Analyse der Krisenproteste in Europa

Ein Buch betrachtet Widerstandsbewegungen

Warum gibt es in Europa trotz der großen Krise relativ wenig gemeinsamen Widerstand? Ein kürzlich im Verlag Assoziation A erschienenes Buch mit dem Titel »Krisen Proteste« (312 Seiten, 18 Euro) gibt einige Antworten auf diese Frage und zieht eine Zwischenbilanz der Proteste, Aufstände und Streikbewegungen, die es bisher als Reaktion auf die sozialen Verwerfungen gab.

Die Ungleichzeitigkeit der Krisenpolitik und der Wahrnehmung bei den Betroffenen erschwert einen gemeinsamen Widerstand. Diese Entkoppelung stellt für die Linken ein großes Problem dar, »das keineswegs mit bloßen Appellen und weltweiten Aufrufen bewältigt werden kann«, schreiben die Herausgeber des Buches, Peter Birke und Max Henninger, in der Einleitung. In zwölf Aufsätzen, die größtenteils auf der Onlineplattform Sozial.Geschichte Online veröffentlicht wurden, werden die aktuellen Bewegungen in den unterschiedlichen Ländern auf hohem Niveau analysiert.

Zur Lage in Griechenland gibt es gleich zwei Beiträge. Während der Historiker Karl Heinz Roth die Vorgeschichte der Krise rekonstruiert und dabei auf das Interesse des griechischen Kapitals am Euro eingeht, beschäftigt sich der Soziologe Gregor Kritidis mit der vielfältigen Widerstandsbewegung der letzten Jahre. Er sieht in den Aufständen nach der Ermordung eines jugendlichen Demonstranten durch die Polizei im Dezember 2008 »die Sterbeurkunde für die alte Ordnung«. Ausführlich geht er auch auf die Bewegung der Empörten ein, die im Sommer 2011 aus Protest gegen die EU-Spardiktate öffentliche Plätze in Griechenland besetzten und mit massiver Polizeirepression konfrontiert waren. Ebenso stellt Kritidis die Bewegung zur Schuldenstreichung vor, die es seit einem Jahr gibt.

Kirstin Carls zeigt am Beispiel Italien auf, wie die technokratische Monti-Regierung in den letzten Monaten Einschnitte in die Arbeits-, und Sozialgesetzgebung umgesetzt hat, die Berlusconis Regierung nach heftigem Widerstand hatte zurückziehen müssen. Das Bündnis The Free Association liefert Hintergrundinformationen über die Proteste in Großbritannien. Zwei spanische Aktivisten beschreiben, wie sich ein Teil der Empörten, nachdem sie Zelte auf den öffentlichen Plätzen aufgegeben hatten, auf den Kampf gegen Häuserräumung und die Unterstützung von Streiks konzentrierten. Das Buch kann nach den Blockupy-Aktionstagen letzte Woche in Frankfurt wichtige Anregungen für eine Perspektivdebatte der Krisenprotestbündnisse liefern.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/227787
.analyse-der-krisenproteste-in-europa.html
Peter Nowak

Angriff der Eliten

Vor mehr als 15 Monaten sorgte der ehemalige Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab für ein großes Medienecho mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen.

Viele Bücher sind darüber in politisch guter Absicht, aber oft geringer theoretischer Fundierung verfasst wurden. Als Beispiele seien hier das als Anti-Sarrazin-Buch hochgelobte Integrations-unwillige Muslime von Ahmet Toprak oder Anti-Sarrazin von Sascha Stanicic genannt.
Die drei hier vorgestellten Bücher befassen sich mit den Vorläufern Sarrazins und den Auswirkungen der von seinem Buch ausgelösten Debatte auf einem hohen theoretischen Niveau und bleiben auch nach dem Ende des Hypes um Sarrazin lesenswert.

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Vom Zentralismus zum Kommunalismus?

Direkte Erfahrungen mit der Umstrukturierung in der kurdischen Befreiungsbewegung. Ein Erlebnisbericht vom mesopotamischen Sozialforum 2009

Im September 2009 hatte ich die Gelegenheit als Besucher des mesopotamischen Sozialforums in Diyarbakir in Ansätzen mitzubekommen, wie die in Öcalans Buch Jenseits von Staat, Macht und Gewalt skizzierten Grundsätze konkrete Auswirkungen auf die Menschen in Kurdistan haben. Die meist mehrsprachigen Veranstaltungen deckten eine große thematische Bandbreite ab. Dort ging es unter anderem um das Recht auf Bildung, drohende Kriege um Energie und Wasser und den Zustand der Gewerkschaftsbewegung im Nahen Osten. Viele Diskussionen gab es um das Projekt des Demokratischen Kommunalismus, mit dem die kurdische Bewegung die Demokratisierung der Gesellschaft voranbringen will und das in Öcalans Verteidigungsschriften eine große Rolle spielt. Es ist vom mexikanischen Zapatismus und den sozialistischen Rätevorstellungen beeinflusst und stieß auch bei den Linken aus Westeuropa auf großes Interesse. Der Interpret dieser Idee in die Vorstellungswelt der kurdischen Bevölkerung ist aber vor allem Öcalan. Seine Texte, die in der hiesigen Linken kaum wahrgenommen werden, sind für die große Mehrheit der kurdischen Bevölkerung, unabhängig von Alter und Bildungsgrad, tatsächlich eine Art Wegweiser zu Konzepten der Befreiung in der Geschichte und der Gegenwart. Mag es für theoretisch vorgebildete LeserInnen eher eine Mischung von verschiedenen theoretischen Ansätzen sein, für Teile der kurdischen Bevölkerung sind es Hinweise für die praktische Politik. Das wurde auf dem Sozialforum besonders beim Themenbereich „Patriarchat“ deutlich, dem Öcalan in seinen Schriften großen Raum widmet.

