Wiederentdeckung eines Aufständischen


AUFGESCHRIEBEN Der Novemberrevolutionär Richard Müller war lange vergessen – bis ein junger Historiker seine Biografie verfasste. Jetzt wurde auch Müllers „Geschichte der Novemberrevolution“ neu aufgelegt

Dass Geschichte von den Siegern geschrieben wird, diese These lässt sich an der Rezeption der Novemberrevolution in Deutschland besonders gut nachweisen. Während der rechte Sozialdemokrat Friedrich Ebert, der die Revolution nach eigenen Bekunden hasste wie die Sünde, in allen Schulbüchern steht, ist Richard Müller vergessen. Dabei gehörte der Berliner Metallarbeiter als Vorsitzender der Revolutionären Obleute 1918 zu den zentralen Protagonisten der Revolution. Für kurze Zeit war er als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten sogar nominell Staatsoberhaupt im nachrevolutionären Deutschland. Doch selbst ein ausgewiesener Kenner der ArbeiterInnenbewegung wie der Marburger Politologe Wolfgang Abendroth schrieb über Müller in den 70er Jahren: „Dann verlieren sich seine Spuren in der Geschichte.“

Der junge Berliner Historiker Ralf Hoffrogge hat sich dennoch auf die geschichtliche Spurensuche begeben und ist fündig geworden: 2008 hat er eine Biografie des vergessenen Gewerkschafters herausgegeben: „Richard Müller – der Mann hinter der Novemberrevolution“.

Mit Telefonbüchern auf dem Fußboden

Er habe sich für seine Abschlussarbeit an der Freien Universität bewusst für Müller entschieden, weil es zu ihm keinerlei Forschungsergebnisse gab, erklärt Hoffrogge. Seine Recherche erwies sich anfangs als recht mühsam: „Zeitweise habe ich auf dem Fußboden des Archivs gesessen und Telefonbücher aus den 1920ern nach dem Namen ,Müller‘ durchsucht“, beschreibt der Geschichtswissenschaftler die Mühen der Forschung. Aus Tauf- und Handelsregistereinträgen sowie Zeitungsmeldungen gelang es ihm schließlich, Müllers Biografie weitgehend zu rekonstruieren. Das Ergebnis stieß nicht nur bei HistorikerInnen, sondern auch bei Berliner GewerkschafterInnen auf Interesse. Dort interessierte man sich vor allem für Müllers Rätekonzepte und seine Ansätze einer basisorientierten Gewerkschaftspolitik. Und von dort kam auch der Anstoß, Müllers „Geschichte der Novemberrevolution“, die Mitte der 1920er Jahre zum ersten Mal erschien, im Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ neu herauszugeben. Als Müller das dreibändige Werk verfasste, spielte er in der Politik bereits keine Rolle mehr. Nachdem er – nach kurzer Mitgliedschaft – wegen eines Streits über die politische Orientierung aus der KPD ausgeschlossen wurde und der Aufbau einer neuen linken Gewerkschaft gescheitert war, hatte er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

„Die Zeitzeugenberichte Richard Müllers kamen der damaligen Realität deutlich näher als die recht einseitigen und mit Mythen, Legenden und Tabus behafteten Geschichtsbetrachtungen vieler sozialdemokratischer und kommunistischer HistorikerInnen“, begründet Verlagsmitarbeiter Jochen Gester den Reprint, von dem seit Dezember 2011 bereits mehr als 500 Exemplare verkauft worden sind.

Ralf Hoffrogge hat jetzt angeregt, eine Straße in Berlin nach Richard Müller zu benennen. Von der Politik ist der Vorschlag bisher noch nicht aufgegriffen worden. PETER NOWAK

Richard Müller: „Eine Geschichte der Novemberrevolution“. Neuausgabe der Bände „Vom Kaiserreich zur Republik“, „Die Novemberrevolution“, „Der Bürgerkrieg in Deutschland“. Verlag Die Buchmacherei, Berlin 2011, 756 Seiten

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/
?ressort=bl&dig=2012%2F02%2F24%2Fa0156&cHash=08412cdb1d
Peter Nowak

Gleiche Arbeit – gleiches Geld

Ein Büchlein sammelt Argumente zur Abschaffung der Leiharbeit

Andreas Förster, / Holger Marcks (Hg.): „Knecht zweier Herren. Zur Abschaffung der Leiharbeit“, Münster November 2011, 78 Seiten, EUR 7,80, ISBN 978-3-89771-112-9

Der Trend zum Kleinbuch hält an. Dass in der Kürze manchmal die Würze liegen kann, beweisen die Berliner Journalisten Andreas Förster und, Holger Marcks mit ihrem gerade im Unrast-Verlag erschienen Büchlein: „Zur Abschaffung der Leiharbeit“ bewiesen. Damit widmen sie sich dem eigentlichen Boom-Sektor in der deutschen Wirtschaft.
In den 70er Jahren galt sdie Leiharbeit noch als Skandal, wie sich an dem Bestseller „Ganz unten“ von Günther Wallraff zeigte. Die Leiharbeitsbranche hatte damals noch Imageprobleme und kämpfte um die Begriffe. Zeitarbeit und Personalleasing sollten den Begriff der Leiharbeit ersetzen. Bei den Beschäftigten hat eine solche semantische Maskerade wenig Erfolg. Sie kennen den Inhalt des Begriffs sehr genau.
Der Boom der Leiharbeit hatte ökonomische Gründe, die Holger Marcks und Andreas Förster in ihren Beiträgen nachzeichnen. Die Hartz IV-Gesetze waren nur der letzte Baustein. Förster zeigt auf, wie seit Ende der 90er Jahre die gesetzlichen Regelungen für die Etablierung der Leiharbeit geschaffen wurde. Ziel war die Senkung der Kosten der Ware Arbeitskraft.
Matthias Seiffert untersucht in seinem Beitrag: „Titel Around the Work – die globale Ausprägung der Leiharbeit“ die Bedingungen für die Leiharbeit im EU-Raum. Bisher ist Griechenland mit 0,1 Prozent der Leiharbeiter noch ein Schlusslicht. Das dürfte sich mit der Etablierung eines EU-Krisenprotektorats für das Land ändern. Es stellt sich die Frage, ob die niedrige Zahl der Leiharbeiter in dem Land auch ein Erfolg gewerkschaftlicher Kämpfe war. In Deutschland zumindest haben die DGB-Gewerkschaften nach Meinung von Andreas Förster einen großen Fehler begangen, indem sie Tarifverträge mit Leiharbeitsfirmen schlossen. „Ohne Tarifvertrag gilt für Lohnarbeiter der einfache wie einleuchtende Grundsatz: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Nichtstun wäre hier für seriöse Gewerkschaften die Devise gewesen, denn zum Vertragsabschluss gehören immer noch zwei“, formuliert Andreas Förster eine Kritik, die zunehmend auch in den DGB-Gewerkschaften zu hören ist. So hat das von der IG-Metall initiierte Netzwerk „ZeitarbeiterInnen – ohne Organisation machtlos“ (ZOOM) die vage Parole “Leiharbeit fair gestalten“ durch die Forderung „Gleiche Arbeit – gleiches Geld“ ersetzt.
Der Münsteraner Soziologe Torsten Bewernitz gibt in seinem Beitrag „Stille Wasser – die Ansätze von Widerstand gegen die Leiharbeit“ einen kurzen Überblick über Proteste gegen die Leiharbeit in Deutschland. Er erwähnt Kundgebungen gegen die Leiharbeitsmessen und Jobbörsen, geht auf Leiharbeitsspaziergänge ein, bei denen bekannte Firmen aufgesucht wurden, und erinnert an denm Streik bei einer Leiharbeitsfirma in Frankfurt/Main im Dezember 2005. Dass auch die Kampagne „Leiharbeit abschaffen“ der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) in dem Buch erwähnt wird, muss nicht verwundernt. Schließlich sind fünf der sechs Autoren FAU-Mitglieder.


