Keine Erfolge ohne Basisbewegungen

Peter Nowak über „Politische Streiks im Europa der Krise“

Am 14. November streikten Gewerkschaften in mehreren europäischen Ländern erstmals koordiniert gegen die europäische Krisenpolitik. Viele fragten sich nachher: War das der Beginn eines neuen Protestzyklus?
Gerade rechtzeitig kommt da ein Buch auf den Markt, in dem sich knapp 20 Autorinnen und Autoren aus verschiedenen europäischen Ländern mit der aktuellen Bedeutung der politischen Streiks im Europa der Krise befassen. Einige AutorInnen gehen dabei auch auf die Debatten über Massenstreiks in der Arbeiterbewegung vor 100 Jahren ein und heben dabei die Positionen von Rosa Luxemburg positiv hervor. Bezug genommen wird auf Rosa Luxemburg Schrift „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft, wo sie aus den Erfahrungen der gescheiterten Russischen Revolution von 1905 das Konzept des Massenstreiks als offensive Waffe einer erstarkenden Arbeiterbewegung bezeichnete. Auch 1913 schrieb sie in einem Artikel dass sich die Massen mit der Anwendung der neuen Kampfform vertraut machen müssen.
Der Schwerpunkt des Buchs liegt aber auf der Untersuchung der aktuellen Arbeitskämpfe.
Der Historiker Florian Wilde, der als Referent für Gewerkschaftspolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet und im Mai 2012 einen Kongress zum Thema politische Streiks in Europa vorbereitet hat, skizziert in der Einleitung den politischen Kontext, der sich fundamental von den Zeiten, als Rosa Luxemburg wirkte, unterscheidet. Während die Anzahl ökonomischer Streiks in den letzten Jahren zurückgegangen sei, hätten politische Generalstreiks zugenommen, denen er aber – anders als den Generalstreiks zu Beginn der Volksfrontregierung 1936 in Frankreich oder den 1968er-Streiks kein revolutionäres Potenzial attestiert.
„Im Gegenteil: Die zunehmende Zahl von politischen Streiks und Generalstreiks ist zunächst Ausdruck der hochgradig defensiven Stellung, in der sich die Gewerkschaften nach drei von Niederlagen geprägten Dekaden heute befinden (…) Die Gewerkschaften und die gesellschaftliche Linke kämpfen in dieser Situation mit dem Rücken an der Wand. Aus dieser Konstellation ergibt sich sowohl die massive Zunahme politischer Streiks als auch ihr vorrangig defensiver Charakter“ (S. 12).
In einer längeren, vergleichenden Studie (S. 24-106) werten die Sozialwissenschaftler Jörg Nowak und Alexander Gallas die aktuelle Streikgeschichte von Großbritannien und Frankreich aus und zeigen die Grenzen der auf den ersten Blick im Vergleich zur Situation in Deutschland beeindruckenden Auseinandersetzungen auf. In beiden Ländern konnten mit den Arbeitskämpfen keine grundlegenden Änderungen der Politik erreicht werden. „So gelingt es der Arbeiterbewegung nicht, konstruktive Gestaltungsmacht zu erlangen. Im Kontext der Krise, in der fast keine Regierung in Europa Zugeständnisse machte, hat sich dieses Protestmuster weitgehend erschöpft“ (S. 64), so Jörg Nowaks ernüchterndes Fazit zu den Streiks in Frankreich. Wenn er im Anschluss darauf verweist, dass der Wahlsieg der Sozialisten ein Effekt der Arbeitskämpfe war, ist damit angesichts der Politik der europäischen Sozialdemokratie keinesfalls gesagt, dass in diesem Wahlsieg auch ein politischer Erfolg der Streikenden lag. Alexander Gallas zeigt in seinem Großbritannien-Schwerpunkt, wie sich Gewerkschaften, Studierende und soziale Bewegungen in ihren Kämpfen in den Jahren 2010 und 2011 aufeinander bezogen haben. Überzeugend argumentiert er, dass es nur so möglich ist, einen gesellschaftlichen Einfluss zu erreichen – die Gewerkschaften alleine seien dazu nicht mehr in der Lage, da sie durch die drastische Deindustralisierung in Großbritannien massiv geschwächt worden seien.
Auch in Griechenland und Spanien, wo in den letzten Jahren die meisten Generalstreiks stattgefunden haben, die aber oft nur Aktionstage waren, ist es nicht gelungen, wenigstens Teile des Krisenprogramms zu verhindern. Olga Karyoti, die die griechische Basisgewerkschaft der Übersetzer vertritt, spricht sogar von ritualisierten Generalstreiks, die ohne politische Erfolge zu Enttäuschung und zum Rückzug der Aktivisten führen (S. 168).
Ähnlich selbstkritische Äußerungen finden sich vor allem in den zehn Länderbeiträgen, in denen linke BasisgewerkschafterInnen zu Wort kommen, wobei die Begründungen durchaus unterschiedlich ausfallen: So analysiert Christine Lafont vom Gewerkschaftsdachverband Solidaires, (den ehemaligen SUD-Gewerkschaften, Anm. d. Red.) wie in Frankreich die zögerliche Haltung der mitgliederstärkeren CGT-Gewerkschaft die letzten großen Streiks gegen die Sozialpolitik von Sarkozy in eine Niederlage führte (S. 145ff.). Deolinda Martin, die dem oppositionellen Flügel der portugiesischen Gewerkschaft CGTP angehört, beschreibt dagegen, dass der dritte Generalstreik seit 2010 im Januar 2012 von der Masse der Bevölkerung ignoriert wurde (S. 150ff.). Bisher wenig bekannte Informationen über das Streikgeschehen in Rumänien und im ehemaligen Jugoslawien liefert Boris Kanzleiter in seinem knappen, aber informativen Aufsatz (S. 114).
So beteiligten sich am 18. April 2012 an der größten Demonstration seit der slowenischen Unabhängigkeit fast 1000000 Menschen an einer Großdemonstration in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana gegen die Kürzungspolitik im öffentlichen Sektor. „In einem Land nur zwei Millionen EinwohnerInnen zählenden Land war dies eine Demonstration der Stärke der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und des Gewerkschaftsdachverbandes ZSSS“, schreibt Kanzleiter (S.115). In Kroatien wiederum bildete sich in Universitätsprotesten zwischen 2008 und 2010 eine neue Linke heraus, die sich im Zuge der Finanzkrise auch mit streikenden Arbeitern und protestierenden Landwirten solidarisierte. „So hielten bereits im Dezember 2009 protestierende Milchbauern an der Philosophischen Fakultät von Zagreb ein Plenum ab“, so Kanzleiter (S.119). Auch in verschiedene lokale Arbeitskämpfe habe die studentisch geprägte Linke in den letzten beiden Jahren interveniert. Als Treffpunkt der neuen kroatischen Linken habe sich das jährlich im Mai in Zagreb stattfindende Subversive Festival“ etabliert, in dem neben kulturellen Darbietungen auch politische Debatten eine wichtige Rolle spielen. In Serbien, wo sich durch die Dominanz des Nationalismus eine landesweite neue Linke bisher nicht herausgebildet hat, listet Kanzleiter in den letzten Jahren lokale Streiks auf, unter Anderem im Textilkombinat Raska. Der bekannte Aktivist dieses Streiks Zoran Bulatovic wurde anschließend mehrmals tätlich angegriffen und lebt daher mittlerweile im Ausland. Auch in Rumänien, wo sich bisher keine neue emanzipatorische Linke formieren konnte, haben im Januar 2012 massive soziale Proteste zum Rücktritt der dem Präsidenten nahestehenden neoliberalen Regierungskoalition geführt. Seitdem liefern sich der Präsident und die neue sozialliberale Regierung einen erbitterten Machtkampf. Eine eigenständige parteiabhängige soziale Bewegung hat sich aber bisher in dem Land nicht herausbilden können.
Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit Streiks in Deutschland. So erinnert Heidi Scharf, erste Bevollmächtigte der IG-Metall Schwäbisch Hall, an vergessene Arbeitskämpfe der letzten Jahrzehnte, die den Charakter politischer Streiks angenommen hatten. Dazu zählten Arbeitsniederlegungen gegen den heute weitgehend vergessenen „Franke-Erlass“, benannt nach dem ehemaligen Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit: Dieser verfügte Mitte der 80er-Jahre, dass Lohnabhängige, die während eines Streiks von den Unternehmen ausgesperrt wurden, keine Unterstützung vom Arbeitsamt mehr bekommen sollten (S. 212). Auch der Frauenstreiktag vom 8. März 1994, der für Scharf und eine weitere Gewerkschafterin einen Strafbefehl wegen Rädelsführerschaft zur Folge hatte, weil die Aktivistinnen eine nicht für den Fußgängerübergang vorgesehene Straßenkreuzung überquerten, wird noch einmal in Erinnerung gerufen (S. 214). Der ehemalige IG Medien-Vorsitzende Detlef Hensche ruft ein Problem in Erinnerung, das sich für jede Geschichtsschreibung über politische Streiks stellt, wenn er schreibt, dass diese in der BRD nie so benannt wurden, weil die offiziell verboten sind. Hensche fordert dazu auf, sich das Recht auf politische Streiks zu erkämpfen. „Die Gewerkschaften sind unter ihren Möglichkeiten geblieben (S. 220)“, skizziert er sehr vorsichtig die Rolle der DGB-Gewerkschaften, die vom politischen Streik in der Mehrheit bis heute nichts wissen wollen und auf die Gesetzeslage verweisen. Dagegen richtet auch sich der „Wiesbadener Appell“ für ein Recht auf politischen Streik, den der Initiator und hessische IG Bauen Agrar Umwelt-Sekretär Veit Wilhelmy im Buch vorstellt und begründet (S. 227).
Leider fehlt aus Deutschland ein Beitrag von einer Basisgewerkschaft außerhalb des DGB. Schließlich waren in den letzten Jahren die GDL, die UFOs in den letzten Jahren oft viel streikfreudiger gewesen, als die DGB-Gewerkschaften. Die anarchosyndikalistische FAU befürwortet seit Langem politische Streiks. Dafür wäre der Schlusstext (S. 232ff.), eine Eröffnungsrede des Linken-Politikers Klaus Ernst auf der schon erwähnten Konferenz der Rosa-Luxemburg-Konferenz im Mai 2012, entbehrlich gewesen, weil er keine neuen Argumente liefert.
Das Buch liefert insgesamt einen guten Überblick über das politische Streikgeschehen im gegenwärtigen Europa. Das politische Fazit lautet, dass Streiks auch heute noch eine wichtige politische Kampfform im Europa der Krise sind. Die Länderbeispiele zeigen aber auch, dass dafür eine Basisorientierung der Gewerkschaften und eine Kooperation mit sozialen Bewegungen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Ablauf sind. In Deutschland aber muss das Thema ohnehin erst einmal auf die Tagesordnung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gesetzt werden.
Denn die Veränderungen der Arbeitsverhältnisse in vielen europäischen Ländern haben gerade kampferfahrene Gewerkschaften geschwächt. Isolierte Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungssektor, die in vielen Ländern boomen, sind auch nicht die besten Voraussetzungen für solidarische Kämpfe. In Deutschland, wo sich die DGB-Gewerkschaften sich als Sozialpartner begreifen und politische Streiks keine Tradition haben, war es schon ein relativer Erfolg, dass auf Initiative von außerparlamentarischen Linken auch die DGB-Gewerkschaften in Berlin am 14. November zu einer Kundgebung mit anschließender Demonstration aufriefen. Die Krisenproteste des Jahres 2012 vom antikapitalistischen Aktionstag am 31. März über die Blockuppy-Aktionstage Mitte Mai bis zum 14. November machen noch einmal deutlich, dass die Konzentration auf mit großen Aufwand organisierte Aktionstage verpuffen, wenn es an Widerstand im Alltag fehlt. Dass er möglich ist, zeigt der MieterInnenwiderstand in verschiedenen Städten. So hat sich n Berlin in den letzten Wochen ein Bündnis gegen Zwangsräumungen von Mietern, die ihre Miete nicht zahlen konnte, gebildet. Mit der Parole „Mieten runter – Löhne hoch“ wurde der Zusammenhang zwischen der MieterInnenbewegung und Arbeitskämpfen zumindest beim Motto hergestellt. Hier bieten sich Ansätze für Proteste, die da ansetzen, wo bei den Leuten die Krise ankommt.

