Bekommt die griechische Bevölkerung mehr Zeit zum Atmen beim Opfern?

Merkel will weitere Opfer von der griechischen Bevölkerung. Wie die reagiert, dürfte eine wichtige Frage sein, die in den hiesigen Medien kaum diskutiert wird

Soll Griechenland in der Eurozone bleiben oder nicht? Diese Frage geht auch nach dem Besuch des griechischen Ministerpräsidenten Samaras in Berlin weiter. Auch wenn Merkel in der gemeinsamen Pressekonferenz betonte, dass sie Griechenlands Verbleib in der Eurozone wünsche, setzte sie sogleich hinzu, dass die griechische Regierung den Worten Tagen folgen müsse. Dass heißt konkret, die griechische Regierung muss noch weitere Sparprogramme in einem Land durchsetzen, in dem große Teile der Bevölkerung schon weit jenseits der Armutsgrenze leben.

In der letzten Zeit gab es etwa verschiedene Berichte über die Situation des griechischen Gesundheitswesens, wo es oft nur noch Medikamente gegen Bargeld gibt. Dass Merkel diese Zustände nicht unbekannt sind, kleidete sie in die Worte, dass die Regierung von der Bevölkerung bereits große Opfer verlangt habe. Auf diesen Weg soll sie weitermachen und dabei habe Samaras die Unterstützung der deutschen Regierung. Dass aber weitere Opfer bei einer Bevölkerung, die in wenigen Monaten eine im Euroraum beispiellose Senkung ihres Lebensstandards erfahren hat, die Frage aufwerfen, von was sollen die Leute überhaupt noch leben, wird dabei völlig ausgeblendet.

Denn auch der griechische Ministerpräsident wollte vor allem als gelehriger Schüler gelten, der beteuerte, wie gut seine Regierung die von der EU diktierten Vorgaben umsetzen will. Er erklärte es zur Frage der nationalen Ehre, dass seine Regierung die Schulden zurückzahle, und wollte selber dafür bürgen. Hierin offenbarte sich ein seltsames Demokratieverständnis, das eher an den feudalistischen Spruch: „Der Staat bin ich“ erinnert und nicht für die Situation in einer bürgerlichen Demokratie angemessen scheint, in der Politiker bekanntlich nur für kurze Zeit im Amt sein sollen. Zudem hat Samaras noch als Oppositionspolitiker heftig gegen die EU-Diktate mobil gemacht.

Wie lange hält die griechische Regierung?

Wie will Samaras seine Bürgschaft einhalten, wenn seine Koalition scheitern sollte und nach abermaligen Neuwahlen doch noch eine Koalition mit der Linksopposition Syriza an die Regierung kommt. Die hatte bekanntlich die Schuldenstreichung oder zumindest die Neuverhandlung über das Rettungspaket zur zentralen Forderung erhoben. Wenn der konservative Gegenspieler die Frage der Schuldenbegleichung zur nationalen Ehre erklärt, liefert er ein direktes Kontrastprogramm zur Linksopposition und gibt damit auch jegliche Druckmittel aus der Hand, um mehr Zeit für die Durchsetzung der Opfer unter der Bevölkerung zu erreichen. Die Dramatik der Situation drückte er in den Worten aus, er wolle mehr Zeit zum Atmen haben.

Für viele Menschen in Griechenland sind das nicht bloß Worte. Während sich verschiedene Politiker von Union und FDP nun weiter darüber streiten, ob Griechenland etwas mehr Zeit gewährt werden soll oder nicht, und die SPD und die Grünen durchaus mit Verweis auf deutsche Interessen eher dafür plädieren, sind sich diese Parteien aber darin einig, dass die griechische Bevölkerung noch weitere Opfer bringen muss. Es geht dann zwischen SPD und Grünen auf der einen und den Parteien der Regierungskoalition auf der anderen Seite nur darum, wie lange die griechische Regierung Zeit gewährt werden soll. Völlig ausblendet wird dabei, dass ein Großteil der griechischen Bevölkerung für Parteien gestimmt hat, die für eine Schuldenstreichung eingetreten sind und dass in den gesamten letzten Monaten Zigtausende Menschen für diese Forderungen auf die Straße gegangen sind. Die griechische Bewegung für einen Schuldenmemorandum bekam für ihre Forderungen über alle Parteien hinweg Unterstützung.

Wie die parlamentarische und mehr noch die außerparlamentarische Opposition in Griechenland darauf reagieren wird, dass der konservative Ministerpräsident weiter Opfer auf ihre Kosten ankündigt, ist völlig offen. Sollte der Druck auf der Straße wieder wachsen, werden die Risse in der heterogenen Koalition in Athen stärker werden. Nur Bernd Riexinger von der Linken und Teile der außerparlamentarischen Bewegung erinnern daran, dass eigentlich nicht die griechische Bevölkerung, sondern die Banken von der Troika „gerettet“ werden. Schließlich ist auch in der kleinen außerparlamentarischen Bewegung hierzulande das Interesse an den Ereignissen in Griechenland schnell wieder geschwunden, nachdem der Wahlsieg der Konservativen feststand. Wurden noch Mitte Mai im Berliner IG-Metall-Haus Delegierte der streikenden Stahlarbeiter aus Griechenland von Hunderten bejubelt, so gab es kaum Reaktionen, als die Stahlarbeiter nach massiven Druck von Polizei und Unternehmen den Ausstand vor einigen Wochen erfolglos beenden mussten.

Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland interessiert sich sowieso nur für die Frage, ob es dem Standort Deutschland mehr nützt, wenn Griechenland in der Eurozone gehalten wird oder nicht, und will, so der aktuelle Politbarometer, der griechischen Bevölkerung nicht mehr Zeit zum Durchatmen zwischen den Opfergängen gönnen.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152656
Peter Nowak

»Die Bewegung ist schwächer, aber inhaltlich schärfer«

Mitglieder der andalusischen Gewerkschaft Sindicato de Trabajadores (SAT) machten vor kurzem durch die Aneignung von Lebensmitteln in spanischen Supermärkten und Besetzungen von brachliegendem Land international auf sich aufmerksam (Jungle World 33/2012). Die Jungle World sprach mit Miguel Sanz Alcántara über die Reaktionen auf die Aktionen und über gewerkschaftliche Organisierung in Spanien und Europa. Er ist Koordinator der SAT in Sevilla.

Interview: Peter Nowak

Landbesetzungen und Aneignungen in Supermärkten gehören nicht zu den klassischen Gewerkschaftsaktivitäten. Warum greift die SAT zu solchen Mitteln?

Beide Aktionen müssen getrennt voneinander diskutiert werden. Landbesetzungen gehören seit ihrer Gründung am 23. September 2007 zu den Aktionsformen unserer Gewerkschaft. Eine ihrer Vorgängerinnen war die andalusische Landarbeitergewerkschaft Sindicato de Obreros de Campo (SOC). Sie ist 1977 kurz nach dem Ende des Franco-Regimes entstanden. Dort waren neben einer maoistischen Strömung auch Teile der christlichen Linken aktiv. Schwerpunkt der SOC war die Organisierung der andalusischen Landarbeiter. Sie stützte sich dabei auf Erfahrungen, wie sie im Franco-Faschismus mit den illegalen comisiones jornaleras (Ausschüsse von Tagelöhnerinnen und Tagelöhnern) gemacht wurden. Dabei standen Landbesetzungen mit der Forderung nach einer Neuaufteilung des Bodens unter der bäuerlichen Bevölkerung im Mittelpunkt der Gewerkschaftsarbeit.

Ist die Kollektivierung von Lebensmitteln eine neue Aktionsform?

Wir haben die Lebensmittel aus den Supermärkten geholt und unter den Erwerbslosen verteilt, um Druck auf die Regierung auszuüben. Sie muss sicherstellen, dass die Grundbedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung befriedigt werden. Es ist natürlich nicht möglich, mit 20 Einkaufswägen voller Lebensmittel die Folgen der Wirtschafskrise zu lindern. Aber wir wollten deutlich machen, dass in der Krise viele Menschen Not leiden. Sie müssen entscheiden, ob sie ihr geringes Einkommen für die Begleichung der Stromrechnung oder für Lebensmittel ausgeben, während die großen Unternehmen mit Millionen subventioniert werden.

Hat die Umverteilungsaktion nicht auch viel Zuspruch in autonomen und anarchistischen Kreisen gefunden?

Es gab viel Zustimmung und auch Nachfolgeaktionen. Aber nicht alle waren im Sinne unserer Gewerkschaft. So hat eine Gruppe andalusischer Jugendlicher mit Bezug auf uns eine Aktion in einem Supermarkt durchgeführt, sich dabei aber vor allem auf alkoholische Getränke beschränkt. Davon hat sich die SAT distanziert.

Nach der Aktion gab es in Spanien eine heftige Debatte über deren Legitimität. Befürchten Sie weitere Repressionen gegen ihre Gewerkschaft?

Die SAT wird von der Justiz seit langem ökonomisch in Bedrängnis gebracht. Wegen verschiedener Besetzungsaktionen musste unsere Gewerkschaft insgesamt 400 000 Euro Strafe zahlen. Weitere Repressalien gegen die SAT sind durchaus wahrscheinlich, aber wir fürchten uns nicht davor. Schließlich haben sie in der Vergangenheit unserer Gewerkschaft Sympathie eingebracht. Mittlerweile hat die SAT auch eine europaweite Spendenaktion initiiert. Die Kontodaten finden sich auf unserer Website (»Llamamiento urgente de solidaridad«).

Wie sieht es mit der Solidarität der anderen spanischen Gewerkschaften aus?

Im Unterschied zu den großen Gewerkschaften UGT und CCOO, die viele öffentliche Gelder zur Verfügung haben, kann unsere Gewerkschaft ausschließlich auf Eigenmittel zurückgreifen. An der Basis gibt es immer wieder Zusammenarbeit bei Streiks und sozialen Auseinandersetzungen. Aber die großen Gewerkschaften sehen uns als Konkurrenz und haben natürlich kein Interesse daran, dass wir an Einfluss gewinnen. So wird SAT-Mitgliedern auf Demonstrationen das Rede­recht verweigert. Wir sehen unsere Rolle vor allem darin, Druck von unten auch auf die großen Gewerkschaften auszuüben, damit sie eine kämpferische Politik machen und die Linie der Sozialpartnerschaft aufgeben.

Wie ist die Zusammenarbeit mit den in Spanien traditionell starken anarchosyndikalistischen Gewerkschaften?

