Überstunden, die durch Zeitkonten abgegolten werden und Zeitarbeit im Einzelhandel sind zwei Seiten der gleichen Medaille
Eigentlich ist es eine gute Nachricht, wenn die Zahl der Überstunden zurückgeht. Doch wenn man eine Studie [1] des wirtschaftsnahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) genauer liest, stellt man fest, dass nur die Zahl der bezahlten Überstunden in Deutschland zurückgegangen ist.
Aktuell machen vier von fünf Vollzeitbeschäftigten bezahlte Überstunden. In den Hochzeiten des Fordismus in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts war die Anzahl der Überstunden viereinhalb Mal höher als heute. Damals seien pro Jahr durchschnittlich 170 bezahlte Überstunden angefallen. Pro Woche waren es vier Stunden. Vor 20 Jahren war ihre Zahl dann auf 57 und 2013 auf 37 Stunden gesunken. Damit machen Überstunden laut der Studie aktuell weniger als drei Prozent der gesamten Lohnarbeitszeit aus.
Statt Geld Freizeitausgleich
Als Hauptgrund für den Rückgang der bezahlten Überstunden sieht IW-Forscher Holger Schäfer, dass die meisten Unternehmen Arbeitszeitkonten einführten. Wer länger malocht als vorgesehen, sammelt die Stunden an und nimmt sie frei, wenn weniger los ist. Dabei können manche Beschäftigte später ganze Tage freinehmen, etwa beim Staat. In Branchen mit viel Kundenkontakt wie beim Einzelhandel genießen die Mitarbeiter dieses Privileg eher nicht, sondern dürfen nur an einem Arbeitstag früher nach Hause.Laut der IW-Studie müssen vor allem Akademiker länger arbeiten.
„Je anspruchsvoller der Job, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Feierabend öfter mal verschoben werden muss“, heißt es dort.
Dass nur 60 Prozent der Arbeitnehmer ohne Berufsausbildung Überstunden, aber mehr als 80 Prozent der Akademiker Überstunden leisten, begründete das IW so:
Davon abgesehen, dass zumindest sprachlich die Frauenförderung in dem wirtschaftsnahen Institut noch nicht angekommen scheint, steckt auch ansonsten in der Erklärung wie in der gesamten Studie viel marktliberale Ideologie.
Zeitarbeit statt Überstunden
So heißt es dort: „Am seltensten wird die Regelarbeitszeit im Einzelhandel überschritten. Dort machen annähernd 30 Prozent der Arbeitnehmer nie Überstunden.“ Tatsächlich sind nicht Überstunden, sondern Lohnarbeit auf Abruf und Zeitarbeit das große Problem für viele Beschäftigten in der Einzelhandelsbranche. So klagen Beschäftigte darüber, einige Stunden zum Auffüllen von Regalen und dann noch mal zum Kassieren an ihren Arbeitsplatz kommen zu müssen.
Die zerstückelte Arbeitszeit macht eine Lebensplanung außerhalb der Lohnarbeitszeit schwer. Auch die durch die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten bedingte Ausdehnung der Lohnarbeitszeiten in manchen Discoutern bis Mitternacht sind immer wieder Grund für Klagen der Beschäftigten.
Mehr durch Arbeitszeitkonten abgegoltene Überstunden für Akademiker und Führungskräfte, Zeitarbeit im Einzelhandel und anderen Branchen – so unterschiedlich die Problemlagen auf den ersten Blick zu sein scheinen, haben sie doch eines gemeinsam: In beiden Fällen geht es darum, die Arbeitskraft der Lohnabhängigen besonders profitabel im Interesse der Unternehmen zu nutzen. Wie die Süddeutsche Zeitung in Bezug auf die Überstunden, die durch Freizeit statt durch Lohn abgegolten werden, richtig schreibt [2], handelt es sich um einen „bequemen Passus für den Chef“.
Genau so profitabel für die Chefs sind die zerstückelten Arbeitszeiten und die Zeitarbeit im Einzelhandel und in vielen Dienstleistungsbranchen. Für die betroffenen Beschäftigten sind beide Formen der Lohnarbeit mit Stress und Gesundheitsschäden verbunden. Burnout durch zu viele Überstunden ist heute ebenso eine Alltagserscheinung wie Schlafstörungen wegen zerstückelter Zeitarbeit.
Dabei macht es die Entwicklung der Produktivkräfte möglich, die Stundenzahl der gesellschaftlich notwendigen Lohnarbeit beträchtlich zu reduzieren. Doch eine Studie darüber ist vom wirtschaftsnahmen IW nicht zu erwarten.
http://www.heise.de/tp/news/Eine-Arbeitszeit-die-dem-Chef-gefaellt-2240264.html
Peter Nowak
Links:
[1]
[2]