MiIt Sklaverei gleichgesetzt

Dass die Forderung nach Abschaffung der Leiharbeit keine Traumtänzerei ist, machte der Beschluss des Oberste Gerichtshof von Namibia deutlich, den Matthias Seiffert in seinen schon erwähnten kurzen Überblick über die globale Ausprägung der Leiharbeit hervorhob. gibt es dazu einen Beitrag in dem Buch? Er verbot nach anhaltenden Gewerkschaftsprotesten 2009 die Leiharbeit mit der Begründung, dass sie mit der Sklaverei gleichzusetzen und damit in dem südafrikanischen Land illegal sei. Damit schloss sich die namibische Justiz argumentiert hier genauso wie einer Bewertung der die IG-Metall, die in einer Broschüre 1994 die Leiharbeit ebenfalls und zu Recht als moderne Sklavenarbeit bezeichnete.
http://www.labournet.de/express/
Peter Nowak
aus: „express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit“, 1/2012

Aufklärung unerwünscht?

Peter Hammerschmidt über Barbie und den Verfassungsschutz

Der Doktorand an der Mainzer Gutenberg-Universität forscht zum Umgang der BRD mit Altnazis wie Klaus Barbie.


nd: Wie kamen Sie dazu, über Klaus Barbie zu forschen?

Hammerschmidt: Ein Hauptseminar an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz über die deutsche Südamerika-Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert hat mein Interesse an den »Rattenlinien« geweckt. Die »Rattenlinien« waren die von westlichen Geheimdiensten, dem Roten Kreuz und dem Vatikan initiierten Fluchtrouten, über die hochrangige NS-Funktionäre nach 1945 nach Südamerika und somit einer Strafverfolgung entkamen. Eine Person, die von dieser Protektion profitierte, war Klaus Barbie, der Schlächter von Lyon, der trotz seiner Eintragung auf internationalen Fahndungslisten bis 1983 in Freiheit lebte und sein NS-Repressionswissen an westliche Nachrichtendienste und an südamerikanische Militärdiktaturen weitergab.

Sie haben auch beim Verfassungsschutz Akten zu Barbie angefordert.
Das mittlerweile aufgrund hartnäckiger Interventionen freigegebene Aktenmaterial von ausländischen Nachrichtendiensten und anderen Behörden legt die Vermutung nahe, dass Barbie bei seinen Reisen in die Bundesrepublik auch von Seiten des Bundesamtes für Verfassungsschutz protegiert wurde. Ein Antrag auf Akteneinsicht wurde im Herbst 2011 mit der Begründung abgewiesen, dass aufgrund der »hohen Anzahl von Verschlusssachen« verschiedener Nachrichtengeber in den Akten sowie aufgrund des »hohen personellen Aufwandes« keine Einzelprüfung erfolgen könne. Nach einer weiteren Intervention ließ sich der Inlandsnachrichtendienst Mitte Oktober 2011 dazu bewegen, doch eine entsprechende Einzelprüfung durchzuführen.

Und das Ergebnis?
Nach einer »überschlägigen Sachverhaltsprüfung« kam der Verfassungsschutz zu dem Ergebnis, dass eine »Offenlegung der Gesamtakte zu Barbie in absehbarer Zeit aus Sicherheitsgründen nicht möglich« sei.

Welche brisanten Inhalte könnten in den Akten zu finden sein?
Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass Barbie in Deutschland neofaschistische Strukturen organisierte und darüber hinaus zwischen 1978 und 1979 ausgewählte Neofaschisten für den politischen Umsturz in Bolivien rekrutierte. In den 1970er Jahren scheint Barbie in diesem Zusammenhang auch aktiv an der Organisation der geheimen NATO-Struktur Gladio beteiligt gewesen zu sein.

Gibt es Möglichkeiten, die Herausgabe der Akten einzuklagen?
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig im Fall des Bundesnachrichtendienstes, das die Öffnung von Aktenmaterial im Fall Adolf Eichmann ermöglichte, bietet auch für eine juristische Intervention in diesem Fall entsprechende Perspektiven.

Wie bewerten Sie die Erklärungen des Verfassungsschutzes, dass ihm »eine transparente und wissenschaftlich seriöse Aufarbeitung der eigenen Geschichte ein wichtiges Anliegen ist«?
Meines Erachtens ist der Wille zu einer transparenten Aufarbeitung des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit Blick auf personelle NS-Kontinuitäten nicht zu erkennen, wenn bereits der Freigabe einer Einzelakte angebliche Sicherheitsrisiken entgegenstehen.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/217564.aufklaerung-unerwuenscht.html
Interview: Peter Nowak

Die Perspektive des radikalen Gewerkschafters

Ohne die Bücher Richard Müllers wäre vermutlich einiges an gewerkschaftlicher Geschichtsschreibung verlorengegangen

Er war Metallarbeiter und einer der wichtigen Protagonisten der Revolution 1919. Er war ein radikaler Gewerkschafter und Rätekommunist. In einem kleinen Berliner Verlag wurde nun Richard Müllers »Eine Geschichte der Novemberrevolution« neu aufgelegt.

Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Diese These lässt sich am Beispiel der historischen Aufarbeitung der Novemberrevolution in Deutschland gut nachweisen. Während der rechte Sozialdemokrat Friedrich Ebert, der die Revolution nach eigenen Bekunden hasste wie die Sünde, noch immer mit dem Ereignis in Verbindung gebracht wird, ist Richard Müller weitgehend vergessen. Dabei war der Metallarbeiter und Vorsitzende der Revolutionären Obleute einer der wichtigsten Träger der Revolution. Für kurze Zeit stand er als Vorsitzender des Berliner Vollzugsrates dem höchsten nachrevolutionären Räteorgan vor. Doch schon bald setzte die rechte SPD-Führung mit Hilfe der monarchistischen Freikorps der Revolution auch blutig ein Ende.
nd-Shop – Plakat »Linksextremisten«

Müller versuchte vergeblich, in der neugegründeten KPD eine revolutionäre Gewerkschaftspolitik umzusetzen und wurde schon 1922 im Zuge von Fraktionskämpfen ausgeschlossen. Nachdem er sich aus der öffentlichen Politik zurückzog, veröffentliche er zwischen 1924 und 1925 seine dreibändige Geschichte der Revolution unter dem Titel »Vom Kaiserreich zur Republik«. In den 1970er Jahren war sie von einem kleinen Verlag neu aufgelegt worden. Auf dieser Grundlage hatte der linke Historiker Bernt Engelmann damals den zweiten Band seiner vielgelesenen Anti-Geschichtsbücher über die Entstehung der Weimarer Republik verfasst. Danach war Richard Müller wieder vergessen, bis ihn der Berliner Historiker Ralf Hoffrogge mit einer Biografie wieder entdeckte. Bei einer Diskussionsveranstaltung über dieses Buch entstand auch die Idee, Müllers Geschichtsbücher wieder aufzulegen. Die Berliner Buchmacherei hat diese Arbeit mit Bravour erledigt. In einen Band zusammengefasst und mit einem ansprechenden Einband versehen, ist dieses einzigartige Geschichtsbuch zu einem günstigen Preis wieder zugänglich.

Neben der spannend zu lesenden Geschichtsarbeit Müllers, die den Vergleich mit Trotzkis im Exil geschriebenen »Geschichte der Oktoberrevolution« nicht scheuen muss, sind es die zahlreich in dem Buch enthaltenen Dokumente, die das Buch zu einer wahren Fundgrube machen Viele dieser Aufzeichnungen aus internen Diskussionen von SPD, USPD oder Gewerkschaften wären heute nicht mehr zugänglich.

Man braucht nur die Stellungnahme aus dem gewerkschaftliches »Korrespondent des Buchdruckerbandes« zu Beginn des 1. Weltkrieges zu lesen und sieht, dass hier Töne laut wurden, die nicht ganz 20 Jahre später in den NS-Staat führten. »Die Heldentaten unserer großartigen Wehr zu Land und zur See löste eine überwältigende Massenempfindung aus, die die beste Gewähr für den endgültigen Sieg bildet«, heißt es dort. Neben solchen militaristischen Tönen sind in dem Buch auch die Zeugnisse der Antikriegsopposition dokumentiert. Ralf Hoffrogge weist im Vorwort darauf hin, dass die wesentlich von Müller mitformulierten Rätekonzepte der Revolutionären Obleute in den späten 60er und frühen 70er Jahren Einfluss auf die Mitbestimmungsdebatte des DGB hatten. Es wäre zu wünschen, dass auch die Neuauflage von Müllers Monumentalwerk die aktuellen Debatten für linke Perspektiven anregen könnte. Vor allem aber sollte sie helfen, das offizielle Bild zur Novemberrevolution zu korrigieren. Während in fast jeder Stadt eine Straße an Friedrich Ebert erinnert, sucht man den Namen des radikalen Gewerkschafters und Räteaktivisten Richard Müller bisher vergeblich.