Wir haben gute Kontakte zu den anarchosyndikalistischen Basisgewerkschaften in konkreten Auseinandersetzungen. Sie versuchen ebenso wie die CCOO, verstärkt Menschen mit prekären Jobs im wachsenden Dienstleistungssektor zu organisieren. Allerdings haben wir als SAT aufgrund unserer Geschichte eine Struktur, die es uns einfacher macht, diese Beschäftigten zu organisieren.

Hat es die SAT aufgegeben, sich auf die Organisierung der Landarbeiter zu konzentrieren?

Für uns sind beide Sektoren wichtig. Wir haben natürlich auf die ökonomischen Veränderungen reagiert. Während Ende der siebziger Jahre der Agrarsektor dominierte, ist in den letzten beiden Jahrzehnten der Dienstleistungssektor in den Städten kontinuierlich gewachsen. Die Beschäftigten sind oft junge Menschen, die die Dörfer in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen verlassen. Doch sie finden nur extrem prekäre Arbeitsplätze. Wir können unserer Erfahrung bei der Organisierung der Landarbeiter nutzen, wenn wir gewerkschaftliche Strukturen im Dienstleistungssektor aufbauen.

Vor einigen Jahren entstand in Spanien die »Euromayday«-Bewegung, die gezielt Prekäre aus dem Dienstleistungsbereich organisierte und auch in Deutschland bekannt wurde. Mittlerweile ist es um sie ruhig geworden. War die SAT daran beteiligt?

Die SAT hat dort von Anfang an mit anderen außerparlamentarischen Linken zusammengearbeitet. Auch in Spanien war die Bewegung nur für einige Jahre erfolgreich. Trotzdem sehen wir die Erfahrungen sehr positiv. Wir haben in der »May­day«-Bewegung viel darüber gelernt, wie sich Prekäre im Dienstleistungssektor wehren und organisieren können. Dabei sehen wir die Bewegung in einem größeren Zusammenhang der Neuorientierung einer außerparlamentarischen Linken, die weder in politischen Parteien noch in den bisherigen Gewerkschaften organisiert war und die auch eine Distanz zur anarchosyndikalistischen Bewegung hat. Hier spielte der Zapatismus in den neunziger Jahren eine große Rolle. Später kamen die theoretischen Schriften von Antoni Negri und Michael Hardt hinzu. Vor allem ihr Buch »Empire« hatte einen großen Einfluss auf diese außerparlamentarische Linke und die in Spanien starke globalisierungskritische Bewegung. Diese Vorstellungen gerieten 2003 mit dem Krieg gegen den Irak in eine Krise. Schließlich lautet die zentrale These in »Empire«, dass die Nationalstaaten und der klassische Imperialismus am Ende sind. Viele Aktivisten sahen diese These durch den Krieg gegen den Irak in Frage gestellt. Zudem verlor Negri in großen Teilen der außerparlamentarischen Bewegung an Sympathie, weil er sich hinter die EU in ihrer gegenwärtigen Form stellte. Viele Aktivisten aus diesen Bewegungen der vergangenen Jahre sind jetzt bei der SAT aktiv.

Mit der Bewegung der »Empörten«, die im vorigen Jahr von Spanien auch auf andere Länder übergriff, scheint eine neue außerparlamentarische Bewegung schon wieder Geschichte. Könnte die SAT davon profitieren?

Die Bewegung der »Empörten« hat zu einer Stärkung der Basisgewerkschaften geführt. Viele Aktivisten arbeiten jetzt bei der SAT mit. Dabei war in wenigen Monaten ein inhaltlicher Wandel zu beobachten. Die »Empörten« wandten sich in ihrer Gründungsphase pauschal gegen alle Organisationen. Deshalb durften auch SAT-Mitglieder dort nicht ihre Flugblätter verteilen. Doch nach einigen Monaten begannen die Aktivisten zu unterscheiden zwischen Organisationen, die den Kapitalismus verteidigen oder reformieren wollten, und solchen, die ihn bekämpfen. Die Bewegung ist schwächer, aber inhaltlich schärfer geworden. Die letzten großen gewerkschaftlichen Mobilisierungen wären ohne sie nicht denkbar gewesen. Dabei ist vor allem der landesweite Generalstreik am 29. März dieses Jahres zu nennen.

War das eine einmalige Aktion, oder sind weitere geplant?

Der Erfolg des 29. März bestand darin, dass die Auseinandersetzungen auf einem hohen Niveau geführt wurden und die Streikbeteiligung sehr groß war. Aber mit einem eintägigen Generalstreik, wie er von den großen Gewerkschaften propagiert wird, ist es natürlich nicht getan. Auch nach dem 29. März gingen die Auseinandersetzungen in ganz Spanien weiter. Dazu gehören Landbesetzungen und Lebensmittelaneignungen in Andalusien, aber auch Aktionen wie der Bergarbeiterstreik in Andalusien, der durch den Marsch der Beschäftigten nach Madrid im ganzen Land ein großes Echo fand. Zurzeit laufen die Vorbreitungen für einen Aktionstag am 15. September auf Hochtouren. Zudem gibt es Überlegungen, Mitte Oktober einen gemeinsamen, gleichzeitigen Streik von Beschäftigten in Spanien, Italien und Griechenland zu organisieren. Wir wissen nicht, ob er zustande kommt. Er hätte aber für eine europaweite Organisierung gegen die Krisenfolgen eine große Bedeutung.

http://jungle-world.com/artikel/2012/34/46112.html
dänische Übersetzung: http://www.modkraft.dk/artikel/fagforening-derfor-stj%C3%A6ler-vi-madvarer
Interview: Peter Nowak

Nur noch eine Mahlzeit am Tag

Interview Enteignung von Supermarkt-Lebensmitteln, Landbesetzung: Der Koordinator der andalusischen SAT in Sevilla erklärt, wie die Gewerkschaft gegen die Folgen der Krise kämpft

Der Freitag: Ihre Gewerkschaft SAT hat in den vergangenen Wochen mit Landbesetzungen und Enteignungsaktionen in Supermärkten auf sich aufmerksam gemacht. Warum greift die SAT zu solchen Mitteln?

Miguel Sanz Alcántara: Dazu muss man mehr über die Geschichte der SAT wissen. Sie wurde 2007 gegründet und hat sich aus der andalusischen Landarbeitergewerkschaft SOC entwickelt. Dort waren seit 1977 neben vielen unabhängigen Kollegen eine maoistische Strömung sowie Sektoren der christlichen Linken vertreten. Schwerpunkt der SOC war die Organisierung der andalusischen Landarbeiter. Landbesetzungen gehörten seit unserer Gründung zu den wichtigen Kampfmitteln.

Sind die Lebensmittelenteignungen, eine neue Aktionsform?

Wir haben die Lebensmittel aus den Supermärkten enteignet und unter den Erwerbslosen verteilt. Es ist natürlich nicht möglich, mit Lebensmittelenteignungen die Folgen der Wirtschaftskrise zu lindern. Aber wir wollten deutlich machen, dass durch die Krise Menschen Not leiden und sich keine qualitativ wertvolle Nahrung leisten können, während den Banken Millionen geschenkt werden. Immer mehr Menschen müssen entscheiden, ob sie ihr Geld für das Begleichen der Stromrechung oder für Lebensmittel ausgeben. Es gibt zudem immer mehr Kinder, die nur noch einmal am Tag eine Mahlzeit zu sich nehmen. Mit unserer Aktion wollen wir Druck auf die Regierung ausüben, damit den Erwerbslosen genügend Geld für Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt wird.

Nach der Aktion gab es auch in Spanien eine heftige Debatte darüber, ob sie legitim war. Befürchten Sie Repressionen gegen Ihre Gewerkschaft?

Die rechtskonservative Regierung zieht die Repressionsschraube gegen Gewerkschaften an. Davon ist nicht nur die SAT betroffen. Seit dem erfolgreichen Generalstreik vom 29. März 2012 waren Gewerkschafter der Arbeiterkommissionen CCOO aber auch der anarchosyndikalistischen Gewerkschaften mit Razzien und sogar Festnahmen konfrontiert. Die SAT wird von der Regierung seit langem ökonomisch stranguliert. Wegen verschiedener Besetzungsaktionen musste unsere Gewerkschaft insgesamt 400.000 Euro Strafe zahlen. Weitere Repressalien machen die SAT nur populärer und die Solidarität wächst. Diese Erfahrungen haben wir in den letzten Monaten gemacht.

Spanien war einer der Zentren der Bewegung der Empörten im letzten Jahr. Wie sieht es zur Zeit mit den Krisenprotesten aus?

Tatsächlich ist die Bewegung der Empörten schwächer geworden. Aber es hat auch inhaltliche Fortschritte gegeben. Während im letzten Jahr von dem Großteil der Empörten noch alle Organisationen, auch die SAT abgelehnt wurde, wird jetzt unterschieden zwischen Organisationen, die für die Krise verantwortlich sind und andere, die dagegen kämpfen. Für den 15. September sind Großaktionen in Spanien geplant, an denen auch Kollegen aus anderen, vor allem südeuropäischen Ländern teilnehmen sollen. Für Mitte Oktober ist ein gemeinsamer Streik von Beschäftigten in Spanien, Italien und Griechenland in der Diskussion. Ob es gelingt, wird von der Rolle der großen Gewerkschaften abhängen.
http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/nur-noch-eine-mahlzeit-am-tag
Interview. Peter Nowak

Ertasten verboten

Sehbehinderte sind Leidtragende im internationalen Urheberrechtsstreit. EU-Kommission bremst Verhandlungen über Sonderregelungen

Die Verhandlungen über Sonderregelungen im Urheber- und Verwertungsrecht zugunsten von sehbehinderten Menschen schienen auf einem guten Weg. Eine international ausgehandelte Vereinbarung sollte es ermöglichen, urheberrechtlich geschützte Werke schneller in Blindenschrift oder in maschinenlesbare beziehungsweise hörbare Formate umzuwandeln. Während sich das EU-Parlament für die Ausnahmeregelungen einsetzt, hat sich die Leiterin der Abteilung Urheberrecht beim EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier dagegen ausgesprochen. Die Interessenverbände der Sehbehinderten kritisieren die Verzögerungspolitik der EU-Behörden

