Der 60. Geburtstags von Deutschlands bekanntestem und berüchtigstem Boulevard-Blatt »Bild« ist schon eine Weile her, doch die Kritik am Springer-«Zentralorgan« ist nach wie vor aktuell. Zum Springer-Geburtstag haben die Soziologen Britta Steinwachs und Christian Baron unter dem Titel »Faul, frech, dreist« eine Untersuchung veröffentlicht, die sich anders als viele andere »Bild«-Kritiken nicht mit der Zeitung, sondern mit den Lesern des Blattes beschäftigt. Grundlage ist dabei die Berichterstattung über den vor einigen Jahren von »Bild« zu »Deutschlands frechsten Arbeitslosen« stilisierten Arno Dübel. Erstmals wurden auch die Postings auf bild-online ausgewertet. Auf mehr als 20 Seiten sind sie zum Teil im Anhang abgedruckt. Auch wenn dieser Anhang etwas lang geraten ist, ist die Lektüre doch erhellend, weil man hier einen ungefilterten Eindruck von »Volkes Stimme« bekommt. Denn die Internetpostings drücken deutlicher als die gedruckten Leserzuschriften aus, was relevante Teile der Bevölkerung über Menschen denken, die dem Arbeitsmarkt aus welchen Gründen auch immer nicht zur Verfügung stehen. Den Online-Kommentatoren gilt es geradezu als Unverschämtheit, nicht jede Arbeit anzunehmen. Selbst Krankheit und Alter sind dabei kein Milderungsgrund.
Mindestens zur »Pappe aufheben im Park« oder »Einkaufswägen zusammenstellen« müsse man Dübel verurteilen. Selbst bei der Minderheit, die Dübel gegen besonders harte Anwürfe in Schutz nimmt, empfängt Dübel kein Mitleid. Nur ganz wenige erinnern an internationale Bestimmungen, die es verbieten, einen offensichtlich kranken Mittfünfziger einfach dahinvegetieren zu lassen.
Aus diesen Zitaten folgern Steinwachs und Baron, dass »Bild« weniger ein Manipulationsmedium ist und vielmehr reaktionäre Stimmungen aufnimmt, die bereits in Teilen der Bevölkerung vorhanden sind. »Bild« gießt diese Stimmungen in Schlagzeilen und macht sie kampagnenfähig, so das Fazit der beiden Autoren.
Dass dabei unterschiedliche Minderheiten zur Zielscheibe werden können, gehört ebenfalls zur 60-jährigen Geschichte der »Bild«. Die langhaarigen Studenten während der Studentenunruhen in den späten 1960ern werden heute abgelöst vom »frechen Arbeitslosen«. Damals schuf die »Bild«-Hetze ein Klima, in dessen Folge die Schüsse auf den Studentenführer Rudi Dutschke fielen. Ähnliches, wenngleich mit glimpflicherem Ausgang, widerfuhr Arno Dübel. In Mallorca wurde er von einer Rentnerin angegriffen, die der Meinung war, er verprasse ihre Steuergelder.
Das Buch liefert Argumente für alle, die noch immer keinen Frieden mit »Bild«gemacht haben.
Christian Baron, Britta Steinwachs: Faul, frech, dreist. Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch BILD-Leser*innen, Edition Assemblage, Münster 2012, 143 Seiten, 14,80 Euro.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/801801.volkes-stimme-ungefiltert.html
Peter Nowak
Fragen an Christoph Schulze, Mitarbeiter der Opferperspektive Brandenburg, die rechte Vorfälle
dokumentiert und Opfer rechter Gewalt berät.
Die rechten Drohungen gegen die Lausitzer Rundschau in Spremberg haben vor einigen Wochen bundesweit Aufsehen erregt.
CHRISTOPH SCHULZE: Dass eine gesamte Lokalredaktion im Visier von Neonazis steht, war mir zumindest
bisher nicht bekannt und zeugt vom gestiegenen Selbstbewusstsein der Rechten. Deshalb hat die Aktion in
der Tat eine neue Qualität. Dass Pressevertreter in den Fokus der Rechten geraten, ist allerdings weder neu
noch überraschend. So wurde die Journalistin Andrea Röpke, die seit Jahren über die rechte Szene schreibt, von Neonazis angegriffen und geschlagen. Auch Fotojournalisten geraten immer wieder ins Visier der Rechten, so unter anderem bei einem Neonaziaufmarsch am 1. Mai 2010 in Hamburg.
Sind Ihnen auch aus der Region solche Angriffe gegen Journalisten bekannt?
C.S.: Ja, so wurde der Journalist Peter Huth aus der Uckermark bedroht, der sich in journalistischen Beiträgen
seit Jahren mit der rechten Szene auseinandersetzt. Immer wieder erhalten Journalisten, die sich kritisch
mit den Neonazis beschäftigen, Drohbriefe.
Sind die Angriffe auf die Lausitzer Rundschau Indiz für eine neue rechte Szene, die mit solchen Ak-tionen
von sich reden macht?
C.S.: In der jüngeren Generation der Neonazis ist grundsätzlich eine gesteigerte Gewaltbereitschaft sowie
die Suche nach neuen politischen Ausdrucksformen festzustellen. Dazu gehören auch maskierte Nachtde-monstrationen, wie sie eine Neonazigruppe unter dem Namen »Die Unsterblichen« am Vorabend des 1. Mai
2011 erstmals durchführte und mit PR-Methoden propagierte. Inzwischen wurden diese Aktionen dutzendfach
in anderen Städten wiederholt. In der Lausitz hat sich eine Neonaziformation »Spreelichter« damit hervorgetan. Es gibt starke Indizien, dass aus ihrem Umfeld auch die Angriffe auf die Lausitzer Rundschau ausgehen.
Wo liegt der Grund für diese Art von neuem rechten Aktivismus?
C.S.: Ich sehe das als einen Erfolg der Nazigegner, die mit erfolgreichen Blockadeaktionen wie in Dresden
und anderen Städten rechte Aufmärsche erfolgreich be- oder verhinderten.