Kurdischer Gender Trouble

So befassten sich in Diyarbakir zahlreiche Arbeitsgruppen mit Diskriminierungen und Verfolgungen, denen Menschen aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt sind. Im Workshop Gender-Trouble wurde anhand von Fotos über den männlichen Blick in den Medien diskutiert. Daran nahmen Menschen allen Alters teil, von der über sechzigjährigen Frau mit Kopftuch bis zum Jugendlichen. Organisiert wurde er von der Organisation Lambda, einer Vereinigung von Bi- und Homosexuellen und Transgender-Personen in der Türkei. Diese Themen spielen nicht nur auf dem Sozialforum eine wichtige Rolle. Ein Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD) berichtete in einer Arbeitsgruppe, dass bei ihren wöchentlichen Aktionen in Diyarbakir an unterschiedliche Opfer des Staatsterrorismus erinnert wird. Dazu gehören auch die Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verschleppt und ermordet wurden. Ein aus Istanbul angereister Teilnehmer, der sich selbst als Anarchist bezeichnete, zeigte sich über die Themen und die Diskussionskultur positiv überrascht. Die kurdische Linke sei hier ein Vorreiter für linke emanzipatorische Ideen. Dort würden feministische Themenstellungen angesprochen, die in Teilen der türkischen Linken noch immer eine marginale Rolle spielen, erklärte er.

Auch über staatskritische Themen sowie eine generelle Ablehnung von Macht und Hierarchien werde in der kurdischen Linken seit einigen Jahren sehr offen diskutiert. Er könne sich mit seinen anarchistischen Vorstellungen daher in der Linken von Diyarbakir eher wiederfinden als in Istanbul, betonte der Mann, der auch bekundete für die PKK als Anarchist keine großen Sympathie gehabt zu haben.

Grenzen der Machtkritik

Auch viele westeuropäische TeilnehmerInnen des Sozialforums teilten das positive Urteil über das Sozialforum. Es sei gelungen, sich auch über kontroverse Themen in solidarischer Atmosphäre auszutauschen. Zu diesen strittigen Themen gehört die Rolle von Führungspersönlichkeiten wie Abdullah Öcalan in der linken Bewegung.

Hier liegt auch einer der größten Schwachpunkte in Öcalans Schriften. Bei aller durchaus ernsthaften Auseinandersetzung mit staats- und machtkritischen Texten und Theorien bleibt Öcalans Rolle als Prophet außerhalb jeder Kritik. Öcalans Machtkritik reicht bedauerlicherweise nicht aus , seine eigene Rolle in der Organisation zu hinterfragen.

Schwachpunkt Soziale Frage

Ein weiterer Schwachpunkt in Öcalans Schriften ist die fehlende Ökonomiekritik. Daher kommt es in den Schriften auch zu durchaus missverständlichen Formulierungen. So heißt es an einer Stelle: „Besser wäre, sich auf einen schlanken Staat zu einigen, der lediglich Aufgaben zum Schutz der inneren und äußeren Sicherheit und zur Versorgung sozialer Sicherheitssysteme wahrnimmt.“ Die Metapher vom schlanken Staat spielt heute auch oft in wirtschaftsliberalen Theorien eine große Rolle. In Öcalans Schriften sind soziale Fragen weitgehend ausgeblendet. Mehrmals verweist er ausdrücklich darauf, dass Klassenkämpfe keine große Bedeutung haben. Auch die Rolle von Gewerkschaften als Selbstorganisation der Lohnabhängigen kommt in den Schriften kaum vor. Dafür finden sich mehrere positive Bemerkungen zur sozialdemokratischen Globalisierung, die Öcalan als Alternative zum klassischen Imperialismus in die Diskussion bringt. Es gäbe also genügend kritische Fragen an Öcalans Vorstellungen zu stellen. Allerdings sollte durchaus zur Kenntnis genommen werden, dass in seinen Schriften eine mit starken geschichtlichen und mythologischen Bezügen versehene Kritik an Macht und Staat vorliegt. Diese Kritik sollte in Zukunft auch in Deutschland Gegenstand einer kritischen Diskussion sein.
http://www.direkteaktion.org/211/vom-zentralismus-zum-kommunalismus
Peter Nowak

Bürgerbeteiligung

Auf www.dialog-ueber-deutschland.de lädt die Kanzlerin ein zur Diskussion: Wie wollen wir zusammen leben? Wovon wollen wir leben? Wie wollen wir lernen? Merkel: »Jeder kann seine Ideen vorschlagen oder auf gute Praxisbeispiele hinweisen. Diese Vorschläge können dann wiederum kommentiert und bewertet werden.« Für den Publizisten Thomas Wagner ist dieser Bürgerdialog im Internet eine »Mogelpackung«: das Beispiel eines »demokratisch verkleideten autoritären Regierungsstils«. Für eine Direktwahl des Bundespräsidenten gibt es Unterstützung in allen politischen Lagern. Der konservative Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim fordert zudem einen deutlichen Machtzuwachs für das Staatsoberhaupt. Rechte Parlamentskritik betreibt auch der ehemalige Wirtschaftslobbyist Olaf Henkel. Dieser fordere eine »plebiszitär abgesicherte Elitenherrschaft«, schreibt Wagner. Bürgerbeteiligung als Vehikel für eine Verfestigung von Elitenherrschaft, mag auf den ersten Blick paradox klingen. Doch Wagner zeigt an verschiedenen Beispielen auf, wie in rechtskonservativen Kreisen mit dem Verweis auf die schweigende Mehrheit soziale Regelungen, Forderungen von Gewerkschaften, aber auch von sozialen Initiativen und Umweltverbänden ausgehebelt werden sollen. Der Parteienstaat, der unterschiedliche Interessen austarieren müsse, hindere am kraftvollen Durchregieren, lamentierten schon rechte Parlamentskritiker in der Weimarer Republik.