Als eine Beleidigung für die 285 Millionen Sehbehinderung, die ihr Verband vertrete, bezeichnete Maryanne Diamond von Weltblindenorganisation eine Verzögerungspolitik bei der sich neben der Regierung der USA auch die EU-Kommission besonders hervorgetan hat. Es geht um die Beschränkung des Urheber- und Verwertungsrechtes zugunsten von Blinden und Sehbehinderten. Diese Ausnahmeregelungen würden es ermöglichen, urheberrechtlich geschützte Werke schneller in Blindenschrift oder in maschinenlesbare beziehungsweise hörbare Formate umwandeln zu können Dieses Anliegen würde dem allgemein anerkannten Anliegen, der Diskriminierung von Sehbehinderten und Blinden entgegenzutreten, sehr entgegenkommen. Für die Ausnahmeregelungen hatte sich auch das EU-Parlament eingesetzt. Die Verhandlungen schienen auf einen guten Weg und für das nächste Jahr war eine Internationale Vertragskonferenz zu dem Thema geplant. Umso überraschter waren Interessenverbände der Sehbehinderten über die Haltung von Maria Martin-Prat, der Leiterin der Abteilung Urheberrecht bem EU-Innenkommisaar Michel Barnier Sie hat sich vehement gegen die Sonderregelungen eingesetzt und damit Hoffnungen der Sehbehinderten zunichte gemacht. Sie sehen in dieser Haltung eine erfolgreiche Lobbyarbeit der Rechteinhaber. Dieser Kritik schließen sich auch Nichtregierungsorganisationen an. So meinte der Direktor der NGO Knocklodge Ecology International (KEI), die sich stark für die Sonderregelung einsetzt, die Vertreter der USA und der EU agierten bei den Verhandlungen „wie von den großen Verlagen gesteuert“. An dieser Frage lasse sich auch ein großes Demokratiedefizit feststellen. Während das gewählte EU-Parlament eine verbindliche Schrankenregelung. zugunsten der Sehbehinderten unterstützte, würden sich Fachleute wie Prat, darüber hinwegsetzen. .
EU-Innenkommissar Barnier sieht die Verantwortung für den Stillstand bei den i den EU-Mitgliedsländern. Der Sprecher von Barnier Stefaan De Rynck erklärte gegenüber heise.online, der Innenkommissar sei „entschlossen, die ungerechtfertigte Diskriminierung von sehbehinderten Menschen zu bekämpfen, aber die Kommission kann das nicht effektiv tun, solange sie von den Mitgliedsstaaten nicht mit einem Verhandlungsmandat ausgestattet ist“.
Auch die Bundesregierung gehört nach Informationen von heise.online zu den Gegnern einer Sonderregelung für die Sehbehinderten. Justizministerin Leutheusser-Scharrenberger sieht auch weiterhin keinen Handlungsbedarf. „“Wir warten mal ab. Wir haben bei dem Thema noch nie zu den Vorreitern gehört,“ sagte sie vor einigen Tagen. Das ist nicht verwunderlich. Schließlich macht die FDP auch in der deutschen Innenpolitik immer wieder deutlich, dass ihr die Anlegen der Industrie sehr am Herzen liegen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/234389.sehbehinderte
-sind-leidtragende-im-internationalen-urheberrechtsstreit.html

Peter Nowak

Weniger Demokratie wagen

Die Empfehlungen des italienischen Ministerpräsidenten, sich in der europäischen Politik von den Parlamenten unabhängiger zu machen, ist schon längst Praxis

Zur Zeit vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Politiker vor dem Auseinanderbrechen der Eurozone und einem Ende des Euro warnen. Zu Wochenbeginn versuchte sich der italienische Ministerpräsident Mario Monti als Kassandra. In einem Interview mit dem Spiegel sparte er nicht mit düsteren Szenarien. „Die Spannungen, die in den letzten Jahren die Euro-Zone begleiten, tragen bereits die Züge einer psychologischen Auflösung Europas“, so der italienische Ministerpräsident.

Wenn der Euro scheitert, dann so Monti, „sind die Grundlagen des Projekts Europa zerstört“. Natürlich hatten diese Warnungen einen bestimmten Zweck. In Zeiten des Quasinotstands sind auch besondere Politikmethoden angebracht, die Monti denn auch gleich benannte. „Wenn sich Regierungen vollständig durch die Entscheidungen ihrer Parlamente binden ließen, ohne einen eigenen Verhandlungsspielraum zu bewahren, wäre das Auseinanderbrechen Europas wahrscheinlicher als eine engere Integration.“ Die Reaktion der deutschen Politik ließ nicht lang auf sich warten.

Monti, Draghi und die italienischen Interessen

Die Akzeptanz für den Euro und seine Rettung wird durch nationale Parlamente gestärkt und nicht geschwächt“, sagte SPD-Fraktionsvize Joachim Poß der Rheinischen Post und vergaß nicht, Zensuren in Demokratiesimulation zu verteilen. Offensichtlich habe in Italien in den „unsäglichen Berlusconi-Jahren das Parlamentsverständnis gelitten“, keilte Poß. In Richtung Italien noch deutlicher wird der als Europaskeptiker bekannte, zum nationalliberalen Flügel der FDP gehörende Frank Schäffler: „Monti will seine Probleme auf Kosten des deutschen Steuerzahlers lösen und verpackt das in Europa-Lyrik“. Variiert er das Lamento deutsche Politiker von rechtsaußen bis in die SPD, dass Deutschland nicht der Zahlmeister Europas werden dürfe.

Die Parole stand vor einigen Wochen bei einer Protestaktion vor dem Reichstagsgebäude auf einem Transparent der NPD und wird in letzter Zeit von Bundestagsabgeordneten von CSU und FDP gegen Griechenland und nun auch Italien in Stellung gebracht. Die Monti-Schelte ist Teil dieser Politik. Hatte er doch in dem Spiegel-Interview auch v die jüngste Pressemitteilung des Präsidenten der Europäischen Zentralbank Mario Draghi gelobt, in der er den Euro auch mit den Mitteln der EZB verteidigen wollte. Diese Erklärung war von Politikern der Union und der FDP als Lizenz zum Schuldenmachen kritisiert worden.

Am weitesten wagte sich CSU-Generalsekretär Alexander Dobrinth vor, der Draghi vorwarf, seinen Posten für die Durchsetzung italienischer Interessen zu missbrauchen. Besser hätte man Montis Befund von der psychologischen Auflösung der Eurozone nicht dokumentieren können. Die Monti-Schelte ist Teil dieses Konfliktes. Denn inhaltlich gibt es zwischen seiner Erklärung und der Praxis fast aller Länder in Europa kaum einen Unterschied.

Dass sich die Politik von dem demokratischen Korsett der Parlamente befreien soll, ist seit Jahren Praxis. Monti ist mit seinem Technokratenkabinett ein Prototyp dieser Entwicklung hin zu einer Politik, die neben dem Parlament auch den Einfluss von Gewerkschaften und sozialen Verbänden weitgehend ausschaltet. Dafür bekam Monti auch von der deutschen Politik lange Zeit viel Lob Erst als er sich nach dem Wahlsieg Hollandes in Frankreich mit Vorschlägen einer Lockerung des deutschen Spardiktats über Europa zur Wort meldete, geriet er in die Kritik deutscher Politiker und Medien.

Wenn sich in der letzten Zeit deutsche Politiker häufiger hinter dem Parlament und das Bundesverfassungsgericht verstecken, geht es auch um die Durchsetzung deutscher Interessen im EU-Raum, die natürlich besonders gut zu wahren sind, wenn deutsche Parlamentarier und Gerichte immer und überall mitzureden haben. Während hier also auf einmal das hohe Lied der parlamentarischen Demokratie angestimmt wird, die nicht angetastet werden dürfe, wurden bei der Durchsetzung der Spardiktate in Griechenland, Portugal und Spanien die Parlamente regelrecht entmündigt und die deutsche Politik war nicht etwa Kritikerin, sondern Förderin dieser Entwicklung.

Auch hierzulande ist die Tendenz erkennbar, wichtige Entscheidungen nicht mehr durch parlamentarische Mehrheiten, sondern durch nicht gewählte Expertenrunden auszuhandeln. Auch die in letzter Zeit von Politikern unterschiedlicher Couleur in die Diskussion gebrachten Volksbefragungen könnten zur Verfestigung autoritärer Herrschaftsformen jenseits des Parlaments beitragen. Wenn Monti jetzt von deutschen Politikern kritisiert wird, dann nicht wegen seiner demokratiefeindlichen Ideen, sondern wegen seiner finanzpolitischen Vorstellungen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152532
Peter Nowak

Deutschlands Waffenexporte boomen – wo bleibt die Friedensbewegung?

Das Komitee für Grundrechte gibt sich empört sich empört. „Die Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung wird immer skandalöser“, erklärt .Pressesprecher Martin Singe in der aktuellen Pressemitteilung.

Tatsächlich hat die Bundesregierung die Rüstungsexporte massiv ausgeweitet. Innerhalb kurzer Zeit wurde bekannt, dass der geheim tagende Bundessicherheitsrat bereits im Juli 2011 dem Export von 270 Leopard II-Panzern nach Saudi-Arabien zugestimmt hat. Nun soll Katar 200 Leopard-Panzer erhalten. Der Nahe Osten wird also mit deutscher Hilfe massiv aufgerüstet. Beide Staaten sind auch in den syrischen Bürgerkrieg involviert und vor allem Saudi Arabien hat es schon geschafft, der zivilen Demokratiebewegung gegen ein autoritäres Regime eine militärische Logik aufzuzwingen.

Dass dabei Demokratiebelange keine Rolle spielen, wird am Beispiel dieses Staates besonders deutlich. Innenpolitisch stellt das islamische Regime in Riad sogar noch den Iran in punkto Frauenfeindlichkeit und Verfolgung von gesellschaftlichen und religiösen Minderheiten in den Schatten und auch in ihrer Feindschaft gegen Israel lässt sich das saudische Regime wohl nicht vom Iran übertreffen. Trotzdem ist es seit mehr als 20 Jahren Bündnispartner des Westens. Schon beim zweiten Golfkrieg 1990 war es im Kampf gegen das Regime von Saddam-Hussein mit anderen nicht minder reaktionären Staaten im arabischen Raum involviert. Wie wichtig der Koalition der Willigen diese Kooperation war, zeigte sich daran, dass die USA Israel klargemacht haben, dass es sich nicht gegen die Angriffe des irakischen Regimes mit Scud-Raketen wehren durfte. Denn dass hätten die beteiligten arabischen Regime als Affront betrachtet.