Am 12. Mai wurden auch linke Jugendliche in Spremberg angegriffen. Zeigt sich in den Reaktionen
darauf ein Ungleichgewicht an öffentlicher Aufmerksamkeit?
C.S.: Nein, die Aufmerksamkeit, die durch Drohungen gegen die Lausitzer Rundschau auf die rechte Szene
in der Region gelenkt wurde, hat dazu geführt, dass auch Angriffe auf Punks in einer größeren Öffentlichkeit
wahrgenommen wurden. Denn dass es eine aktive Neonaziszene in Spremberg gibt, ist nun wahrlich
nichts Neues. Es ist aber bislang kaum gelungen, darüber breiter zu debattieren. Unabhängig von den letzten Angriffen ist inzwischen in vielen Medien eine größere Sensibilität für Opfer rechter Gewalt entstanden, was
sich beispielsweise bei den Angriffen auf die Jugendlichen in Spremberg zeigte. Immer mehr Redaktionen berichten über rechte Aktivitäten vor Ort. Die Zeiten, als darüber geschwiegen wurde, weil man das »eigene
Nest« nicht mit schlechten Nachrichten in Misskredit bringen wollte, gehören zum Glück weitgehend
der Vergangenheit an.
Aber gibt es nicht noch immer das Argument, dass die Touristen wegbleiben, wenn wir über rechte Vorfälle schreiben?
C.S.: Solche Stimmen gibt es auch heute noch vereinzelt. Doch auch da hat sich quer durch alle Parteien
einiges verändert. Ein gutes Beispiel ist der Umgang der Verantwortlichen in Neuruppin mit der Neonaziszene.
Die rechten Vorfälle werden ausführlich dokumentiert, Menschen, die sich dagegen wehren, werden aktiv
unterstützt. Dieses offene Engagement gegen Rechts führt gerade nicht dazu, dass die Touristen wegbleiben.
Im Gegenteil: Weil sich mittlerweile rumgesprochen hat, dass Rechte in Neuruppin keine Chance
haben, kommen mehr Menschen dorthin.
INTERVIEW: PETER NOWAK
http://medien-kunst-industrie.bb.verdi.de/sprachrohr/#ausgaben-2012
Andreas Kemper vertritt studierende »Arbeiterkinder« an der Uni Münster
nd: Sie gehören zu den Initiatoren des deutschlandweit bislang einmaligen Referats »Arbeiterkinder« an der Universität Münster. Der AStA der Uni wollte das Referat nach rund zehn Jahren Existenz jetzt rechtlich und sozial absichern. Ein entsprechender Beschluss des Studentenparlaments wurde von der Unileitung aber gekippt. Wie erklären Sie sich diese Ablehnung?
Dass sich das Rektorat kaum Gedanken über die studierenden Arbeiterkinder macht hat historische Gründe. So gab es bis in die späten 1960er Jahre hinein an der Uni-Klinik Münster Dekane, die in der Nazizeit an Zwangssterilisierungen von Arbeiterkindern beteiligt waren. Der bekannteste Fall ist der Doktorvater von Mengele, Otmar von Verschuer, der bereits als Freikorps-Adjutant nach dem Ersten Weltkrieg an standrechtlichen Erschießungen von aufständischen Arbeitern beteiligt war.
Gibt es auch aktuelle Beispiele für die Ignoranz gegenüber Arbeiterkindern?
A.K.: Ja. Die Uni Münster setzt eine Kann-Bestimmung nicht um, die es Kindern aus der Arbeiterschicht erleichtert, ein Deutschland-Stipendium zu erhalten, dass eingeführt wurde, um genau diese Studierenden zu unterstützen. Ein anderer Fall: Vor zehn Jahren beauftragte das Rektorat das HIS, um eine Erhebung über die Bedürfnisse und Probleme der Studierenden der Uni Münster durchzuführen. Bei der Auswertung wurde allerdings darauf verzichtet, die soziale Herkunft auszuwerten.
Welche Schwerpunkte hat das Referat Arbeiterkinder in seiner Arbeit?
A.K.: Das Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende (Fikus), so die offizielle Bezeichnung, soll die Situation von Arbeiterkindern im Bildungssystem und explizit an Hochschulen verbessern. Dies wird in erster Linie als bildungspolitischer Auftrag verstanden. Es findet zwar auch Beratung und direkte Unterstützung statt, aber in erster Linie geht es darum, die Ursachen von Bildungsbarrieren zu ermitteln und zu bekämpfen. Daher haben wir in den letzten zehn Jahren über einhundert Veranstaltungen mit Bildungsforschern und fünf Tagungen mitorganisiert.
Also nicht nur Service sondern auch Politik?
A.K. : Das Referat ist kein Service-Referat. Darin unterscheidet es sich fundamental von Arbeiterkind.de, die explizit unpolitisch sind und nur helfen wollen. Zur Arbeit der Fikus-Referates gehörte die Zusammenarbeit mit Leuten, die gegen das Bibliotheken-Sterben vorgingen, vor allem ging es darum, Stadtteilbibliotheken in ressourcenarmen Stadtteilen zu retten. Wir waren engagiert gegen Studiengebühren und gegen Latein-Voraussetzungen. Und wir sehen unsere Aufgabe darin, Arbeiterkinder im Bildungsbereich zu organisieren und zu vernetzen. Zu dieser Vernetzung gehört, andere Arbeiterkinderzusammenschlüsse zu unterstützen, außerdem arbeiten wir mit entsprechenden Organisation in Wien und den Vereinigten Staaten zusammen. Nicht zuletzt geht es auch um inhaltliche Auseinandersetzungen zu dem Thema. Und uns ist wichtig, dass soziale Herkunft als Diskriminierungsgrund anerkannt wird.
Wie soll es nach der Ablehnung weitergehen?