Peter Nowak
http://www.akweb.de/ak_s/ak571/08.htm
Thomas Wagner: Demokratie als Mogelpackung. Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus. Papyrossa-Verlag, Köln 2011. 142 Seiten, 11,90 EUR.

Netzwerk gegen Rassismus?

-nd: Frau Kleff, kürzlich wurde mit dem Domgymnasium aus Naumburg an der Saale die 1000. Schule in das bundesweite Netzwerk »Schule ohne Rassismus« aufgenommen. Dieser Tage haben Sie auf einer Tagung in Berlin über die Arbeit des Netzwerkes diskutiert. Wie hat sich seit der Gründung des Netzwerkes vor 17 Jahren die Situation in Deutschland geändert?
Kleff: Darauf hat Barbara John, die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer der rechten Mordserie, eine Antwort gegeben. Sie hat in ihrer Rede die heutige gesellschaftliche Situation skizziert und kam zu dem Schluss, dass diese in vielerlei Hinsicht nicht mehr identisch mit der Situation Mitte der 1990er Jahre ist, als wir mit unserer Arbeit begonnen haben.

Besteht der wesentliche Unterschied vielleicht darin, dass in den 1990er Jahren der Fokus auf der Abwehr rassistischer Angriffe aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft lag, während heute auch islamistische und antisemitische Tendenzen in der migrantischen Jugendszenen Thema sind?
Für uns gab es diese Unterscheidung nie. Wir haben uns immer gegen sämtliche Ideologien gewandt, die Ungleichwertigkeiten propagieren und die nach ähnlichen Mechanismen funktionieren, wie der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer auf dem Podium ausführte. Dazu gehören Rassismus, Islamismus, Homophobie und Antisemitismus. Wir wurden vor einigen Jahren noch häufig dafür kritisiert, dass wir uns nicht auf ein Feld beschränken. Heute ist der Ansatz, sich gegen alle Ideologien der Ungleichwertigkeit zu wenden, weitgehend anerkannt.

Die finanzielle Absicherung des Projekts ist seit der Gründung ein großes Problem. Gibt es Aussicht auf Verbesserung?
Die Probleme liegen auch daran, dass die Bildung in Deutschland Ländersache ist, wir aber eine Organisation mit einer Bundesstruktur sind. Wir brauchen in Zukunft Finanzierungsmodelle, die uns Planungssicherheit auch über einen längeren Zeitraum als nur die nächsten Monate gibt. Zu unserer Freude hat die Kultusministerkonferenz begonnen, unser Netzwerk zu fördern. Dadurch wächst auch auf Landesebene die Bereitschaft auf Unterstützung.

Die heutige Jugend wird von vielen als unpolitisch klassifiziert. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ich kann diese Beurteilung nicht bestätigen. Es ist richtig, dass, als wir mit unserer Arbeit begannen, ein großer Druck bestand, gegen den Rassismus aktiv zu werden. In den folgenden Jahren ging das Engagement vieler Jugendlicher zurück. Doch in den letzten Jahren ist ihr Interesse an gesellschaftlichen Fragen wieder enorm gewachsen. Ökologische Themen spielen dabei ebenso eine Rolle wie der Umgang mit privaten Daten, wie sich bei den Protesten gegen das Anti-Produktpiraterieabkommen ACTA zeigte, an denen sich viele Jugendliche beteiligten. Sie nehmen die Krisen des Systems bewusst war und reagieren darauf.

Welche Rolle kann das Netzwerk »Schule ohne Rassismus« dabei spielen?
Ich freue mich, wenn dieses Projekt es schafft, in der Schule einen Handlungsansatz zu bieten und Wege aufzuzeigen, wie sich dort etwas verändern lässt.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/226692.netzwerk-gegen-rassismus.html
Interview: Peter Nowak

Musik: Kai Degenhardt, Näher als sie scheinen

„Auch meine fünfte Platte ist selbstverständlich wieder ein politisches Limpfe singend tagespolitische Themen erörtere», schreibt der Hamburger Liedermacher Kai Degenhardt auf den Waschzettel zu seiner kürzlich veröffentlichten CD Näher als sie scheinen.
Ein singendes Flugblatt war Kai Degenhardt genau sowie wenig wie sein im letzten Jahr verstorbener Vater, der als «Väterchen Franz» seit den 60er Jahren Maßstäbe im Bereich der deutschsprachigen Chansons gesetzt hat. Kai Degenhardt steht in dieser Tradition, und doch ist ihm das Kunststück gelungen, einen unverwechselbaren Stil zu kreieren. Es ist die Härte in Text und Musik, mit der sich der Sohn eindeutig von den Arbeiten des Vaters unterscheidet. Damit zeigt er aber, wie nah er an der Realität der heutigen Arbeits- und Lebenswelt vieler Menschen dran ist. Während der alte Degenhardt in seinen Chansons noch zur Feier am «Tisch unter den Pflaumenbäumen» einladen konnte, lässt Kai Degenhardt im Song «Wendehammer-Boheme» ein dickes Imbiss-Mädchen mit «Kleinkriminellen in Adidas» und «Kifferkurt mit Lederhut» ihr Bier trinken. Für Romantik ist da ebenso wenig Platz wie für kuschelige Sitzecken. Konnte der Vater mit Rudi Schulte noch das Bild eines linken Gewerkschaftsaktivisten zeichnen, der seinen Weg geht, steht sich bei Kai im Song «Vom Machen und Überlegen» «Verdi-Willi mit Trillerpfeife und Flugblatt mit Tausenden seiner Kollegen die Füße wieder platt». Verdi-Willi ist genau so ratlos wie die Jungautome «Mari mit nem Molli in der Hand». Doch Degenhardt wendet die scheinbar ausweglose Szenerie mit dem letzten Satz: «Wo kommen wir zusammen und überlegen uns noch mal».
Nein, wir haben keine Chance, aber wir nutzen sie. Diese aus Wissen und Verzweiflung gewonnene Einsicht spricht auch aus den historischen Songs, mit denen Kai Degenhardt am Direktesten an Songs aus dem Repertoire seines Vaters anknüpft. Der Heizer Franz, der im Chanson «Herbst 1918» auf dem kaiserlichen Kriegsschiff das Feuer löschte und den Startschuss zur Revolution gab, erhielt schon Wochen später von kaisertreuen Freikorps einen Schuss in den Arm. «Und am Horizont drohte schon die braune Brut», heißt es kurz und prägnant am Ende. Im letzten, mehr als 18 Minuten dauernden Song werden zahlreiche 68er-Mythen kurz und prägnant dekonstruiert. «Sich immer wieder neu erfinden, wie bei Madonna, Apple oder Adidas», bringt Degenhardt eine ganze Philosophie mit einem Satz auf den Punkt. Aus dem Alltag gegriffen ist hier nicht nur eine hübsche Floskel. Die klappenden Mülltonnendeckel und das Katzengemieze stammen von Alltagsgeräuschen, die Kai Degenhardt mit einem Mp3-Player in den letzten Jahren in seiner Umgebung aufgenommen und dann am Rechner verfremdet hat. Degenhardt zeigt auch mit seiner neuesten Platte, dass man ein gnadenloser Realist sein kann und gerade deshalb den Traum von einer vernünftiger eingerichteten Welt nicht aufgeben muss.
Zu bestellen bei: Plattenbau, Hohe Weide 41, 20253 Hamburg, Tel.: 040/4220417, info@plattenbau.de, Plattenbau, 13 Euro
Tourdaten: www.plattenbau.de.