Als im zweiten Anlauf schließlich das irakische Regime gestürzt war, wurde die saudische Partnerschaft umso bedeutender. Denn nun hatte der Iran einen enormen Machtzuwachs in der Region erfahren und wieder war Saudi-Arabien an vorderster Front zur Stelle, um nun den diese Macht einzudämmen. Wenn nun in solche Länder deutsche Waffen geliefert zu werden, wird eindeutig der zumindest offiziell hochgehaltene Grundsatz aufgegeben, Waffen nicht in Spannungsgebiete zu liefern. Eine solche Entwicklung kann nur überraschen, wer Politik mit Moral verwechselt.

Hoffnung auf die deutsche Friedensbewegung?

Wenn Singe nun schreibt, dass die Friedensbewegung gefordert sei, muss man zunächst fragen, wem er damit meint. Soll Günther Grass wieder ein Gedicht schreiben oder die Ostermarschierer sich moralisch empören? Ein großer Teil dieses Spektrums hat nach dem Ende der Ost-West-Spaltung ihr politisches Koordinatensystem verloren und nur die Wahl eines republikanischen Präsidenten in den USA könnte es wieder etwas ins Lot bringen.

Mit der Beschäftigung der deutschen Machtpolitik tat sich die westdeutsche Friedensbewegung schon in den 1980er Jahren schwer, als es Deutschland primär als potentielles Opfer der Großmächte gesehen hat. Allerdings haben sich in der letzten Zeit jenseits dieser Friedensbewegung Bündnisse gegen die Militarisierung der Politik entwickelt, die auch mediales Aufmerksamkeit erlangt haben. An erster Stelle sei hier das Zentrum für politische Schönheit genannt, das mit nicht unumstrittenen künstlerischen Mitteln agiert. Das Zentrum ist auch Teil der Aktion aufschrei, das in den nächsten Wochen bundesweit gegen den Waffenhandel agieren will. Mit dem Bündnis [Krieg beginnt hier http://warstartshere.de/] wollen sich auch Gruppen der radikalen Linken eine antimilitaristische Praxis erarbeiten . und haben es bereits in dem vor wenigen Wochen veröffentlichten Verfassungsschutzbericht an prominente Stelle geschafft Dass die Zunahme solcher Aktivitäten etwas mit dem zunehmenden militärischen Engagement Deutschlands zu tun haben könnte, wird aber von der Politik natürlich nicht gerne gehört.

Interessant wird sein, wie sich die IG-Metall zur Frage der Rüstungsexporte künftig positioniert. Sie war erst im Herbst 2011 in die Kritik geraten, weil aus einem der Gewerkschaft nahestehenden Denkfabrik ein Papier verfasst wurde, das nur als Lob der Rüstungsexporte verstanden werden kann, weil die ja schließlich Arbeitsplätze schaffen. Dass das Papier gewerkschaftsintern umstritten ist, zeigt ein Interview mit Jürgen Bühl vom IG-Metall-Vorstand. „Wir gehören nicht zur Rüstungslobby. Wir haben immer eine klare Position für Frieden und Abrüstung bezogen“, beteuert er und spricht sich für Konzepte der Rüstungskonversion als der Umwandlung von Rüstungs- und Zivilgüter aus. Diese Diskussion war vor 20 Jahren schon weiter vorangeschritten.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152508
Peter Nowak

Mit Faktor C nach Utopia


Die venezolanische Kooperative Cecosesola besteht seit 45 Jahren. Die Arbeit ohne Vorgesetzte und Hierarchien sorgt bei Linken für Bewunderung. Dabei hätten die Gewerkschaftsfeindlichkeit und die spirituelle Ideologie der Kooperative deutliche Kritik verdient.

45 Jahre Selbstverwaltung, eine kollektive und solidarische Arbeitsweise ohne Chefs und Hierarchien, kurz gesagt: »gelebte Utopie«. So wurde die venezolanische Kooperative für die soziale Versorgung des Bundesstaates Lara (Cecosesola) von drei Mitgliedern beworben, die kürzlich Vorträge in mehreren deutschen Städten hielten. 1967 gründete sich Cecosesola in der Millionenstadt Barquisimeto im Westen Venezuelas. Zunächst betrieb sie ein Beerdigungsinstitut, dann ein Busunternehmen, bis sie sich schließlich auf den Verkauf von Obst und Gemüse auf den Wochenmärkten spezialisierte. Mittlerweile hat die Kooperative zudem sechs Projekte für die Gesundheitsversorgung eröffnet.

Solche Meldungen erfreuen die hiesigen Freunde der Alternativ- und Kommunenbewegung. Sie gehörte ebenso zu den Gastgebern der venezolanischen Kooperativisten wie Attac und das Netzwerk Selbsthilfe. Schließlich ist es erfreulich, von einem Projekt aus Venezuela zu hören, das schon so lange besteht und offensichtlich unabhängig von der Regierung unter Hugo Chávez bleiben konnte. Darauf legen die Mitglieder der Kooperative bis heute sehr großen Wert. Selbst in den Hochzeiten der Auseinandersetzung zwischen der Regierung und der Opposition vor zehn Jahren hielten sie an ihrem Grundsatz der Neutralität fest. So hat Cecosesola 2002 den oppositionellen Unternehmerstreik gegen die Regierung Chávez nicht unterstützt, sich allerdings auch nicht an Kampagnen der Regierung beteiligt. Insgesamt ist der Umgang der Kooperative mit der Regierung von Pragmatismus geprägt. Mitglieder der Cecosesola beteiligten sich im Rahmen der partizipativen Demokratie an der Ausarbeitung des Kooperativengesetzes, das viel mehr Möglichkeiten als in der Vergangenheit eröffnet hat. Allerdings kritisieren sie den Gründungsboom, der nach der Neufassung des Gesetzes im venezolanischen Kooperativensektor begonnen hat. Viele Neugründungen hätten nur auf dem Papier bestanden oder nur kurze Zeit funktioniert, lautet die Kritik.

Tatsächlich scheint es auf den ersten Blick erstaunlich, dass eine derartige Kooperative nun schon 45 Jahre lang innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung existiert, ohne dieser erlegen zu sein. Daraus speisen sich zu einem großen Teil das Interesse und die Sympathie, die der Kooperative entgegengebracht werden. Vor einigen Monaten ist das Buch »Auf dem Weg. Gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela« im bisher auf soziale Kämpfe spezialisierten Buchmacherei-Verlag erschienen, das die Entwicklung der Kooperative aus Sicht der heutigen Mitglieder beschreibt. Es macht vor allem die von der Kooperative selbst in zwei Büchern und einer Broschüre dokumentierte Geschichte des Projekts in deutscher Sprache zugänglich. Das Buch kam wenige Wochen vor der Rundreise der drei Mitglieder auf den Markt. Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum in der Öffentlichkeit bisher kaum auf die problematischen Elemente in der Geschichte der Kooperative eingegangen wurde. Dazu gehört auf jeden Fall die Feindschaft gegenüber gewerkschaftlicher Organisation. So heißt es über einen internen Konflikt in den siebziger Jahren: »Die meisten aus unserem Team, das für den Beteiligungsprozess stand, waren nie Mitglieder einer Partei. Die Ausnahme waren zwei Parteiaktivisten, die anscheinend eine Gelegenheit witterten, sich ein bisschen Macht zu verschaffen, und innerhalb der Organisation eine Gewerkschaft aufbauen wollten. Sie begannen eine systematische Organisation, schafften die Abteilungsversammlungen ab und verlangten sogar eine Extrabezahlung. Sie wollten, dass alles nur noch in großen Versammlungen diskutiert werden sollte, wo die Berufsagitatoren den Ton angaben und mit lauten Reden ihren Standpunkt durchsetzten.«

Cecosesola schlug den vermeintlichen gewerkschaftlichen Angriff zurück. Doch ähnliche Vorgänge gab es erneut. In ihrer offiziellen Selbstdarstellung macht die Kooperative den Zusammenschluss konkurrierender Busunternehmen dafür verantwortlich, der dadurch angeblich den billigeren Buslinien der Cecosesola Scherereien bereiten wollte: »Der Verband wollte damit die Kontrolle über den öffentlichen Verkehr in der Stadt erlangen und außerdem durch übertriebene Lohnforderungen und das Verbreiten von internem Chaos Cecosesola zur Anhebung der Fahrpreise zwingen.« Doch alle Versuche, eine Lohnerhöhung in der Kooperative durchzusetzen, scheiterten. In der offiziellen Chronik der Kooperative heißt es, dass es danach »keine Gewerkschaft mehr« gab. Denn letztlich hätten die Beschäftigten die Logik des Maßhaltens verstanden. »Wo Schmalhans Küchenmeister ist, kann der Mensch keine großen Gelage feiern.« Nach einigen Jahren versuchten Fahrer jedoch, auf gerichtlichem Weg ausstehende Löhne einzuklagen. Die Cecosesola-Chronik stellt diese Kläger so dar: »Wegen ihrer Aggressivität und weil sie immer in Gruppen auftraten, nannten wir sie die ›afrikanischen Bienen‹. Diese Fahrer wurden von der Regierung beraten sowie von der Oppositionsgruppe unterstützt und sollten bis zur letzten Konsequenz auf ihren Forderungen bestehen.« Die Intereressenvertretung unzufriedener Beschäftigter ist in der »gelebten Utopie« der Cecosesola nicht vorgesehen. Dabei hätte der Konflikt ohne Verschwörungstheorien sehr einfach beschrieben werden können. Die Kooperative versuchte, mit billigen Busfahrten Sympathien in der Bevölkerung zu gewinnen, und hielt deshalb auch die Löhne niedrig. So konnte sie andere regionale Busunternehmen niederkonkurrieren. Die dort entlassenen Busfahrer waren gezwungen, für die Kooperative zu Dumpinglöhnen zu schuften. Dies ließen sich manche nicht bieten und kämpften mit Gewerkschaftsgründungen oder gerichtlichen Klagen für höhere Löhne. Für ein solches Verhalten hat die Kooperative einen eigenen Begriff geprägt, »die Tendenz zur eigennützigen Komplizenschaft«. Darunter wird der Kampf für höhere Löhne ebenso gefasst wie etwa die kostenlose Aneignung von Lebensmitteln aus einem umgestürzten Lastwagen. Der Drang zum Plündern und Streiken sei eine Folge der Dominanz der westlich-patriarchalen Kultur, zu deren Grundzügen der Kooperativenideologie zufolge nicht nur »der Wunsch nach individueller Aneignung und Bereicherung sowie das Streben nach Macht und Erfolg« gehören, sondern auch die »Angst vor den Absichten der anderen und ein allgemeines Misstrauen«.