Peter Nowak
Alexander Gallas / Jörg Nowak / Florian Wilde (Hrsg.): „Politische Streiks im Europa der Krise.“ VSA-Verlag, Hamburg 2012, 240 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3-89965-532-2

Das Buch erscheint unter einer gemeinfreien Creative Commons License und steht auf der Homepage der Rosa Luxemburg-Stiftung zum Download zur Verfügung: http://www.rosalux.de/publication/38866/politische-streiks-im-europa-der-krise-2.html

Veranstaltungshinweis zum Buch:
Die HerausgeberInnen haben Interesse an Diskussionsveranstaltungen zu dem Buch: In Berlin wird sie am 6.Februar 2013 im Stadtteilladen Zielona Gora in der Grünbergstr. 73 stattfinden. Kontakte vermittelt der VSA-Verlag: maren.schlierkamp@vsa-verlag.de oder gerd.siebecke@vsa-verlag.de

aus Express 12/2012
http://www.express-afp.info/newsletter.html

Fotografischer Blick auf die Krise

Ausstellung »The Bitter Years« über in Armut geratene Menschen im luxemburgischen Düdelingen
Bittere Jahre erlebt nicht nur Europa in seiner jetzigen Krise. Fotografien von Menschen in den USA während der großen Depression verdeutlichen die Gefahr sozialer Leiden.

»Ich sehe ein Drittel der Nation, in schlechten Wohnungen, schlecht gekleidet, schlecht ernährt«, erklärte der damalige US-Präsident Franklin Delano Roosevelt am 20. März 1937 in einer Rede über die soziale Situation in den USA. Die langanhaltende Wirtschaftskrise hatte Millionen Menschen in die Armut getrieben. Davon kann man sich jetzt ein Bild machen. In einem umgebauten Wasserturm hinter dem Kulturzentrum am Rande des luxemburgischen Städtchens Dudelange kann die beeindruckende Fotoausstellung „The bitter Years“ besichtigt werden. Mehr als zwölf Fotografen haben im Auftrag der Farm Security Administration (FSA) zwischen 1935 und 1944 in allen Teilen der USA die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf die Menschen festgehalten. Die Ausstellung, die kürzlich vom Museum of Modern Art in New York nach Luxemburg umgezogen ist, zählt zu den Pionierarbeiten der sozialkritischen Fotographie. Der Ort wurde gewählt, weil Luxemburg die Heimat des langjährigen Leiters der fotografischen Abteilung MoMA ist.
Auch heute noch verschaffen die Fotos dem Betrachter einen Eindruck von den Entbehrungen, die die Krise für Millionen Menschen mit sich brachte. Oft hat man den Eindruck, es seien Szenen aus der sogenannten dritten Welt. Ben Shahn hat Kinder in Arkansas fotografiert, deren Körper Hungerödeme zeigen. Rusell Lee zeigt das Gesicht eines blonden Mädchens, das aus einem schmutzigen zerfledderten Zelt blickt, das ihre Wohnung ist. Wie Millionen Menschen musste die Familie ihre Wohnungen in Zeiten der Krise räumen. Auf mehreren Fotos sind die Trecks zu sehen, in denen die Obdachlosen in die Zeltstädte ziehen, die damals am Rande der Städte entstanden sind. Sie zogen an Plakatwänden vorbei, die eine Mittelstandfamilie in einem Auto zeigt und für den American of Life als den höchsten Lebensstandard auf Welt preist.
Die Fotografen machten die Realität einer Klassengesellschaft und den alltäglichen Rassismus in den USA bekannt. Wenn die Arbeiten heute erstmals in Europa gezeigt werden, ist es durchaus auch ein Blick in die Gegenwart. Wer heute die Krisenfolgen und die Verarmung in Ländern der europäischen Peripherie wahrnimmt, kann durchaus Parallelen finden zu den Szenen der Fotos. Selbst in Luxemburg, das eher zu den Gewinnern in der aktuellen europäischen Krise gehört, sind die Zeichen sozialer Auseinandersetzungen nicht zu übersehen. Eine kürzlich im luxemburgischen Parlament beschlossene Rentenreform hat zu heftigen Protesten von Gewerkschaften und linken Parteien geführt. Die Armut der einfachen Bevölkerung ist indes in den Krisenländern Europas zu sehen. Zwangsräumungen wurden in Spanien nach mehreren Suiziden zwar ausgesetzt. In Griechenland aer geraten immer mehr Menschen in die Obdachlosigkeit.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/808908.fotografischer-blick-auf-die-krise.html

Peter Nowak
Hinweise zu geführten Touren durch die Ausstellung unter: www.steichencollections.lu

Medizin ohne Kommerz


Europäische Organisationen fordern gemeinsam eine andere Gesundheitsversorgung
Verschiedene europäische Organisationen aus dem Gesundheitsbereich wollen sich künftig gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens zusammentun.

»Die Organisation des Gesundheitswesens ist eine öffentliche Aufgabe. Als Gesundheitsprofessionelle sind wir damit betraut, die Krankheiten unserer Patienten zu diagnostizieren, zu behandeln und nach
Möglichkeit zu verhüten. Wir sollten diese Aufgabe ohne Ansehen der Person wahrnehmen.“ Diese Erklärung unterzeichneten 19 europäische Organisationen des Gesundheitspersonals, der Krankenschwestern, Ärzte und Studierender der Medizin. Sie ist Teil eines Manifests des eines europäischen Gesundheitsnetzwerkes, das gegen die zunehmende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens länderübergreifend aktiv werden will. Im Oktober Am 5. Oktober hat sich diese Kooperation erstmals praktisch bewährt. An diesem Tag beteiligten sich Vertreter der in dem Gesundheitsnetzwerk vertretenen Organisationen aus mehreren europäischen Ländern an einer Demonstration in Warschau, mit der die polnische Gewerkschaft der Krankenschwestern und Hebammen (OZZ PiP) unterstützt werden sollte, die eine wichtige Rolle bei der Entstehung des europäischen Netzwerkes gespielt hat. Vor fünf hatte ein wochenlanger Streik der polnischen Krankenschwestern, die in Warschau Zelte, das sogenannte „Weiße Städtchen“ errichteten, wesentliche Impulse für die polnische Gewerkschaftsbewegung und die europaweite Zusammenarbeit gegeben. Im Anschluss an die Demonstration fand am 5. Oktober in Warschau ein Kongress des europäischen Gesundheitsnetzwerkes statt. Obwohl das Manifest von 7 Organisationen aus Deutschland unterzeichnet wurde, ist das Netzwerk hierzulande bisher noch kaum bekannt. Dazu gehört die Göttinger Basisgruppe Medizin, die Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie, der Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten und der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ). „Wir merken, dass Ärztinnen und Ärzte in der Öffentlichkeit nach wie vor eine sehr hohe Akzeptanz haben und versuchen diese zu nutzen, um für eine bedarfsgerechte und sinnvolle medizinische Versorgung einzutreten, die nicht wieder nur den „Leistungserbringern“ und der Gesundheitsindustrie noch mehr Geld in die Taschen spült“, beschrieb die Leiterin der VdÄÄ-Geschäftsstelle Nadja Rakowitz die Pläne ihrer Organisation. Die europäische Vernetzung hat auch große Bedeutung, weil die gegenwärtige Krise unterschiedliche Folgen für das Gesundheitssystem der verschiedenen Länder hat. Besonders in der europäischen Peripherie, vor allem in Spanien und Griechenland, gibt es in einigen Städten Notlagen auf medizinischem Gebiet. In Deutschland hingegen ist in vielen Bereichen eine Überversorgung aus ökonomischen Gründen zu beobachten, betont Rakowitz. Als Beispiel führt sie überflüssige individuelle Gesundheitsleistungen im ambulanten Sektor, die vom Patienten selber bezahlt werden müssen, oder die medizinisch nicht erklärbaren Fallzahlensteigerungen bei Operationen in den Krankenhäusern an. Die Verschlechterungen bei den Arbeitsbedingungen des Gesundheitspersonals hingegen sind in allen europäischen Ländern zu beobachten. Dabei könnte das Gesundheitsnetzwerk eine zentrale Rolle bei einem europaweiten Widerstand bekommen.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/808686.medizin-ohne-kommerz.htm
Peter Nowak

Jakob Augstein und die regressive Israelkritik


Der Freitag-Herausgeber und Journalist wird vom Simon-Wiesenthal-Center unter den Top Ten „Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs“ geführt

Jakob Augstein hat einen Karrieresprung hinter sich, auf den er wohl gerne verzichtet hätte. Er wurde vom Simon-Wiesenthal-Center vor einigen Tagen auf Platz 9 der 2012 Top Ten Anti-Semitic/Anti-Israel Slurs – was mit „antiisraelischen Beschimpfungen“ übersetzt werden kann – gesetzt. Augstein teilt diese zweifelhafte Auszeichnung mit der in Ägypten aktuell herrschenden Regierungspartei, dem iranischen Regime, rechten Fußballfans und Politikern faschistischer Parteien aus Ungarn, der Ukraine und Griechenland.

Als Begründung für Augsteins Aufnahme in die antisemitische Top Ten führt das Simon-Wiesenthal-Zentrum mehrere Kolumnen auf SpiegelOnline an, in denen sich der Journalist mit Israel befasst. Besonders nachdem Günther Grass mit seinem antiisraelischen Gedicht „Was gesagt werden muss“ für Aufsehen gesorgt hatte, bekam er von Augstein glühende Unterstützung. Der Kolumnist verschärfte die Israelkritik des Schriftstellers sogar noch:

„Es ist dieser eine Satz, hinter den wir künftig nicht mehr zurückkommen: ‚Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.‘ Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt. Darin liegt ein Einschnitt. Dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen. Ein überfälliges Gespräch hat begonnen.“

Die Simon-Wiesenthal-Stiftung hat darüber hinaus noch die folgende Passage aus Augsteins Kolumne als Begründung für die „Auszeichnung“ des Journalisten angeführt:

„Mit der ganzen Rückendeckung aus den USA, wo ein Präsident sich vor den Wahlen immer noch die Unterstützung der jüdischen Lobbygruppen sichern muss, und aus Deutschland, wo Geschichtsbewältigung inzwischen eine militärische Komponente hat, führt die Regierung Netanjahu die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs.“

Alles nur Diffamierung?