Kai Degenhardt


Peter Nowak

Lehrzeit keine Leerzeit

David Templin erinnert in einem Buch an den »Hamburger Aufstand der Stifte«
Ende der sechziger Jahre standen nicht nur die Studenten auf den Barrikaden, auch junge Auszubildende begannen, sich für ihre Interessen stark zu machen. Auch in Hamburg.

»Braucht Du einen billigen Arbeitsmann, schaff‘ Dir einen Lehrling an«, lautete einer der Slogans, mit denen sich junge Leute vor 40 Jahren gegen die Zustände in der Ausbildung wehrten. Dazu gehörte damals noch das obligatorische Zeitung holen, Fegen und Brötchen schmieren. Selbst Prügel vom Meister war keine Seltenheit.
Doch die Folgen der i Studierendenbewegung wirkten sich vor allem auf jüngere Arbeiter aus. Es entstand h in der ganzen BRD eine Lehrlingsbewegung,, die bisher in der Forschung kaum beachtet wurde. Doch kürzlich hat der an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg arbeitende Historiker David Templin unter dem Titel „Lehrzeit – keine Leerzeit“ im Dölling und Galitz Verlag ein Buch veröffentlicht, dass den Hamburger Aufstand der Stifte“, wie die Bewegung in der Presse häufig genannt wurde, untersucht.. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem Hamburger DGB und den Aktivisten der Lehrlingsbewegung nimmt in Templins Untersuchung einen großen Raum ein.
Ebenso wird an die in der Hamburger Akademie für Wirtschaft und Politik aktive gewerkschaftlichen Studentengruppe (GSG) erinnert. Die beiden Aktivisten Reinhard Crusius und Manfred Wilke, die sich selber als Linkssozialisten verstehen, haben eine wichtige Rolle beim Entstehen der Lehrlingsbewegung. Ihnen gelingt der Spagat, die Strukturen des DGB zu nutzen und trotzdem die politische Autonomie zu wahren. So wurde ein vom Hamburger DGB unterstützter Jour Fixe für eine kurze Zeit zum lebendigen Zentrum der Lehrlingsbewegung in der Hansestadt. Die Gründung dieses Gremiums war auch eine Folge von außerparlamentarischen Druck, nachdem die 1.Mai-Kundgebung des DGB 1969 massiv von Gruppen der neuen Linken, darunter vielen Lehrlingen gestört worden war. Mit dem Jour Fixe versuchte der DGB verlorenes Vertrauen der Jugend zurück zugewinnen.
Zu Konflikten kam es in dem Jour Fixe bald mit den unterschiedlichen kommunistischen Gruppen, die Anfang der 70er Jahre in die Lehrlingsbewegung intervenierte. Dabei war die DKP-nahe Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) anfangs am erfolgreichsten. Die Mitgliederzahlen stiegen zunächst und auch im DGB-Jugendapparat konnte die Organisation Posten besetzen.
Heftige Kritik an ihren Positionen kam nicht nur von den diversen maoistisch ausgerichteten Gruppierungen, sondern auch von der linkssozialistischen GSG. Wilke und Crusius warfen der SDAJ sogar vor, gemeinsam mit dem DGB-Apparat die Lehrlingsbewegung in Hamburg abgewürgt zu haben.
Diese Einschätzung teilt Templin nicht. „Mit ihrer auf Organisationshandeln fixierten These tendieren beide dazu, zu übersehen, dass der Welle des politischen Aufbegehrens von Lehrlingen, die 1969 einsetzte, seit 1971 abebbte.“
Dazu hatte die Line vieler maoistischer Gruppierungen beigetragen, dass eine eigene Lehrlingsorganisierung die Klasse spalten. Aber auch Reformen der sozialliberalen Koalition, die den Fokus auf die Ausbildung und nicht mehr auf des Bierholen legten trug zum
Abebben der Bewegung bei. Vierzig Jahre später ist es das Verdient von Templin an die fast vergessene Gesichte angeknüpft zu haben. Es ist zu hoffen, dass auch aus anderen Teilen der Republik über die Lehrlingsbewegung geforscht wird. Schließlich konnten heute Azubis davon etwas lernen. Schließlich ist der Druck auf sie im Zeiten von wachsenden Niedriglohnsektoren sogar noch. gewachsen.