Dass sich Cecosesola Gewerkschaftern gegenüber misstrauisch und ängstlich verhält, muss wohl ein Relikt westlicher Kultureinflüsse sein. Darüber könnte das »kollektive Gehirn« einmal beraten, das ebenso als Zielvorstellung der Kooperative genannt wird wie der »Weg zur Harmonie«. Bei der Kooperation müsse ein in der Wissenschaft nicht bekannter »Faktor C« berücksichtigt werden, eine produktive Energie, die durch die Solidarität einer Gruppe von Menschen entsteht. Hier entpuppt sich die Cecosesola als eine spirituelle Kreativgemeinschaft, dies ist die ideologische Basis für den als besonderen Gütebeweis angeführten wirtschaftlichen Erfolg. Ähnlich wie die spirituelle Weltanschauungsgemeinschaft »Humanistische Bewegung«, die besonders in Lateinamerika tätig ist, beruft sich Cecosesola auf eine besondere Lesart von Wissenschaft und Mystik und verkauft die Unterordnung unter diese Ideologie als Selbstverwaltung.

Deshalb meldet Alix Arnold, die Übersetzerin der Texte, leise Bedenken an: »Manches Loblied auf die Flexibilität liest sich merkwürdig in Zeiten, in denen es den Unternehmen gelungen ist, eine brutale Flexibilisierung durchzusetzen.« Da sich Arnold seit Jahren in selbstorganisierten Lohnkämpfen, beispielsweise bei »Gate Gourmet«, engagiert, wäre jedoch auch ein Einspruch gegen die Gewerkschaftsfeindlichkeit zu erwarten gewesen. Doch ihre Zweifel tut sie ab mit dem Verweis auf die guten Erfahrungen, die sie während der Besuche in der Kooperative gemacht habe. Damit ist sie sich einig mit John Holloway, einem Vordenker der globalisierungskritischen Bewegung, der im Nachwort schreibt: »Der Besuch bei Cecosesola (…) hat meinen Geist in eine neue Richtung geweitet.« Das unkritische Bejubeln einer »spirituellen Gemeinschaft« als »gelebte Utopie« zeigt den Wunsch vieler Linker, den alltäglichen Klassenkämpfen zu entkommen und mit »Faktor C« den »Weg zur Harmonie« zu ebnen.
http://jungle-world.com/artikel/2012/30/45929.html
Peter Nowak

Deutschland – Rettungssanitäter oder Teil des europäischen Problems?

Die Polemik zwischen Eurogruppenchef Juncker und führenden Unionspolitkern ist ein Indiz für die Zuspitzung der Krise

Lange Zeit galt Eurogruppenchef Jean Claude Juncker als Verbündeter der deutschen Bundesregierung in der Euro-Krise. Er sucht nicht nur auf Fotos immer wieder demonstrativ die Nähe zu Mitgliedern der Bundesregierung. Auch in der Disziplinierung der europäischen Peripherie schien es wenige Unterschiede zu geben. Doch jetzt ist ausgerechnet ein Streit unter den ehemaligen Verbündeten ausgebrochen.

Anlass war ein Interview Junckers in der Süddeutschen Zeitung, wo er vor einem Zerfall der Eurozone warnt. Die Welt rede darüber, ob es in einigen Monaten die Eurozone noch gibt, Juncker folgerte:

„Wir müssen jetzt mit allen verfügbaren Mitteln überaus deutlich machen, dass wir fest entschlossen sind, die Finanzstabilität der Währungsgemeinschaft zu gewährleisten.“

Hätte er es dabei belassen, hätte das Interview wohl in Deutschland kaum so viel Aufmerksamkeit erregt. Doch Juncker sparte auch nicht mit Kritik an der deutschen Politik und nahm sich vor allem Politiker aus Union und FDP vor, die Griechenland einen Austritt aus der Eurozone nahe legen. „Nur um einen billigen innenpolitischen Diskurs zu unterstützen, sollte man den Austritt nicht mal als Hypothese behandeln“, moniert Juncker. Und er wurde noch deutlicher:

„Wieso eigentlich erlaubt sich Deutschland den Luxus, andauernd Innenpolitik in Sachen Eurofragen zu machen? Warum behandelt Deutschland die Euro-Zone wie eine Filiale? Wenn das alle 17 Regierungen machten, was bliebe dann übrig von dem was uns gemeinsam ist. Warum ist das so?“

Nun wird sich der sowohl ökonomisch versierte als auch mit den europäischen Machtverhältnissen vertraute Juncker diese Fragen selber beantworten können. Sie sind ein Indiz für die zunehmende Nervosität in Kerneuropa, die eben nicht zu einem Schulterschluss, sondern zu einem Streit verschiedener Machtgruppen führt.

Kann sich Juncker am „Rettungssanitäter Deutschand“ leisten?

Der Fehdehandschuh wurde in Deutschland sofort aufgegriffen. Die CSU-Politiker Alexander Dobrinth und Horst Seehofer griffen den Fehdehandschuh umgehend auf und zweifelten daran, ob Juncker auf den Posten noch der Richtige sei. Dabei ist die Wortwahl der beiden Politiker einer deutschen Regierungspartei interessant.

„Wenn man jetzt dem Rettungssanitäter die Schuld in die Schuhe schiebt für den Unfall, dann zeigt das einfach, wie verdreht die Welt an dieser Stelle ist“, moniert Dobrinth und stellt damit deutlich klar, wie er und viele andere Politiker der Regierungskoalition die Machtverhältnisse in Europa sehen. Der Retter Deutschland steht außerhalb jeder Kritik.

Die gab es freilich schon lange. Seit Monaten erinnern Ökonomen, soziale Initiativen und auch Politiker vor allem aus den südeuropäischen Staaten daran, dass die Wirtschafts- und Niedriglohnpolitik Deutschlands das zentrale Problem in der Eurozone ist. Diese Kritik hat man im politischen Berlin aber weitgehend ignorieren können. Doch nun hat die Verschärfung der Krise den Streit in das sogenannte Kerneuropa getragen, für das zu sprechen die deutsche Politik immer beansprucht hat. Die Auseinandersetzung wird die Krise schon deshalb vergrößern, weil natürlich die berühmten Märkte einen solchen Streit als Ausdruck der Krise sehen und entsprechen reagieren.

Doch das Problem liegt tiefer. Es sind die Konstruktionsfehler der Eurozone, in der wirtschaftlich nicht kompatible Ökonomien zusammengebracht wurden, um auf dem Weltmark gegen China und die USA zu konkurrieren. Es ist das kapitalistische Wertgesetz, dass sich hier gegen die Politik Geltung verschafft. In der Krise fällt nun den Politikern allen Parteien nur ein, hinter ihrem heimischen Standort in Deckung zu geben. Schließlich leben dort ihre Wähler. Dabei müsste jeder europäische Politiker, der es ehrlich meint, das Scheitern dieses gegen jede ökonomischen Gesetze zusammengebastelten Euromodells konstatieren und Modelle einer Rückabwicklung, ohne nationalistische und populistische Anwandlungen gemeinsam mit der Bevölkerung entwickeln

Aber so viel Mut zur Ehrlichkeit fehlt allen Politikern und daher fällt ihnen in der voraussehbaren kritischen Situation nur die Zuflucht zu Populismus und zur Verteidigung ihres jeweiligen Heimat-Standortes ein. Daher dürften wir noch viele solcher Auseinandersetzungen erleben. Auch die sozialen Initiativen, die Modelle für ein soziales Europa entwickeln und dies auch in praktischen Auseinandersetzungen durchsetzten müssten, scheinen im deutschen Sommerloch verschwunden. Derweil bleiben die wenigen sozialen Kämpfe gegen die Eurokrisenpolitik hoffnungslos isoliert.

Es ist bezeichnend, dass die Meldung, wonach griechische Stahlarbeiter nach massiver Polizeirepression jetzt ihren monatelangen Streik aufgeben mussten, nicht auf der Homepage der diversen Krisenbündnisse, sondern des Flugladens wahrgenommen wurde. Die Botschaft an die Zielgruppe ist klar. Auf der Titanic-Eurozone geht die Party weiter bis zum Untergang und die Crew streitet sich . derweil, wer die letzten Rettungsboote losbindet. Fragt sich nur, wer drin sitzen wird.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152495
Peter Nowak

Arbeitsrechte werden geschleift

Gewerkschaftsstudie weist auf neue Deregulierungen in der EU hin
In der Krise wird in der EU der Arbeitsmarkt flexibilisiert. Rechte der Beschäftigten bleiben auf der Strecke.

Im Schatten der Krise werden in vielen EU-Ländern die Arbeitsbeziehungen weiter dereguliert und Arbeitsrechte abgebaut. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie mit dem Titel »Arbeitsrechtsreformen in Krisenzeiten – eine Bestandaufnahme in Europa«, die von Isabelle Schömann und Stefan Clauwaert im Auftrag des Europäischen Gewerkschaftsinstituts erstellt wurde.
Hebammen

Massive Einschnitte für Arbeitnehmer

»Unter dem Zeichen des Kürzungsdiktats werden Gewerkschaften und Arbeitnehmern Einschnitte zugemutet. Viele bekommen sie noch gar nicht mit, vor allem in den Ländern, die vergleichsweise gut dastehen, wie z.B. Deutschland«, betont DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach im Vorwort. Dazu trügen Informationsmangel sowie das Bestreben von Politikern und den meisten Medien bei, die Kürzungsprogramme als alternativlos darzustellen.

Dieser Desinformationspolitik wollen die beiden Autoren mit ihrer Studie entgegentreten. Und die Befunde sind alarmierend. So seien in Ungarn nach der Machtübernahme der rechtskonservativen Regierung gravierende Verschlechterungen des Arbeitsrechts durchgesetzt worden. Ähnliche Entwicklungen werden auch in Slowenien und Estland festgestellt. In Ländern wie Spanien, Italien, Portugal und Griechenland habe der Druck europäischer und internationaler Institutionen wie des Internationalen Währungsfonds (IWF) massive Einschränkungen der Gewerkschaftsrechte und Einschnitte ins Arbeitsrecht erzwungen, berichten die Autoren.

