA-Filiale in Tempelhof geplant. Material über den Kampfzyklus der migrantischen Lagerarbeiter ist hier gesammelt: dasnd.de/labournettv

*Name geändert

http://www.neues-deutschland.de/artikel/940180.die-entlassung-ist-ein-akt-der-repression.html

Interview: Peter Nowak

»Überwiegend handelt es sich um Suizide«

Michael Fielsch über sein Engagement für die Opfer der sogenannten Agenda 2010

Michael Fielsch betreibt die Webseite »In Gedenken an die Opfer der Agenda 2010« und ist Initiator von Gedenkaktionen vor Jobcentern sowie auf belebten Plätzen, für Menschen, die an den Folgen der Agenda-2010-Politik gestorben sind. Mit ihm sprach Peter Nowak.

nd: Was war der Anlass Ihres Engagements für Opfer der Agenda 2010?
Fielsch: Ich habe im März 2014 bei Facebook eine Seite entdeckt, auf der unter anderem Suizide von Erwerbslosen dokumentiert wurden. Von dem Augenblick war mir klar, dass man diese Tatsachen in die Öffentlichkeit bringen muss. Ich bin auch durch meine eigene Biografie dafür sensibilisiert. Als Kind musste ich erleben, wie mein leiblicher Vater Suizid beging.

Wie machen Sie auf die Opfer aufmerksam?
Jeden Freitag platzieren wir im Rahmen von polizeilich angemeldeten Kundgebungen vor Jobcentern Opfer-Kreuze, auf denen die Schicksale von Menschen stehen, die im Zusammenhang mit der Agenda 2010 ums Leben kamen. Mittlerweile konnten wir 40 Fälle mit 54 Opfern im Zusammenhang mit der Agenda 2010 dokumentieren.

Woran sind die Menschen gestorben?
Überwiegend handelt es sich um Suizide. Aber wir erinnern auch an Menschen, die bei Hausbränden ums Leben kamen, die von Kerzen verursacht wurden, nachdem in ihren Haushalten Strom und Gas abgestellt worden war. Auch der Berliner Rentnerin Rosemarie Fließ gedenken wir, die zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung starb oder der von einem Kunden erstochenen Jobcenter-Sachbearbeiterin. Wir erinnern auch an die Mutter, die mit ihrem Sohn in der Wohnung verhungerte, nachdem das Jobcenter die Zahlungen völlig eingestellt hatte.

Was ist das Ziel Ihrer Gedenkaktion?
Ein Großteil der dokumentierten Todesfälle ist wenn überhaupt nur regional bekannt geworden, sie wurden als Einzelschicksale behandelt. Wir wollen mit unserer Aktion zeigen, dass es Tausende Einzelfälle gibt und es nicht um individuelle Schicksale, sondern um einen Systemfehler geht.

Wer unterstützt Sie?
Eine kleine Gruppe von Mitstreitern, die hauptsächlich von der BGE-Lobby kommen, einer Unterstützerorganisation die sich zum Thema des bedingungslosen Grundeinkommens einbringt. Wir legen großen Wert auf unsere Unabhängigkeit von politischen Parteien. Bisher haben wir aus organisatorischen und finanziellen Gründen unsere Aktionen hauptsächlich vor Jobcentern und auf belebten Plätzen in Berlin und Umgebung durchgeführt. Mittlerweile haben wir aber Anfragen aus dem gesamten Bundesgebiet.

Haben Sie selber auch Ärger mit dem Jobcenter?
Lange Zeit habe ich Leistungen nach Hartz IV ohne Sanktionen bezogen. Seit ich mit meinen Aktionen die Jobcenter und die Agenda-2010-Politik angreife, hat sich das radikal geändert. Ich habe bereits zwei zehnprozentige Sanktionen und die nächste dreißigprozentige soll ab nächsten Monat hinzu kommen. Und für die vierte, dann sechzigprozentige Sanktion, habe ich bereits den Anhörungsbogen erhalten. Wenn diese Sanktion auch noch dazu kommt, habe ich null Euro zum Leben.

Die Angst, nicht mehr zu wissen, ob man Strom und Miete zahlen kann, wovon man Kleidung und die kleinen Dinge des täglichen Bedarfs bezahlen soll, belastet mich psychisch sehr. Diese Zwangsmaßnahmen bestärken mich in meinem Engagement gegen die Agenda-2010-Politik, und da schließt sich für mich auch der Kreis, weil ich heute weiß, warum mein völlig mittelloser Vater Suizid beging und wie sehr mein entsprechendes Trauma mein Leben nachhaltig schädigte. Das betrifft alle Hinterbliebenen – gestern, heute und morgen.

Informationen und Termine unter www.Die-Opfer-der-Agenda-2010.de

https://www.neues-deutschland.de/artikel/939984.ueberwiegend-handelt-es-sich-um-suizide.html

Interview: Peter Nowak

TTIP in die Tonne?

vom 23 Oktober 2024

Der Widerstand gegen die Transatlantische Freihandelszone weitet sich aus, allerdings spielt dabei auch die Konkurrenz zwischen EU und USA eine Rolle

In der letzten Zeit war es um die globalisierungskritische Organisation Attac [1] ruhig geworden. Das hatte viele Gründe, aber dazu gehörte auch das Problem, das zentrale Forderungen zur Bankenregulierung mittlerweile in den Forderungskatalog verschiedener Parteien aufgenommen worden sind. Doch in letzter Zeit werden Attac-Ortsgruppen wieder aktiv. Der Grund heißt TTIP.