Die Reaktion darauf beschränkt Augstein auf eine knappe Erklärung auf seiner Facebook-Seite:

„Das SWC ist eine wichtige, international anerkannte Einrichtung. Für die Auseinandersetzung mit dem und den Kampf gegen den Antisemitismus hat das SWC meinen ganzen Respekt. Umso betrüblicher ist es, wenn dieser Kampf geschwächt wird. Das ist zwangsläufig der Fall, wenn kritischer Journalismus als rassistisch oder antisemitisch diffamiert wird.“

Damit wiederholt Augstein nur etwas diplomatischer, was er bereits im Zusammenhang mit der Debatte um die Adorno-Preisverleihung an Judith Butler auf SpiegelOnline in einer Kolumne geschrieben hat. Der Beitrag liest sich schon deshalb wie eine Vorwegverteidigung in eigener Sache, weil Augstein darauf verweist, via Facebook als Antisemit bezeichnet worden zu sein.

„Jeder Kritiker Israels muss damit rechnen, als Antisemit beschimpft zu werden. Das ist ein gefährlicher Missbrauch des Begriffs. Im Schatten solch falscher Debatten blüht der echte Antisemitismus“, so Augsteins Vorwurf in dem Beitrag, in dem er den Freunden Israels vorwirft, mit dem Antisemitismusvorwurf vor allem politische Interessen zu verfolgen. Nun ist man gerade in Deutschland schnell mit der Denunzierung von Interessenvertretungen bei der Hand. Da werden immer hehre Werte vorgeschoben, die sich angeblich nicht damit in Übereinstimmung bringen lassen.

Kein Zweifel, viele derjenigen, die Augstein Antisemitismus vorwerfen, werden das Interesse haben, das Land Israel, manche auch die gegenwärtige Regierung, zu verteidigen. Dagegen kann man polemisieren und argumentieren, aber dieses Interesse sollte anerkannt und nicht per se denunziert werden. Gleichzeitig müsste auch die Frage gestellt werden, ob Augstein mit seiner Israelkritik nicht auch selbst Interessen verfolgt. Schließlich sollte man sich auch die Mühe machen, die Begründungen des Simon-Wiesenthal-Zentrums für die Aufnahme in die Top Ten nachzuvollziehen.

Regressive Israelkritik

Tatsächlich muss die ganze Argumentation Augsteins in seiner Grass-Verteidigung verwundern. Schließlich ist der Schriftsteller vielleicht der bekannteste, aber bei weiten nicht der erste Deutsche mit der Mitgliedschaft in einer NS-Organisation, der sich besonders für befähigt hält, Israel zu kritisieren. Zudem kann man an vielen Passagen in Augsteins Beitrag deutlich machen, wie eine Kritik an der israelischen Regierung, die so legitim ist wie die Kritik an jeder anderen Regierung dieser Welt, umschlägt in eine regressive Israelkritik, deren Abgrenzung zu antisemitischen Bildern oft sehr dünn ist.

Wenn Augstein schreibt, dass die israelische Regierung die ganze Welt am Gängelband führt, müsste ihm bewusst sein, dass man daraus das Bild von der jüdischen Weltgefahr herauslesen kann. Wenn er dann auch noch von „jüdischen Lobbygruppen“ in den USA spricht, die angeblich dafür verantwortlich sind, dass die USA so fest auf Seiten Israels steht, bedient er ebensolche Klischees.

Natürlich gibt es israelische Lobbygruppen in den USA, die aber längst nicht alle jüdisch sind. Dafür kritisieren viele jüdische Organisationen die gegenwärtige israelische Politik. Auch wenn Augstein den Gazastreifen als ein Lager bezeichnet, in dem Israel „seine Gegner ausbrütet“, eine Wortwahl, die das Simon-Wiesenthal-Center moniert, unterschlägt er vollständig die Rolle der islamistischen Gruppen wie der Hamas, die den Gazastreifen beherrschen. Die palästinensischen Bewohner werden allein als Opfer der israelischen Politik betrachtet.

Es ist in den letzten Jahrzehnten einiges publiziert worden über den Unterschied zwischen der Kritik an der israelischen Regierungspolitik und antiisraelischen Ressentiments. Die bisherigen Beiträge von Augstein und seiner Unterstützer lassen nicht erkennen, dass sich der Publizist und seine Verteidiger die Mühe gemacht haben, sich damit auseinander zu setzen.

Vielleicht wäre eine solche Debatte einfacher, wenn auch das Simon-Wiesenthal-Zentrum mehr differenzieren würde. Denn in eine Reihe mit dem iranischen Regime sowie europäischen Faschisten gehört Augstein nun wirklich nicht. Warum führt das Simon-Wiesenthal-Zentrum nicht eine eigene Liste ein, auf der ausschließlich regressive Israelkritik bewertet wird? Die kann ja durchaus von offen antisemitischen Positionen unterschieden werden, wie sie bei mehreren der Organisationen und Personen zu finden ist, die mit Augstein auf der Liste stehen. Damit würde das SWZ auch einen wichtigen Beitrag für eine solche Debatte leisten und es den Kritikern schwerer machen.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153463
Peter Nowak

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Replik auf diesen Artikel in der jungen Welt

http://www.jungewelt.de/2013/01-05/003.php


Der Schwarze Kanal: Schleichende Aggression
Von Werner Pirker

Das von den Zionisten und ihren Claqueuren angestimmte Antisemitismusgeschrei sprengt alle Maßstäbe der Vernunft und des Anstandes. So hat das Simon-Wiesenthal-Center (SWC) den Freitag-Herausgeber und Spiegel-Kolumnisten Jakob Augstein unter den „2012 Top Ten Antisemitic/Anti Israel Slurs“ an neunter Stelle gereiht. Israel-Kritik mit Antisemitismus gleichzusetzen und damit eigentlich zu kriminalisieren, ist eine unter den (falschen) Freunden Israels bereits bestens eingespielte Verleumdungsmethode. Obwohl es dann immer wieder heißt, daß Kritik an Israel natürlich gestattet sei und nirgendwo mehr Kritik an der israelischen Politik geübt werde als in Israel selbst. Zum Beispiel, wenn ein Angriffskrieg nicht so erfolgreich verlaufen ist, wie man sich das vorgestellt hatte.

Augstein hat die Politik der gegenwärtigen israelischen Rechtsregierung kritisiert. Nicht Israel und auch nicht den Zionismus. Das SWC wirft ihm unter anderem vor, Günter Grass, der mit seinem Israel-Gedicht ein mediales Beben ausgelöst hatte, verteidigt zu haben. Und nachdem Grass, dessen Kritik sich ausschließlich auf die friedensgefährdende Politik der Netanjahu-Regierung bezog, von der veröffentlichten Meinung in Israel und Deutschland des »Antisemitismus« überführt war, meinen Wiesenthals Erben nun auch Augsteins Parteinahme für den Dichter als »antisemitisch« verurteilen zu dürfen.

Das wollte das Gros der deutschen Journalistenschar so nicht nachvollziehen. Mit wenigen Ausnahmen, darunter ein gewisser Peter Nowak. »Einer muß der Nowak sein«, lautet ein Wiener Sprichwort. Der Mitarbeiter halblinker und pseudolinker Zeitungen, darunter Neues Deutschland, taz und Freitag, stellt im Internet-Portal Telepolis die Frage »Alles nur Diffamierung?« Und bemüht sich, diese »objektiv« zu beantworten. Die offene Auseinandersetzung ist Nowaks Sache aber nicht. Er schleicht sich lieber von hinten ran.

Der Telepolis-Autor stößt sich nicht nur daran, daß Grass von Augstein »glühende Unterstützung« erhielt. »Der Kolumnist verschärfte die Israel-Kritik sogar noch«, empört er sich. Wo die Grenzen der Israel-Kritik zu liegen haben, bestimmen Leute wie Henryk M. Broder – vom SWC als weltweit anerkannter Antisemitismusexperte gewürdigt – und dessen rechtsextreme und antideutsche (sofern es da überhaupt noch einen Unterschied macht) Kohorten. Und natürlich auch der Herr Nowak. Verschärfte Israel-Kritik gerät bei ihm zum Straftatbestand. Zur Erklärung des Kolumnisten: »Umso betrüblicher ist es, wenn dieser Kampf (gegen den Antisemitismus; W. P.) geschwächt wird. Das ist zwangsläufig der Fall, wenn kritischer Journalismus als rassistisch oder antisemitisch diffamiert wird«, weiß Nowak, daß dieser Ähnliches schon bei der Verleihung des Adorno-Preises an Judith Butler gesagt habe. »Der Beitrag liest sich schon deshalb wie eine Vorwegverteidigung in eigener Sache, weil Augstein darauf verweist, via Facebook als Antisemit bezeichnet worden zu sein.«

Damit begibt sich Peter Nowak auf eine ganz perfide Argumentationsschiene. Zwar sieht sich Kritik an Israel, ja sogar Kritik an der aktuellen Politik der rechtsextremen Regierungskoalition sofort des Antisemitismusverdachtes ausgesetzt. Diese Tatsache zu benennen gilt aber als besonders schwerer Fall von Antisemitismus. So wie das auch Grass ergangen ist, der sich in seiner Befürchtung dann voll bestätigt sah. Und wie das Nowak gegenüber Augstein handhabt. Dessen Bemerkung, daß mit dem Antisemitismusvorwurf politische Ziele verfolgt werden, stellt sich für ihn selbstredend als antisemitische Verschwörungstheorie dar. Obwohl es offenkundig ist, daß der Antisemitismusvorwurf politisch dazu instrumentalisiert wird, alle Vorwürfe gegen Israel niederzubügeln und er sich auch selbst dieser Methode bedient.

Bei Augstein könne man beobachten, schreibt der Autor, wie »legitime Kritik an der israelischen Regierung« in »regressive Israelkritik« umschlage. Als Beispiel führt er an: »Wenn Augstein schreibt, daß die israelische Regierung die ganze Welt am Gängelband führt, müßte ihm bewußt sein, daß man daraus das Bild von der jüdischen Weltgefahr herauslesen kann.« Die antisemitischen Klischees, die die Nowaks beklagen, sind ihre eigenen. Tatsache ist, daß die Netanjahu/Lieberman-Regierung sogar die vom Westen favorisierte Zweistaatenlösung mittlerweile unmöglich gemacht hat. Und daß der Westen trotzdem seinem wichtigsten Vorposten in Nahost die Treue hält. Ebenso unbeirrbar wirft Nowak den Gegnern dieser Politik vor, zwischen Kritik an der israelischen Regierung und »antiisraelischem Ressentiment« nicht unterscheiden zu können. Doch der das nicht kann, ist er selbst.

Die Arbeit könnt ihr behalten

Die Reaktionen auf die Schließungspläne bei Opel zeigen, dass es heute kaum noch möglich ist, in einer einzelnen Fabrik Kämpfe zu führen.