Sie stellen fest, dass die EU-Kommission Arbeits- und grundlegende Sozialrechte ignoriere und zur weiteren Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und Deregulierung der Arbeitsrechte beitrage. Befristete Arbeitsverhältnisse, Teilzeit- und Leiharbeit seien ein europaweiter Trend. Dass diese Einschnitte unter dem Deckmantel der Krisenpolitik durchgezogen werden, zeigt sich besonders in Spanien. So wurde im Februar 2012 in einem der zahllosen Krisenprogramme das Verbot von Überstunden in Leiharbeitsverhältnissen abgeschafft. In Slowenien wurde die Dauer befristeter Arbeitsverhältnisse von zwei auf drei Jahre erhöht und in Polen können junge Menschen unbegrenzt in immer neuen befristeten Arbeitsverhältnissen beschäftigt werden.

»Tarifverträge werden ausgehebelt, um Löhne zu drücken. Gewerkschaften werden gezwungen, Löhne zu senken und Tarifsteigerungen auszusetzen«, fasst Annelie Buntenbach die Ergebnisse der Studie zusammen. Die Gewerkschafterin spricht Arbeitszeitverlängerungen ebenso an wie Rentenkürzungen, die Verkleinerung des öffentlichen Sektors und die Forcierung von Privatisierungen. »Mit dem bisherigen Krisenmanagement wird die Chance vertan, Europa sozial und nachhaltig aufzubauen«, so der Befund von Buntenbach.

Herausforderung auch für den DGB

Die Studie ist allerdings auch eine Herausforderung an die Gewerkschaften. Schließlich hätten diese nicht nur in Deutschland allzu oft im Schulterschluss mit der Politik die kurzfristigen Interessen der Kernarbeiter vertreten, anstatt den Protest zu befördern, meinen Kritiker. DGB-Gewerkschaften mussten sich in der Vergangenheit auch nicht Kritik von Kollegen aus anderen europäischen Ländern anhören. Ob die Studie zu einem Umdenken beim DGB und ihren Einzelgewerkschaften wie der IG-Metall, die in der Krise besonders den Schulterschluss zur Politik suchte, führen wird, muss sich zeigen,

http://www.neues-deutschland.de/artikel/233971.arbeitsrechte-werden-geschleift.html
Peter Nowak.

Griechenland in oder out?

Nicht nur in Deutschland hat die Debatte über einen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone an Fahrt gewonnen

Als kürzlich Berlins Vizekanzler Philipp Rösler wieder einmal laut über einen Austritt Griechenlands aus der EU-Zone redete, wurde von einigen SPD-Politikern dessen Rücktritt gefordert. Er habe mit seinem unverantwortlichen Geschwätz mit dazu beigetragen, dass nun auch Deutschland von den Ratingagenturen abgewertet wurde, lautete die ganz auf den Standort bezogene Kritik der Sozialdemokraten. Denn für die Interessen der griechische Bevölkerung einzutreten, könnte ja wieder fast als Vaterlandsverrat gewertet werden – und davor haben besonders deutsche Sozialdemokraten große Angst.

Da brauchte vor einigen Wochen der FDP-Wirtschaftslobbyist Brüderle das V-Wort nur kurz in den Mund zu nehmen, als manche Sozialdemokraten nach dem Wahlsieg des französischen Parteifreunds Hollande zu forsch gegenüber der Bundesregierung auftraten. Und schon waren sie wieder kleinlaut. Als vor wenigen Tagen nun der bayerische Finanzminister Markus Söder Rösler noch überbot und einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone als fast unabwendbar bezeichnete, kam denn auch von der SPD keine große Resonanz. Sie haben mittlerweile längst mitbekommen, dass Griechenland-Schelte und EU-Kritik populär ist.

Schon längst gibt es Bestrebungen, bei den nächsten Wahlen mit einer populistischen Partei der EU-Kritiker anzutreten. Noch sind sich die beteiligten Personen nicht ganz einig, aber es sieht so aus, als liefe es auf die Kandidatur der Freien Wähler hinaus. Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass sie damit das politische Koordinatensystem in Deutschland durcheinanderbringen könnte. Besonders betroffen davon während die aktuellen Regierungsparteien. So kann die Intervention von Rösler und Söder auch als ein vorgezogener Wahlkampf betrachtet werden. Es ist klar, dass die EU-Politik dort eine zentrale Rolle einnehmen wird.

Schließlich sind Söder und Rösler in Europa nicht alleine mit der Forderung nach einem schnellen Austritt Griechenlands aus der Eurozone. Die Regierung von Lettland hat diese Forderung bereits gestellt. Wenig überraschend war, dass sich der als EU-Kritiker bekannte tschechische Präsident Klaus es sich nicht nehmen ließ, sich ebenfalls in dieser Frage zu Wort melden. Er forderte in einem Beitrag im Handelsblatt nicht nur einen schnellen Austritt Griechenlands aus der Eurozone, sondern auch einen Abschied von der sozialen Marktwirtschaft und von grünen Utopien.

Schrankenloser Kapitalismus ohne Sozialklimbim

Mit seinem Bekenntnis zum schrankenlosen Kapitalismus ohne Sozialklimbim und Umweltauflagen ist er sich auch mit den Politikern einig, die Griechenland in der Eurozone halten wollen Schließlich werden im Windschatten der Krise europaweit Arbeits- und Gewerkschaftsrechte abgebaut. Darauf haben Isabelle Schömann und Stefan Clauwaert in einer im Auftrag des Europäischen Gewerkschaftsinstituts verfassten Studie mit dem Titel Arbeitsrechtsreformen in Krisen – eine Bestandsaufnahme in Europa kürzlich hingewiesen.

EU-Politiker wie Barroso wollen am Beispiel Griechenland deutlich machen, wie weit man die Wirtschaft eines Landes deregulieren kann. Das soll natürlich ein Pilotprojekt für andere EU-Länder werden. Klaus, Rösler und andere wollen das Exempel eher im Rausschmiss Griechenlands sehen. An der Deregulierung im Interesse des Kapitals haben beide Fraktionen keine Kritik. „Mit dem bisherigen Krisenmanagement wird die Chance vertan, Europa sozial und nachhaltig aufzubauen“, so der Befund von Annelie Buntenbach vom DGB-Vorstand im Vorwort der erwähnten Studie des Gewerkschaftsinstitut. Die Studie ist allerdings auch eine Herausforderung an die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen. Doch die sind hierzulande kaum präsent, weder in der Griechenlanddebatte noch in der Solidarität in einer sich gerade ausweitenden sozialen Bewegung in Spanien.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152480
Peter Nowak

Ölpest wird teuer

Die Manager des Shell-Konzerns sind empört. Soll der Konzern doch fünf Milliarden Dollar Entschädigung zahlen, weil in Nigeria Öl aus einer Shell-Pipeline die Umwelt verschmutzt hat. In dem rund 120 Kilometer vor der Küste Nigerias gelegenen Bonga-Ölfeld war während der routinemäßigen Beladung eines Öltankers im Dezember 2011 ein Leck entstanden. 30 000 bis 40 000 Barrel (siehe Lexikon) Rohöl traten aus und verursachten eine der schlimmsten Ölverschmutzungen in Nigeria seit mehr als zehn Jahren. Vor allem die Höhe der Entschädigungsforderung der nigerianischen Behörde zur Bekämpfung von Ölunfällen (NOSDRA) überrascht. Ausgehend von den Schätzungen, wonach im Bonga-Feld maximal 40 000 Barrel Öl ausgetreten sind, wären dies rund 125 000 Dollar je Barrel.

Im Vergleich dazu ist die Strafe für die Ölpest nach der Explosion der Plattform »Deepwater Horizon« im Golf von Mexiko – verursacht vom Konkurrenten BP – milde: Die beliefe sich auf 1100 Dollar je Barrel, falls dem britischen Ölmulti nicht grobe Fahrlässigkeit nachgewiesen wird. Und selbst im Falle grober Fahrlässigkeit war in den USA vor Gericht nur von 4300 Dollar je Barrel die Rede. Die Shell-Manager wiegeln ab: Es handele sich hier nur um einen Vorschlag der Behörde an die nigerianische Regierung, der nach Ansicht des Ölkonzerns keine rechtliche Grundlange habe.

Doch schon die Forderung aus Nigeria zeugt von einem neuen Selbstbewusstsein zumindest in einigen Ländern des Südens. Für Nigeria ist die jüngste Ölpest ja nicht die erste. Schließlich wurde durch den Kampf und die Hinrichtung des nigerianischen Bürgerrechtlers Ken Saro-Wiwa 1995 weltweit bekannt, wie die Ölförderung eine ganze Region im Nigerdelta zerstörte. So gab es dort 2008 ein Pipeline-Leck, bei dem nach Schätzungen einer US-Beratungsfirma für Ölunfälle mehr als 100 000 Barrel Öl ausliefen.

Das Beispiel der aktuellen Forderung in Nigeria sollte Schule machen. Zudem sollte die internationale Zivilgesellschaft dafür kämpfen, dass Shell tatsächlich angemessene Entschädigungen zahlen muss.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/233310.oelpest-wird-teuer.html
Peter Nowak

Ziviler Widerstand in Syrien geht weiter

Aktivisten der Initiative „Adopt a Revolution“ erinnern an die Arbeit der gewaltfreien Bürgerkomitees in Syrien und warnen vor dem Eindruck, dass das Regime schon am Ende ist

Wer in den letzten Wochen die Nachrichten über Syrien verfolgt hat, konnte den Eindruck gewinnen, das Land sei endgültig im Bürgerkrieg versunken. Auch der mörderische Anschlag vom Mittwoch, der die Führung empfindlich traf, scheint dafür zu sprechen, dass nun endgültig die militärische Logik die Oberhand gewonnen hat. In einer solchen Situation drohen zivile Formen der Auseinandersetzung an den Rand gedrängt zu werden. Deshalb erinnert die Initiative Adopt a Revolution, die sich seit Monaten für eine Stärkung der sozialen und zivilgesellschaftlichen Kräfte in Syrien einsetzt, in einer Pressemitteilung daran, dass auch in der aktuellen Situation der Widerstand dieser Kräfte in Syrien weitergeht.

„In einer krisenhaften Situation wie der aktuellen in Damaskus, braucht es zivilgesellschaftliche Akteure mehr denn je, um für Transparenz und zivile Unterstützung der Bevölkerung zu sorgen. Die lokalen Komitees leisten diese Funktion, weshalb wir unsere Unterstützung jetzt mit Hochdruck fortführen“, heißt es in der aktuellen Pressemeldung von Adopt a Revolution.