A.K. Am 16.10. wird auf einer Vollversammlung der studierenden Arbeiterkinder das weitere Vorgehen beschlossen. Das Rektorat musste zudem bereits dem NRW-Bildungsministerium und der Gleichstellungsbeauftragten erläutern, warum die Satzungsänderung abgelehnt wurde.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/801000.uni-ohne-arbeiterkinder.htm
Vierteljahresschrift »Luxemburg« beleuchtet Alternativkonzepte
Die aktuelle Ausgabe der Vierteljahresschrift »Luxemburg« der gleichnamigen LINKEN-nahen Stiftung ist dem Projekt eines Grünen Sozialismus gewidmet.
Unter dem Schlagwort der Grünen Ökonomie wird mittlerweile von einem Bündnis, das von den Grünen bis zum modernistischen Flügel der Unionsparteien reicht, das Konzept eines günen Kapitalismus vorangetrieben. Dem setzten Teile der außerparlamentarischen Bewegung und die Partei die Linke das Projekt eines grünen Sozialismus entgegen. Doch was verbirgt sich hinter dem Begriff. Um diese Frage geht es schwerpunktmäßig in der aktuellen Ausgabe der Luxemburg. Zahlreiche Autoren aus dem In- und Ausland, darunter Raul Zelik, Alex Demirovic und Elmar Altvater, Ulrich Brand und Sabine Leidig stellen unsere Zugänge zu dem Thema zur Diskussion.
Die viermal jährlich von der gleichnamigen Stiftung herausgebene Publikation hat den Anspruch Gesellschaftsanalyse mit linker Praxis zu verbinden. In dem aktuellen Heft gelingt ihr das nur ansatzweise. Tatsächlich ist der Analyseteil wesentlich umfangreicher als der Praxisteil. Einige der Autoren sind sich nicht einmal sicher, ob sie den Begriff des grünen Kapitalismus verwenden wollen. Der Politologie Ulrich Brand bevorzugt den Begriff der sozialökonomischen Transformation. Mario Candaias von der RL-Stiftung beschäftigt sich mit den „gerechten Übergängen“ dazu, die Perspektiven für die Menschen liefern sollen, die von der Klimakrise am meisten betroffen sind. Dabei sei eine von demokratisch legitimierten Räten durchgeführte Planung der Ökonomie notwendig. Auch in anderen Artikeln wird als ein Kennzeichne des grünen Sozialismus die demokratische Planung genannt und darauf verwiesen, dass es keine umweltfreundliche Marktwirtschaft geben kann. Ein weiteres Merkmal des grünen Sozialismus ist die Verbindung von Ökologie und sozialen Kämpfen. Damit wird Vorstellungen in Teilen der Umweltbewegung eine Absage erteilt, die eine Verzichtslogik der Natur zuliebe propagieren. Ein weiteres Steckenpferd der Umweltbewegung kritisiert der kanadische Politikwissenschaftler Gregory Albo grundlegend. Es ist das Konzept der Regionalökonomie. Albo weist nach, dass kleinere Produktionseinheiten keineswegs umweltfreundlicher als große. Gerade im Internetzeitalter sei die Orientierung an der Lokalökonomie nicht verständlich, betont Albo, der sich für eine demokratische Planung der gesamten Ökonomie einsetzt. Mit dem Philosophen Frieder Otto Wolf kommt ein Aktivist zu Wort, der noch in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts Teil der ökosozialistischen Strömung bei den Grünen gewesen ist. Leider werden in dem Heft ökosozialistische Ansätze, die sich in den letzten 20 Jahren zunehmend außerhalb der Grünen, beispielsweise bei der Partei der Ökologischen Linken verortet haben, kaum zu Kenntnis genommen.
Wenn es um die linke Praxis geht, kommen fast ausschließend Politiker der Linkspartei zu Wort, was natürlich bei einer von der parteinahen Stiftung herausgebenen Broschüre nicht verwunderlich ist. Es wäre aber sicherlich interessant gewesen, die in den letzten Jahren unter dem Obertitel Energiekämpfe firmierenden Bewegungen in der Broschüre stärker zu Wort kommen zu lassen. Damit hätte man auch ganz praktisch den in vielen Texten formulierten Anspruch umsetzen können, dass eine sozial-ökologische Transformation nur im gleichberechtigten Bündnis von Umweltgruppen, sozialen Initiativen, kritischen Gewerkschaftern und Konsumenten durchgesetzt werden kann. In diesem Mosaiklinke genannten Bündnis wäre die Linkspartie nur ein Akteur unter vielen.
Peter Nowak Luxemburg 3, Grüner Sozialismus, September 2012, 160 S., 10,– €, Bestellungen unter: http://www.zeitschrift-luxemburg.de/?page_id=154
Axel Köhler-Schnura ist Konzernkritiker und Vorstand der ethecon-Stiftung
nd: Warum startete ethecon eine Kampagne gegen die Ausbeutung Strafgefangener?
Köhler-Schnura: 2011 wurde die US-Menschenrechtsaktivistin Angela Davis u. a. für ihren unermüdlichen Kampf gegen den gefängnisindustriellen Komplex mit dem ethecon Blue Planet Award geehrt. Großkonzerne lassen zu Minimalkosten in Haftanstalten produzieren. Die Häftlinge erhalten in der Regel nur einen geringen, manchmal gar keinen Lohn. Nebenkosten wie die Gesundheitsvorsorge oder besondere Sicherungen des Arbeitsplatzes entfallen. Stattdessen genießen die Konzerne zusätzliche Steuervorteile für die Beschäftigung von Gefängnisinsassen. Auch in Deutschland gibt es Bestrebungen, das Gefängniswesen in dieser Weise zu »reformieren«. Da wollen wir Öffentlichkeit herstellen.
BP setzte nach der Ölkatastrophe am Golf von Mexiko Gefangene ein. Eine übliche Praxis?