»Hier hat sich die Belegschaft selbst organisiert. Von Donnerstag an stand fest, die Belegschaft handelt und entscheidet gemeinsam jeden Schritt und jede Aktion. Ohne großartige Abstimmungen wurden die Tore besetzt, um zu verhindern, dass LKW mit Ladung das Werk verließen – leer konnten sie fahren.« Dieser Lagebericht des oppositionellen Bochumer Opel-Betriebsrates Manfred Strobel ist vor acht Jahren in der Zeitschrift Express erschienen, die gewerkschaftlichen Kämpfen außerhalb des DGB ein Forum gibt. Damals hatte ein durch angekündigte Massenentlassungen ausgelöster sechstägiger Streik der Opel-Belegschaft für Begeisterung unter Linken gesorgt, weil die Aktion nicht die Handschrift der IG-Metall-Führung getragen hatte.

Acht Jahre später nun, am 10.Dezember, wurde der Beschluss verkündet, das Opelwerk zu schließen. Das zog jedoch keine Torbesetzungen und Streiks nach sich. Kurz nach Bekanntwerden des Beschlusses, am 11. Dezember, beteiligten sich gerade mal 100 Beschäftigte an einer Demonstra­tion durch das Werk. Am 14. Dezember rief die IG Metall zu einer Kundgebung vor dem Tor 4 auf. Die meisten Reden verbreiteten Zweckoptimismus. Es sei schon ein »Erfolg«, dass die Gespräche weitergehen, hieß es. So soll über die Auszahlung der 4,3 Prozent Tariflohnerhöhung, die Opel wegen der Vorleistung der Belegschaft gestundet worden sind, am 8. Januar weiterverhandelt und das Ergebnis dann den Kollegen zur Abstimmung vorgelegt werden. Zudem bezeichneten die Betriebsräte die Aufsichtsratsversammlung vom 12. Dezember als erfolgreich, weil dort der Schließungsplan noch nicht offiziell bestätigt wurde. »Das halte ich für eine Nebelkerze. Schließlich wissen alle, dass es den Schließungsbeschluss gibt«, kommentierte Wolfgang Schaumberg diesen Versuch, die Belegschaft ruhigzustellen. Schaumberg war jahrzehntelang in der oppositionellen Gewerkschaftsgruppe Gegenwehr ohne Grenzen (GoG) engagiert. Sie und ihre Vorläufer haben in den vergangenen drei Jahrzehnten bei Opel eine wichtige Rolle gespielt und sicher auch zum sechstägigen Streik vor acht Jahren beigetragen. Dass die Gruppe, die die Standortlogik und das gewerkschaftliche Co-Management immer bekämpft hat, bei der jüngsten Betriebsratswahl erstmals kein Mandat mehr bekommen hat, zeigt, wie die Verhältnisse sich geändert haben.

Heute liegt der Altersdurchschnitt im Werk bei über 47 Jahren. »Gerade die Älteren hoffen auf eine Abfindung und rechnen sich schon aus, wie sie mit Abfindungen und Arbeitslosengeld bis zum Rentenalter kommen«, beschreibt Schaumberg die Situation. Weil die Komponentenfertigung für andere Werke aus Bochum abgezogen wurde, könnte ein Ausstand heute nicht mehr, wie 2004, die Opel-Produktion in ganz Europa lahmlegen. Dieser durch die technologische Entwicklung begünstigte Verlust der Produzentenmacht hat auch dazu geführt, dass viele Streikaktivisten von 2004 Abfindungen angenommen und sich aus dem Betrieb verabschiedet haben. Dazu gehört auch der Express-Autor Manfred Strobel. Der »Arbeitermilitante«, der, wie der vor einigen Jahren verrentete Wolfgang Schaumberg, über Jahrzehnte im Betrieb arbeitete und seine Erfahrungen an die jeweils nächste Generation weitergab, war auch bei Opel schon vor den Schließungsplänen ein anachronistischer Typus geworden. Schließlich haben die Bochumer Opelaner den Machtverlust selber erfahren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Zahl der Belegschaftsmitglieder kontinuierlich zurückgegangen.

Dass die Macht der Arbeiter schwindet, bedingt durch den technologischen Fortschritt und die Politik der Wirtschaftsverbände, macht Belegschaften in vielen europäischen Ländern zu schaffen. Diese Erfahrungen haben dazu geführt, dass die Zahl der Entscheidungsstreiks in einzelnen Fabriken in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist und die aus der Defensive geführten politischen Streiks zugenommen haben, lautet die These des kürzlich erschienenen Buchs »Politische Streiks im Europa der Krise«.

Der Vorstand der IG Metall zumindest macht sich über neue Kampfformen kaum Gedanken. Auf ihrer Homepage wird der Opel-Konflikt zu einem Kampf zwischen den Standorten USA und Deutschland stilisiert. Von einer »Kampfansage von General Motors an Opel Bochum« ist da etwa die Rede. Das Management habe die Marke Opel beschädigt, lautet die Klage der gewerkschaftlichen Co-Manager, die ein profitables Opel-Werk fordern. »Damit sind weitere Verzichtserklärungen der Beschäftigten schon vorprogrammiert«, kommentiert Schaumberg.

Allerdings gibt es auch bei Opel noch Widerspruch gegen die Linie der IG Metall. So empfahl ein oppositioneller Betriebsrat auf der Kundgebung am 14. Dezember, sich an den belgischen Ford-Kollegen aus Genk ein Beispiel zu nehmen, die Anfang November nach der Ankündigung der Werkschließung vor dem Ford-Werk in Köln protestiert hatten. Die Aktion sei in den Medien in Deutschland als Randale hingestellt worden, es habe sich aber um eine Protestaktion mit Vorbildcharakter gehandelt, sagte er unter Applaus. Ebenfalls aus den Reihen oppositioneller Opel-Gewerkschafter wird mit dem Vorschlag, Gewerkschaften und Umweltorganisationen sollen sich gemeinsam für die Produktion umweltfreundlicher Autos einsetzen, an die Konversionspläne der siebziger Jahre angeknüpft.

»Solche Forderungen können nicht in einem Werk umgesetzt werden, sondern setzen eine ganz andere Auseinandersetzung mit dem Kapital voraus«, betont Schaumberg. Bei der GoG wird daher über die Forderung diskutiert, dem Management mit der Position gegenüberzutreten: »Die Arbeit könnt ihr behalten, aber ihr müsst uns weiter bezahlen.« Schließlich hätten die Lohnabhängigen die Situation, die zum Beschluss führte, das Werk zu schließen, nicht verursacht. Damit knüpfen sie an die Parole »Wir zahlen nicht für eure Krise« an. Im Fall Opel ist die Parole sogar treffend. Denn es ist auch das durch die deutsche Krisenpolitik der europäischen Peripherie oktroyierte Verarmungsprogramm, das den deutschen Export einbrechen ließ und Opel unrentabel macht. Wer jeden Cent zweimal umdrehen muss, kauft keine Autos.

http://jungle-world.com/artikel/2012/51/46820.html
Peter Nowak

Ist Frieden mit Assad noch möglich?

Ein Aufruf zur Unterstützung der syrischen Zivilgesellschaft sorgt für Debatten

Der syrische Bürgerkrieg ist aus den Schlagzeilen unserer Medien verschwunden. Mittlerweile sind die Meldungen über Bombenanschlägen und ermordete Aktivisten in dem Land so alltäglich geworden, dass sie keinen prioritären Nachrichtenwert mehr haben. Da erinnert ein Aufruf des Bündnisses Adopt a Revolution daran, dass der Aufstand in Syrien einmal im Kontext der „Arabellion“ Hoffnungen auf eine emanzipierende Entwicklung für die Menschen in dem Land geweckt hat. Unter dem Motto „Freiheit braucht Beistand“ wird dort noch einmal der vielzitierte arabische Frühling beschworen, der auch in Tunesien, Ägypten und Jemen in erster Linie ein Elitentausch gewesen ist.

Vom arabischen Frühling zum islamistischen Herbst

In dem aktuellen Aufruf wird die Entwicklung vom arabischen Frühling zum aktuellen islamistischen Herbst kritisch reflektiert:

„Vor anderthalb Jahren hat eine junge Generation in Syrien ihren Willen zur Freiheit erklärt. Für diese mutigen Frauen und Männer gibt es keinen Weg zurück in die alte Republik der Angst. Unbewaffnete lokale Bürgerkomitees, kurdische Initiativen, Studentengruppen, aber auch palästinensische Jugendliche verweigern sich der militärischen Logik der Zerstörung und verteidigen den demokratischen Aufbruch. Sie helfen nicht nur Verwundeten und Ausgebombten, sondern verteidigen auch die Interkonfessionalität der syrischen Demokratiebewegung gegen die religiöse Hetze des Regimes wie gegen die immer stärker werdenden radikal-islamischen Tendenzen innerhalb der Freien Syrischen Armee und protestieren gegen tagtägliche Menschenrechtsverletzungen.“

Es wird aber gegen eine Haltung argumentiert, die in der aktuellen Entwicklung der aktuell mit vielen Projektionen befrachteten Arabellion nur wieder die Erkenntnis mitnimmt, dass sich sowieso nichts ändert und daher jede Parteinahme sinnlos ist. Doch dieser Aufruf wurde wie die Aktivitäten von Adopt a Revolution generell in Kreisen der traditionellen Linken mit Argwohn und offener Kritik begegnet.

Kein Aufruf zur Friedhofsruhe?

Unter den bezeichnenden Titel „Kein Aufruf zum Frieden“ moniert der Publizist Joachim Guilliard, in dem Aufruf fehle eine Distanzierung von der Stationierung deutscher Patriot-Raketen, ohne zu bedenken, dass Aufrufe immer knapp zusammengefasste Minimalerklärungen sind, die auf einen großen Unterstützerkreis zielen. Daher könnte man auch positiv anmerken, dass kein positiver Bezug auf die Patriot-Raketen erfolge, die Frage also ausgeblendet wurde.

Gravierender scheint Guilliards Vorwurfs, in dem Aufruf werde nicht für Verhandlungen mit dem Assad-Regime plädiert und so in den Augen des Kritikers „unbeirrt am Ziel des Umsturzes festgehalten“. Zudem wird eine mangelnde Trennschärfe zwischen zivilgesellschaftlicher und bewaffneter Opposition moniert. „Selbstverständlich suchen die Initiatoren des Aufrufs nur für unbewaffnete Gruppen Unterstützung. Wenigen Unterzeichnern dürfte jedoch bekannt sein, wie eng deren Verbindungen zu bewaffneten Aufständischen meist sind“, so Guilliard.

Tatsächlich hat sich mit dem Sänger Konstantin Wecker ein prominenter Unterstützer mittlerweile von dem Aufruf distanziert und seine Unterschrift zurückgezogen. In einer Mitteilung an seine politischen Fans heißt es:

„Liebe Freunde, von Freunden der Friedensbewegung wurde ich auf eine Aussage von Ferhad Ahma, Beiratsmitglied und einer der Hauptinitiatoren von Adopt a Revolution hingewiesen. Herr Ahma hat am 03.12. im DLF gesagt: ‚Ich glaube, um schnellstmöglich einen Sturz des Regimes herbeizuführen, brauchen die Rebellen nach wie vor effiziente und bessere Waffen. Ansonsten wird dieser Kampf sich noch in die Länge ziehen.‘ Unter diesen Umständen muss ich meine Unterschrift unter den Syrien-Appell zurückziehen. Das verstehe ich nicht unter einer zivilen Demokratisierung. Im Vordergrund für alle sollte die Dialogbereitschaft stehen.“

Damit übernimmt Wecker den Friedensbegriff, den Guilliard bereits gegen den Aufruf von Adopt a Revolution in Anschlag gebracht hat. Frieden heißt hier vor allem Dialog mit dem Machthabern und Verzicht auf radikale Opposition. Denn die zwinge die Machthaber zum harten Zurückschlagen und die Gewalt nimmt kein Ende. In dieser Lesart wird ein Aufruf zum Frieden schnell zur Aufforderung zur Friedhofsruhe, die den Machthabern nutzt.