Deren Berliner Koordinator Elias Perabo betont gegenüber Telepolis, dass es zur Zeit in Syrien ein Nebeneinander zwischen der zivilen Opposition und der militärischen Kräfte gäbe. In der Regel würden auch die zivilen Oppositionsgruppen die bewaffneten Kräfte als Schutztruppe begreifen. Das sei auch eine Folge des Gefühls der Hilflosigkeit und des Eindrucks, von der internationalen Öffentlichkeit allein gelassen zu werden. Dabei gehe es bei der internationalen Hilfe nicht um ein Eingreifen von Armeen der Nato-Länder, das sogar manche Publizisten in linken Medien propagieren, wo die Situation in Syrien kurzschlüssig mit dem Kampf gegen die Niederschlagung des Nationalsozialismus verglichen wird. Dabei wird schon ein grundlegender Unterschied ausgeblendet: Es gibt in Syrien nicht die Volksgemeinschaft wie in Deutschland, die bis zum Untergang mit dem Regime verbunden ist. Im Gegenteil ist es gerade der Widerstand der Bevölkerung, der Syrien in den Mittelpunkt des Weltinteresses brachte.

Noch keine Schlacht um Damaskus

Adopt a Revolution unterhält nach eigenen Angaben allein im Raum Damaskus Kontakt mit 16 Bürgerkomitees und verbreitet deren Widerstand, aber auch die Repression gegen die Aktivsten. Dabei betont Perabo, es sei wichtig dem Eindruck entgegenzutreten, der Kampf gegen das Regime sei schon gewonnen. „Die Schlacht um Damaskus hat noch nicht begonnen, es gibt aber erste Schritte“, betont der Aktivist. Nach seinen Aussagen leben gerade die zivilen Aktivisten in und um Damaskus in großer Angst vor der Repression des Regimes. So habe es in einem damaszener Stadtteil, wo die Opposition aktiv sei, in den letzten 24 Stunden 38 Tote gegeben, die durch die Mörserangriffe regierungstreuer Truppen umgekommen seien. In Damaskus sei die auf bis zu 8.000 Mann geschätzte Republikanische Garde noch weitgehend intakt. Zudem seien Militärs aus anderen Landesteilen wie aus der Region um die Golanhöhen nach Damaskus beordert werden. Deshalb sei die Angst der Opposition dort besonders groß. In anderen Regionen des Landes, etwa in den kurdischen Gebieten, hingegen sei der Optimismus größer, dass die letzten Tage des Regimes begonnen habe, so Perabo. Das liege auch daran, dass dort die Kräfteverhältnisse so seien, dass das Regime dort keine Macht mehr hat.

Auch über den Sturz des Regimes hinaus denken

In den letzten Monaten gab es auch in den hiesigen Medien eine heftige Debatte über die Rolle vor allem der bewaffneten syrischen Opposition, deren Kontakte ins Ausland, vor allem nach Saudi-Arabien und andere Golfstaaten und in die Türkei und über die Menschenrechtsverletzungen der FSA (die sogenannte „Freie syrische Armee“). Dabei wurde von manchen Publizisten der islamistische Einfluss in der bewaffneten Opposition in den Mittelpunkt gestellt, während Journalisten, die auf den Sturz des aktuellen Regimes abzielten, den islamistischen Einfluss eher vernachlässigten, und solche Vorwürfe teilweise als Regimepropaganda abtaten.

Dagegen betont Perabo, dass Adopt a Revolution sich seit Monaten auch mit Einfluss konfessioneller Gewalt in Syrien befasst. Es sei auch von Seiten der Opposition in den letzten Wochen zu Vertreibungen von Alewiten, besonders in den Zentren der Opposition um Horms, gekommen. In der letzten Zeit hätten solche Aktionen weiter zugenommen. Auch Perabo befürchtet, dass sich die konfessionellen Muster in den Auseinandersetzungen verstärken könnten. Daher versucht die Initiative Adopt a Revolution zivile Kräfte zu unterstützen, die sich gegen eine religiöse Zuspitzung wenden. Dazu gehört auch eine Studierendenbewegung, die sich zur Zeit in Syrien entwickelt.

Damit bricht die Initiative auch mit einer in der deutschen Internationalismusbewegung weitverbreiteten Tradition, die Kräfte, die unterstützt werden, möglichst nicht zu kritisieren. So wurden noch in der Lateinamerikasolidarität der 1980er Jahre blutige Abrechnungen innerhalb der linken Gruppen, die in El Salvador die Guerilla bildeten, ausgeblendet oder gar verteidigt. Der kritische Blick auf den Umgang auch der bewaffneten Opposition in Syrien mit den Menschenrechten durch Adopt a Revolution zeigt einen Lernprozess. Schließlich könnte die zivile Opposition nach dem Sturz des Assad-Regimes noch Solidarität brauchen, wenn sich die bewaffneten Kräfte dort machtpolitisch durchsetzen und sich zeigt, dass ihre Ziele gar nicht so demokratisch sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152427
Peter Nowak

Solidarität für türkische Aktivistin

Basak Sahin Duman von Auslieferung bedroht

Eigentlich wollte Basak Sahin Duman nur ein paar Tage Urlaub in Kroatien machen. Doch die Reise wurde zum Albtraum, denn die türkische Staatsbürgerin, die seit 2006 mit ihrem Ehemann in Deutschland lebt, wurde am 29. Mai am Flughafen von Zagreb verhaftet und sitzt seitdem in Auslieferungshaft. Der Grund: Die türkische Justiz hatte einen internationalen Haftbefehl erlassen, nachdem Duman wegen angeblicher »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« zu einer Haftstrafe von sieben Jahren verurteilt worden war.
Duman wird vorgeworfen, sich 2004 als Medizinstudentin in linken Initiativen engagiert und an einer Demonstration teilgenommen zu haben. Gegen 24 Teilnehmer dieser Aktion hat die türkische Justiz langjährige Haftstrafen verhängt. Mehrere der Betroffenen sitzen in türkischen Gefängnissen. Andere konnten sich durch die Flucht in verschiedene europäische Länder der Inhaftierung entziehen. Duman erhielt Asyl in Deutschland. Mittlerweile liegt dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein Antrag vor, die Urteile zu überprüfen.

Nach der Verhaftung Dumans hat sich rasch ein internationales Solidaritätskomitee gegründet, das ihre sofortige Freilassung fordert. »Sie darf nicht in das Land ausgeliefert werden, in dem demokratische Grundrechte ausgehebelt und Oppositionelle sowie demokratische Basisbewegungen gezielt verfolgt und unterdrückt werden«, heißt es in einem Aufruf, den zahlreiche Migranten- und Menschenrechtsorganisationen unterzeichnet haben. Die Urteile der türkischen Gerichte, so der Aufruf weiter, dienten dazu, die »Sozialistische Plattform der Unterdrückten« (ESP) als Teil der in der Türkei verbotenen kommunistischen Partei MLKP darzustellen. Damit wäre die Kriminalisierung all ihrer Mitglieder verbunden. Zudem würden alle Wähler der ESP, die sich inzwischen als Partei konstituiert hat, zu Terroristen erklärt.

In mehreren europäischen Metropolen haben bereits Protestaktion vor kroatischen Botschaften stattgefunden, auch in Kroatien wurde für Dumans Freilassung demonstriert. Mit einer erstinstanzlichen Entscheidung der kroatischen Justiz wird in den nächsten Tagen gerechnet.

Ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amts erklärte gegenüber einer Bundestagsabgeordneten der LINKEN, dass von deutscher Seite einer Rückkehr von Duman nichts im Wege stehe, eine konsularische Betreuung aber nur bedingt möglich sei, weil sie keine deutsche Staatsangehörige ist.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/233089.solidaritaet-fuer-
tuerkische-aktivistin.html
Peter Nowak

Transnationale Diffusion

Ein Versuch über den Zusammenhang von Krisen und Protesten

Gemeinsam mit dem Historiker Peter Birke betreut der freie Übersetzer Max Henninger die Zeitschrift „Sozial.Geschichte Online“, ein Nachfolgeprojekt der von der Bremer Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts herausgegebenen Reihe „1999“. Zusammen haben sie vor einigen Wochen im Verlag Assoziation A das Buch „Krisen Proteste“ herausgegeben, das Texte aus den letzten Ausgaben der Zeitschrift versammelt und so versucht, Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Erscheinungsformen der Krise und den – oft asynchronen – Protesten gegen deren Ursachen und Auswirkungen herzustellen. Lesenswert ist dieser ambitionierte Versuch auch deshalb, weil dabei der Blick auf Auseinandersetzungen gerichtet wird, die in der in Deutschland und der EU derzeit dominierenden nationalen, bestenfalls eurozentristischen Perspektive der Krisenlösungspolitiken nicht erscheinen. Peter Nowak sprach mit Max Henniger über das Projekt.


War es Zufall, dass Euer Buch „Krisen Proteste“ pünktlich vor dem Höhepunkt der hiesigen Krisenproteste, den Blockupy-Aktionstagen heraus kam?

M.H.: Das war nicht geplant. Das Projekt hatte einen Vorlauf von mehr als sechs Monaten. Peter Birke und ich haben uns zu Beginn der zweiten Jahreshälfte 2011 überlegt, einige der in Sozial.Geschichte Online veröffentlichten Beitrage über die Krisenentwicklung in verschiedenen Ländern in Buchform zu veröffentlichen.

Können Sie kurz die Entwicklung von „Sozial.Geschichte Online“ skizzieren?

M.H.: „Sozial.Geschichte Online“ erscheint seit 2009 mehrmals jährlich als Publikation der Stiftung für Sozialgeschichte in Bremen. Die koordinierende Redaktion liegt bei Peter Birke und mir. Es handelt sich um das Nachfolgeprojekt der 1986 ins Leben gerufenen Print-Zeitschrift “1999”, die zwischen 2003 und 2007 unter dem Namen “Sozial.Geschichte” erschienen ist. Thematische Schwerpunkte von “1999” und “Sozial.Geschichte” waren die Geschichte des Nationalsozialismus und die globale Arbeitsgeschichte. Auf „Sozial.Geschichte Online“ wird darüber hinaus auch verstärkt über aktuelle Protestbewegungen und ihre Hintergründe berichtet.

Wie erfolgte die Auswahl der Texte für das Buch?