Das geplante Freihandelsabkommen zwischen den USA und der EU mobilisiert verständlicherweise die Globalisierungskritiker, sowie vor 15 Jahren das Multilaterale Investitionsabkommen [2] mit zur Entstehung von Attac beigetragen hat.

Mit Kampagnen wie „TTIP in die Tonne“ [3] oder „TTIP unfairhandelbar“ [4] setzt Attac auf die Strategie, vermeintliche Auswüchse des Kapitalismus zu kritisieren und faire Tauschverhältnisse anzumahnen.

Aktionstag gegen TTIP

Wie vor 15 Jahren gegen das MAI probt die globalisierungskritische Bewegung jetzt auch beim TTIP einen länderübergreifenden Zusammenschluss [5] . Bei einem Treffen in Brüssel, auf dem über 100 Nichtregierungsorganisationen vertreten waren, wurde der 10.Oktober als internationaler Aktionstag gegen das TTIP festgelegt [6].

Schon seit einigen Wochen gibt es ein von zahlreichen TTIP-Gegnern erarbeitetes Positionspapier [7]. Der Widerstand gegen das TTIP wächst auch deshalb, weil es gelungen ist, eine Verbindung [8] zu dem vor allem in Deutschland äußerst unbeliebten Fracking herzustellen. Kritiker befürchten, dass US-Konzerne nach dem Abschluss des TTIP gegen europäische Gesetze, die Fracking behindern, juristisch vorgehen [9] könnten.

So berechtigt diese Befürchtungen sind, so auffallend ist, dass die Rolle maßgeblicher EU-Konzerne und Politiker ausgeblendet wird. Die erhoffen sich durch das TTIP Zugang zum US-Fracking-Markt und wollen damit die umweltfreundlicheren europäischen Bestimmungen aushebeln. Es ist allerdings durchaus kein Zufall, dass die TTIP-Gegner oft den Eindruck erwecken, das Freihandelsabkommen wäre ein Trick der USA, um Europa zu unterwerfen.

Da wird eine Dualität gezeichnet, die dem EU-Europa den auf den Gebieten von Wirtschaft, Politik und Kultur zivilisierten Standard zuschreibt, der jetzt durch den Angriff der USA in Gefahr gerät. Dass dann das TTIP-Abkommen noch von verschiedenen Politikern als Faustpfand in der NSA-Affäre genutzt wurde, macht erneut deutlich, dass es in der ganzen Auseinandersetzung auch um ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Machtblöcken EU und USA handelt. Vielen TTIP-Kritikern ist oft gar nicht bewusst, dass sie hier in innerkapitalistischen Auseinandersetzungen Partei ergreifen.

Wenn bei der Globalisierungskritik der Kapitalismus nicht erwähnt wird

Das Problem ist nicht, dass die zweifellos vorhanden Beeinträchtigen für Lohnabhängige, Verbraucher etc. durch die Freihandelsabkommen von den Kritikern thematisiert werden, sondern dass oft von der kapitalistischen Weltwirtschaft und deren Interessen abstrahiert wird.

Dann scheint es so, als sei ausgerechnet die Globalisierung das größte Problem, die bereits Karl Marx eher als eine der wenigen emanzipatorischen Konsequenzen des Kapitalismus bezeichnete, worauf der Publizist Reiner Trampert [10] in seinem kürzlich im Schmetterling Verlag [11] veröffentlichten, gegenüber Herrschaft und der real existierenden Opposition jeglicher Couleur erfrischend respektlosen, Buch mit dem Titel „Europa zwischen Weltmacht und Zerfall“ [12] hingewiesen hat. Der erstaunlich humorfreie und eher an eine konservative Kulturkritik erinnernde Titel sollte nicht von der Lektüre abhalten. Er wird dem Inhalt zum Glück größtenteils nicht gerecht.

Durch TTIP könnten auch die Standards in den USA auf Druck der EU verschlechtert werden

Aber auch innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung gibt es mittleeweile Stimmen, die bei ihrer Kritik am TTIP nicht einfach das Bild „böse USA versus gutes Europa“ malen. So erschien in der Juniausgabe des Zentralorgans der globalisierungskritischen Bewegung Le Monde Diplomatique ein Dossier [13], in dem nicht nur differenziert auf die Geschichte des Freihandels [14] eingegangen wird, auch die Einwände aus der EU [15] und den USA [16] werden aufgelistet.

Dann stellt sich schnell heraus, dass sich durch die Freihandelszone eben nicht nur Standards in Europa verschlechtern könnten. So befürchten US-amerikanische TTIP-Kritiker, dass die in den USA erst vor wenigen Jahren eingeführte Finanzmarktregulierung wieder ausgehebelt wird, wenn europäische Standards gelten sollten.

Auch auf dem Gebiet des Verbraucherschutzes ist das Bild von der „bösen USA“, die ihre Chlorhähnchen importieren möchte, höchst einseitig. So wollen die im europäischen Lobbyverband EU-Business [17] zusammengeschlossenen Unternehmen erreichen, dass das Importverbot für europäisches Rindfleisch und die Qualitätskontrollen für Milch in den USA entschärft, d.h. dem europäischen Standard, angepasst werden.