Der Einsatz Strafgefangener außerhalb von Haftanstalten hat in den USA eine jahrhundertelange Tradition. Aktuell sitzen in den USA 2,3 Millionen Menschen im Gefängnis. Das ist etwa ein Viertel aller Gefängnisinsassen weltweit. Davon arbeiten in den USA bis zu eine Million in Vollzeit. Auch die Tatsache, dass der Einsatz von Häftlingen für BP organisatorisch keine Herausforderung für die Gefängnisbetreiber war, zeigt, dass die »Nutzung« dieser Arbeitskräfte jenseits der Gefängnismauern nichts Außergewöhnliches ist. Besonders zynisch allerdings war, dass BP die Gefangenen umsonst für sich arbeiten ließ, während die ortsansässige Bevölkerung durch die Ölkatastrophe in die Arbeitslosigkeit getrieben wurde und vor dem Ruin stand.
Wie sieht die Situation in Deutschland aus?
In Deutschland gibt es leider kaum Öffentlichkeit für das Thema. Dabei lud bereits 1995 die Berliner Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit zum ersten Spatenstich für ein privat finanziertes Gefängnis. 2004 wurde gemeldet, dass in Hessen erstmals die Führung einer Haftanstalt komplett in private Hände gelegt wurde. Die Justizvollzugsanstalt Burg in Sachsen-Anhalt wird vom Baukonzern Bilfinger Berger betrieben. Dass Konzerne auch hierzulande keine Hemmungen haben, von Zwangsarbeit zu profitieren, zeigen die Beispiele von IKEA, Quelle und Neckermann, die schon in den 1970ern und 1980ern Insassen von DDR-Gefängnissen für sich produzieren ließen.
Welche Schritte sind im Rahmen der ethecon-Kampagne geplant?
Wir sind keine Aktionsgruppe, sondern eine Stiftung. Wir wollen mit unserer Kampagne einen grundlegenden Anstoß geben, das Thema ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen, informieren mit einem Flugblatt und sammeln Unterschriften. Wir wenden uns mit einem Protestbrief an die US-Regierung und mit einem Offenen Brief an den Bundestag. Wir bitten um Aufklärung, wie weit fortgeschritten die Entwicklung in Deutschland bereits ist und was geplant ist, sowohl in Bezug auf die Arbeit von Strafgefangenen für Konzerne als auch auf die Privatisierung von Gefängnissen.
Wer unterstützt die Kampagne?
Bisher unterstützt uns vor allem die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt bei unserer Arbeit. Wir hoffen darauf, dass andere das Thema aufgreifen und vorantreiben. Wir freuen uns über jeden, der Interesse daran hat, diese verhängnisvolle Entwicklung zu stoppen.
Entfacht Buschkowsky erneut die von Sarrazin ausgelöste Debatte?
Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky gehört zu den bekanntesten Berliner SPD-Politikern. Die Hauptstadt-SPD weiß diese Beliebtheit zu schätzen und stellt sich immer wieder vor Wahlen sehr öffentlichkeitswirksam hinter Buschkowsky, auch wenn der aus seiner politischen und persönlichen Freundschaft mit dem umstrittenen ehemaligen Berliner Senator Sarrazin nie einen Hehl gemacht hat. Lediglich dessen Rückgriff auf die Eugenik hatte Buschkowsky schon auf den Höhepunkt der Sarrazin-Debatte kritisiert. Nun hat Buschkowsky mit „Neukölln ist überall“ selber ein Buch veröffentlicht, das durchaus zu einer Debatte „Sarrazin Light“ führen könnte.
Im Stil von Sarrazin
Die Werbekampagne des Ullstein-Verlags ist durchaus darauf angelegt. Wird doch Buschkowsky ganz im Sarrazin-Stil als Autor vorgestellt, der sagt, was viele denken, aber angeblich nur wenige sagen. So heißt es dort:
„Heinz Buschkowsky schlägt Alarm: Zoff auf den Straßen, hohe Arbeitslosigkeit, Überfremdungsängste bei der einheimischen Bevölkerung das ist die Realität in Berlins Problembezirk Nr. 1. Doch Neukölln ist überall. Buschkowsky sagt, was sich in Deutschland dringend ändern muss.“
Als hätte es nicht bereits 2006 den Film Knallhart gegeben, der mit dem gleichen Gestus beworben wurde. Auch damals ging es um „Migrantengewalt in Neukölln“ und Buschkowsky hatte es verstanden, den Film zu einer Breitseite gegen naive Multikulti-Anhänger zu machen. Tatsächlich hat das Multikulti-Konzept Kritik verdient, weil es Menschen an die Herkunft und ihre daran verknüpfte Kulturen festnageln will. Doch in diesem Sinne ist Buschkowsky wie viele seiner Anhänger selber Kulturalist. Das macht sich schon daran fest, dass er Menschen, die teilweise in Deutschland geboren wurden und auch oft die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, als Migranten beschreibt, denen er, wenn sie sich nicht in Deutschland integrieren wollen, gerne beim Kofferpacken helfen würde.
Das ist nur ein Beispiel für den Buschkowskyschen Populismus, der sein Buch auch in den verschiedenen Ultrarechtsgruppen und Medien attraktiv macht. So hat sich der ehemalige NPD-Vorsitzende Voigt in einem aktuellen Gerichtsverfahren wegen Volksverhetzung in seiner Verteidigungsstrategie auf Buschkowskys Buch berufen.
Mittlerweile wird in verschiedenen Medien wie dem Freitag und der Taz über darüber diskutiert, wie viel Rassismus in Buschkowskys neuen Buch steckt. Freitag-Redakteurin Verena Schmitt-Roschmann sieht in dem Buch die Fortsetzung des „Stummsinns“, den Sarrazin vorgemacht hat. Alke Wirth sieht hingegen in Buschkowskys Buch den Rassismus des Kleinbürgers am Werk, gesteht ihm allerdings zu, als Politiker pragmatischer zu agieren denn als Buchautor und will in ihm keinen zweiten Sarrazin erkennen. Tatsächlich kalkuliert das Buch den Skandal ein und der Autor kann sich sofort als verfolgte Unschuld inszenieren, wenn der Vorwurf des Rassismus und Rechtspopulismus kommt. Genau darin aber besteht die Strategie vieler Rechtspopulisten.