Richard Müller: Eine Geschichte der Novemberrevolution in drei Bänden, Berlin: Die Buchmacherei, 2011, 756 S., 19,90 Euro, ISBN 978-3-00-035400-7, 19,95 Euro

http://www.neues-deutschland.de/artikel/216724.
die-perspektive-des-radikalen-gewerkschafters.html
Peter Nowak

Arbeitergeschichte von unten

Der Historiker Michael Seidman untersucht, wie Arbeiter 1936 in Spanien und Frankreich auf linke Umwälzungen reagierten

Vor 20 Jahren hat der US-Historiker Michael Seidman seine Doktorarbeit unter dem Titel »Arbeiter gegen die Arbeit« herausgegeben. Nach zwei Jahrzehnten konnte nun eine deutschsprachige Ausgabe realisiert werden, was in erster Line dem Verlag Graswurzelrevolution und dem Übersetzer Andreas Förster zu verdanken ist. Das Buch ist eine Fundgrube für alle, die sich für eine Sozialgeschichte der spanischen Revolution und der französischen Volksfrontpolitik interessieren.

Seidman untersucht, wie die Proletarier 1936 in Barcelona und Paris auf die linken Umwälzungen reagierten. Die Ausgangsbedingungen könnten unterschiedlicher nicht sein. In Barcelona hatte die anarchosyndikalistische CNT die Kontrolle über einen Großteil der Betriebe übernommen. Im selben Jahr übernahm eine von der Französischen Kommunistischen Partei unterstützte Volksfrontkoalition im nördlichen Nachbarland die Regierung. Seidman interessieren dabei nicht die Organisationen und ihre Ideologien, sondern deren Politik und ihre Auswirkung auf die Mehrheit der Bevölkerung.

Beiden Bewegungen ging es um eine Gesellschaft der Produzenten. Seidman zeigt an zahlreichen Beispielen aus der anarchosyndikalistischen Presse und anhand von Propagandaplakaten, dass das Ideal der spanischen Anarchosyndikalisten eine Gesellschaft der Arbeit war. In harschen Tönen wandten sie sich gegen alle, die nicht durch ihre Arbeit an der Gestaltung der Gesellschaft beitrugen. »Die Müßiggänger schiebt beiseite«, dieser Satz aus der Internationale wurde von einem großen Teil der CNT-Aktivisten mit voller Überzeugung gesungen. Damit polemisierten sie gegen den Adel und den in Spanien damals sehr mächtigen Klerus, aber auch gegen eine Bourgeoisie, die nicht in der Lage war, Spanien zu einem modernen Industrieland zu formen. Seidman zeigt auf, dass die CNT diese Aufgabe übernehmen wollte und dafür die Stachanow-Methoden der Bestarbeiter aus der Sowjetunion zum Vorbild nahm.

Auch den Taylorismus, den die CNT anfangs als arbeiterfeindlich bekämpfte, akzeptierte sie schließlich. Damit kam sie bald in Konflikt mit dem Teil der Proletarier, die entweder politisch uninteressiert waren oder in die CNT nur eingetreten sind, weil sie sich Vorteile erhofften. Auf vielen Seiten zeigt der Historiker auf, wie sich die CNT zunächst mit beschwörenden Appellen, doch bald mit Kontrolle und Überwachung, der Ausgabe von Arbeitsausweisen und sogar der Errichtung von Arbeitshäusern um die Erhöhung der Produktivität bemühte.

In Paris setzte mit der Volksfrontbewegung die Arbeiterfreizeit- und Urlaubsbewegung ein. Seidman sieht hier sogar die Wurzeln des Billigtourismus. Nicht Arbeiterkontrolle, sondern die Entdeckung der Arbeiter als Konsumenten, sei der Kern der Politik der französischen Regierung gewesen.

Mancher These Seidmans mag man nicht folgen. Seine zentrale These vom Kampf der Arbeiter gegen die Arbeit hat er mittlerweile selber relativiert. Trotzdem ist das Buch ein Stück wichtige Arbeitergeschichtsschreibung, die ansonsten ignoriert und vernachlässigt wird.

Michael Seidman: Gegen die Arbeit. Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-38, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2011, 480 S., 24,80 €.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/215431.arbeitergeschichte-von-unten.html
Peter Nowak

Hat der Rechtspopulismus an Bedeutung verloren?

Interview mit Dirk Stegemann

Überraschend wurde der Rechtspopulismus zu Jahresbeginn zum Gegenstand des öffentlichen Interesses. Während die Frankfurter Rundschau und die Berliner Zeitung von einer Radikalisierung der rechtspopulistischen Szene sprachen, beginnt sich auch der Verfassungsschutz für diese Kreise zu interessieren. Dabei wurde in der letzten Zeit häufiger die These vertreten, der Rechtspopulismus werde überschätzt.

Selbst das Autorenduo Michael Zander und Thomas Wagner kommt im Schlussteil ihres gerade erschienenen Buches Sarrazin, die SPD und die Neue Rechte zu dem Fazit, dass zumindest der antimoslemische Rechtspopulismus durch die EU-Krise an Bedeutung verloren habe.

Telepolis sprach darüber mit Dirk Stegemann, der sich seit Jahren in zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen den Rechtspopulismus engagiert. Mittlerweile wird er in auf rechtspopulistischen Homepages in steckbriefähnlichen Pamphleten als „Feind Deutschlands“ tituliert.

Durch rechtspopulistische Gruppierungen werden gesellschaftliche Themen aufgegriffen und rassistisch umgedeutet

Nehmen Sie die Drohungen aus rechtspopulistischen Kreisen Ernst?

Dirk Stegemann: Die Drohungen sind in erster Linie zur Einschüchterung gedacht. Man sollte sie weder ignorieren noch überbewerten. Ausbremsen lasse ich mich davon jedenfalls nicht. Genauso wenig wie von Anzeigen, die mich wohl zeitlich einschränken und finanziell abschrecken sollen. Für mich sind die gegen meine Person gerichteten Aktivitäten vor allem eine Anerkennung meines Engagements und ein Zeichen dafür, von Nazis und Rassisten Ernst genommen zu werden.

Auch in der Politik wird diskutiert, islamkritische Webseiten mehr zu kontrollieren. Sehen Sie darin ein erstes Zeichen, dass die Politik die Gefahr des Rechtspopulismus erkannt hat?

Dirk Stegemann: Die Forderung nach Entfernung rassistischer Inhalte – für die „der Islam“ lediglich als Deckmantel fungiert – aus dem Netz, ist richtig. Doch wichtiger ist, die Ursachen dafür zu bekämpfen, so dass derartige Inhalte keinen Resonanzboden mehr finden. Die Bundesregierung kennt nur eines: die Bekämpfung von Erscheinungen, aber nicht der Ursachen.

Was ist dran an Meldungen von einer Radikalisierung der rechten Islamgegner?

Dirk Stegemann: Von einer Radikalisierung würde ich weniger sprechen. Vielmehr scheint es nach den Attentaten in Norwegen und den Nazimorden des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ eine etwas veränderte Wahrnehmung und Sensibilisierung gegenüber Rechtspopulismus und Rassismus zu geben. Die Gefahr des Rechtspopulismus in der BRD besteht jedoch weniger in seinen bestehenden Strukturen und den sie vertretenden Einzelpersonen.

Durch rechtspopulistische Gruppierungen werden gesellschaftliche Themen aufgegriffen und rassistisch umgedeutet. Es werden aber auch rassistische Realitäten, wie wir sie beispielsweise in der Ausgrenzung und Diskriminierung von Flüchtlingen oder Wohnungslosen staatlicherseits finden, nochmals zugespitzt. Die etablierten Parteien, aber auch Teile der Medien, wollen da nicht nachstehen. So spielt man sich – etwas vereinfacht gesagt – den Ball immer wieder zu und leistet einem beständigen Nach-Rechts-Rutschen der Gesellschaft Vorschub.

Welche Auswirkungen hatte der Breivik-Schock auf die rechtspopulistische Kreise?