Was in den Augen der Unternehmerlobby ein Handelshemmnis ist, war die Konsequenz der Diskussionen über kontaminierte Nahrungsmittel. Wenig bekannt ist, dass in den USA in fast der Hälfte der Bundesstaaten Produkte mit gentechnisch veränderten Bestandteilen gekennzeichnet werden müssen. Dagegen laufen US-Konzerne Sturm.

Eine TTIP-kritische Bewegung, die diese unterschiedlichen Interessen zum Ausgangspunkt ihrer politischen Arbeit macht, wäre davor gefeit, sich zum Spielball von Standortinteressen zwischen EU und USA zu machen. Allerdings wäre es natürlich die Frage, ob sie dann so mobilisierungsfähig wäre, wie sie es zurzeit scheint. Dann würde sich also erweisen, ob es den Kritikern der Freihandelszone um eine kapitalismuskritische Perspektive geht oder ob das Schwungrad vor allem USA-Kritik ist.

http://www.heise.de/tp/news/TTIP-in-die-Tonne-2263311.html

Peter Nowak

Links:

[1] http://www.attac.de/

[2] http://www.thur.de/philo/mai.htm

[3] http://www.attac.de/kampagnen/freihandelsfalle-ttip/freihandelsfalle-ttip/

[4] http://www.ttip-unfairhandelbar.de/

[5] http://www.heise.de/tp/artikel/42/42232/1.html

[6] http://www.alternative-nachrichten.de/news/europaischer-aktionstag-gegen-ttip-ceta

[7] http://www.ttip-unfairhandelbar.de/fileadmin/download/material/joint_statement_of_european_civil_society_groups_final_dt.pdf

[8] http://www.foeeurope.org/sites/default/files/publications/foee_ttip-isds-fracking-060314.pdf

[9] http://www.zeit.de/wirtschaft/2014-03/ttip-fracking

[10] http://www.rainertrampert.de/

[11] http://www.schmetterling-verlag.de

[12] http://www.schmetterling-verlag.de/page-5_isbn-3-89657-067-6.htm

[13] http://www.monde-diplomatique.de/pm/2014/06/13.archivhome

[14] http://www.monde-diplomatique.de/pm/2014/06/13/a0068.text

[15] http://www.monde-diplomatique.de/pm/2014/06/13.mondeText.artikel,a0061.idx,21

[16] http://www.monde-diplomatique.de/pm/2014/06/13.mondeText.artikel,a0063.idx,20

[17] http://www.eubusiness.com/

Ethischer Konsum reicht nicht

Bei den Protesten gegen Primark und »Billigmode« allgemein wird viel auf ethische Aspekte verwiesen. Die Rolle der gewerkschaftlichen Arbeit in den Herstellerländern wird dabei ausgeblendet.

»Life is a Festival«, lautet der Werbespruch auf den Schaufenstern der neueröffneten Filiale der irischen Modemarke Primark am Berliner Alexanderplatz. In etwas kleinerer Schrift findet sich im Schaufenster der Hinweis: »Primark verpflichtet sich zur Beobachtung und fortlaufenden Verbesserung der Rechte der Menschen, die unsere Produkte herstellen.«

Die Erklärung ist eine Reaktion auf die heftige Kritik, von der die Eröffnung der zweiten Berliner Primark-Filiale begleitet war. Im Juli 2012, als in Berlin-Steglitz die erste Filiale eröffnete, hatte es nur lobende Worte gegeben. »Das Erfolgskonzept von Primark basiert auf sehr modischer Qualitätsware zu erschwinglichen Preisen«, hieß es damals in einer Pressemitteilung. Auch für die Eröffnung der Filiale am Alexanderplatz waren die Jubelmeldungen schon gedruckt. Doch wenige Tage vor dem Termin wurde die Feierlaune verdorben. In mehreren Kleidungsstücken von Primark tauchten eingenähte Etiketten auf, die mit »SOS« und »Ich werde zur Arbeit bis zur Erschöpfung gezwungen« beschriftet waren. Bis heute ist nicht geklärt, ob es von Arbeitern in die Kleidung geschmuggelte Nachrichten waren. Das Primark-Management bestreitet das vehement.

Es könnte sich auch um eine gelungene Informationsguerilla-Strategie handeln, die das »Erfolgskonzept von Primark« als Teil jener globalen Ausbeutungsverhältnisse in der Textilindustrie anprangert, die in britischen Medien schon 2008 Schlagzeilen machten. Damals legte ein Rechercheteam der BBC offen, dass Primark einen Teil seiner Billigklamotten in indischen Sweatshops von teils 11jährigen Kindern produzieren lässt. Die mit zahlreichen Fotos und Interviews belegten Enthüllungen führten in Großbritannien zu Protestkundgebungen vor Primark-Filialen. Diese Proteste wurden in Deutschland kaum bekannt, und wie die geräuschlose Eröffnung der ersten Berliner Primark-Filiale zeigte, gab es damals auch keine Versuche, daran anzuknüpfen.