Peter Nowak
https://www.neues-deutschland.de/artikel/225914.lehrzeit-keine-leerzeit.html
David Templin: „Lehrzeit – keine Leerzeit!“ « Die Hamburger Lehrlingsbewegung 1968 – 1972, Dölling und Galitz Verlag, 194 Seiten, 10.00 €, ISBN 9-783862 180189

Eine Lehre fürs prekäre Leben

Vor 40 Jahren begann der Niedergang der Lehrlingsbewegung, aus der auch Ton Steine Scherben hervorgingen. Angesichts der prekären Situation von Auszubildenden heutzutage wäre es an der Zeit für eine Wiederbelebung.

Ein Film, der kürzlich in den Kinos angelaufen ist, trägt den Titel »Die Ausbildung«. Regisseur Dirk Lütter schildert darin die Zwänge der neoliberalen Arbeits- und Bürowelt aus der Sicht ­eines Auszubildenden (Interview Jungle World 12/2012). Der Protagonist Jan, der eine Lehre in einem Callcenter absolviert, wird in einer Rezension der Taz als »Azubi am unteren Ende der Hackordnung« beschrieben. Auffallend sei die Uniformität, die im Büro herrsche. Alle tragen »dieselben korrekt gescheitelten Frisuren« und heißen »Jan, Jens oder Jenny«, bei den Prota­gonisten handele es sich um »prekär beschäftigte Klone«. Angesichts solcher Befunde stellt sich die Frage, ob sich wirklich viel verbessert hat im Vergleich zu jener Zeit, als anstelle von Azubis von Lehrlingen oder ganz altmodisch von »Stiften« die Rede war. Abgesehen davon, dass es damals undenkbar gewesen wäre, den Chef zu duzen, und die Zuständigkeit fürs Zigarettenholen noch zum Alltag von Lehrlingen gehörte.

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Zur Abschaffung der Leiharbeit

Die Berliner Journalisten Andreas Förster, Holger Marcks widmen sich in ihrem gerade im Unrast-Verlag erschienen Büchlein „Zur Abschaffung der Leiharbeit“ mit dem eigentlichen Boom-Sektor in der deutschen Wirtschaft.
Die ökonomischen Rahmenbedingungen dafür werden in mehreren Kapiteln nicht nur in Deutschland nachgezeichnet. Matthias Seiffert untersucht die Bedingungen für die Leiharbeit im EU-Raum. Bisher ist Griechenland mit 0,1 % der Leiharbeiter noch ein Schlusslicht. Das dürfte sich mit der Etablierung eines EU-Krisenprotektorats für das Land ändern.
Mehrere Kapitel widmen sich den gewerkschaftlichen Diskussionen zur Leiharbeit. So hat das von der IG-Metall initiierte Netzwerk „ZeitarbeiterInnen – ohne Organisation machtlos“ (ZOOM) die Parole “Leiharbeit fair gestalten“ durch die Forderung „Gleiche Arbeit – gleiches Geld“ ersetzt. Der Münsteraner Soziologe Torsten Bewernitz gibt einen kurzen Überblick über Widerstandsaktionen gegen die Leiharbeit in Deutschland. Er erwähnt Proteste gegen die Leiharbeitsmessen und Jobbörsen, geht auf Leiharbeitsspaziergänge ein, bei denen bekannte Firmen aufgesucht wurden und erinnert an dem Streik bei einer Leiharbeitsfirma in Frankfurt/Main im Dezember 2005. Das Büchlein gibt einen guten Überblick über die Debatte.
http://medien-kunst-industrie.bb.verdi.de/sprachrohr/#ausgaben-2012
Peter Nowak

Andreas Förster, Holger Marcks (Hg.), Knecht zweier Herren
Zur Abschaffung der Leiharbeit, Münster November 2011,
ISBN: 978-3-89771-112-9Ausstattung: br., 78 Seiten, 7.80 Euro

Die trüben Quellen des Thilo Sarrazin

Die von dem ehemaligen Berliner Senator und späteren Vorstandsmitglied der Deutschen Bank Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ ausgelöste Debatte ist mittlerweile fast 15 Monate alt. Das von dem Autorenduo Thomas Wagner und Martin Zander verfasste Büchlein ist trotzdem noch mit Gewinn zu lesen.

In 12 gut lesbaren Kapiteln spüren sie den ideologischen Quellen nach, denen sich Sarrazin bediente. Darunter befinden sich die USA-Autoren Richard Herrnstein und Charles Murray, die 1994 mit ihrem in rechtslastigen Kreisen gefeiertem Buch „Die Glockenkurve“ die These von der genetisch vererbbaren Intelligenz verbreiteten Statt Programme zur Bekämpfung von Armut forderten sie mehr staatlichen Druck auf die Armen. Damit sprechen sie auch vielen Sarrazin-Fans aus dem Herzen. Eine weitere seiner trüben Quellen ist der Humangenetiker Volkmar Weiss, der bisher als Autor verschiedener rechtslastiger Zeitungen und als von der sächsischen NPD-Fraktion als Gutachachter in die Enquetekommission zur demographischen Entwicklung Deutschlands berufene Experte seine Thesen verbreite. Mit der Sarrazin-Debatte wurden sie auch in der Mitte der Gesellschaft verbreitet. Wagner und Zander sensibilisieren ihre Leser dafür.

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»Generalstreiks sind wichtige Waffen«

Florian Wilde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung über politische Streiks

Florian Wilde: Der 35-Jährige ist Wissenschaftlicher Referent für Arbeit, Produktion und Gewerkschaften im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

nd: Warum beschäftigt ihr euch am 5. Mai auf der Konferenz »Politische Streiks im Europa der Krise« gerade mit diesem Thema?
Wilde: Seit dem Ausbruch der Krise erleben wir in Europa eine Welle von politischen Generalstreiks. In den Jahren 2010 und 2011 griffen Gewerkschaften 24 Mal zu diesem Mittel. In diesem Jahr gab es bereits Generalstreiks in Griechenland, Spanien, Portugal, Belgien und Italien. Wir wollen auf der Konferenz die konkreten Erfahrungen mit politischen Streiks im europäischen Ausland diskutieren und nach Erfolgen und Niederlagen fragen.