M.H.: Die Entwicklung der aktuellen Weltwirtschaftskrise und der mit ihr einhergehenden Proteste waren bereits seit Jahren Gegenstand von Beiträgen, die „Sozial.Geschichte Online“ in der Rubrik “Zeitgeschehen” veröffentlicht hat. Ins Buch aufgenommen haben wir Beiträge zu denjenigen Entwicklungen, deren Bedeutung wir im Rückblick als besonders hoch einschätzen. Dazu gehört etwa die von Helmut Dietrich verfasste Chronik der im Dezember 2010 begonnenen Revolte in Tunesien, die im Folgejahr zahlreiche weitere Aufstände im nordafrikanischen und nahöstlichen Raum nach sich gezogen hat.

Könnte man aus dem Titel des Buches „Krisen Proteste“ – ohne Komma oder Bindestrich -herauslesen, dass Ihr keinen Zusammenhang zwischen den beiden Themen seht?

M.H.: Es gibt jedenfalls keinen mechanischen Zusammenhang. In dem Buch geht es auch um Regionen, beispielsweise Ostafrika, die zwar stark von den sozialen Folgen der Krise betroffen sind, bislang aber nicht durch Proteste von sich reden gemacht haben. Gleichzeitig stellt sich in manchen Ländern auch die Frage, wie sich Protestbewegungen, die bereits vor Ausbruch der Krise aktiv waren, im Zuge der Krise verändern. Das gilt beispielsweise für die in vielen Ländern seit Beginn des Jahrtausends zu verzeichnenden Studierendenproteste.

Sie gehen in einem eigenen Aufsatz auf die Ernährungskrise in Afrika südlich der Sahara ein Wo sehen Sie den Zusammenhang zur Krise?

M.H.: Der Beitrag soll den Blick für das globale Ausmaß der Krisenfolgen schärfen. Zu oft wird nur auf Europa und die USA gesehen. Dabei waren die Proteste gegen die Verteuerung von Grundnahrungsmitteln, zu denen es 2007 und 2008 in mehr als dreißig asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern gekommen ist, die erste globale Antwort auf die sich aus der Krise ergebenden Hunger- und Spardiktate. Auf Haiti führten die Proteste im April 2008 zum Sturz der Regierung von Jacques-Édouard Alexis. Die „Food Riots“ gehören aber auch zur Vorgeschichte der Aufstände in Tunesien, Ägypten und anderen arabischen Ländern. Die Ernährungskrisen und Hungersnöte, die Länder wie Niger, Somalia und Äthiopien in den letzten zwei Jahren erfasst haben, sind ebenfalls zur globalen Krise in Beziehung zu setzen. Wichtige Stichworte sind hier der Anstieg der Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel, die durch weltweite Investitionen in die Agrotreibstoffproduktion bedingte Verknappung landwirtschaftlicher Nutzflächen und der Aufkauf fruchtbarer Ländereien durch exportorientierte Unternehmen aus Ländern wie Südkorea und Saudi Arabien.

Im Länderbericht zu Deutschland hat Peter Birke die Hamburger „Recht auf Stadt“-Bewegung und die Besetzung des Gängeviertels in den Mittelpunkt gestellt. Wo ist hier der Zusammenhang zu den Krisenprotesten?

M.H.: Anhand der „Recht auf Stadt“-Bewegung lässt sich zeigen, wie die Krisenfolgen hierzulande in einer eher schleichenden Verschlechterung der Lebensverhältnisse vieler Menschen spürbar werden. Das Protestgeschehen in Deutschland bleibt relativ zersplittert. Dabei sind es aber nicht nur Bewegungen, deren Parolen ausdrücklich die Krise thematisieren, die auf die Krisenfolgen reagieren.

Im Gegensatz zu Eurem Buch „Krisen Proteste“ sind die realen Krisenproteste im Wesentlichen noch nationalstaatlich organisiert. Sehen Sie transnationale Bezugspunkte?

M.H.: Es gibt eine transnationale Diffusion der Proteste. Die Food Riots von 2007/08 und das Übergreifen der tunesischen Revolte auf andere arabische Länder sind Beispiele dafür. Die US-amerikanische Occupy-Bewegung hat auch Impulse aus Ländern wie Ägypten und Spanien aufgenommen. Dennoch scheitern Versuche, die Übertragung von Protestbewegungen aus einem nationalen Kontext in den anderen zu organisieren, oft an der Unterschiedlichkeit der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Allein in Europa besteht ein sehr ausgeprägtes Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: In Spanien liegt die Jugenderwerbslosigkeit bei rund 40 Prozent, in Deutschland unter zehn Prozent. Diese unterschiedliche Ausgangslage erschwert zunächst einmal gemeinsame Kämpfe.

Könnte das nicht auch ein Kommentar zu den Blockupy-Protesten sein?

M.H.: Wir haben in der Einleitung geschrieben, dass die raum-zeitliche Entkoppelung von Krisenpolitik und Krisenfolgen für die Linke ein zentrales Problem darstellt, das keineswegs durch bloße Appelle zu bewältigen ist. Die Organisatoren der Krisenproteste der letzten Monate stehen heute vor diesem Problem.

Peter Birke / Max Henninger (Hg.): Krisen Proteste. Beiträge aus Sozial.Geschichte Online ISBN 978-3-86241-413-0, 312 Seiten, April 2012, 18 Euro

Mit Beiträgen von: Peter Birke, Kristin Carls, Helmut Dietrich, Andy Durgan/Joel Sans, Silvia Federici, The Free Association, Max Henninger, Gregor Kritidis, Pun Ngai/Lu Huilin, Karl Heinz Roth

Weitere Informationen über: http://www.stiftung-sozialgeschichte.de/

http://www.labournet.de/express/index.html

Deutscher Ökonomenkrieg

Der offene Streit unter Wirtschaftswissenschaftlern markiert eine zunehmende Uneinigkeit innerhalb der deutschen Eliten über die Europapolitik

„Der Aufruf baut ein Schreckgespenst auf und schürt Furcht. Der Öffentlichkeit, die nach Orientierung verlangt, und der Politik, die in schwierigen Entscheidungssituationen Kurs zu halten versucht, wird damit nicht geholfen.“ Dieses harsche Urteil erheben bekannte deutsche Ökonomen, die sich ganz selbstverständlich als Politikberater und Sinnstifter sehen, in einem Offenen Brief. Ihre Adressaten sind ebenso bekannte Ökonomen, die genau wie sie den Anspruch erheben, die deutsche Wirtschaft retten zu wollen.

Deutscher Stammtisch

Der wohl von Hans-Werner Sinn verfasste und von 200 anderen Wirtschaftswissenschaftlern unterzeichnete Brief hat im Sommerloch, großen Wirbel verursacht. Adressiert war er an die „Lieben Mitbürger“, in ihm wurden die als Beitrag zur Eurorettung bezeichneten Entscheidungen des EU-Gipfels von Brüssel für falsch erklärt – richtiger wäre gewesen, sie hätten geschrieben, sie seien nicht in deutschem Interesse, wie sie es verstehen.

Dabei sparen die Verfasser nicht mit populistischen Klischees. So heißt es dort: „Die Steuerzahler, Rentner und Sparer der bislang noch soliden Länder Europas dürfen für die Absicherung dieser Schulden nicht in Haftung genommen werden.“ Nicht dem Euro und dem europäischen Gedanken werde mit den Beschlüssen geholfen, statt dessen „der Wallstreet, der City of London, auch einigen Investoren in Deutschland“.

Solche Formulierungen lesen sich, als hätten die Verfasser das Programm für eine rechtspopulistische Partei schreiben wollen, die einen vermeintlich soliden Mittelstand von ausländischen Banken in die Zange genommen sieht. Nun gibt es seit Monaten Versuche, eine solche Partei aus der Taufe zu heben. Da es dort aber viele Personen wie Hans-Olaf Henkel etc. mit einen großen Ego gibt, ist noch nicht klar, ob sie sich auf eine gemeinsame Kandidatur einigen können. Im Gespräch ist eine bundesweite Kandidatur der Freien Wähler, aber bis zu den Wahlen kann es auch noch andere Konstellationen geben. Der Brief der Ökonomen ist Wasser auf die Mühlen aller, die die „solide deutsche Wirtschaft“ von verantwortungslosen Mit-Europäern retten wollen.

Der Text wendet sich explizit an Sparer und Rentner, die dann gemeinsam mit Mittelstandsfunktionären und Teilen der Elite eine Abkehr von Europa und ein Zurück zur DM als letztes Mittel propagieren könnten. Diese Intervention macht deutlich, dass es mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft eine Strömung gibt, die die deutschen Interessen nicht mehr nur im Euro vertreten sieht und durchaus auch eine Rückkehr zur DM mit allen Konsequenzen in Kauf nimmt. Demgegenüber sind die Kritiker dieser Position der Meinung, dass der Standort Deutschland weiterhin nur mit dem Euro gestärkt werden könne. Sie fürchten das Entstehen einer populistischen Bewegung gegen den Euro oder zumindest gegen die weitere Abgabe von Kompetenzen an EU-Gremien und sehen darin eher Nachteile für den Standort Deutschland, den zu stärken beide Fraktionen als ihre Aufgabe sehen.

Streit unter bürgerlichen Ökonomen

Interessant ist, dass sich im aktuellen Ökonomenkrieg auf beiden Seiten der Barrikade Wirtschaftswissenschaftler tummeln, die in den vergangenen Jahren für massive Kürzungen von Sozialleistungen, für die Agenda 2010 und andere Maßnahmen zur Stärkung des Standorts Deutschland eingetreten sind. Mehrere von ihnen haben ihre wissenschaftliche Reputation der Initiative Soziale Marktwirtschaft zur Verfügung gestellt. Dazu gehört der auch als [http.//www.ftd.de/politik/europa/:der-boulevardprofessor/180714.html Boulevardprofessor] bezeichnete Hans-Werner Sinn ebenso wie sein aktueller Antipode Thomas Straubhaar.

Den Brief der Euro-Verteidiger haben auch einige gewerkschaftsnahe Ökonomen wie Peter Bofinger und Gustav Horn unterschrieben. Sie haben sich beim Streit der Ökonomen gegen populistische Positionen gestellt, wie sie in dem von Sinn verfassten Brief zum Ausdruck kommen. Aber eine eigenständige Positionierung, die die Interessen der Lohnabhängigen im EU-Raum ohne Bezüge zu Standortrettungen zum Ausdruck bringt, kommt in beiden Briefen nicht vor.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152351
Peter Nowak