Das hat sich seit dem 24. April 2013 geändert. An diesem Tag wurden beim Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesh 1 127 Arbeiterinnen und Arbeiter getötet und fast 2 500 zum Teil schwer verletzt. Schnell stellte sich heraus, dass in der Fabrik sämtliche Arbeitsschutzbestimmungen verletzt worden waren. Zudem war Rana Plaza die Werkbank für viele der hierzulande bekannten Modefirmen. Dazu gehören KiK, Adler Modemärkte, Mango, Benetton, C & A und Primark. Der irische Discounter habe nach Angaben der Frankfurter Rundschau eine Million Dollar an den Entschädigungsfonds für die Opfer überwiesen und weitere neun Millionen Dollar sollen direkt an Familien der Opfer sowie an 580 Arbeiter gegangen sein, die für einen Primark-Zulieferer in dem kollabierten Gebäudekomplex gearbeitet haben. Andere der in Rana Plaza produzierenden Modefirmen schoben jede Verantwortung für den Einsturz auf ihre Zulieferer und wollten sich so auch um eine Entschädigung drücken. Noch ein Jahr nach dem Unglück teilte die »Kampagne für Saubere Kleidung« mit: »Der von der internationalen Arbeitsorganisation ILO kontrollierte Entschädigungsfonds ist noch nicht einmal zur Hälfte gefüllt – noch immer fehlen knapp 25 Mio. US-Dollar.« Dass sich Primark im Fall Rana Plaza vergleichsweise kooperativ verhielt, dürfte eine Folge des Skandals um die Kinderarbeit in Indien gewesen sein, die das Firmenimage ankratzte. Deshalb verweist Primark auch bei den jüngsten Diskussionen gerne auf die firmeneigene Ethik-Abteilung mit eigener Website, auf der demons­triert werden soll, welch großes Interesse die Firma an den Arbeitsbedingungen der Arbeiter und an Nachhaltigkeit habe. Damit reagiert Primark auf eine vor allem ethisch geführte Kampagne vieler NGOs.

So erklärte Bernd Hintzmann, der beim Inkota-Netzwerk für die »Kampagne für Saubere Kleidung« zuständig ist, die Proteste anlässlich der Eröffnung der neuen Filiale hätten zum Ziel, »dass Primark den öffentlichen Unmut kritischer Verbraucher zur Kenntnis nimmt und Veränderungen vornimmt, bevor wieder etwas passiert wie bei der Katastrophe in Bangladesh«.

Dabei wird die Rolle gewerkschaftlicher Organisierung in den Fabriken des globalen Südens ausgeblendet. »Es mag sein, dass die NGOs hier bekannter sind, weil sie in der Regel die Öffentlichkeitsarbeit in Europa übernehmen. Aber die gewerkschaftliche Arbeit vor Ort ist auch sehr wichtig. Schließlich muss in den Betrieben kontrolliert werden, ob die Vereinbarungen über faire Arbeitsbedingungen auch umgesetzt werden. Das können NGOs aus Europa nicht leisten. Dazu sind starke Gewerkschaftsgruppen nötig«, betont Gi­sela Neunhöffer von der Kampagnenwebsite für die internationale Gewerkschaftsbewegung Labourstart gegenüber der Jungle World. Dieser Grundsatz gilt allerdings nicht nur für den globalen Süden.

Kritik an den Arbeitsbedingungen bei Primark gibt es auch hierzulande. So werden alle deutschen Läden mit Kameras überwacht – und es gibt Vorwürfe, dass in der größten Filiale in Hannover Mitarbeiter über längere Zeit bespitzelt worden seien. In dem vierstöckigen Kaufhaus gebe es 128 Überwachungskameras, sagt Juliane Fuchs von der Gewerkschaft Verdi. Knapp die Hälfte der Kameras überwache nicht nur die Kunden, sondern die gut 550 Mitarbeiter. Sie seien vor Personalräumen, Toiletten und Aufgängen angebracht. »Es entsteht der Eindruck, die Mit­arbeiter stehen unter Generalverdacht«, moniert Fuchs. Damit verstößt Primark womöglich gegen Gesetze. Schließlich ist eine zeitlich begrenzte Überwachung der Belegschaft nur erlaubt, wenn ein begründeter Verdacht besteht – etwa wenn besonders viel gestohlen wurde. Eine permanente Überwachung von nicht öffentlichen Räumen ohne Grund ist dagegen verboten. Die Kameras in Hannover werden nach Gewerkschaftsangaben nicht nur von einer externen Sicherheitsfirma überwacht, sondern auch vom Primark-Filialleiter persönlich. In dessen Büro, so berichten Betriebsrat und Fuchs, habe lange ein Kamera-Steuerungsinstrument gestanden, mit dem sich Bilder aus Kameras sehr nah heranzoomen lassen.

Primark wollte sich zu diesen Vorwürfen im Detail nicht äußern. Die Kameras dienten generell »dem Schutz der Kunden und Mitarbeiter«, sagte ein Sprecher. Doch es gibt Anzeichen, dass der Konzern in Hannover einlenkte: »Wir sind momentan in Verhandlungen mit den Betriebsräten, um gegebenenfalls die Anzahl der Kameras zu reduzieren und jeweils zu einer Einigung vor Ort zu kommen.« Betriebsrat und Verdi in Hannover wollen sich damit nicht zufriedengeben. Sie verlangen von der Primark-Geschäftsführung, dass alle nicht öffentlichen Kameras abgebaut werden.