Dirk Stegemann: Die Reaktionen waren auf Grund der Heterogenität der Szene unterschiedlich. Kurzfristig hat der Terrorakt in Norwegen insbesondere bei rechtspopulistischen und rassistischen Kleinstparteien einen gewissen Distanzierungsdruck und Legitimationszwang in der Debatte erzeugt. Immerhin standen die Wahlen in Berlin vor der Tür und diese Splitterparteien hatten grandiose Erfolge angekündigt. Anders dagegen reagierte die mutmaßliche Unterstützerszene auf einschlägigen rassistischen Webseiten und Internetforen. Hier reichten die Reaktionen von anfänglicher Ablehnung und Zurückhaltung über Rechtfertigung, Schadenfreude bis hin zur Glorifizierung. Nicht selten wurde dabei die Schuld den Muslimen oder den Befürwortern einer multikulturellen und offenen Gesellschaft selbst in die Schuhe geschoben und Breivick zum Opfer stilisiert.

Zupass kam ihnen dabei auch der schnell nachlassende öffentliche und politische Druck, wozu etwa die Konstruktion eines „wirren Einzeltäters“ beitrug. Oder die Rehabilitierung geistiger Brandstifter über die Fortsetzung der vorgeschobenen Meinungsfreiheitdebatte sowie der unsäglichen Integrationsdebatte. Zu heiß schien das Thema wohl nicht zuletzt angesichts der Unterstützung der Thesen von Sarrazin durch die politisch Herrschenden und eigene rassistische Argumentationsmuster bzw. rechtspopulistische Politikstile.

Die Erfolge von rechtspopulistischen und rassistischen Parteien in Europa sprechen ihre eigene Sprache

Es gibt auch die These, dass der Rechtspopulismus überschätzt wird und seine Bedeutung gering ist..

Dirk Stegemann: Die Erfolge von rechtspopulistischen und rassistischen Parteien in Europa sprechen ihre eigene Sprache. Dazu kommen die Ergebnisse aktueller Studien zum Zustimmungspotential für derartige Parteien in Deutschland. Erinnern wir uns einfach an die Republikaner 1989 oder die Schill-Partei in Hamburg. Ich halte es zumindest für fahrlässig, die Gefahren eines Rechtspopulismus angesichts eines latent vorhandenen Rassismus, wachsender sozialer Abstiegs- und Ausgrenzungsängste sowie eines Rechtsrucks in der Gesellschaft herunterzureden.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist noch nicht vorbei und deren Auswirkungen sind in Deutschland im Bewusstsein vieler Menschen noch nicht angekommen. Sowohl Armut als auch soziale Spaltung wachsen aber weiter, die Umverteilung von unten nach oben wird fortgesetzt und die Verteilungskämpfe nehmen national wie global zu. Ursachenbezogene Lösungsansätze oder eine tiefgreifende Gesellschaftskritik bleibt die herrschende Politik schuldig. Das schafft einen idealen Nährboden für Rechtspopulisten und Rassisten auch in Zukunft.

Zeigten nicht aber die Ergebnisse der Berlin-Wahlen wie unbedeutend der Rechtspopulismus ist?

Dirk Stegemann: Einstellungsmuster von Wählern müssen sich nicht zwangsläufig auch im Wahlverhalten ausdrücken. Die Ursachen für das Scheitern von rechtspopulistischen und rassistischen Kleinstparteien bei den Wahlen in Berlin, trotz eines vorhandenen und bekannten Potentials an Wählern, sind zudem recht komplex.

Angefangen von der Konkurrenz untereinander, der eigenen Unfähigkeit, innerer Zerstrittenheit, personeller und infrastruktureller Schwächen bis hin zum Fehlen einer charismatischen Führungsperson dürften auch Rechtspopulisten und Sozialchauvinisten in so genannten etablierten Parteien als Alternative bei den Wahlen in Berlin eine Rolle gespielt haben; auch könnten Protestwähler durch die „Piratenpartei“ aufgefangen worden sein. Nicht zuletzt ist diesen rechten Parteien dank vieler Proteste nie gelungen, sich bei öffentlichen Auftritten als demokratisch zu legitimieren, sondern waren sie als Problem immer erkennbar.

Affinität zu Ungleichwertigkeitsdenken und Abwertungsverhalten

Hat die Wirtschaftskrise den antimoslemischen Populismus zugunsten von Anti-EU und Anti-Euro-Kampagnen in den Hintergrund drängen lassen?

Dirk Stegemann: Das mag für die Wahrnehmung der medialen Aufmerksamkeit zutreffen, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich bei Menschen, die sich von der Krise betroffen oder bedroht fühlen, eine stärkere Affinität zu Ungleichwertigkeitsdenken und Abwertungsverhalten entwickelt hat und auf hohem Niveau manifestiert. Dies trifft vermehrt auch auf die so genannte bürgerliche Mitte zu, national wie global.

Nicht zuletzt deshalb setzen Rechtspopulisten – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – sowohl auf Rassismus unter dem Deckmantel „Feindbild Islam“, auf die „Integrations- bzw. Einwanderungsdebatte“, auf Marktradikalismus und ungehemmte Konkurrenzgesellschaft, einschließlich der Ökonomisierung des Sozialen, als auch auf Nationalismus und das „Feindbild EU“ in Verbindung mit dem Kampf gegen die herrschenden Eliten.

Zu trennen sind diese einzelnen Ausrichtungen dann in der realen Umsetzung kaum noch, da auch hier die Grenzen fließend ineinander übergehen, miteinander verknüpft und oft durch Äußerungen aus der Politik legitimiert werden. Via der Konstruktion von „Nutzlosen“, Unwilligen“ oder „Unfähigen“ stehen die Verlierer der Konkurrenzgesellschaft, die ohnehin sozial Benachteiligten, bereits fest und müssen als Sündenböcke herhalten.
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36203/1.html
Interview: Peter Nowak

Ursachen werden nicht bekämpft

Dirk Stegemann über die Gefahren des Rechtspopulismus

Dirk Stegemann ist im Berliner Bündnis »Rechtspopulismus stoppen« aktiv.
nd: In der Politik wird diskutiert, islamkritische Webseiten mehr zu kontrollieren. Ein erstes Zeichen, dass die Politik die Gefahr des Rechtspopulismus erkennt?
Stegemann: Die Forderung nach Entfernung rassistischer Inhalte aus dem Netz, für die u.a. »der Islam« lediglich als Deckmantel fungiert, ist richtig. Doch wichtiger ist, die Ursachen dafür zu bekämpfen, dass derartige Inhalte keinen Resonanzboden mehr finden. Dieser Staat kennt nur eines: die Bekämpfung von Erscheinungen, aber nicht der Ursachen. Dabei geht er selbst oftmals rechtspopulistisch ans Werk. Es gilt, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen.

Was ist dran an Meldungen von einer Radikalisierung der rechten Islamhasser, wie »FR« und »Berliner Zeitung« vermeldeten?
Von einer Radikalisierung würde ich weniger sprechen. Vielmehr scheint es derzeit eine etwas veränderte Wahrnehmung und Sensibilisierung gegenüber Rechtspopulismus und Rassismus zu geben. Insbesondere nach den Attentaten in Norwegen und den Nazimorden des »Nationalsozialistischen Untergrundes«. Hier sind sicher einige aufgeschreckt. Die Gefahr des Rechtspopulismus in der BRD besteht weniger in seinen bestehenden Strukturen und den sie vertretenden Einzelpersonen. Durch rechtspopulistische Gruppierungen werden gesellschaftliche Themen aufgegriffen und rassistisch umgedeutet. Es werden aber auch rassistische Realitäten wie etwa die Ausgrenzung und Diskriminierung von Flüchtlingen, Wohnungslosen etc. staatlicherseits nochmals zugespitzt. Die etablierten Parteien, aber auch Teile der Medien wollen da nicht nachstehen. So wird sich – etwas vereinfacht gesagt – der Ball immer wieder zugespielt und einem beständigen Nach-Rechts-Rutschen der Gesellschaft Vorschub geleistet.

Es gibt Stimmen, die die Bedeutung des Rechtspopulismus für gering halten. Liegen die falsch?