So erinnert der gesamte Gestus von Guilliards Kritik an die Erklärungen kemalistischer Gruppen in der Türkei, die den zivilen kurdischen und türkischen Oppositionellen eine Nähe zur bewaffneten Guerilla vorwerfen und damit Repressalien gegen Gewerkschafter, Menschenrechtler und auch gewählten linken Parlamentariern rechtfertigen.

Problem des VIP-Unterschriftensammelns

Die Debatte macht aber auch deutlich, wie fraglich das in der Protestbewegung allgemein beliebte Unterschriftensammeln bei Prominenten ist. Da dürfte vor allem im Internetzeitalter täglich einlaufenden Appellen, Resolutionen und Offenen Briefen manchmal die Zeit zur genauen Lektüre fehlen. Oder wie lässt sich sonst erklären, dass nicht nur Konstantin Wecker seine Unterschrift unter einem Appell zu Syrien zurückgezogen hat?

Auch der deutsch-französische Publizist und Soziologe Alfred Grosser hat mittlerweile seine Unterschrift unter einen Offenen Brief der Vereinigung Schriftsteller für den Frieden zurückgezogen, weil er ihm eine Passage am Ende des Schreibens, in dem den syrischen Machthaber die Folgen seines Nichtrücktritts ausgemalt wurde, zu „naturalistisch“ war. Wahrscheinlich hatte er sich vor der Unterschrift nicht die Zeit genommen, den zweiseitigen Brief bis zum Schluss zu lesen. Auf welche Weise der syrische Herrscher den Brief erhalten sollte und ob er von ihm und der Distanzierung Kenntnis genommen hat, ist nicht bekannt.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153394
Interview: Peter Nowak
Peter Nowak

Entschädigung für Opfer des Kriegs gegen den Terror

Wird die Logik, die zur Verhaftung von El Masri führte, nicht auch heute noch angewandt?

Für die Zyniker der Macht waren es Kollateralschäden im Krieg gegen den Terror. Für die Betroffenen waren es Jahre des Schreckens, die sie bis zum körperlichen und geistigen Zusammenbruch trieben. Die Maßnahmen, mit denen die USA, unterstützt von verschiedenen europäischen Staaten, Menschen verhafteten und verschleppten. Jetzt hat einer der Betroffenen zumindest juristisch eine kleine Entschädigung bekommen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dem Libanon geborenen deutschen Staatsbürger Khaled El Masri eine Entschädigung in Höhe von 60.000 Euro zugesprochen. Zahlen muss sie die mazedonische Regierung. Denn El Masri war Ende 2003 in der Hauptstadt des Balkanstaates Skopje verschleppt worden und erlebte eine kafkaeske Odyssee.

Nach seinen sehr detaillierten Aussagen, die sich später auch bestätigten, wurde El Masri von den mazedonischen Behörden zunächst 23 Tage unter Kontaktsperre in einem Hotel in Skopje festgehalten. Bei einem Fluchtversuch wurde ihm mit Erschießung gedroht. Danach wurde er vom US-amerikanischen Außengeheimdienst CIA nach Afghanistan entführt und dort über mehrere Monate festgehalten und auch gefoltert.

Als sich sein deutscher Pass, den die US-Behörden zunächst für gefälscht hielten, als echt erwies, wurden die deutschen Behörden informiert. El Masri wurde 2004 ohne finanzielle Mittel und ohne Informationen von Freunden und Bekannten auf einem Waldweg zwischen Albanien und Mazedonien ausgesetzt. Seine Papiere hat er am mazedonischen Grenzübergang wieder bekommen. Die Art seiner Freilassung bedeutete für den Betroffenen eine weitere Demütigung.

Denn zunächst wurden seinen Schilderungen auch in Deutschland mit Misstrauen begegnet. Das Opfer wurde zum Lügner gestempelt. Sicherlich hat diese Behandlung zu dem psychischen Zusammenbruch beigetragen. El Masri war strafrechtlichen Ermittlungen, einer Einweisung in die Psychiatrie und einer Pressekampagne ausgesetzt. Während die deutschen Behörden mittlerweile im Zusammenhang mit El Masris Verschleppung Haftbefehle gegen mehrere CIA-Mitarbeiter erlassen haben, hat die US-Justiz es auch in der höchsten Instanz abgelehnt, El Masris Antrag auf Schadenersatz anzunehmen.

Abweisung der Klage weitere Menschenrechtsverletzung

Das Europäische Gericht stufte die Darstellung El Masris als glaubwürdig ein. Seine Verschleppung in das Hotel in Skopje wurde als „unmenschliche und erniedrigende Behandlung“ klassifiziert, der Umgang mit ihm auf dem Flughafen von Skopje als Folter. Da dieses Prozedere auf mazedonischem Staatsgebiet und in Anwesenheit mazedonischer Beamter erfolgt sei, müsse dafür auch die mazedonische Regierung die Verantwortung übernehmen, so die Richter. Zudem sei den Behörden das Ziel des Fluges bekannt gewesen. Gerügt wurde schließlich auch die mazedonische Justiz, die alle Klagen El Masris abwies. Sie sei verpflichtet gewesen, eine effektive Untersuchung durchzuführen.

Das Gericht befand, es seien aus dem gleichen Grunde keine ernsthaften gerichtlichen Untersuchungen durchgeführt worden, wegen denen er auch unrechtmäßig inhaftiert worden war, was eine weitere Verletzung der Grundrechte von El-Masri darstellte. Mit dem Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erneut den Focus auf die massiven Menschenrechtsverletzungen auch auf europäischen Boden gerichtet, die unter dem Übergriff „Krieg gegen den Terror“ gelaufen sind.

Die Frage ist, ob jetzt auch andere Betroffene gegen europäische Staaten, vielleicht auch Deutschland, klagen werden. Schließlich haben auch Politiker in Deutschland im Fall des Bremers Murat Kurnaz, dessen Haft in den USA in die Länge gezogen. Daneben sollte der gut dokumentierte Fall El Masri die Frage aufwerfen, ob solche Menschenrechtsverletzungen auch heute noch möglich wären.

Beispiel Bonn – Salafistenfreund gleich Bombenleger?

Die offizielle Erklärung aus Washington lautet, El Masri sei Opfer einer Verwechslung mit einem Al Qaida-Mitglied gleichen Namens geworden. Die Verwechslungserklärung verdeckt, dass El Masri ins Visier der Behörden geriet, weil er im Libanon Kontakt zu einer islamistischen Gruppe gehabt haben soll, nach der er auch von den US-Beamten beim Verhör befragt worden war.

Zudem soll er in seinem deutschen Wohnort Neu-Ulm in einen Zentrum verkehrt haben, in dem sich auch Islamisten getroffen haben sollen. Hier wurde also nach der Logik des Verdachts verfahren, wer mit Islamisten verkehrt hat, kann auch Al Qaida-Mitglied sein. Wurde diese Logik nicht auch nach dem Fund einer zünderlosen Bombe am Bonner Hauptbahnhof vor wenigen Tagen angewandt, als die Festnahme zweier Männer erfolgte, denen Kontakte in die Salafistenszene nachgesagt wird? Sie mussten mittlerweile wieder freigelassen werden und ein politischer Hintergrund der mysteriösen Ansammlung von Bombenteilen steht auch noch längst nicht fest.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/153365

Peter Nowak

Spitzel verlangt Schadenersatz

Mark Kennedy wegen Liebesaffären vor Gericht
Der britische Zivilbeamte Mark Kennedy spionierte jahrelang in der linken Szene Europas. Nun verklagen ihn Frauen aus mehreren Ländern wegen sexueller Ausbeutung.

Dass Polizeibehörden von Menschen aus oppositionellen Zusammenhängen wegen Körperverletzung oder Freiheitsberaubung verklagt werden, kommt häufiger vor. Doch die Klage wegen sexueller Ausbeutung, die 10 Frauen aus verschiedenen europäischen Ländern gegen die britische Metropolitan Police und die halbprivate „Association of Chief Police Officers gestellt haben, dürfte eine Premiere sein. Die Polizeibehörden waren für den Einsatz der Zivilbeamten Mark Kennedy und eines Kollegen, der unter dem Namen Marco Jacobs bekannt ist, verantwortlich. Beide hatten sich in verschiedenen europäischen Ländern in linke Zusammenhänge eingeschleust und diese auspioniert. Dazu gehörte auch Mobilisierung gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 und gegen den NATO-Gipfel in Strasbourg 2009. Wie Kennedy mittlerweile zugab, ist er bei seinen Einsätzen sexuelle Beziehungen mit Frauen aus der linken Szene eingegangen.
Diese stützten ihre Klage auf die Verletzung mehrerer Grundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention. Danach darf niemand einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werden. Dieses Prinzip sehen die Kläger verletzt, weil sie von stabilen, zukunftsfähigen Bindungen ausgegangen waren. Doch die zwischen sieben Monaten und sechs Jahren dauernden Beziehungen endeten mit dem plötzlichen Abtauchen der vermeintlichen Partner, wenn deren Einsatz abgebrochen wurde.
Noch ist unklar, ob die Verfahren öffentlich verhandelt werden, wie von den Verteidigern der Klägerinnen gefordert. Die Anwälte der Polizei wollen die Fälle in einem Geheimverfahren abwickeln, das für Klagen gegen den britischen Inlandsgeheimdienst MI5 vorgesehen ist. Dann dürften weder die Klägerinnen noch deren Anwälte an den Verhandlungen teilnehmen oder Zeugen hören.
Die polizeilichen Führer der Spitzel seien jederzeit informiert gewesen, wo diese bei ihren Einsätzen übernachteten, bestätigte Kennedy gegenüber der Presse die Version der Klägerinnen, die von „institutionalisierten Sexismus bei der Polizei“ sprechen. Kennedy stilisiert sich mit seinem Gang an die Öffentlichkeit selber zum Opfer und hat seine Vorgesetzten verklagt. Weil die ihn nicht an den sexuellen Affären und Beziehungen während seiner Spitzeltätigkeit gehindert hätten, sollen sie ihm den dadurch entstandenen posttraumatischen Stress mit rund 120.000 Euro vergüten. Ein Berliner Aktivist der globalisierungskritischen Bewegung, der sich seit Jahren mit der europaweiten Repression beschäftigt, bezeichnet Kennedy als „egozentrischen Selbstdarsteller“. „Jetzt nutzt er das Gerichtsverfahren der Frauen, um selbst Aufmerksamkeit zu erheischen.“
Dass Ausmaß der Kriminalisierungsversuche oppositioneller Bewegungen wird erst langsam bekannt.
„Es ist auffällig, dass Kennedy sich an Orten aufhielt, an denen es später zu größeren Razzien und Anklagen wegen abstruser Terrorismus-Vorwürfe kam. Alle Verfahren fielen bislang in sich zusammen“, erklärt der Aktivist gegen nd. Zurzeit könnte ein Verfahren gegen eine anarchistische Landkommune im französischen Ort Tarnac eingestellt . Auch sie hatte Kennedy mit militanten Aktionen in Verbindung gebracht.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/807299.spitzel-verlangt-schadenersatz.html
Peter Nowak

Nobelpreis für Nothing

Die Preisverleihung des Friedensnobelpreises an die EU interessiert kaum jemanden, und hat dem Nobelpreiskomitee viel Kritik eingebracht

„Wir sind Papst“, hat Bild einst getitelt, als ein Mann mit deutschem Pass diesen Posten bekommen hat. Können wir jetzt auch sagen: „Wir sind Nobelpreisträger“, wie der bayerische Rundfunk eine Meldung zum Thema betitelte?