Dass die Kritik an den Arbeitsbedingungen bei Primark-Hannover bei den Protesten in Berlin kaum eine Rolle spielte, macht einmal mehr die Schwächen einer rein ethischen Debatte um die Arbeitsbedingungen deutlich, bei der gewerkschaftliches Handeln hier und in den Ländern des globalen Südens weitgehend ausgeblendet wird. Dabei ist klar, dass für die Beschäftigten das Leben zumindest während der Arbeitszeit bei Primark kein Festival ist, wie der Werbespruch dies weismachen möchte.

http://jungle-world.com/artikel/2014/28/50184.html

Peter Nowak

Kapitalismus zum Anfassen

»Ach, wieder eine neue Galerie«, sagt eine ältere Frau, als sie die vielen Menschen vor dem Laden in der Böhmischen Straße in Berlin-Neukölln sieht. Tatsächlich befindet sich dort das »Museum des Kapitalismus« (MdK) und keine Galerie wie jede andere. Die Organisatoren sagen, dass es in Deutschland einmalig sei. »Es sind viele Bewohner aus der Nachbarschaft vorbeigekommen«, freut sich Johannes, der zum etwa zehnköpfigen Vorbereitungskreis gehört. Die meisten Beteiligten gehören der außerparlamentarischen Linken an. »Die Besucher sollen selbst ausprobieren und so erfahren, wie der Kapitalismus funktioniert«, sagt Mitorganisator Malte Buchholz. Die Besucherin Erika Buchholz ist vom Konzept angetan. »Zu viele Ausstellungen versuchen den Kapitalismus kompliziert zu interpretieren. Hier kann ich selber Wissen erarbeiten«, sagt die Erwerbs­losenaktivistin. Die Ausstellung ist in die Bereiche Finanzen und kapitalistische Stadt aufgeteilt. Es gibt verschiedene interaktive Installationen. Die Besucher können eine Pumpe bedienen, die den Wirtschaftskreislauf symbolisiert, oder ausrechnen, was die Produzenten von Sportschuhen und T-Shirts im globalen Süden verdienen. In einer Ecke können sie eine Handyhülle und eine Shampoo-Flasche über einen Scanner ziehen, wie er an den Kassen der Warenhäuser benutzt wird. Im MdK informiert allerdings ein Text auf dem Bildschirm über die Ausbeutungsverhältnisse, auf denen die Herstellung der Produkte beruht. In den Ausstellungsräumen fallen einem viele ältere Monitore auf. Dort können die Besucher ein kurzes Statement über den Kapitalismus aufnehmen. Sollten diese kapitalismuskritischen Stellungnahmen repräsentativ sein, zählten FDP-Anhänger bisher wohl nicht zu den Besuchern. Aus finanziellen Gründen ist das MdK vorerst nur bis Mitte Juli geöffnet, aber die Organisatoren wollen sich für ein dauerhaftes »Museum des Kapitalismus« in Berlin einsetzen.

http://jungle-world.com/artikel/2014/28/50200.html

Peter Nowak

Gewerkschaft hinter Gittern

In der Berliner JVA Tegel begann eine Organisierung von Gefangenen – weitere Haftanstalten werden folgen

Arbeitsbedingungen, Löhne und die Rente sind auch im Knast ein Thema. Gefangene beginnen nun, sich gewerkschaftlich zu organisieren, um sich Gehör zu verschaffen.

Eine Initiative, die Schule macht: Vor knapp zwei Monaten haben Häftlinge in der Berliner JVA Tegel eine Gefangenengewerkschaft gegründet. Ein Mindestlohn und die Einbeziehung der Häftlinge in die Rentenversicherung sind die beiden zentralen Forderungen. Innerhalb weniger Tage hatten mehr als 150 Häftlinge in der JVA Tegel die Gründungserklärung unterschrieben. Nun laufen in den Haftanstalten Plötzensee, Willich und Aschaffenburg ebenfalls Vorbereitungen für eine Gewerkschaftsgründung. »Wir gehen davon aus, dass in weiteren Knästen eine unabhängige Inhaftiertenorganisierung im Rahmen der Gefangengewerkschaft möglich ist«, erklärt Gewerkschaftsmitbegründer Oliver Rast. Er ist von den Reaktionen positiv überrascht: »Es übersteigt unsere Erwartungen, dass es in so kurzer Zeit gelungen ist, unsere kleine Projektidee einer Gefangenengewerkschaft über die JVA Tegel hinaus auszudehnen«, betonte er.

Für den Gefangenbeauftragten des Komitees für Grundrechte und Demokratie Christian Herrgesell ist dieses große Interesse an einer Interessenvertretung im Gefängnis keine Überraschung. »Ich erhalte häufig Briefe von Gefangenen, die über schlechte Arbeitsbedingungen, miese Löhne sowie die fehlende Einbeziehung in die Rentenversicherung klagen«, betont der Gefangenenbeauftragte. »Der Rentenanspruch von Menschen, die mehrere Jahre in Haft waren, verringert sich drastisch, nach acht bis zehn Jahren gibt es in der Regel kaum noch Hoffnung für ein Auskommen über Hartz-IV-Niveau. Vor allem bei der Entlassung älterer Menschen ist das ein immenses Problem«, betont Herrgesell.