Ich halte es zumindest für fahrlässig, die Gefahren eines Rechtspopulismus angesichts eines latent vorhandenen Rassismus, wachsender sozialer Abstiegs- und Ausgrenzungsängste sowie Rechtsrucks in der Gesellschaft herunterzureden. Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist nicht vorbei und deren Auswirkungen in Deutschland im Bewusstsein vieler Menschen noch nicht angekommen. Sowohl Armut als auch soziale Spaltung wachsen aber weiter, die Umverteilung von unten nach oben wird fortgesetzt und die Verteilungskämpfe nehmen national wie global zu. Ursachenbezogene Lösungsansätze oder eine tiefgreifende Gesellschaftskritik bleibt die herrschende Politik schuldig. Ein idealer Nährboden für Rechtspopulisten und Rassisten auch in Zukunft.

Können sich solche Stimmen nicht durch die Ergebnisse der Berlin-Wahlen bestätigt sehen?
Einstellungsmuster von Wählern müssen sich nicht zwangsläufig im Wahlverhalten ausdrücken. Die Ursachen für das Scheitern rechtspopulistischer und rassistischer Kleinstparteien bei diesen Wahlen, trotz eines vorhandenen, bekannten Wählerpotenzials, sind zudem recht komplex. Angefangen von deren Konkurrenz untereinander, innerer Zerstrittenheit, personeller und infrastruktureller Schwächen bis zum Fehlen einer charismatischen Führungsfigur.

Hat die Wirtschaftskrise nicht den antimuslimischen Populismus zugunsten von Anti-EU-Kampagnen in den Hintergrund gedrängt?
Das mag für die Wahrnehmung der medialen Aufmerksamkeit zutreffen, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich bei Menschen, die sich von der Krise betroffen oder bedroht fühlen, eine stärkere Affinität zu Ungleichwertigkeitsdenken und Abwertungsverhalten entwickelt und auf hohem Niveau manifestiert hat. Dies trifft vermehrt auch auf die so genannte bürgerliche Mitte zu, national wie global. Nicht zuletzt deshalb setzen Rechtspopulisten, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, sowohl auf Rassismus unter dem Deckmantel »Feindbild Islam« und »Integrations- bzw. Einwanderungsdebatte«, Marktradikalismus und ungehemmte Konkurrenzgesellschaft einschließlich der Ökonomisierung des Sozialen, als auch auf Nationalismus und das »Feindbild EU« in Verbindung mit dem Kampf gegen die herrschenden Eliten.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/214829.ursachen-werden-nicht-bekaempft.html
Interview: Peter Nowak

Eine Rechte neuen Typs

Islam und Einwanderer stehen im Fadenkreuz der Extremisten
In Europa entsteht eine neue Form des Rechtsextremismus. Der Publizist Bernhard Schmid analysiert deren Entstehung und Ausprägung.

Der Terrorakt von Anders Behring Breivik im August in Norwegen sorgte weltweit für Entsetzen. Doch anders als die deutschen Terroristen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) bezog sich der selbst ernannte »Kreuzritter für Europa« nicht auf Hitler und die Nazis. In den nach seinem Terrorakt bekannt gewordenen Schriften nimmt er westliche Werte für sich in Anspruch und verteidigt den Staat Israel. Damit gehört Breivik zu einer Strömung in der extremen Rechten, die in verschiedenen europäischen Ländern an Einfluss gewonnen hat. Der in Frankreich lebende Jurist und Journalist Bernhard Schmid hat jetzt in einem in der »edition assamblage« erschienenen Buch einen informativen Überblick über diese neueste Rechte auf westeuropäischer Ebene geliefert.

Als gemeinsamen Nenner für die Strömung nennt Schmid die zu Hauptfeinden erkorenen muslimischen Einwanderer und den Islam generell. Darüber hinaus seien die Gruppierungen jedoch sehr unterschiedlich. Die österreichische FPÖ, der belgische Vlaams Belang und die französische Front National kommen aus der nazistischen Tradition und haben bei ihrer Neuausrichtung Mühe, ihren Antisemitismus zu verbergen. Auch Breivik schrieb in seinem Manifest: »Es ist unnötig zu sagen, dass ich zwar ein Unterstützer Israels und aller patriotischen Juden bin, zugleich aber die Ansicht vertrete, dass die antieuropäische Holocaust-Religion dekonstruktiv wirkt.«

Zu den politischen Vorbildern Breiviks gehört die English Defence League (EDL), die Schmid als »rechtsextreme Bewegung neuen Typs« beschreibt. Die aus der Hooliganbewegung entstandene EDL macht als schlagende Verbindung dieser neuen Rechten in von Migranten bewohnten Stadtvierteln Jagd auf Araber. Dagegen geben sich die Schweizer Volkspartei (SVP) und die holländische Partei für die Freiheit seriöser. Schließlich unterstützen sie in ihren Ländern die Regierung.

In einem Kapitel untersucht Schmid auch die verschiedenen Gruppierungen, die in Deutschland bisher ohne großen Erfolg versuchen, als prowestliche Rechte zu reüssieren. Ein wichtiger Grundlagentext dieser Strömung ist die von der italienischen Journalistin Oriana Fallaci verfasste Brandschrift »Die Wut und der Stolz«. Das Buch, in dem die Autorin Drohungen gegen Migranten in Italien ausstößt, löste in mehreren Ländern Anzeigen aus.

Mitte Dezember erschoss ein Mann, der als Faschist und Sympathisant der neuen rechten Strömung galt, in Florenz zwei Migranten aus Senegal und verletzte weitere schwer. Mit seinem Buch leistet Schmid wichtige Aufklärungsarbeit, um solche Attentate zu verhindern.

»Distanzieren, leugnen, drohen: Die europäische Rechte nach Oslo«, Bernhard Schmid, edition assamblage 2011, 120 Seiten, 12,80 Euro

http://www.neues-deutschland.de/artikel/214823.eine-rechte-neuen-typs.html
Peter Nowak

Banker gegen Kunst

Der Aktionskünstler Philipp Ruch über die Schwierigkeiten, wenn Pressesprecher ihre Äußerungen zurücknehmen wollen
Philipp Ruch ist Gründer des Zentrums für Politische Schönheit, in dem Aktionskünstler mit politischen Aktivisten zusammenarbeiten. Gegen ihren Film »Schuld – Die Barbarei der Privatheit« über Nahrungsmittelspekulationen wollte die Deutsche Bank juristisch vorgehen. Peter Nowak sprach mit dem Aktionskünstler, der wie alle Mitglieder des Zentrums bei öffentlichen Auftritten an Kohle- und Rußspuren erkennbar ist. Denn: Sie wühlen in den verbrannten politischen Hoffnungen Deutschlands.
nd: Was störte die Deutsche Bank an Ihrem Film?
Die Passage ihres Pressesprechers Frank Hartmann, in der er die Menschen in Somalia für ihre Armut selber verantwortlich machte.

Der Bankkonzern zog inzwischen seine Ankündigung zurück. Ist das ein Erfolg der massiven Internetproteste?
Das kann man so sehen. Nach Bekanntwerden eines Eingriffsversuchs der sonst so kunstaffinen Deutschen Bank in die Kunstfreiheit wurde der Film zum Gesprächsthema Nummer 1 im Internet. Nach den ersten Agenturmeldungen über den Fall hagelte es Kritik auf der Facebook-Seite der Bank. Die Deutsche Bank wird aber eher wegen des Interesses von drei überregionalen Zeitungen eingelenkt haben.

Wurde nicht vor allen wegen der drohenden Eingriffe in die Kunst protestiert?
Die Kunst war nur der Anlass. Es ging von Anfang an um die unmoralischen Geschäfte mit dem Hunger von Millionen Menschen. Bis heute hält der Proteststurm an. Ich fürchte, die Bank wird sich bald erklären müssen.

Gab es Einigungsversuche?
Wir hatten im Vorfeld Gespräche mit drei verschiedenen Abteilungen der Bank, in denen wir eine nichtöffentliche Einigung erzielen wollten. Alle drei Stellen verhielten sich dabei ziemlich merkwürdig. Ich habe selten erlebt, dass Menschen, die professionell Öffentlichkeitsarbeit betreiben wollen, so wenig Sensibilität für die Bedeutung von Strafanzeigen gegenüber Aktionskünstlern besitzen. Insbesondere der Pressesprecher kam uns zeitweise wie eine schlechte Kopie von Achilles vor, der nicht weiß, wann man Gefühle zulässt und wann man schweigt. Er drohte mir ernsthaft mit zwei Jahren Gefängnis. Ich weiß ja nicht, in welchen Ländern er sich so herumtreibt. Aber in jedem Fall wäre ihm eine Welt genehm, in der Menschen für unliebsame Werke in Haft kommen.