Wie grenzt ihr den politischen Streik von anderen Arbeitsniederlegungen ab?
Während bei anderen Arbeitsniederlegungen der Adressat die Unternehmen sind, sollen beim politischen Streik immer auch gegenüber dem Staat Forderungen durchgesetzt werden. Dabei muss nicht jeder politische Streik die Form eines Generalstreiks annehmen. Doch jeder Generalstreik ist besonders in Zeiten der Krise politisch, in denen die meisten Regierungen mit ihrer Kürzungspolitik unverhüllt Kapitalinteressen vertreten. Generalstreiks sind daher zu einem entscheidenden Instrument für die Verteidigung der Interessen der abhängigen Beschäftigten geworden. Sie sind dabei auch wichtige Waffen im Kampf zur Verteidigung der Demokratie gegen die Märkte.


Ist eine Unterscheidung in politische und ökonomische Streiks überhaupt sinnvoll?

Ja, schon alleine weil erstere in Deutschland nach vorherrschender Rechtsauffassung als verboten gelten. Interessant ist, das die Zahl ökonomischer Streiks in Europa in den letzten 30 Jahren deutlich zurückging, während die Zahl an Generalstreiks seit den 80er Jahren steigt. Allerdings macht es keinen Sinn, ökonomische gegen politische Streiks zu stellen: Je stärker Gewerkschaften bei den einen sind, um so durchsetzungsfähiger werden sie auch bei den anderen sein.

Welche Erfahrungen gab es mit politischen Streiks im EU-Raum in der letzten Zeit?
Die massive Zunahme politischer Generalstreiks führte bisher leider nicht zu durchgreifenden Erfolgen der Gewerkschaften. Punktuell konnten Kürzungspläne abgemildert werden, eine generelle Abkehr von der Austeritätspolitik konnte noch in keinem Land durchgesetzt werden. Die Gründe wollen wir auf der Konferenz diskutieren.

Werden auch aktive Gewerkschafter aus Deutschland auf dem Kongress auftreten?

Das Interesse aktiver Gewerkschafter an der Konferenz ist groß, wir rechnen damit, dass viele an den Debatten teilnehmen werden. Wir freuen uns sehr, mit dem Linksparteivorsitzenden Klaus Ernst, einen ehemaligen Ersten Bevollmächtigten der IG Metall, der selbst politische Streiks gegen die Rente mit 67 mitorganisierte, als Eröffnungsredner gewonnen zu haben. Mit dem ehemaligen IG-Medien-Vorsitzenden Detlef Hensche spricht ein profilierter Streiter für politische Streiks auf dem Abschlusspodium.

Welche Rolle haben Sparten- und Branchengewerkschaften, die in der letzten Zeit oft viel kämpferischer als DGB-Gewerkschaften sind, beim politischen Streik?
Im Fokus stehen die DGB-Gewerkschaften. Wir wollen die dort geführten Debatten um politische Streiks unterstützen. Kleinere kämpferische Gewerkschaften könnten bei politischen Streiks eine wichtige Rolle spielen. Entscheidend ist aber die Haltung der DGB-Gewerkschaften als Massenorganisationen der Arbeitnehmer.

Infos zur Konferenz: www.rosalux.de
http://www.neues-deutschland.de/artikel/225272.generalstreiks
-sind-wichtige-waffen.html

Bürgerbeteiligung als Absicherung von Elitenherrschaft?

Der Soziologe Thomas Wagner setzt sich kritisch mit Diskussionen über Bürgerbeteiligung auseinander
Der Verein „Mehr Demokratie e.V.“, der sich für Volksentscheide einsetzt, erfreut sich nicht nur bei außerparlamentarischen Initiativen großer Beliebtheit. Zum zwanzigjährigen Jubiläum des Vereins gratulierten Politiker aller politischen Lager. Bürgerbeteiligung ist mittlerweile zum Modebegriff geworden, und scheinbar finden alle Bürgerbeteiligung gut. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Begriff?

Der Publizist Thomas Wagner hat sich diese Frage gestellt und kommt in dem vor Kurzem im Papyrossa-Verlag erschienenem Buch „Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus“ zu Antworten, die auch manche Freund/innen der Bürgerbeteiligung in außerparlamentarischen Initiativen nachdenklich stimmen dürften. Er weist dort nach, dass mit dem Gerede von Bürgerbeteiligung manchmal die Herrschaft der Eliten sogar stabilisiert werden soll. Was auf den ersten Blick paradox klingen mag, erklärt sich, wenn Wagner untersucht, was mit dem „Bürger“ gemeint ist, der sich da beteiligen soll.