Davon sind auch Menschen betroffen, die in DDR-Gefängnissen inhaftiert waren. Dort waren Gefangene in das Rentensystem integriert. Seit dem BRD-Anschluss wird auch ihnen die Zahlung der Rente verweigert. Dabei gibt es auch in der BRD seit 1976 die gesetzliche Grundlage für die Einbeziehung von Häftlingen in die Rentenversicherung. Doch passiert ist bisher nichts. Eine vom Komitee für Grundrechte initiierte Petition, die von zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen unterstützt wird, ist in die parlamentarische Ausschüsse verwiesen worden.

Eine Gefangenengewerkschaft könnte sowohl beim Mindestlohn als auch beim Thema Rentenversicherung Druck machen. Daher gibt es mittlerweile starken Widerspruch gegen diese Initiative. So erklärte ein Beauftragter des Berliner Justizsenats als Antwort auf eine Kleine Anfrage von Klaus Lederer, der für die Linkspartei im Abgeordnetenhaus sitzt: »Der Senat beabsichtigt nicht, Insassen der Justizvollzugsanstalten entsprechend einem gesetzlichen Mindestlohn zu vergüten.« Die Arbeit und Entlohnung sei nicht mit der Tätigkeit auf dem freien Arbeitsmarkt vergleichbar, lautet die Begründung. Als Antwort auf eine Kleine Anfrage des Mitglieds des Berliner Abgeordnetenhauses Dirk Behrendt (Grüne) bestreitet der Sprecher des Berliner Justizsenats den Gefangenen auch die Gewerkschaftsfreiheit, weil kein Arbeitnehmerverhältnis bestehe. In Köln wurde eine Radiosendung zum Thema Gefangenengewerkschaft in dem Webprojekt »Radio Köln« mit der Begründung abgesetzt, es müsse geprüft werden, ob in dem Beitrag gegen Gesetze verstoßen werde.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/938673.gewerkschaft-hinter-gittern.html

Peter Nowak

Kapitalismus im Museum?

Rechtsfreier Raum Jobcenter

Auf Verarmung folgen häufig Verschuldung und Räumung. Obwohl die Folgen der Hartz-IV-Reformen in Studien dokumentiert werden, sind weitere Verschärfungen geplant.

Peter Hartz schmiedet wieder Pläne. Der ehemalige Manager von VW mit SPD-Parteibuch wurde als Namensgeber der Hartz-Reformen berühmt und berüchtigt. Doch erst als Hartz 2007 im Rahmen des VW-Skandals vor Gericht stand und wegen Untreue in 44 Fällen verurteilt wurde, versuchte man, den Namensgeber vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Nun will er erwerbslose Jugendliche in Spanien mit einem Konzept beglücken, das sich wie eine Neuauflage der Agenda 2010 liest.

Ein persönlicher Entwicklungsplan für die erwerbslosen Jugendlichen soll am Anfang stehen. Experten sollen herausfinden, wo deren persön­liche Stärken und Schwächen liegen. Menschen, die sich im vergangenen Jahrzehnt mit den Hartz-IV-Gesetzen in Deutschland auseinandergesetzt haben, ist solches Profiling als Instrument der Ausforschung bekannt, mit dem die »Kunden« der Jobcenter vermeintlich passgenauer in bestimmte Maßnahmen gepresst werden können. Überdies wird Erwerbslosigkeit ­damit als Problem mangelnder individueller Marktfähigkeit definiert. Während sich Peter Hartz knapp ein Jahrzehnt nach der der Durchsetzung der Agenda 2010 nun für den Export seines Konzepts stark macht, bestreitet in Deutschland kaum jemand mehr, dass Hartz IV für viele Menschen Verarmung bedeutet.

»Mindestens die Hälfte aller erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger hat Schulden- und Suchtprobleme sowie psychosoziale Schwierigkeiten«, lautete das Fazit einer Untersuchung, die der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kürzlich vorstellte. Für das Jahr 2012 geht der DGB von etwa 1,1 Millionen Harzt-IV-Empfängern mit Schuldenproblemen aus. Zu dem gleichen Fazit kommt eine 400seitige Studie, die im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums bereits im vorigen Jahr erstellt wurde.

In beiden Studien wird der Schwerpunkt auf Schulden- und Suchtprobleme von Hartz-IV-Empfängern gelegt. Das ist eine gleich in mehrfacher Hinsicht problematische Methode. Dies fängt schon bei der Wortwahl an. Was bei Hartz-IV-Empfängern als Sucht gebrandmarkt wird, ist bei Menschen mit mehr Geld als individueller Genuss Privatsache. Ein Recht auf Rausch wird Hartz-IV-Empfängern aber weder bei der Errechnung des finanziellen Bedarfs noch in der öffentlichen Diskussion zugestanden. Mit dem Verweis auf die Sucht wird einmal mehr die Schuld und Verantwortung auf die Hartz-IV-Bezieher selbst abgeschoben. Ein Großteil der Bevölkerung sieht sich im Vorurteil vom Hartz-IV-Bezieher bestätigt, der lieber sein Bier vor dem Fernseher konsumiert, als an einer vom Jobcenter verordneten Maßnahme teilzunehmen. Weil er sich zu einer solchen Lebensweise offensiv in einer Talkshow bekannte, wurde Arno Dübel von der Bild-Zeitung »Deutschlands frechster Arbeitsloser« genannt. Den medialen Shitstorm, der daraufhin über ihn hereinbrach, analysierten die Sozialwissenschaftlerin Britta Steinwach und ihr Kollege Christian Baron in dem im Verlag Edition Assemblage erschienenen Buch »Faul, frech, dreist« (Jungle World 29/2012).