Wie konnten Sie den Banksprecher überhaupt zu einem Interview gewinnen?
Indem wir anriefen, uns als Dokumentarfilmreporter zu erkennen gaben und nach einem Interview fragten. Danach hat er uns eine halbe Stunde mit dem Nutzen von Nahrungsmittelspekulationen voll-gequatscht. Daraufhin habe ich ihm vom Nutzen gigantischer Freiluftgulags vorgeschwärmt, die so groß sind wie Staaten. Da war dann erst mal Ruhe.

Hatten Sie Schwierigkeiten, Vertreter aus Wirtschaft und Politik für den Film vor die Kamera zu bekommen?
Nein. Die großen Akteure warten darauf. Das Thema findet keine Beachtung. Das Zentrum für Politische Schönheit nimmt sich generell nur schwersten Menschenrechtsverletzungen an. Wie kann es sein, dass Deutschland heute drittgrößter Waffenhändler der Welt ist? Wie kann es sein, dass in Kongo über sechs Millionen Menschenleben vernichtet werden, ohne dass wir es mitbekommen? Diese Fragen sind allesamt »under-reported«, wie es im Englischen heißt. Sprich – sie werden weit unter ihrer Bedeutung abgebildet.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/213766.banker-gegen-kunst.html
Interview: Peter Nowak

Gleiche Arbeit – gleiches Geld

Neues Buch zui Leiharbeit erschienen
Ein neues Buch präsentiert verschiedene Argumente gegen Leiharbeit und blickt auch auf die Protestgeschichte gegen die moderne »Sklaverei«.

Wenn so viel über das deutsche Jobwunder geredet wird, darf nicht vergessen werden, dass es zum großen Teil auf dem Boomsektor Leiharbeit beruht. »Gerade in den weltmarktorientierten Unternehmen der Elektroindustrie wurden Leiharbeitskräfte zunehmend dauerhaft und auch in den Kernbereichen der Produktion eingesetzt«, heißt es in einer Studie der gewerkschaftlichen Otto-Brenner-Stifung.

Die beiden Berliner Journalisten Andreas Förster und Holger Marcks haben jetzt im Unrast-Verlag ein informatives Büchlein herausgegeben, das die kurze Geschichte der Leiharbeit in Deutschland nachzeichnet und schon im Untertitel aufklärt, dass es zu ihrer Abschaffung beitragen will. Was sich wie eine Utopie anhört, ist zumindest in Namibia umgesetzt worden. Dort hat der Oberste Gerichtshof nach anhaltenden Gewerkschaftsprotesten 2009 festgestellt, dass Leiharbeit mit Sklaverei gleichzusetzen und damit in dem südafrikanischen Land illegal ist. Ein solcher Gerichtsbeschluss ist in Deutschland nicht zu erwarten. Aber auch die Aberkennung der Tariffähigkeit der christlichen Gewerkschaften für Zeit- und Personalserviceagenturen (CGZP) durch das Bundesarbeitsgericht hat im Dezember 2010 zumindest den schlimmsten Auswüchsen bei den Dumpinglöhnen Grenzen gesetzt. Die Leipziger Arbeitsrechtler Dirk Feiertag und Sosa Norena gehen in dem Buch auf die rechtlichen Folgen des Urteils ein.

Der Münsteraner Soziologe Torsten Bewernitz gibt einen kurzen Überblick über den Widerstand gegen die Leiharbeit. Er erwähnt Proteste gegen Leiharbeitsmessen und Jobbörsen, geht auf Leiharbeitsspaziergänge ein, bei denen bekannte Firmen aufgesucht wurden, und erinnert an den Streik bei einer Leiharbeitsfirma in Frankfurt am Main im Dezember 2005. Dass auch die Kampagne »Leiharbeit abschaffen« der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) in dem Buch erwähnt wird, verwundert nicht: Fünf der sechs Autoren sind FAU-Mitglieder.

Trotzdem bleibt ihre Kritik an der offiziellen Position des DGB sachlich präzise. So betonen mehrere Autoren, dass es innerhalb der DGB-Gewerkschaften Kritik an den Tarifverträgen gibt, die mit Leiharbeitsfirmen geschlossen wurden. »Ohne Tarifvertrag gilt für Lohnarbeiter der einfache wie einleuchtende Grundsatz Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Nichtstun wäre hier für seriöse Gewerkschaften die Devise gewesen, denn zum Vertragsabschluss gehören immer noch zwei«, formuliert Andreas Förster eine Kritik, die zunehmend auch in den DGB-Gewerkschaften zu hören ist. So hat das von der IG Metall initiierte Netzwerk »ZeitarbeiterInnen – ohne Organisation machtlos« (ZOOM) die vage Parole »Leiharbeit fair gestalten« durch die Forderung »Gleiche Arbeit – gleiches Geld« ersetzt. Damit das kein Papiertiger bleibt, müssen die Gewerkschaften genau beobachten, wo sich Angriffsstellen im Leiharbeitssektor zeigen, schreiben die Herausgeber im Nachwort. Ihr Buch kann dabei eine wichtige Hilfe sein.

Andreas Förster, Holger Marcks (Hg.), Knecht zweier Herren. Zur Abschaffung der Leiharbeit, Münster November 2011, ISBN: 978-3-89771-112-9, 78 Seiten, 7.80 Euro

http://www.neues-deutschland.de/artikel/213474.gleiche-arbeit-gleiches-geld.html
Peter Nowak

Einzelfall oder Erfolgsmodell

Das Buch über den Arbeitskampf der Kaisers-Kassiererin Emmely fragt, was daraus zu lernen ist
Arbeitsplatz verteidigt – wie war das möglich? Das Solidaritätskomitee zur Unterstützung von Emmely, Anwälte und Gewerkschafter fassen die Erfahrungen des erfolgreichen Arbeitskampfes der Kassiererin aus Berlin zusammen. Das könnte anderen Fällen Motivation und Hilfe sein.
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Öffentlichkeit half der Supermarktkassiererin. Ihre Kündigung wurde als schreiende Ungerechtigkeit empfunden. Denn Manager kassierten zur selben Zeit hohe Abfindungen, trotz von ihnen verschuldeter Millionverluste.
Der Fall der unter dem Namen Emmely bekannt gewordenen Berliner Supermarktkassiererin sorgte bundesweit für Aufsehen. Sie war nach über 30 Jahren von Kaiser’s entlassen worden, weil sie zwei Pfandbons im Wert von 1,30 Euro nicht korrekt abgerechnet haben soll. Die Gewerkschafterin hat den Vorwurf immer bestritten und ihre Entlassung mit ihrem Engagement in einem Einzelhandelsstreik in Zusammenhang gebracht. Das sah auch ein Solidaritätskomitee so, das ab Sommer 2008 dafür sorgte, dass der Fall Emmely die Republik bewegte. Die Kassiererin wurde in Talkshows eingeladen und im Bundestag über die Legitimität von Verdachts- und Bagatellkündigungen gesprochen.

Die Auseinandersetzung ging gut aus. Nachdem die Kündigung gegen Emmely von zwei Instanzen bestätigt wurde, bekam sie im Juni 2010 schließlich vom Bundesarbeitsgericht recht. Nun hat das Komitee »Solidarität mit Emmely« ein Buch herausgegeben, in dem sich Aktivisten, Juristen und Gewerkschafter in Kurzbeiträgen der Frage widmen, warum sich die Kassiererin durchsetzen konnte und ob der Erfolg in anderen Fällen wiederholbar ist.

Neben dem Mut der Betroffenen sieht Gregor Zattler das Engagement ihres Rechtsanwalts sowie die politischen und ökonomischen Bedingungen als Gründe für den Erfolg an. Durch die ausbrechende Finanz- und Wirtschaftskrise wurde vermehrt über das Thema Gerechtigkeit diskutiert. Dabei sei immer wieder angesprochen worden, dass Vorstandsvorsitzende großer Konzerne hohe Abfindungen erhielten, auch wenn ihnen die Verantwortung für Millionenverluste nachgewiesen wurde. Da sei es als schreiende Ungerechtigkeit empfunden worden, dass einer Kassiererin wegen 1,30 Euro gekündigt wurde.