Ausführlich setzt sich der Autor mit einer konservativen Parlaments- und Parteienkritik auseinander, die den „Bürger“ ins Feld führt, um gegen angebliche Sonderinteressen zu polemisieren. Dabei gehe es vor allem darum, den Einfluss organisierter Interessenvertretungen der Lohnabhängigen und der Erwerbslosen zu minimieren, betont Wagner. Er zeigt an verschiedenen Beispielen auf, wie in rechtskonservativen Kreisen mit dem Verweis auf die schweigende Mehrheit soziale Regelungen, Forderungen von Gewerkschaften, aber auch von sozialen Initiativen und Umweltverbänden ausgehebelt werden sollen. Dass es sich dabei nicht nur um theoretische Überlegungen handelt, zeigte das Volksbegehren zur Hamburger Schulreform im Juli 2010. Damit hatte sich ein Bündnis aus Elite und Mittelstand gegen die Kinder von einkommensschwachen Familien durchgesetzt. In einer Zeit, wo Vorstellungen einer solidarischen Gesellschaft nicht besonders weit verbreitet sind, dürften sich solche Initiativen durchaus wiederholen. Zudem stehen sie in einer Tradition, denn der Parteienstaat, der unterschiedliche Interessen austarieren muss, hindere am kraftvollen Durchregieren, lamentierten schon rechtskonservative Parlamentskritiker in der Weimarer Republik, wie Wagner nachweist.Wie sollen soziale Initiativen reagieren, wenn Bürgerbeteiligung und Parlamentskritik zum Vehikel für „plebiszitär abgesicherte Elitenherrschaft“ zu werden droht? Diese Frage kommt in Wagners Buch leider etwas kurz. Die Selbstorganisation am Arbeitsplatz, im Stadtteil und im Jobcenter wäre eine solche Alternative. Dass sie bei Wagner nur am Rande erwähnt ist, ist nicht unbedingt ein Manko des Buchs, schließlich muss sie in der konkreten Praxis hergestellt werden. Wagner zeigt aber mit seinen Buch auf, dass längst nicht alles, was unter dem Label Bürgerbeteiligung gehandelt wird, mit Selbstermächtigung und Selbstorganisation verbunden ist.

„Zwar war der Ruf nach mehr direkter Demokratie selten lauter als heute, doch nie zuvor war er auch so ambivalent. Denn während die Forderung zu Zeiten des gesellschaftlichen Aufbruchs der 60er und 70er Jahre in der BRD meist mehr oder weniger eng mit dem Ziel verknüpft war, die Macht der Konzerne zu brechen und auch die Wirtschaft zu demokratisieren, hat heute längst nicht jeder, der den Wähler als Souverän beschwört, die Machenschaften politischer Eliten an den Pranger stellt, für Volksabstimmungen und mehr direkte Demokratie wirbt, wirklich den Abbau von Herrschaft und Ungleichheit im Sinn. Selten wird die Forderung noch mit einer umfassenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse verknüpft. Von einer Erweiterung des öffentlichen statt des privaten Sektors – Rätedemokratie, Arbeiterselbstverwaltung, Genossenschaften – oder selbst von betrieblicher Mitbestimmung und sozialen Sicherungssystemen, geschweige denn von demokratischer Planung des Wirtschaftslebens oder gar einer grundlegenden Veränderung der Eigentumsverhältnisse ist in den heutigen Diskussionen über mehr Bürgerbeteiligung, Volksinitiativen und Volksabstimmungen so gut wie gar nichts zu hören.“ „Wer sich die Forderung nach mehr Demokratie auf die Fahnen schreibt, kann in der Regel mit einer positiven Resonanz rechnen. Das politische Zauberwort verspricht eine größere Beteiligung der Menschen an die sie betreffenden Entscheidungen, Befreiung von Fremdbestimmung und repressiver Herrschaft. Das Engagement für direkte Demokratie steht zweifellos in einer guten Tradition. Seit den Tagen der Aufklärung zielt fortschrittliche Politik darauf, dass die Bürger selbst über ihre Angelegenheiten entscheiden. Echte Demokratie diesem Sinne verlangen heute die Revolutionäre in der arabischen Welt, die Demonstranten in Griechenland, aber auch die gegen Arbeitslosigkeit, das Finanzdiktat der EU und ihre wortbrüchige Regierung revoltierenden spanischen Bürger.“

Thomas Wagner: Demokratie als Mogelpackung. Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Köln 2011, Papyrossa-Verlag, 142 Seiten, 11,90 Euro, ISBN: 978-3-89438-470-8

Peter Nowak
aus Mieterecho 353, März 2012

http://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2012/me-single/article/
buergerbeteiligung-als-absicherung-von-elitenherrschaft.html
Peter Nowak

Das Lied der Commune

Manfred Sohn hofft auf einen neuen Anlauf

Gewiss, doch sie kommt, die Kirschenzeit. Wenn die Nachtigall singt, die Spottdrossel singt, in das Lied der Commune«, sang der linke Barde Franz Joseph Degenhardt in den 70er Jahren. Dem damaligen mamarxistischen Gewerkschaftler Manfred Sohn scheinen die Zeilen nicht aus dem Kopf gegangen zu sein Diesen Erinnerungen ist es zu verdanken, dass auf dem Cover des kürzlich im Papyrossa-Verlag erschienenen Buches von Sohn mit dem optimistischen Titel „Der dritte Anlauf – Alle Macht den Räten“ zwei Kirschen prangen. Der niedersächsische Landesvorsitzende der Linken singt in dem Buch tatsächlich ein neues Lied der Pariser Commune, die für einen neue sozialistische Bewegung mehr als die ehemalige Sowjetunion ein Vorbild sein soll. Dabei gelingt es ihm gleich im ersten seiner neun Kapitel des einfach zu lesenden Buches eine erstaunliche Präzisierung des Kommunegedankens. Dort zieht er eine Linie von der Pariser Commune zur aktuellen Kommunalpolitik, auf die er sich als Politiker der Linken besonders konzentriert. Er beschreibt, wie im Zeichen von Schuldenbremsen und Spardiktaten die politischen Spielräume für die Kommunen immer enger werden. Güter der Daseinsvorsorge werden privatisiert, Kultureinrichtungen geschlossen. Dagegen setzt Sohn auf eine Kommune, deren Bewohner die Interessen selbstbewusst vertreten und landet wieder bei der Pariser Kommune. Im folgenden Kapitel setzt sich Sohn mit der politischen Verarbeitung der kurzen Geschichte der Pariser Kommune in der marxistischen Literatur auseinander und kommt zu dem Schluss, dass Marx und Engels der Dezentralität eine wichtige Vorbildrolle für andere sozialistische Entwicklungen zugesprochen haben, die in der Sowjetunion aber schnell in Vergessen gerieten. Über die von Karl Marx verfasste Schrift: „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ schreibt Sohn: „Alles, was im weiteren Text dieses kleinen Büchleins als dezentralisierter Sozialismus, als Stärkung der Kommune gedacht war, steht unter dem Generalvorbehalt der Verknüpfung mit Eigentumsfrage“. Die ist für ihn bis heute zentral. „Gibt die Verfassung unserer Kommunen alle Macht in die Hand und lass der Deutschen Bank und den vier großen Energiekonzernen… ihr Eigentum und die scheinbare kommunale Macht wird regelmäßig zur Lachnummer“, schreibt der Autor und dürfte bei vielen Initiativen, die mit Referenden für die Rekommunalisierung von Gütern der Daseinsvorsorge kämpfen, auf Zustimmung stoßen.