Konnte »Deutschlands frechster Arbeitsloser« noch als Ehrentitel durchgehen, griff Bild mit dem Titel vom 13. Mai diesen Jahres eindeutig in die sozialchauvinistische Schublade: »Sozialschmarotzer erklärt, warum ihm Hartz IV zusteht«. Darunter fand sich das Foto von Michael Fielsch, der in der Sendung »Menschen bei Maischberger« erklärt hatte, dass er sein Engagement in der Erwerbslosenbewegung für sinnvoller erachtet als Maßnahmen des Jobcenters. Derzeit tourt Fielsch mit der Ausstellung »In Gedenken an die Opfer der Agenda 2010« durch die Republik. Diese Installation sammelt Daten von Hartz-IV-Beziehern, die Suizid verübten, weil sie keinen Ausweg mehr sahen, die erfroren, nachdem ihre Wohnung geräumt wurde, oder die verhungerten, nachdem sie vom Jobcenter keinerlei Unterstützung erhalten hatten, wie im April 2007 der 20jährige Andre K. in Speyer. Sein Tod wurde in den Medien als Einzelschicksal abgehandelt. Das passierte bei fast allen Todesfällen, die Fielsch dokumentiert und in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt hat. »Die Agenda 2010 sowie die aus der Hartz-Gesetzgebung resultierende, gewollte Armut und Entrechtung betrifft uns alle, direkt oder indirekt, gestern, heute oder morgen«, heißt es auf der Startseite der Homepage zur Ausstellung. Der Referent für Arbeitslosen- und Sozialhilferecht und Mitbegründer des Vereins Tacheles e. V., Harald Thomé, kann diesen Befund mit vielen Beispielen untermauern. Die Verschuldung sei bei Strom, Gas und Mieten ­besonders gravierend, sagt er der Jungle World.

»Die Verelendung durch Hartz IV erfolgt schleichend«, betont Thomé. Als besonders schwerwiegende Konsequenzen für die Betroffenen nennt er den Ausschluss von der gesellschaftlichen Teilhabe. Menschen, die sich keinen Restaurantbesuch und kein Ticket für eine Fahrt mit dem öffentlichen Nahverkehr leisten können, bleibt oft nur der Rückzug in die eigenen vier Wände. Daher trifft sie eine drohende Räumung oder die Abschaltung von Strom und Gas besonders hart.

Verlässliche Zahlen dazu gibt es nicht. »Es gibt nur die Schätzung, dass weniger als ein Drittel der Haushalte von ALG-II-Beziehenden von Sperrungen betroffen sind«, sagt Anne Allex im Gespräche mit Jungle World. Sie ist Mitherausgeberin der noch erhältlichen Broschüre »Strom und Wasser bleiben an – auch bei wenig Geld«. Auf ihrer Homepage (pariser-kommune.de) informiert Allex über die neuesten juristischen und sozialpolitischen Debatten im Zusammenhang mit Erwerbslosigkeit und sozialer Ausgrenzung. Einen wesentlichen Grund für die Verschuldung im Bereich Energie sieht sie in den zu gering bemessenen Stromkosten im Regelsatz von Erwerbs­losen. So werden in Hamburg für Hartz-IV-Bezieher Stromkosten zwischen 35 und 38 Euro pro Person monatlich berechnet. »Das entspricht einem Verbrauch unter 1 100 Kilowattstunden jährlich. Der Sparverbrauch liegt allerdings bei 1 200 Kilowattstunden. Der Durchschnittsverbrauch eines deutschen Haushalts liegt bei 2 250 Kilowattstunden im Jahr«, rechnet Allex vor.

Neben der systematischen Unterversorgung, die zu Verschuldung führen muss, weist Harald Thomé auf gesetzwidrige Auslegung der Bestimmungen zuungunsten der Betroffenen in vielen Jobcentern hin. Die Behörden lassen es auf Klagen ankommen, die die Hartz-IV-Bezieher in der Regel gewinnen. Doch vielen Menschen fehlt die Kraft, eine Klage einzureichen. Auch der Sprecher der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen, Martin Künkler, moniert einen »rechtsfreien Raum Jobcenter«. Erwerbslose er­leben immer wieder, dass Jobcenter ihnen Leistungen zu Unrecht vorenthalten, auf die sie Anspruch haben. Neben den Kosten für Energie betrifft das auch die Miete. »Bei Kosten für die Wohnung setzt das Amt häufig die Obergrenze dessen, was gezahlt werden muss, zu niedrig an«, erklärt Künkler.