Zumindest die EU-Bürger könnten diese Aussage machen. Doch da sich in allen EU-Ländern viel weniger Menschen mit ihr identifizieren als mit dem Papst, wird die Aussage wohl kaum jemand machen. Tatsächlich hat Wahl des Preisträgers dem Nobelpreiskomitee viel Kritik sowie Spott eingebracht, die von der Taz am Wochenende noch mal in dem Titel „Der entwertete Preis“ zusammengefasst wurde.
Sogar drei ehemalige Friedensnobelpreisträger haben sich mit einer Protesterklärung zu Wort gemeldet und sehen mit der EU-Ehrung die Maßgabe des Preisstifters nicht erfüllt:
„Die EU strebt nicht nach der Verwirklichung von Nobels globaler Friedensordnung ohne Militär. Die EU und ihre Mitgliedsländer gründen kollektive Sicherheit weit mehr auf militärischen Zwang und die Durchführung von Kriegen als auf die Notwendigkeit eines alternativen Herangehens.“

Während der Preisverleihung haben in Oslo hunderte Menschen gegen den Preisträger protestiert.

Preis als Warnung?

Wer das Komitee vorher politisch noch ernst genommen hat, die Zahl der Menschen hielt sich in Grenzen, wird nach der Entscheidung an der politischen Ernsthaftigkeit zweifeln. Denn zu deutlich war, dass das alleinige Kriterium dafür, der EU diesen Preis zu verleihen, die politische Opportunität war. Die aber ist immer ein schlechter Ratgeber. Auch die Schaufensterreden die heute bei der Preisverleihung wieder gehalten wurden, haben gezeigt, dass die Kritiker Recht hatten. Denn ein plausibles Argument für den Preisträger EU hat es dort nicht gegeben.

„Der Preis steht dafür, dass wir in Zeiten der Krise, wo Leute zweifeln (…), eine Warnung kriegen, das große Erbe des 20. Jahrhunderts, nämlich diese Friedens- und Wohlstandsgemeinschaft, nicht aufs Spiel zu setzen“, ließ sich der sozialdemokratische EU-Parlamentspräsident Martin Schulz vernehmen. Dem Satz mangelt es nicht nur an grammatikalischer, sondern auch an inhaltlicher Klarheit.

Denn soll nun der Preis eine Warnung sein, die EU nicht aufs Spiel zu setzen? Das wäre tatsächlich eine ganz neue Funktion eines Friedensnobelpreises. Werden dann auch bald Staaten mit abspaltungswilligen Bevölkerungsteilen damit beehrt, wenn es politisch opportun ist? Oder wollte Schulz eigentlich sagen, dass die EU, da sie den Preis jetzt schon einmal hat, bloß nicht zerbrechen darf? Dass wäre dann ja für die Preisträger noch peinlicher als die Verleihung an des Friedensnobelpreises an Politiker, die Kriege führen, wenn es opportun ist. Dann bleibt aber immer noch die Frage, wofür denn nun der EU der Nobelpreis verliehen wurde?

Sie habe den Frieden in Europa garantiert, heißt es dann. Im ehemaligen Jugoslawien hatte die EU eher eine kriegerische Funktion. Denn es war das Bemühen der wirtschaftsstarken Teilstaaten Kroatien und Slowenien, sich selbstständig vom ärmeren Rest zu machen und sich in die EU einzugliedern, die den Krieg dort anheizte. Damals gab es in allen Bundesstaaten Kräfte, die ein einheitliches Jugoslawien ohne Nationalismus erhalten wollten. Ihnen vor Beginn des Krieges den Friedensnobelpreis zu verleihen, wäre eine Geste mit einer politischen Aussage gewesen. Aber die hat man wohl vom Nobelpreiskomitee schon damals nicht erwarten können.

UDSSR light?

Die EU habe für Demokratie und Menschenrechten gesorgt, so das Nobelkomitee. Man kann es auch anders formulieren. In vielen osteuropäischen Ländern wird die EU schon als eine „UDSSR light“ gesehen, die sich in die inneren Angelegenheiten von Ländern mischt, wenn es ihr opportun erscheint. So hat es der bei einer Mehrheit der rumänischen Bevölkerung verhasste wirtschaftsliberale Präsident Basescu einer massiven EU-Einmischung zu verdanken, dass er nach einem Referendum, das er klar verlor, noch im Amt ist (Erneut Verfassungskrise in Rumänien).

Insofern war der Ausgang der rumänischen Parlamentswahl am Sonntag, wo die den EU-Günstling nahestehenden Parteien klar abgewählt wurden, eine weitere Klatsche gegen die EU. Einen Vorteil hat die Preisverleihung doch. Das Preisgeld soll an eine wohltätige Organisation gespendet werden. Wie wäre es wenn es an die Flüchtlingsorganisationen ginge, die sich um die Menschen kümmern, die von der Festung Europa und ihren Organen an der Einreise gehindert werden?
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153343
Peter Nowak

Besuch eines in Deutschland unpopulären Politikers

Merkel empfängt Netanjahu in Berlin
Die deutsch-israelischen Beziehungen sind immer wieder Gegenstand tiefsinniger Beobachtungen. Die Formel, dass die Beziehungen angespannt sind, wird dauernd strapaziert. In den letzten Tagen konnte man sie wieder besonders häufig lesen, denn der israelische Ministerpräsident Netanjahu war zu Besuch in Berlin. Da die israelische Regierung wenige Tage vorher ein neues Siedlungsprojekt genehmigt hat, wurde gleich von einer besonderen Belastung der Beziehungen gesprochen. Warum eigentlich, muss man sich fragen. In der Regel werden bei Staatsbesuchen die aktuellen innenpolitischen Entscheidungen des Gastpolitikers selten so kritisch kommentiert.

Bei dem Besuch wurde eine übliche diplomatische Praxis angewendet. Beide Seiten stellten bei der Pressekonferenz fest, dass man sich einig sei, in der Frage des Siedlungsbaus nicht einig zu sein. Das ist für die Presse wichtig, in der Realität aber ist in dieser Frage nur die Haltung der israelischen Regierung in dieser Frage interessant. Da hätte Merkel nicht noch darauf hinweisen müssen, dass die israelische Regierung ihre Politik eigenständig bestimmt. Dafür hätte sie ihren Satz, den sie auch im Rahmen des Netanjahu Besuchs wiederholte, die Sicherheit Israels sei Teil der deutschen Staatsraison, schon genauer erklären können.

Wer definiert, was für die Sicherheit Israels notwendig ist? Die israelische Regierung oder die Berater von der Stiftung für Wissenschaft und Politik, die oft harsche Kritiker der israelischen Politik sind? Vielleicht waren diese Fragen Gegenstand der vertraulichen Gespräche zwischen Merkel und Netanjahu, die länger als verabredet dauerten. Im Anschluss sprachen Beobachter davon, dass der israelische Ministerpräsident nach Gesprächen mit Obama deutlich reservierter aufgetreten sei als nach dem Meeting mit Merkel. Das kann natürlich schlicht daran liegen, dass ein Dissens der US-Regierung für die israelische Regierung eine größere Relevanz hat als ein Einwand aus Berlin.

Enthaltung ohne Konsequenz
Auch die Debatte um Deutschlands Enthaltung bei der Abstimmung über die symbolische Aufwertung Palästinas in der UN hat der konservative Publizist Michael Wolffsohn in einem Deutschlandfunk-Interview angenehm unaufgeregt kommentiert:

„Vergessen Sie doch nicht: Was ist denn da in der UNO geschehen? Da hat sich die Bundesrepublik der Stimme enthalten. Frage: Hat eine solche Abstimmung irgendeine Konsequenz? Antwort: Nein! Und die Tatsache, dass Herr Lieberman verschnupft oder vergrippt ist, hat niemanden wirklich in Berlin besonders erschüttert, denn das Verhältnis zu Herrn Lieberman ist nicht nur in den Medien eher negativ. Also kurzum: den Korb etwas niedriger hängen.“

Wolffsohn betont auch, dass Israel in Deutschland nie besonders populär war. Damit liegt er wohl jenseits aller Sonntagsreden über das besondere deutsch-israelische Verhältnis und die deutsche Staatsraison richtig. Schon die Anbahnung der Beziehungen zwischen Israel und der BRD waren nur gegen den heftigen Widerstand auch in der BRD durchzusetzen. Wolffsohn wählt schließlich eine doppelte Verneinung, um das aktuell deutsch-israelische Verhältnis auszudrücken:

„Grundsätzlich kann man nicht davon ausgehen, dass diese Bundesregierung nicht zu Israel stünde.“

Man kann es auch so ausdrücken: Die Regierung unterstützt Israel, soweit sie dies im Einklang mit den deutschen Interessen sieht. Dass zeitgleich zum Netanyahu-Besuch beschlossen wurde, Patriot-Raketen einer machtbewussten sehr israelkritischen Türkei zur Verfügung zu stellen, liegt auch im deutschen Interesse. Ob es dazu kritische Fragen Netanjahus an Merkel gibt, ist nicht bekannt.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153315
Peter Nowak

„Der französische Staat ist zu groß, zu mächtig“

Die Herabstufung des EMS ist der Höhepunkt einer Kampagne gegen die Politik der französischen Regierung
„Frankreich sollte zur Kenntnis nehmen, dass die Finanzmärkte nervös werden und Reformen von der Regierung von Präsident François Hollande erwarten“, sagt Heribert Dieter, Finanzexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Der Moderator hatte den Ton vorgegeben und über unser Nachbarland so geredet, wie ein Großteil der Politik und der Medien seit Monaten über Griechenland spricht:

Jeder vierte Franzose verdient sein Geld im öffentlichen Dienst oder in der Staatswirtschaft. Nicht wenige dort genießen Sonderrechte, etwa einen Urlaubsanspruch von vier Monaten im Jahr. Im Kabinett in Paris streiten sage und schreibe 39 Minister um Zuständigkeiten, Personal und Einfluss. Frankreichs Ämter sind übergewichtig, ineffizient und teuer. Schon länger sorgen sich Beobachter um den gravierenden Reformstau in unserem Nachbarland.