Neben dem Rätegedanken widmet sich Sohn der überwiegend von Frauen geleisteten Reproduktionsarbeit, der er eine zentrale Rolle bei einen neuen sozialistischen Anlauf zuspricht. In mehreren Kapiteln beschäftigt er sich mit Schriften Rosa Luxemburgs dazu, und geht auch auf die aktuelle Debatte in der Linkspartei ein So beschäftigt er sich kritisch-solidarisch mit der von der feministischen Sozialistin Frigga Haug in die Debatte gebrachten Modelle der Neuregelung Lebens- und Arbeitszeit. Mit seiner Verknüpfung von Dezentralisierung und Reproduktionsarbeit hat Sohn wichtige Gedanken formuliert, die auch bei sozialen Initiativen außerhalb der Linkpartei sowie bei Feministinnen auf Interesse stoßen dürften. Dem belesenen Autor gelingt es, seine aktuellen Thesen mit historischen Schriften der Arbeiterbewegung zu belegen. Allerdings überzeugen seine auch in der feministischen Debatte umstrittenen Ausflüge in die Matriarchatsforschung ebenso wenig, wie sein kurzer Bezug auf den Zinstheoretiker Silvio Gesell. Warum Sohn den erklärten Antimarxisten Gesell überhaupt erwähnt und dabei die lange Debatte über die antisemitischen Implikationen von dessen Geld- und Zinstheorie ausblendet, bleibt offen. . Trotz dieser Kritikpunkte liefert der Autor mit dem Buch ein Diskussionsangebot auch für Linke ohne Parteibuch.


Manfred Sohn: Der dritte Anlauf – Alle Macht den Räten. Papyrossa Verlag, Köln 2012, 180 Seiten, 12,90 Eur
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https://www.neues-deutschland.de/artikel/221152.das-lied-der-commune.html
Peter Nowak

Behinderung bei Bildung?

Kampagne für jugendliche Flüchtlinge / Rena Huseinova ist Sprecherin der 2005 gegründeten Initiative Jugendliche ohne Grenzen (JoG)

nd: Was ist das Ziel der gestern gestarteten Kampagne Bildung(s)los?
Huseinova: Wir wollen damit anlässlich der in Berlin tagenden Kultusministerkonferenz die Forderung nach freier Bildung und Ausbildung für alle Jugendliche mit Flüchtlingshintergrund unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus erreichen.
Wer unterstützt die Forderung?
In dem Bündnis sind unter anderem die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der AWO Bundesverband, die Grüne Jugend, die Jusos, Flüchtlingsräte und Migrantenselbstorganisationen vertreten. Unterstützt werden wir auch von
Bildungsexperten wie Lothar Krappmann, der bis Frühjahr 2011 Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes war und im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung tätig ist. Er betont die
Bedeutung der Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen mit Flüchtlingshintergrund auf ihre Bildungschancen.
Wo bestehen bisher die Hürden beim Bildungszugang dieser
Jugendlichen?

Viele Flüchtlinge sind sehr isoliert in Heimen untergebracht. Durch die Residenzpflicht und Wohnrechtsauflagen werden sie gehindert, den Landkreis des für sie zuständigen Ausländeramtes zu verlassen. Dadurch können Jugendliche in
zahlreichen Fällen Schulen, Ausbildungs- oder Praktikumsplätze nicht erreichen. Davon sind bundesweit ca. 47000 Kinder und Jugendliche betroffen. Die offiziellen Stellen, wie aktuell die Kultusministerkonferenz betonen einerseits, wie wichtig eine Ausbildung
für die Jugendlichen ist, anderseits erteilen die Ausländerbehörden Ausbildungs- Arbeits- und Studienverbote, das ist doch absurd.
Gibt es dabei Unterschiede in den Bundesländern?
Ja, in einigen Bundesländern wie in Berlin gibt es erkennbare Versuche, die Bildungsmöglichkeiten für
alle Jugendlichen umzusetzen. Besonders restriktiv ist die Situation in Niedersachsen. Aktuell ist uns ein Geschwisterpaar bekannt, dass einen Ausbildungsplatz nicht antreten kann, weil das Ausländeramt keine Beschäftigungserlaubnis gibt.
Sind Ihnen Fälle bekannt, wo sich Jugendliche über das Verbot hinweg gesetzt haben, um an Bildungsmaßnahmen teilzunehmen und deswegen bestraft wurden?
Nein, das Problem ist, dass die Einstellung mit bestimmten Kriterien verbunden ist. Kein Arbeitgeber oder Bildungsträger stellt Jugendliche ein, wenn das Ausländeramt nicht
zustimmt. Das gilt übrigens auch für unbezahlte Praktika. Es handelt sich also hier um eine massive Benachteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Was ist im Rahmen der Kampagne geplant?
Wir haben am 8.März der Kultusministerkonferenz unseren Forderungskatalog übergeben. Dafür werden auf unser Kampagnenhomepage www.bildung.jogspace.net
Unterschriften gesammelt. Über weiter Schritte entscheiden wir auf unserer Bildungskonferenz, die wir parallel zur Kultusministerkonferenz an der Humboldtuniversität in Berlin veranstalten.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/220751.behinderung-bei-bildung.html
Interview: Peter Nowak