Soziale Probleme kulturalisiert
Bisher gibt es bei den Buschkowsky-Kritikern eine wenig beachtete Gemeinsamkeit mit den Gegnern von Sarrazin. Sie verweisen auf rassistische Textstellen und vergessen die soziale Dimension. Wie Sarrazin hat sich auch der Neuköllner Bürgermeister schon öfter über freche Erwerbslose ausgelassen, deren einziges Ziel nicht Arbeit um jeden Preis sei
Wenn er jetzt schreibt, dass Integration eine Bringschuld sei, dass die „einheimische“ Bevölkerung ihr Land im Großen und Ganzen eigentlich ganz gut finde und von Zugewanderten, auch denen der 2. und 3. Generation, eine Anpassung an die hiesigen Lebensweisen erwarte, dann grenzt er auch alle die Menschen mit aus, die die Zustände hier überhaupt nicht gut finden. Gerade in Neukölln boomt der Niedriglohnsektor und die Zahl der Hartz IV-Empfänger mit und ohne Lohnarbeit steigt. Davon sind Menschen betroffen, deren Eltern nach Deutschland eingewandert sind, aber auch alte Neuköllner und zunehmend auch die sogenannten jungen Kreativen, die nach Nordneukölln ziehen.
In diesem Sinne bekommt der Slogan „Neukölln ist überall“ eine ganz neue Bedeutung. Es ist ein Labor für schlechte Arbeitsbedingungen, Niedriglohn und Hartz IV. Doch Buschkowsky versteht es genau wie Sarrazin, diese sozialen Zustände mit den sich daraus ergebenden Problemen zu kulturalisieren, indem er den Jugendlichen, deren Vater eingewandert ist, zum Problem erklärt und nicht die sozialen Verhältnisse, die auch die Menschen tangieren, die schon seit Generationen hier leben. Diese Aufteilung wird von dem Großteil der Betroffenen nachvollzogen. Das ist der Grund von Buschkowskys Beliebtheit über Neukölln hinaus. In der Ignorierung dieser sozialen Dimension besteht auch der blinde Fleck vieler Buschkowsky- und Sarrazin-Kritiker.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152853
Peter Nowak
Sevim Dagdelen moniert lange Wartezeiten für die Visa nach Deutschland
nd: Sie monieren lange Wartezeiten für die Visa nach Deutschland. In welchen Ländern dauert es besonders lange – und wie lang muss man sich dort gedulden?
Dagdelen: Besonders betroffen sind beispielsweise Russland und China, aber auch die Ukraine oder Ägypten. Die Wartezeit etwa in Shanghai und Kairo beträgt neun, in Moskau, Nowosibirsk oder Peking inzwischen fünf und sechs Wochen. In Kiew sind es sogar 11 Wochen bei normalen Besuchsreisen. Dazu muss man wissen, dass allein Moskau, Nowosibirsk, Shanghai und Peking mit weit über 500 000 Anträgen mehr als ein Viertel aller Visaanträge ausmachen. In Russland ist die Zahl der zu bearbeitenden Visaanträge pro Mitarbeiter/in zuletzt um 15 Prozent gestiegen.
Was ist der Grund? Abschreckung – oder Ineffektivität nach der teilweisen Privatisierung der Visaerteilung?
Lange Wartezeiten schrecken ab, zumal wenn ein großer finanzieller und zeitlicher Aufwand mit fraglichem Ausgang betrieben werden muss. Die Erteilungspraxis ist überaus streng. Bei den Hauptherkunftsländern von Asylsuchenden und afrikanischen Staaten gibt es Ablehnungsquoten von einem Drittel bis über 50 Prozent. Familienbesuche und der wichtige zivilgesellschaftliche Austausch werden durch diese restriktive Visapraxis behindert. Aber auch die wirtschaftlichen Beziehungen werden erschwert. Die Teil-Privatisierung des Visumverfahrens ist für die Betroffenen mit erheblichen Mehrkosten verbunden. »Externe Dienstleister« sollen nach EU-Vorgaben eigentlich nur als »letztes Mittel« zum Zuge kommen. Hiervon kann aber keine Rede sein, wenn die Bundesregierung nicht einmal genügend Personal in den Botschaften einsetzt wie etwa in Russland.
Sie sehen durch die Verzögerungen bei der Visavergabe das EU-Recht verletzt.
Es geht um Artikel 9 Absatz 2 des Visakodex. Dabei handelt es sich um eine verbindliche Verordnung der EU aus dem Jahre 2009. Danach müssen Auslandsvertretungen Antragstellenden innerhalb von zwei Wochen einen Termin zur Beantragung eines Schengen-Visums geben. Diese Frist kann nur in Ausnahmefällen überschritten werden. Bei der deutschen Visapraxis kann von einer Ausnahme aber keine Rede sein, wie die deutlichen Fristüberschreitungen, zum Teil über Monate hinweg, zeigen. Die Bundesregierung versucht, sich mit Verweisen auf saisonale Schwankungen und Reisestoßzeiten zu rechtfertigen. Ein Handbuch zum Visakodex sieht allerdings vor, dass die Personalkapazitäten so anzupassen sind, dass die Frist auch in Stoßzeiten eingehalten werden kann. Da die Bundesregierung das nicht tut, habe ich Beschwerde bei der EU-Kommission eingelegt und Zahlenmaterial über die untragbaren Zustände in wichtigen deutschen Botschaften übermittelt.
Könnten die Visa nicht einfach abgeschafft werden?