Verschiedene Beiträge gehen auf den Einzelhandelsstreik im Jahr 2007 ein, bei dem ver.di mit Gruppen der außerparlamentarischen Linken zusammengearbeitet hatte, die zur Unterstützung des Ausstandes Filialen blockierten. Der Umgang mit der Kündigung von Emmely war sehr verschieden. In mehreren Kapiteln wird der defensive Gewerkschaftskurs heftig kritisiert. Denn während ver.di auf einen Vergleich mit Kaiser’s drängte und auf Öffentlichkeit verzichtete, ging das Solidaritätskomitee den entgegengesetzten Weg. Es schlug Alarm. So wurde die Geschichte bundesweit bekannt.

Der Gewerkschafter Anton Kobel spart in seinem Beitrag über den Einzelhandel in Deutschland nicht mit Kritik. Auf die Herausbildung eines tariffreien Niedriglohnsektors in dieser Branche habe die Gewerkschaft bis heute keine Antwort. Auch der Kampf gegen die Begrenzung der Ladenöffnungszeiten sei verloren gegangen. Als Ironie der Geschichte bezeichnet es Kobel, dass mit Mecklenburg-Vorpommern und Berlin zwei Regierungen unter Beteiligung der PDS bzw. Linkspartei Pioniere bei der Öffnung der Läden am Sonntag waren.

Die Soziologin Ingrid Artus würdigt in ihrem Beitrag die Bedeutung der »Emmelys dieser Welt«. Die Berliner Supermarktkassiererin sei in einer Zeit, in der Solidarität ein Fremdwort geworden sei, zum Symbol geworden, dass Widerstand möglich ist und auch erfolgreich sein kann. Das Buch kann helfen, diese Erfahrungen weiterzugeben.

Komitee Solidarität mit Emmely (Hrsg.): Gestreikt. Gekündigt. Gekämpft. Gewonnen. Die Erfahrungen der »Emmely«-Kampagne, AG Spak, 140 Seiten, 9,50 Euro.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/212427.einzelfall-oder-erfolgsmodell.html
Peter Nowak

»Wenn wir Nazis sehen, gibt’s Kleinholz!«

Die Wilden Cliquen von Berlin – antifaschistische Jugend

Immer wieder gibt es vor allem in den Berliner Boulevardmedien reißerische Artikel über Jugendliche, die sich in der Öffentlichkeit daneben benehmen. Nun hat der Berliner Historiker Jonas Kleindienst ein Buch herausgegeben, das die Geschichte und den öffentlichen Diskurs um die Wilden Cliquen Berlins in den 20er und 30er Jahren analysiert. Sie rekrutierten sich zumeist aus der Arbeiterklasse, kopierten und konterkarierten die bürgerliche Jugendbewegung.

Die Liste der Vorwürfe gegenüber jenen renitenten Jugendlichen war lang: Sie kleiden sich auffällig, lachen und musizieren laut in der Öffentlichkeit und lassen es älteren Menschen gegenüber an Respekt fehlen. Im sozialdemokratischen »Vorwärts« kam noch der Vorwurf der Naturzerstörung hinzu. Ein Chronist will beobachtet haben, wie drei Halbwüchsige »von jedem dritten Baum mit ihren Spazierstöcken die Kronen der tiefhängenden Zweige aus lauter Übermut« abschlugen. Sehr erfreut zeigte sich der »Vorwärts«-Autor, dass ein »Aktivbürger« schließlich den Jugendlichen zeigte, »was eine Harke ist und wacker zuschlägt«. Neben dem Ruf nach Züchtigung wurde auch ein stärkeres Eingreifen von Polizei und Fürsorge gefordert.

Versuche, die schon damals als »Halbstarke« titulierten Jugendlichen politisch zu organisieren, wie sie der KPD-nahe Rote Wander-Ring oder der autonome Freie Wanderring unternahmen, scheiterten an der Repression von Polizei und Jugendämtern sowie der Unlust vieler Jugendlicher, sich feste Strukturen zu geben. Bemerkenswert ist das Titelblatt der 1. Ausgabe des »Roten Wanderers« von September 1923, Zentralorgans des Roten Wanderringes. Hier wurden die diffamierenden Zuschreibungen einfach umgedreht. Der Leitartikel beginnt mit der Ansprache: »Verwahrloste Jugend! Lausejungen! Zuhälter! Strolche! Diebe! Plünderer! Wenn wir Nazis sehen, gibt’s Kleinholz!«

Für die meist stadtteilbezogenen Cliquen spielte die antifaschistische Aktion eine große Rolle. Neben dem oft handgreiflichen Protest gegen die den Deutschnationalen nahestehende Bismarckjugend befanden sie sich schon ab 1925 in heftigen Auseinandersetzungen mit den Verbänden der NSDAP. Während später einige Cliquenanführer zur SA überliefen, blieb die Mehrheit antinazistisch eingestellt und erfuhr, wie der Autor schreibt, »das gleiche Schicksal wie auch der Großteil der Kommunisten«. Sie wurden nach Hitlers Machtantritt sowohl von staatlicher Seite wie auch von den nun die Straßen beherrschenden SA-Stürmen mehr denn je verfolgt. Der Kriminalist Justus Erhardt, der sich in Weimarer Zeit als scharfer Gegner des Cliquenwesens hervorgetan hat, bemerkt 1934, dass »durch ordnungspolizeiliche Unternehmungen … die berüchtigten wilden Cliquen … zu einem großen Teil gesprengt worden« seien. Damit lag er falsch. Gruppen wie die Edelweißpiraten knüpften bei ihrem Widerstand gegen das NS-Regime bewusst an die Tradition der Wilden Cliquen.

Jonas Kleindienst hat historische Pionierarbeit geleistet. Leider verfällt der Autor gelegentlich in einen totalitarismustheoretischen Duktus, wenn er von der Bedrohung der Weimarer Republik »durch links- und rechtsradikale Kräfte« schreibt. Wie sich gerade jetzt wieder einmal zeigt, kommt diese fatale, blind machende Gleichsetzung den Nazis zugute.

Jonas Kleindienst: Die Wilden Cliquen Berlins. Verlag Peter Lang, Bern 2011. 126 S., geb., 22,80 €.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/212322.wenn-wir-nazis-sehen-gibt-s-kleinholz.html
Peter Nowak

Wege aus der Autogesellschaft

Buch zeigt Notwendigkeit und Schwierigkeiten einer Verkehrswende auf

Trotz einiger Teilerfolge bei der Treibhausgas-Reduktion sieht die Klimabilanz der EU beim Verkehr ziemlich schlecht aus. Alternativen zeigte eine von der Bundestagsfraktion der Linken und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierte Veranstaltung 2010 in Stuttgart, deren Ergebnisse jetzt ein Sammelband präsentiert.

2008 gab es für kurze Zeit eine Verunsicherung in der deutschen Autobranche. Die Wirtschaftskrise führte zu Umsatzeinbrüchen und Massenentlassungen. Doch schon bald setzte ein neuer Boom ein und für einen großen Teil der Beschäftigten und auch der Gewerkschaften schienen Projekte für einen Weg aus der Autogesellschaft realitätsferne Spinnerei. Wer das im VSA-Verlag veröffentlichte Buch zur »Globalen Ökonomie des Autos« gelesen hat, wird begreifen, dass in Wirklichkeit das krampfhafte Festhalten am Status quo illusionär ist. Denn die 23 Autoren aus unterschiedlichen Fachgebieten legen sehr anschaulich dar, dass angesichts schrumpfender Rohstoffe und raschen Klimawandels die Autogesellschaft ziemlich bald am Ende ist.

Die spannende Frage ist nur, ob sich der Wandel ungeordnet, mit vielen Verwerfungen und Opfern für alle Beteiligten vollzieht oder ob er von allen Beteiligten in demokratischer Planung vollzogen wird und damit sogar die Lebensqualität für viele Menschen erhöhen kann. Die Autoren des Buches propagieren die zweite Option und zeigen dafür Wege auf, verschweigen aber auch die Schwierigkeiten eines solchen Umstiegs nicht.