Am Ende steht nicht selten die Räumung. Widerstand von Erwerbslosen ist die absolute Ausnahme, betont Thomé. Schulden werden als individuelles Problem gesehen, das die Menschen eher gesellschaftlich stigmatisiert als politisch mobilisiert. Doch es gibt Ausnahmen. In Forst gründete sich im vorigen Jahr der »Freundeskreis Bert Neumann«, nachdem ein in antifaschistischen Gruppen aktiver Erwerbsloser mit einer Totalsperre seiner Leistungen bedacht wurde (Jungle World 5/2013). In Berlin hat die Jobcenter-Aktivistin Christel T. in Kooperation mit der Gewerkschaft FAU einen Antisanktionskampffond gegründet. Der soll Erwerbslosen, die von einer Totalsperre betroffen sind, finanzielle Unterstützung sichern.

Solche Hilfsmaßnahmen könnten noch öfter ­gebraucht werden. Unter dem unverfänglichen Titel »Rechtsvereinfachung im SGB II« listete eine aus wirtschaftsnahen Verbänden und Vertretern der Bundesagentur für Arbeit zusammengesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf mehr als 40 Seiten Maßnahmen auf, die die Verarmung von Hartz-IV-Empfänger noch beschleunigen könnten. So drängt die Bundesagentur für Arbeit (BA) auf schärfere Sanktionen für Langzeiterwerbslose, die wiederholt Termine beim Jobcenter versäumten. Bislang werden die Leistungen in diesen Fällen um maximal 30 Prozent gekürzt, künftig sollen sie nach dem Willen der BA auch ganz gestrichen werden können. Die Möglichkeit, Bescheide der Jobcenter auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen, soll eingeschränkt werden und mit Kosten verbunden sein. Ab September soll es in mehreren Städten gegen diese Ausweitung der rechtsfreien Zone Jobcenter Protestaktionen geben. Martin Künkler hat bei einem bundesweiten Treffen von engagierten Erwerbslosen Mitte Juni eine neue Proteststimmung nach Jahren der Resignation ausgemacht.

Ob sich indes der Hartz-IV-Export so problemlos durchsetzen lässt wie das Original in Deutschland, ist noch nicht ausgemacht. In Spanien existiert schließlich eine große Protestbewegung, die auch die Initiativen gegen Wohnungsräumungen in Deutschland inspiriert hat. Peter Hartz hat aber nicht nur Spanien im Visier. Er war auch schon als Berater für Sozialreformen beim fran­zösischen Präsidenten François Hollande im Gespräch. Auch dort dürfte die Verarmung per Gesetz nicht so reibungslos durchzusetzen sein wie in Deutschland. Aber es gibt auch Menschen, die dank der Hartz-IV-Reformen gut verdienen. Zu ihnen zählt die konservative Publizistin Rita Knobel-Ulrich. Mit ihrem viel verkauften Buch »Reich durch Hartz IV«, in dem sie Erwerbslosen vorwirft, den Sozialstaat zu schröpfen, tingelt sie durch viele Talkshows und fordert härtere Sanktionen für Erwerbslose.

http://jungle-world.com/artikel/2014/27/50157.html

Peter Nowak

Kämpfst du schon?

In der beschaulichen Landhausstraße im Berliner Bezirk Wilmersdorf gab es in den vergangenen Wochen gleich zweimal mehrstündige Kundgebungen mit rot-schwarzen Fahnen. Die Basisgewerkschaft Freie Arbeiter-Union (FAU) protestierte damit gegen die Kündigung von acht Beschäftigten der Schwedischen Schule Berlin (SSB), die dort ihr Domizil hat. Die gesamte Belegschaft der Schule war am 28. Mai entlassen worden. Zuvor hatte sie in einem offenen Brief gegen von der Schulleitung geplante Lohnkürzungen bei der Hortbetreuung protestiert. Es ist nicht ihr erster Arbeitskampf. Bereits vor vier Jahren wehrte sich die Belegschaft erfolgreich gegen schlechte Arbeitsbedingungen. Damals entstand auch die FAU-Gruppe an der Schule. Mehrere der schwedischen Beschäftigten waren zuvor schon in der Schwestergewerkschaft SAC organisiert, die allerdings wesentlich größer als die FAU ist. Die SAC hat mittlerweile in Schweden eine Solidaritätskampagne für die Berliner Kollegen initiiert. Die Berliner Schule untersteht der protestantischen Kirche Schwedens – für kleruskritische Gewerkschaften ein Wunschgegner. Dennoch ist die Kampagne in Berlin sehr bürgerfreundlich angelegt. Während der Kundgebungen schallten aus den Lautsprechern schwedische Kinderlieder, auf Luftballons stand »Komi gen, Lena«, was übersetzt »Komm schon, Lena« bedeutet. Dieser freund­liche Appell an die Geschäftsführerin der SSB, Lena Brolin, die Kündigung wieder zurückzunehmen, zeigte allerdings noch keine Wirkung. Alle Gesprächsangebote der FAU seien bisher ignoriert worden, sagt ein betroffener Erzieher der Jungle World. Nun haben sich schon 13 Eltern mit den Beschäftigten solidarisiert und fordern deren Wiedereinstellung und eine Schlichtung im Konflikt. Wenn auch sie nicht gehört werden, dürfte es noch häufiger Kundgebungen unter schwarz-roten Fahnen in Wilmersdorf geben, und die Appelle an Lena würden wohl nicht mehr so freundlich ausfallen.

http://jungle-world.com/artikel/2014/26/50119.html

Peter Nowak

Eine Arbeitszeit, die dem Chef gefällt