Tatsächlich ist für die LINKE die Beseitigung der Visumspflicht noch immer die beste Erleichterung. Damit stehen wir parlamentarisch allerdings allein. Deshalb fordern wir die Bundesregierung zumindest zu einer grundlegenden Korrektur und Liberalisierung der Visapolitik auf. Die Visaregeln und Anforderungen im Verfahren müssen so weit wie möglich gelockert, das Personal aufgestockt und das Verfahren insgesamt erleichtert werden.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/239705.monate-auf-visa-warten.html
Interview: Peter Nowak
Kaum eine Erwerbslosengruppe hält so lange durch wie die ALSO in Oldenburg – ein Gespräch über die Gründe
Die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) feiert ihr 30-jähriges Bestehen, was in der Erwerbslosenbewegung eine Rarität ist. PETER NOWAK sprach für »nd« mit dem ALSO-Aktivisten MICHAEL BÄTTIG, was sie anders machen, als andere Gruppen. Bättig ist seit Jahren bei der Gruppe aktiv.
nd: Wieso gibt es die ALSO seit 30 Jahren, während viele andere Erwerbslosengruppen immer wieder zerfallen? Was machen Sie anders?
Bättig: Das liegt an unserer Organisationsform: Wir kämpfen für kommunale Zuschüsse, organisieren Spenden und nutzen das Geld für eine unabhängige Sozialberatung in einem eigenen sozialen Zentrum mit moderner Infrastruktur. Wir sind undogmatisch und offen und behaupten nicht, unser Weg sei der einzig wahre. Deshalb stecken wir unsere Kraft auch mehr in unsere Organisation, Aktionen und Vernetzung als in die Kritik an Anderen. Wir haben uns zu einem Projekt entwickelt, das vielleicht ein kleines Beispiel für Selbstorganisation mit dem Ziel einer gerechten und solidarischen Gesellschaft sein könnte.
Hat sich Ihre Arbeit durch Hartz IV geändert?
Als die Arbeitsmarktreformen eingeführt wurden, sind Erwerbslosigkeit, Armut und Ausgrenzung für einen historischen Moment zur zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzung geworden. Hartz IV fasst alle Erwerbslosen in den Jobcentern zusammen und wirft die Frage auf, unter welchen Bedingungen Menschen in dieser Gesellschaft leben, arbeiten und wohnen sollen. Aber über die Ausdehnung von Arbeit in jeder Form und um jeden Preis bis in die letzten Winkel der Gesellschaft werden sie gleichzeitig stigmatisiert, mobilisiert und wieder auseinandergetrieben. Es ist nicht nur die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die weitere Prekarisierung der Arbeit, sondern die systematisch und flächendeckend betriebene Ausmerzung jeglicher »Nicht-Arbeit« aus unser aller Leben, mit der Hartz IV auch zur Desorganisation solidarischer, antikapitalistischer Projekte beigetragen hat. Selbst bei mehr als fünf Millionen Erwerbslosen hat kein Mensch mehr Zeit.
Ihre Gruppe begleitet Erwerbslose zu Terminen im Jobcenter. Welche Erfahrungen machen Sie dabei?
Begleitaktionen sind Prozesse der Selbstermächtigung und Selbstorganisation. Die Anwesenheit einer weiteren Person hilft, vorenthaltene Leistungen durchzusetzen. Die Aktionen sind praktische Demonstration von Gegenmacht und Aufklärung: Fiese Sachbearbeiter werden in ihre Schranken verwiesen, und die entwürdigende Alltagsmassenverwaltung der Jobcenter wird für einen Moment aufgebrochen. Das stärkt das Selbstbewusstsein, gibt Würde zurück. Im glücklichen Fall führen die Aktionen dazu, dass sich die Leute in Zukunft gegenseitig begleiten. Im unglücklichen Fall werden sie beim nächsten »Alleingang« zusammengefaltet und ziehen daraus die übliche Lehre, »dass man besser die Fresse hält«. Begleitaktionen hätten das Potenzial zu einer breiteren gesellschaftlichen Bewegung über die Jobcenter hinaus. Darüber müsste eigentlich bundesweit nachgedacht werden.
Die ALSO hat vor zwei Jahren maßgeblich die Demonstration »Krach schlagen statt Kohldampf schieben« organisiert und dafür ungewöhnliche Bündnispartner wie die Milchbauern gewonnen, die über niedrige Milchpreise klagen. Was ist Ihr Resümé?
Wir haben uns neu bewegt. Bündnisse von Erwerbslosennetzwerken mit der Ökologiebewegung, mit kämpferischen Bauern und kritischen Verbraucherverbänden hat es vorher so nicht gegeben. Wir haben dadurch politisch die Verbindung von Hartz-IV-Regelsätzen und Niedrigeinkommen mit Fragen ökologischer Lebensmittelproduktion und -verteilung hergestellt. Dass die Form der industriellen Nahrungsmittelproduktion, die Zerstörung der Umwelt und die Ausbeutung der endlichen Ressourcen weltweit zu Schranken bei der vollständigen Aneignung von äußerer Natur und menschlicher Arbeitskraft geworden sind, zeigt ein Blick in jede Tageszeitung. Aber das ist nur eine Chance, der Rückenwind, der bläst: Ob daraus eine internationale Protestbewegung wird, liegt auch an uns.
Müsste sich die Erwerbslosenbewegung europaweit vernetzen?
Mit über 18 Millionen ist die Zahl der Erwerbslosen ist der EU auf ein neues Rekordniveau gestiegen. In Spanien und Griechenland ist jeder Vierte erwerbslos, bei Jugendlichen ist es jeder Zweite. Es wäre schön, wenn von deutschen Erwerbslosennetzwerken Signale der Solidarität in diese Länder gesendet und aus diesen Ländern empfangen werden könnten. Am besten sind gemeinsame Aktionen wie etwa Blockaden vor einschlägigen Institutionen. Vielleicht führt die weitere soziale und ökonomische Entwicklung in Europa dazu, dass sich so etwas entwickelt. Es wäre naiv zu glauben, dass Deutschland weiter eine Insel der Glückseligen bleiben kann.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/239756.unser-weg-ist-nicht-der-einzig-wahre.html
Interview: Peter Nowak
Arbeitslosen- und Erwerbslosengruppen haben in der Regel keinen langen Bestand. Doch gibt es Ausnahmen
Die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) feiert ihr dreißigjähriges Jubiläum. Telepolis sprach mit ALSO-Aktivist Michael Bättig über die Gründe für diese Kontinuität.