Einige der Beiträge waren Vorträge auf der am letzten Oktoberwochenende 2010 in Stuttgart von der Bundestagsfraktion der Linken und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierten Konferenz »Auto.Mobil.Krise«. Dort diskutierten Umweltschützer mit Betriebsräten aus Autokonzernen und IG-Metall-Vorstandsmitgliedern. So konstatiert das IG-Metall-Vorstandsmitglied und Befürworter eines sozialökologischen Gesellschaftsumbaus Hans-Jürgen Urban selbstkritisch, seine Gewerkschaft sei in den 90er Jahren schon mal weiter mit der Diskussion über den Ausstieg aus der Autoproduktion gewesen. Im Streitgespräch sah der Journalist Harald Schumann die Rolle der Gewerkschaften bei der Umstiegsdebatte kritischer. Zudem hält er es für illusionär, zu meinen, dass Arbeitsplätze im Automobilsektor einfach für alternative Branchen umgewidmet werden könnten.

Der Politologe Mario Candeias warnte davor, allein die Beschäftigten im Pkw-Sektor und ihre Gewerkschaften in die konservative Ecke zu schieben. Schließlich hätten sich viele Umweltorganisationen von sozialen Fragen verabschiedet und suchen im Bündnis mit angeblich fortschrittlichen Teilen des Kapitals Wege in den grünen Kapitalismus. Am Beispiel des Elektroautos wird von mehreren Autoren aufgezeigt, dass hier vor allem neue Profitquellen entstehen, doch der Erfolg für die Umwelt und die Lebensqualität ist fraglich.

Wenig bekannt ist auch, dass es in den USA aktive Gewerkschaftsgruppen gibt, die das Bemühen um Klimagerechtigkeit mit der Verteidigung oder Neuerkämpfung sozialer Rechte verbinden. Beschlüsse der Internationalen Transportarbeitergewerkschaft gehen ebenfalls in diese Richtung. In Deutschland können sowohl Gewerkschaften als auch die Umweltbewegung davon lernen. Dafür bietet das Buch Hilfestellung.

Mario Candeias, Rainer Rilling, Bernd Röttger, Stefan Thimmel (Hrsg.): Globale Ökonomie des Autos. Mobilität, Arbeit, Konversion, VSA-Verlag Hamburg 2011, 275 S. , 19,80 €.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/212077.wege-aus-der-autogesellschaft.html
Peter Nowak

Rezension: Rechte kennen

 
»Mit 16 ohne Chancen, mit 40 ohne Zähne, mit 67 ohne Rente«. Das Motto auf der Titelseite benennt das Thema der Broschüre prägnant. Die jüngsten Gesundheitsreformen belasten einkommensschwache Menschen in vielfältiger Weise. Praxisgebühren und Zuzahlungen bei Medikamenten, Patiententransporten und anderen medizinischen Leistungen bringen sie an ihre finanziellen Grenzen. Daher ist es vor allem für sie wichtig, über ihre Rechte informiert zu sein.

Die langjährige Erwerbslosenaktivistin Anne Allex hat in den vergangenen Jahren mehrere Leitfäden für einkommensschwache Menschen veröffentlicht. Der neueste reicht von Tipps für den Wechsel der Krankenversicherung über den Umgang mit der umstrittenen elektronischen Gesundheitskarte bis hin zur Krankenhilfe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Für letzteres Kapitel ist Georg Classen vom Berliner Flüchtlingsrat verantwortlich. Außer ihm haben der Sozialrechtler Helmut Szymanski und der Verbraucherberater Michael Bialek als Experten an der Erstellung des Ratgebers mitgearbeitet.

Das Kapitel »Beschwerde, Widerspruch und Klage gegen Kostenträger und Leistungserbringer« enthält Post- und Internetadressen sowie Telefonnummern von Beschwerdestellen. Auch die Widerspruchs- und Klagemöglichkeiten gegen Entscheidungen der gesetzlichen Pflege- und Krankenkassen werden aufgeführt. Für spezielle Fragen – beispielsweise zur Versorgung mit Zahnersatz – wird auf weiterführende Ratgeber verwiesen. Im Anhang werden aktuelle Grundsatzurteile mit Internetadressen aufgelistet.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/211573.rezensoin-rechte-kennen.html

Anne Allex (Hg.): Krank-sein in den Zeiten von Harz IV und »Gesundheitsreformen«, 116 S., 10 €, für Hartz-IV-Bezieher 3 €.

Warum „Emmely“ wieder arbeiten darf

BUCH Eine Gruppe von Aktivisten bilanziert den Kampf der Kassiererin „Emmely“ um ihren Job

„Emmely scannt wieder“, titelte eine Berliner Boulevardzeitung im Herbst 2010. Da saß Berlins wohl kämpferischste Kasslerin nach ihrem Sieg vor dem Bundesarbeitsgericht wieder an der Kasse. Hinter ihr lag ein zweijähriger Kampf um ihren Job. Das Komitee „Solidarität mit Emmely“ hat jetzt ein Buch veröffentlicht, in dem verschiedene Aktivisten und Gewerkschafter die Stationen und Facetten der Auseinandersetzung beschreiben.

Der Frau mit dem Pseudonym Emmely war im Januar 2008 von der Tengelmann-Gruppe mit der Begründung gekündigt worden, sie habe zwei Flaschenbons im Wert von 1,30 Euro falsch abgerechnet – nach mehr als 30 Jahren Arbeit im selben Geschäft. Doch Emmely bestritt die Vorwürfe und ging an die Öffentlichkeit. Gleich zu Beginn des Buchs kommt Emmely selbst zu Wort. „Mein Leben hat sich grundlegend geändert. Nun habe ich eine andere Sichtweise auf Dinge, die in diesem Land geschehen“, schreibt sie.

In dem Buch wird auch die Frage gestellt, warum die Kündigung von Emmely die Republik beschäftigte. Sie wurde zu Talkshows eingeladen, und selbst die Bild-Zeitung zeigte Sympathien. Der Gewerkschafter Willy Hajek sieht einen Grund dieser Popularität in Emmelys Mut, öffentlich gegen ihre Kündigung zu kämpfen. „Emmely hat den Mut zu streiken, den Mund aufzumachen“, schreibt er in seinem Beitrag. Zudem werde anhand ihres Falls die Frage nach der Gerechtigkeit gestellt. „Herr Zumwinkel als Manager der Post bekommt für seinen Abschied aufgrund von Verfehlungen Millionen als Bonus. Emmely wird wegen angeblichen Diebstahls von 1,30 Euro nach 31 Jahren gekündigt.“

Die Rolle der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di bei der Unterstützung von Emmely wird im Beitrag der Filmemacherin Bärbel Schönafinger scharf kritisiert. Die Gewerkschaft sei überzeugt gewesen, dass Emmely juristisch nicht gewinnen könne, und habe sie zu einem Vergleich gedrängt. Samira van Zeer vom Solikomitee teilt diese Kritik. Sie weist in ihrem Artikel aber darauf hin, dass ohne die Bereitschaft der Ver.di-Sekretärin Erika Ritter, mit außerparlamentarischen Linken zu kooperieren, die Unterstützungsarbeit nie zustande gekommen wäre.

In dem Buch wird auch auf die Schwachpunkte der Solidaritätsarbeit eingegangen, die bei einer erfolgreichen Auseinandersetzung oft unter den Tisch fallen. Der Mitbegründer des Komitees, Gregor Zattler, beschreibt die chronische Überlastung der Gruppe. Je mehr Anforderungen durch die bundesweite Bekanntheit auf die AktivistInnen zugekommen seien, desto kleiner sei der Kreis geworden. Das habe seinen Preis gehabt. „Die Kampagne verschob Aktionsformen und Publikum mit zunehmenden öffentlichen Interesse zur Mitte hin“, bilanziert Zattler. Die Soziologin Ingrid Artus untersucht die Bedingungen, unter denen sich Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen wehren, wie sie im Einzelhandel häufig anzutreffen sind. Oft würde sich der Widerstand am fehlenden Respekt, der den Beschäftigten von den großen und kleinen Chefs entgegengebracht wird, entzünden.

Komitee Solidarität mit Emmely (Hg.): „Gestreikt. Gekündigt. Gekämpft. Gewonnen. Die Erfahrungen der ,Emmely‘-Kampagne“. 140 Seiten, 9,50 Euro

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2011%2F11%2F18%2Fa0156&cHash=bc1affd604

Peter Nowak