Auf diese Weise wurden die Hörer schon mal eingestimmt und Dieter brauchte dann nur zu bestätigen, „dass die französische Gesellschaft Schwierigkeiten hat, mit internationalem Wettbewerb, mit den Schwierigkeiten, die die Globalisierung mit sich bringt, umzugehen.“

Was Dieter damit meint, ist klar. Wer vom Pfad des deutschen Sparmodells auch nur um einige Millimeter abweicht, bekommt es mit den Märkten zu tun und hat die Zwänge einer globalisierten Welt noch nicht verstanden. Dabei wird das deutsche Modell als alternativlos hingestellt. Dass es gegen dieses Modell seit Monaten in vielen europäischen Ländern Proteste von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, aber auch von Politikern bis weit ins bürgerliche Spektrum gibt, wird ignoriert. Die Wahl von Hollande war von einem Teil der Kritiker des deutschen Modells als Hoffnungsschimmer gesehen worden, manche erwarteten gar eine politische Zäsur, Schließlich war mit Sarkozy in Frankreich der Politiker abgewählt worden, der mit Merkel ein Tandem bei der Durchsetzung des europäischen Sparmodells bildete.

Tatsächlich begannen sich nach dem Regierungswechsel in Frankreich auch die konservative und wirtschaftsliberalen Regierung in Italien und Frankreich, um Beinfreiheit vom Berliner Spardiktat zu kämpfen. Nach seinem Regierungsantritt ist Hollande allerdings jeder Konfrontation mit der deutschen Politik aus dem Weg gegangen. So sorgte er für eine Zustimmung zum ESM, den er im Wahlkampf eigentlich neu verhandeln wollte.

„Es muss in Frankreich ein schnelles Revirement der Regierungspolitik geben“
Doch die konziliante Haltung des Sozialdemokraten wurde von Deutschlands Liberalen und Konservativen, die nicht verwunden haben, dass ihr Wunschkandidat Sarkozy die Wahlen verloren hat, nie gewürdigt. Immer wieder wurde mit offenen oder unterschwelligen Bemerkungen von Politikern der Regierungsparteien gegen die französische Wirtschafts- und Sozialpolitik geschossen. Bereits am 13.11. 2012 gab der CSU-Haushaltspolitiker und Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung seiner Partei, Hans Michelbach, ebenfalls im Deutschlandfunk seine Meinung über Frankreich, dem nach Griechenland zweiten „kranken Mann Europas“, unmissverständlich zum Ausdruck:

Also wenn die sozialistische Regierung Hollande so weitermacht, dann ist Frankreich im freien Fall. Das muss man ganz klar sehen. Ich bin nicht der, der die Spekulanten antreiben möchte, aber man muss der Realität ins Auge schauen. Es muss in Frankreich ein schnelles Revirement der Regierungspolitik geben.

Michelbach bedauerte auch, dass die Regierungsdelegationen nicht so deutlich Klartext reden können. Da kommt die Herabstufung durch die der Ratingagentur gerade recht, um den vermeintlichen Abweichlern vom marktwirtschaftlichen Kurs die Leviten zu lesen. Wenn Heribert Dieter erklärt, „der französische Staat ist zu groß, zu mächtig“, kann man darin nicht nur das Lamento eines Wirtschaftsliberalen lesen, sondern auch die Haltung eines Interessenvertreters des deutschen Standortes, der einen potentiellen Konkurrenten in der EU die Grenzen aufzeigen will.

Was kommt nach dem Warnschuss?
Wenn der Unionspolitiker Wolfgang Bosbach die Entscheidung der Ratingagentur als „Warnschuss an Frankreich“ interpretiert, muss man sich die Frage stellen, welche Instrumente herrausgeholt werden, wenn die französische Regierung nicht bereit ist, sämtliche Wahlversprechen zu vergessen oder die französische Bevölkerung die versprochene Sozial- und Wirtschaftspolitik einfordert? Von den Linkskeynisanern, die große Hoffnungen in die Regierung Hollande setzten, ist wenig zu hören. Einer ihrer Exponenten, Dierk Hierschel aus dem verdi-Bundesvorstand, kann nur resignativ vermelden „Merkel grillt Frankreich“:

Das französische Drama dokumentiert die Ohnmacht nationaler Politik. Auf entfesselten Finanzmärkten und in einem Europa des Marktes gibt es kaum Spielräume für eine fortschrittliche nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wer beim grenzüberschreitenden Unterbietungswettbewerb um Steuern, Sozialausgaben und Löhnen nicht mitspielt, dem drohen die Unternehmen mit Abwanderung und die Kapitalmärkte mit Strafzinsen. Wobei Deutschland durch Billiglöhne und Steuersenkungen seinen linksrheinischen Nachbar ständig unter Druck setzte.

Wenn Hierschel dann nicht mehr als die Hoffnung auf einen Regierungswechsel im nächsten Jahr in Berlin einfällt, muss man sich doch fragen, ob der Mann vergessen hat, wer mit der Niedriglohnpolitik in Deutschland begonnen hat. Wenn Steinbrück der schärfste Pfeil im Köcher der Keynisaner ist, haben sie sich mit ihrer eigenen Niederlage schon abgefunden. Die Kampagne gegen Frankreich ist auch ein Warnschuss an alle europäischen Länder, die womöglich einen Ausweg jenseits der Schröder-Merkel-Doktrin aus der Krise suchen. Gerade weil Hollande von einigen zur Alternativen zur deutschen Politik aufgebaut wurde, die er wahrscheinlich nie sein wollte, wird seine Regierung jetzt ins Visier genommen.

http://www.heise.de/tp/artikel/38/38116/1.html
Peter Nowak

Wenn Jerusalem Berlin wäre

Einseitige Berichterstattung und Änderungen in der Realpolitik: Ist die Beziehung zu Israel abgekühlt?

„Am Mittag schlägt auf dem Breitscheidplatz ein Flugkörper ein. Bei einem anderen Bombentreffer in Tiergarten sterben drei Menschen, und Schloss Sanssouci in Potsdam wird sogar von elf Raketen getroffen. Das ist Krieg, sagen Sie? Dann wissen Sie, wie sich die Menschen in Israel schon seit sechs Tagen fühlen.“

Diesem Text hat die BZ eine Graphik vorangestellt, in der die geographischen Verhältnisse zwischen Gaza und Israel maßstabsgetreu nach Berlin/Brandenburg verlegt wurden.

Jerusalem wäre dann das Örtchen Hönow bei Berlin und Tel Aviv Birkenwerder in Brandenburg. Raketeneinschläge gäbe es in den Stadtteilen Prenzlauer Berg genau so wie in Zehlendorf und Steglitz. Tatsächlich wird in der Boulevardzeitung sehr anschaulich ein Aspekt verdeutlicht, der in der aktuellen Berichterstattung über den neuesten Nahostkonflikt oft untergeht: der Raketenbeschuss von Gaza auf israelisches Gebiet. Dabei geht es auch um die Frage, wann der neuste Nahostkrieg begonnen hat. Mit der Tötung des Hamas-Militärchefs, wie es die arabische Welt unisono behauptet, um Israel als alleinigen Aggressor hinzustellen? Die israelische Seite weist hingegen darauf hin, dass die Tötung des Militärchefs eine Antwort auf den sich verstärkenden Raketenbeschuss gewesen ist.

Die israelische Regierung steht bei der Bevölkerung unter Druck, endlich dafür zu sorgen, dass diese Raketenangriffe eingestellt werden. Schließlich haben führende israelische Politiker recht mit ihrer Erklärung, dass keine Regierung der Welt zusehen würde, wie ihre Bevölkerung und ihr Territorium diesen Angriffen ausgesetzt wird.

Wie „Bild“ den Deutschen 1967 Israel erklärt hat

Der Vergleich zwischen Jerusalem und Berlin hat historischen Vorläufer. Während des 6-Tage-Krieges 1967 war er vor allem von der Springerpresse bemüht worden. Im letzten Jahr setzte sich eine Ausstellung im Jüdischen Museum in Frankfurt/Main über Axel Springer und die Juden kritisch mit der Art und Weise auseinander, wie „Bild“ den Deutschen damals den Nahostkonflikt erklärte hatte.

Dort war auch eine Polemik des früheren Spiegel-Kommentators Otto Köhler dokumentiert, der die damalige Israel-Begeisterung nicht nur im Hause Springer als Blaupause zur Lösung der deutschen Frage interpretierte:

„Was läge näher, als das israelische Blitzsieg-Rezept auf das Jerusalem des allernächsten Ostens anzuwenden und auch dort durch Vormarsch den Frieden zu retten.“

Die „Welt“ jedenfalls findet angesichts des wiedervereinigten Jerusalems spontan: „Man muss unwillkürlich an Berlin denken.“ „Bild“ erläutert für alle, die zu langsam begreifen: „Unsere Araber“, das sind: „Ulbrichts Volksarmee oder die Tschechen oder die Polen oder alle drei“, schreibt Köhler.

Heute, wo die deutsche Frage nicht mehr offen ist, ist auch die Liebe zu Israel in Deutschland abgekühlt. Mag die Bundesregierung auch rhetorisch auf Seiten Israels stehen, was vom derzeit wieder vielgefragten Nahostexperten Michaels Lüders als einseitige Parteinahme beklagt wird, die Realpolitik sieht anders aus.

Da werden der Türkei die Patriot-Raketen an der Grenze zu Syrien geradezu aufgedrängt. Dabei ist der türkische Ministerpräsident Erdogan nicht nur für den Konflikt an der syrischen Grenze wesentlich mitverantwortlich. Zurzeit profiliert er sich im neuesten Nahostkonflikt als Scharfmacher, bezeichnet Israel als terroristischen Staat und wirft ihm ethnische Säuberungen vor. Wenn Erdogan erklärt, dass Israel begreifen müsse, dass sich der Nahe Osten heute geändert hat, kann das in Tel Avis durchaus als Drohung verstanden werden. Für die Bundesregierung sind solche Töne allerdings kein Grund, die Lieferung von Patriot-Raketen auch nur zu überdenken. So weit geht die Solidarität mit Israel dann doch nicht.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153227
Peter Nowak

„Ein Kind, das an Hunger stirbt, wurde ermordet!

Positiv- und Negativpreise für Jean Zieger und den Rohstoff-Multi Glencore

Der Saal im Berliner Pfefferwerk war voll, als dort am Samstag die Stiftung Ethecon ihren Positiv- und Negativpreis vergab. Publikumsmagnet war der Schweizer Soziologe Jean Ziegler, der sich den Kampf gegen den Hunger verschrieben hat und dafür auch in UN-Gremien als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung arbeitete.

„Ziegler setzt sich seit Jahren unerschrocken für das Recht auf Nahrung ein“, begründete Ethecon-Sprecherin Bettina Schneider die Auswahl des diesjährigen Preisträgers. Bei seinem Engagement ging es Ziegler immer auch um die gesellschaftlichen Ursachen für den Hunger in der Welt, worauf der Gründer der NGO Business Crime Control, Hans See, in seiner ausführlichen Laudatio auf den Preisträger hinwies. „Nie mehr auf Seiten der Henker stehen“, sei Zieglers Devise, betonte See. Vor wenigen Monaten ist Zieglers Buch Wir lassen sie verhungern – die Massenvernichtung in der dritten Welt auf Deutsch erschienen. Dort geht er mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem hart ins Gericht. Zieglers Äußerung: „Ein Kind, das an Hunger stirbt, wurde ermordet“, wurde am Samstag häufig zitiert.