Lieber Kraft in das Ziel stecken als in die Kritik anderer Gruppen
Telepolis: Warum konnte sich die ALSO im Gegensatz zu vielen andere Erwerbslosengruppen so lange halten?
Michael Bättig: Das liegt an unserer Organisationsform – weil wir für kommunale Zuschüsse kämpfen, Spenden organisieren und das Geld für eine unabhängige Sozialberatung in einem eigenen sozialen Zentrum mit moderner Infrastruktur nutzen. Zudem sind wir undogmatisch und offen für verschiedene Wege und Veränderungen. Wir stecken unsere Kraft mehr in unsere Organisation, in die Vorbereitungen für Aktionen und in die Vernetzung als in die Kritik an anderen Gruppen. Zudem beanspruchen wir nicht, dass unser Weg sei der einzig wahre ist.
„Flächendeckend betriebene Ausmerzung jeglicher Nicht-Arbeit aus unser aller Leben“
Telepolis: Wie hat sich eure Arbeit mit der Einführung von Hartz IV geändert?
Michael Bättig: Erwerbslosigkeit, Armut und Ausgrenzung sind für einen historischen Momente zur zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzung geworden. Hartz IV hat alle Erwerbslosen gemeinsam in den Jobcentern zusammengefasst und die Frage aufgeworfen, unter welchen Bedingungen Menschen in dieser Gesellschaft leben, arbeiten und wohnen sollen.
Aber über die Ausdehnung von Arbeit in jeder Form und um jeden Preis bis in die letzten Winkel der Gesellschaft werden sie gleichzeitig stigmatisiert, mobilisiert und wieder auseinandergetrieben. Es ist nicht nur die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die weitere Prekarisierung der Arbeit, sondern die systematisch und flächendeckend betriebene Ausmerzung jeglicher „Nicht-Arbeit“ aus unser aller Leben, mit der Hartz IV auch zur Desorganisation solidarischer antikapitalistischer Projekte beigetragen hat. Selbst bei mehr als fünf Millionen Erwerbslosen hat kein Mensch mehr Zeit.
Praktische Demonstration von Gegenmacht und Aufklärung
Telepolis: Die ALSO hat seit Jahren mit Begleitaktionen im Jobcenter Erfolge erreicht. Welche Rolle spielen diese Aktionen?
Michael Bättig: Begleitaktionen sind Prozesse der Selbstermächtigung und Selbstorganisation. Vorenthaltene Leistungen können durchgesetzt, Würde kann zurück gewonnen und Selbstbewusstsein kann gestärkt werden. Sie sind praktische Demonstration von Gegenmacht und Aufklärung: Fiese Sachbearbeiter werden in ihre Schranken verwiesen, und die entwürdigende Alltags-Massenverwaltung der Jobcenter wird für einen Moment aufgebrochen.
Im glücklichen Fall führen sie dazu, dass die Leute sich in Zukunft gegenseitig selbst begleiten, im unglücklichen Fall werden sie beim nächsten „Alleingang“ zusammengefaltet und ziehen die übliche Lehre, „dass man besser die Fresse hält“. Zahltage und Begleitaktionen könnten aber mit ihren Prinzipien zu einer breiteren gesellschaftlichen Bewegung über die Jobcenter hinaus entwickelt werden. Über ihren aktuellen Zustand müsste deshalb bundesweit reflektiert werden.
Peter Nowak
In der Landeshauptstadt Thüringens mehren sich die rechten Übergriffe
MICAHEL KLEINERT ist Mitglied des Bildungskollektivs Biko, das seit zehn Jahren in Erfurt Bildungsarbeit und Veranstaltung gegen Rechts organisiert. Über Naziübergriffe in Erfurt und polizeiliche Versäumnisse sprach mit ihm für »nd« PETER NOWAK.
nd: In den letzten Wochen gab es in Erfurt vermehrt rechte Übergriffe. Hat die Stadt ein Naziproblem?
Kleinert: In den 90er Jahren war die Stadt eine Nazihochburg. Zwei Menschen sind durch rechte Gewalt gestorben. In den letzten Jahren war es gelungen, zumindest in der Innenstadt von Erfurt die Rechten zurückzudrängen. In den letzten Monaten gab es aber eine besorgniserregende Entwicklung. Seit Frühjahr diesen Jahres hatten wir eine Reihe von Neonaziüberfällen mitten im Erfurter Zentrum, die von der Mitte der Gesellschaft ignoriert wurden.
Können Sie Beispiele nennen?
Während einer öffentlichen Übertragung der Fußball-EM skandierte eine Gruppe von Rechten abwechselnd Sieg und heil. Die Mehrheit der Fußballfans ignorierte das. Eine Gruppe von Antifaschisten, die daraufhin »Nazis raus« rief, wurde physisch angegriffen und auch das führte nicht dazu, dass die Fußballfans eingegriffen hätten.
Ist das eine Ausnahme?
Durchaus nicht. Wer gegen Nazis aktiv wird, wird misstrauisch beäugt. Davon betroffen sind Punks, alternative Jugendliche, aber auch Studierende. So sind uns auf und um den Campus der Erfurter Universität in den letzten Monaten mehrere Übergriffe auf Studierende bekannt geworden.
Wie reagiert die Polizei auf die rechten Übergriffe?
Wir haben Fälle protokolliert, bei denen die Polizei Opfern rechter Gewalt von einer Anzeige abgeraten hat. In einem Fall wurde ein Betroffener, der aussagte, von einem Neonazi angegriffen worden zu sein, von einen Polizisten zurecht gewiesen. Er sollte nicht Neonazi sagen, dass würde provozieren.