Strukturelle Gewalt statt böse Manager

In seiner Dankesrede lieferte der Geehrte viele Details zum weltweiten Skandal des Hungers. Ziegler betonte, dass bei den heutigen technischen Mitteln kein Mensch mehr Hunger leiden müsste. Hunger sei nicht die Folge von Mangelproduktion, sondern bedingt durch den fehlenden Zugang zu Nahrung. Dabei betonte Ziegler, dass es sich um strukturelle Gewalt handelt und eine Anprangerung von angeblich „bösen Managern“ daher zu kurz greife.

Diesen Befund sollte man im Hinterkopf haben, wenn jetzt von drei Preisträgern die Rede ist, welche die ihnen zugedachte Ethecon-Ehrung ignoriert haben. Simon Murray, Tony Hayward und Ivan Glasenberg sollten stellvertretend für den Schweizer Rohstoff-Multi Glencore den Negativpreis der Stiftung entgegennehmen. Die Schmährede, in der diese Wahl begründet wurde, hielt der Schweizer Gewerkschafter und engagierte Antimilitarist Josef Lang.

Er berichtete, dass Glencore in der Schweiz seit langem in der Kritik steht und auch schon mit Negativpreisen bedacht wurde. Mit der Verleihung des jetzigen Negativpreises dürften auch in Deutschland die Praktiken des umstrittenen Konzerns bekannter werden.

„Multis wie Glencore verletzen Menschen- und Sozialrechte, verursachen Umweltschäden und vergiften Gewässer, verschieben Gewinne in Steuerparadiese, vergrößern den globalen Graben zwischen arm und reich“, heißt es dem Aufruf eines Komitees Solidarität mit den Opfern der Rohstoffmultis.

Das Komitee hatte vor einigen Monaten zu einer Demonstration im Schweizer Örtchen Zug, in der Glencore seinen Sitz hat, aufgerufen. Der Konzern wurde von dem Schweizer Ölhändler Marc Rich gegründet. Er war mit Diktatoren verschiedener Länder befreundet und wurde von den US-Behörden wegen Steuerhinterziehung und Falschaussagen angeklagt, aber 2001 vom damaligen Präsidenten Bill Clinton begnadigt.

Eröffnet wurde die gesellschaftskritische Herbstschule, zu der sich die alljährlich Mitte November stattfindende Ethecon-Preisverleihung mittlerweile entwickelt hat, von dem Kölner Publizisten Werner Rügemer, der sich in seiner Rede mit dem Ausverkauf öffentlicher Güter im Rahmen des Public Private Partnership auseinandersetzte.

Die Stiftung Ethecon wurde 2004 von Axel Köhler Schnurra und Gudrun Rehmann mit dem Ziel gegründet, ökologische, soziale und menschenrechtliche Prinzipien im Wirtschaftsprozess zu fördern sowie demokratische und selbstbestimmte Strukturen zu stärken.

In den letzten Jahren waren u.a. die indische Globalisierungskritikerin Vandana Shiva, der israelische Friedensaktivist Uri Avnery, der österreichische Menschenrechtler Elias Bierdel und die langjährige Kämpferin gegen Rassismus und den gefängnisindustriellen Komplex in den USA, Angela Davis mit dem Preis geehrt worden.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153213
Peter Nowak

„Berlin spürt die Folgen der Krise“

Doro Zinke ist Vorsitzende des DGB, Bezirk Berlin-Brandenburg. Der Gewerktschaftsbund ruft am 14. November um 14 Uhr auf dem Pariser Platz unter dem Motto „Nein zur sozialen Spaltung Europas“ zu einer Solidaritätskundgebung mit den Generalstreik auf, zu dem an diesen Tag Gewerkschaften in Italien, Spanien, Portugal, Malta, Zypern und Griechenland gegen die europäische Krisenpolitik aufrufen. Auf dieser Kundgebung spricht auch eine Vertreterin des Griechenlandsolidaritätskomitees, in dem zahlreiche linke Gruppen vertreten sind. Das Bündnis organisiert eine Demonstration, die im Anschluss an die DGB-Kundgebung um 16:30 auf dem Pariser Platz unter dem Motto „Gemeinsam gegen die Krise kämpfen“ beginnt.

Der DGB ruft am heutige Mittwoch zu einer Solidaritätskundgebung für die von der Eurokrise gebeutelten EU-Länder auf. Warum?

taz: Frau Zinke, was sind die konkreten Forderungen des DGB-Berlin-Brandenburg?
Doro Zinke: Die EU konzentriert sich einseitig auf die Ökonomie, die Europäische Union braucht aber auch ein soziales Gesicht: dazu gehören Beschäftigungsprogramme für Jugendliche genauso wie eine intensive Bekämpfung des Lohndumping europaweit und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Damit können auch öffentliche Dienstleistungen bezahlt werden, die ein Stück Lebensqualität sichern helfen.

In dem Aufruf wird auch vor der Einschränkung von Gewerkschaftsrechten gewarnt. Gibt es dafür Beispiele und gibt es die auch in Deutschland?
In Spanien und Griechenland werden die Gewerkschaftsrechte eingeschränkt und in Großbritannien der Gang zum Arbeitsgericht für Beschäftigte erschwert. Die Einführung des Niedriglohnsektors in Deutschland drückt auf die Löhne und damit auf die Tarifpolitik der Gewerkschaften. Das ist eine subtile Form von Einschränkung, die sich natürlich auch in Berlin auswirkt.

Hat der sich in den letzten Jahren in Deutschland massiv entwickelnde Niedriglohnsektor nicht mit zur Krise in Europa beigetragen?
Der Niedriglohnsektor führt zur Lohndrückerei. Wer jahrzehntelang für wenig Geld schuften musste, kann kaum etwas zusätzlich für die Rente ansparen. So wird Altersarmut programmiert. Leben am Rande des Existenzminimums verletzt die Menschenwürde! Wenn ich die Aufstockung meines Lohnes durch Steuergeld benötige, zeigt das das Dilemma auf: wir Steuerzahler subventionieren Jobs und Geringverdienern wird das Gefühl vermittelt, ihre Arbeitskraft sei nichts oder nur wenig wert.


Wie stark ist bei den DGB-Mitgliedern das Bewusstsein einer Notwendigkeit der Solidarität mit Streiks in anderen EU-Ländern?

Der DGB hat acht Mitglieder: die Einzelgewerkschaften. Deren Mitglieder haben in vielen Fragen fast genau so unterschiedliche Bewusstseinslagen wie der Rest der Bevölkerung. Die meisten Menschen in Deutschland können sich gar nicht vorstellen, was die Politik der Troika in Griechenland bedeutet: dass Tarifverträge außer Kraft gesetzt werden, der Arbeitgeber einseitig Lohnkürzungen vornehmen darf, kein Geld mehr da ist für Milch für die Kinder, Renten halbiert wurden. Und dass alle diese Schweinereien an der Verschuldung des Landes nichts ändern, sondern das Land immer stärker an den Rand des Abgrunds treibt.

Im Anschluss an die DGB-Kundgebung plant ein linkes Bündnis eine Solidaritätsdemonstration. Gibt es Kontakte zu beiden Aktionen?
Ein Vertreter des Griechenland-Solidaritäts-Komitees wird auf der DGB-Kundgebung sprechen und eine Gewerkschaftskollegin auf der Abschlusskundgebung der Solidaritäts-Demonstration.

Soll die Kundgebung der Beginn weiterer Solidaritätsaktionen mit den KollegInnen in anderen europäischen Ländern sein?
Das können wir jetzt noch nicht sagen. Es hängt davon ab, was unsere internationalen Organisationen von uns erwarten und die deutschen Gewerkschaften für realistisch halten.
Interview: Peter Nowak

Vaterlandslose Gesellen

Peter Nowak über Repressionsmaßnahmen in der Krise

„Linke Chef marschiert mit Anti-Merkel-Mob“, titelte eine Berliner Boulevardzeitung unter einem Foto, dass Bernd Riexinger während des Merkelbesuchs auf einer Kundgebung in Athen zeigt. Damit machte es deutlich, was es von denen hält, die es wagen, im deutschen Hinterhof gegen den von Merkel und Co. diktierten Verarmungskurs auf die Straße zu gehen. Die alte Bezeichnung für deren deutschen Kollaborateure holt der Chef vom Dienst bei der Stuttgarter Zeitung mit dem Namen Joachim Volk aus der deutschnationalen Mottenkiste. „Mit dem links-linkischen Riexinger tritt erstmals der Chef einer deutschen Oppositionspartei als vaterlandsloser Geselle im Ausland auf.“ Dabei hatte der nicht einmal Gelegenheit, seinen Landesverrat zu vollenden und mittels einer Ansprache „Vorurteile und Ressentiments gegen die deutschen Sparforderungen zu schüren“.
Da bis auf die Kundgebung sämtliche Demonstrationen während des Merkel-Besuchs in der Athener Innenstadt verboten waren und 6000 schwerbewaffneten Polizisten zur Durchsetzung bereit standen, mussten alle eingeplanten Redebeiträge ausfallen. Viele Teilnehmer konnten sich an den letzten Herbst erinnern, als der Massenprotest der Bewegung der Empörten in Griechenland enorm angewachsen war. „Als diese Bewegung dann durch die Unterdrückung des Staates zerschlagen wurde, herrschte fast schon Krieg. Es kamen viele Tonnen Chemikalien zum Einsatz“, erinnert sich der griechische Linkspolitiker Alexis Tsipras. Damit liegt Griechenland voll im europäischen Trend. Die politische Repression gehört in allen europäischen Ländern zu den Begleiterscheinungen politischer Bewegungen. Aktuell sind vor allem die unterschiedlichen Krisenproteste davon betroffen.
In Spanien nehmen Polizei und Justiz Gewerkschaften und Oppositionsbewegungen seit Monaten in den Zangengriff. So wurden Demonstranten, die sich am 25. September an den Krisenprotesten in Madrid beteiligen wollten, bei der Anreise im Bahnhof Atocha von Polizisten schwerverletzt. Bereits nach dem landesweiten Generalstreik am 29. März wurden in ganz Spanien gewerkschaftliche Aktivisten unter dem Vorwurf festgenommen, sich an Akten des „öffentlichen Vandalismus“ beteiligt zu haben. Unter diesen Gummibegriff fällt die Teilnahme an einer Demonstration ebenso wie die aktive Durchsetzung eines Streiks.
Passiert so etwas in Moskau, gilt es hiesigen Medien und Politikern als Beweis, dass die europäischen Werte unter Putin nicht gedeihen können. In Frankfurt, Madrid und Athen werden die Maßnahmen realitätsgerechter von der Justiz und vielen Medien als notwendig für das reibungslose Funktionieren von EZB und Geschäftswelt verteidigt. Nur der Anti-Merkel Mob und einige vaterlandslose Gesellen erheben dagegen Einspruch.
http://www.konkret-magazin.de/hefte/aktuelles-heft/articles/das-neue-heft-946.html

aus Konkret, 11/2012
Peter Nowak