War das Bildungskollektiv Biko, in dem Sie Mitglied sind, auch von rechter Gewalt betroffen?
Besucher unserer Jubiläumsfeier im Juni zum zehnjährigen Bestehen von Biko wurden auf dem Heimweg von 20 Neonazis angegriffen. Mehrere Menschen wurden durch Faustschläge und Flaschenwürfe verletzt. Im Anschluss geriet ein Mitarbeiter des Biko ins Visier der Polizei, nachdem er von den Rechten beschuldigt wurde, sie angegriffen zu haben.
Ihr kritisiert auch die Reaktion der Polizei auf den Angriff auf eine Veranstaltung im Erfurter Kunsthaus im Zentrum Erfurt.
Am 13. Juli wurden mehrere Besucher des Kunsthauses durch Neonazis teilweise schwer verletzt. Die Polizei negierte zunächst den Neonazihintergrund und sprach in einer Pressemeldung von einer Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen. Nachdem der Überfall bundesweit Schlagzeilen machte, räumte ein Pressesprecher der Polizei den rechten Hintergrund ein, erklärte aber, es werde zu oft die Antifakarte gezogen, wenn Alkohol im Spiel war.
Gibt es auch Strategien gegen die Rechten in der Innenstadt?
Im Rahmen des lokalen Aktionsplans wurden Anwohner der Erfurter Kneipenmeile zu einem Gespräch eingeladen. Dort gibt es Lokalitäten, in denen die Rechten regelmäßig verkehren. Ein Kneipenbesitzer hat mittlerweile Hausverbote für erkennbare Neonazis verhängt. Wir hoffen, dass dieses Beispiel Nachahmer findet
Was ist sozialistische, linke, kritische Bildung?
Wer sich mit emanzipatorischer Bildung beschäftigt, kommt an der Geschichte der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts nicht vorbei. Eine Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung widmet sich diesem Kapitel der Geschichte.
»Die Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss.« Diese berühmte Feuerbachthese von Karl Marx ist die Leitlinie des Gesprächskreises »Politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung«, der sich in einer Broschüre einer weitgehend vergessenen Geschichte widmet. Erinnert wird an den linken Pädagogen Heinz-Joachim Heydorn, der als NS-Widerstandskämpfer in Abwesenheit zum Tode verurteilt, in den 60er Jahren wegen seiner Verteidigung des Sozialistischen Studentenbundes (SDS) aus der SPD ausgeschlossen wurde und eine wichtige Rolle für die Bildungsdebatte der Außerparlamentarischen Bewegung spielte. Nicht wenige ließen sich von seinem Leitspruch »Der Lehrer ist kein Berufsrevolutionär sondern revolutionär im Beruf« in ihrer Berufswahl leiten. Der Diplompädagoge Torsten Feltes kommt zu dem ernüchternden Schluss, dass die Wirkung, die Heydorn sich mit seiner Bildungsarbeit erhofft hatte, nicht erreicht wurde.
Ein ähnliches Fazit zieht die Politikwissenschaftlerin Julika Bürgin, die sich mit der Rolle Oskar Negts in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit beschäftigte. Mit seinem Konzept des »exemplarischen Lernens« wollte Negt Bildung mit konkreten Erfahrungen in Klassenauseinandersetzungen verbinden und damit eine Transformation der Gesellschaft erreichen. »Arbeiterbildung wurde als Beitrag eines historischen Kampfes zur Entwicklung von Gegenmacht zur Überwindung der bestehenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse konzipiert«, schreibt Bürgin. Für sie ist Negts Konzept angesichts der grundlegenden Veränderung in der Arbeits- und Lebenswelt vieler Menschen nach wie vor aktuell.
Auch die KPD hatte sich in der Weimarer Republik mit Bildungskonzepten beschäftigt, die Carsten Krinn einer kritischen aber differenzierten Bewertung unterzieht. Dass dabei das Marxsche Postulat von der Erziehung der Erzieher oft zu kurz kam, lag am zentralistischen Parteikonzept aber auch an den schwierigen Bedingungen, unter der diese Bildungsarbeit geleistet werden musste. Als einen Höhepunkt der KPD-Bildungsarbeit sieht Krinn in der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH). Leider geht er nicht auf die Rolle ein, die Pädagogen der frühen Sowjetunion auf die KPD-Bildungsarbeit hatten. David Salomon schließlich verteidigt in seinem klugen Essay Bertholds Brechts Lehrstücke, die in vielen Feuilletons zu Unrecht verrissen werden.
Janek Niggemann (Hrsg.): Emanzipatorisch, sozialistisch, kritisch, links? Zum Verhältnis von (politischer) Bildung und Befreiung, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Juni 2012, Download unter www.rosalux.de
http://www.neues-deutschland.de/artikel/236361.von-der-erziehung-der-erzieher.html
Mitglieder der andalusischen Gewerkschaft Sindicato de Trabajadores (SAT) machten vor kurzem durch die Aneignung von Lebensmitteln in spanischen Supermärkten und Besetzungen von brachliegendem Land international auf sich aufmerksam (Jungle World 33/2012). Die Jungle World sprach mit Miguel Sanz Alcántara über die Reaktionen auf die Aktionen und über gewerkschaftliche Organisierung in Spanien und Europa. Er ist Koordinator der SAT in Sevilla.
Interview: Peter Nowak
Landbesetzungen und Aneignungen in Supermärkten gehören nicht zu den klassischen Gewerkschaftsaktivitäten. Warum greift die SAT zu solchen Mitteln?
Beide Aktionen müssen getrennt voneinander diskutiert werden. Landbesetzungen gehören seit ihrer Gründung am 23. September 2007 zu den Aktionsformen unserer Gewerkschaft. Eine ihrer Vorgängerinnen war die andalusische Landarbeitergewerkschaft Sindicato de Obreros de Campo (SOC). Sie ist 1977 kurz nach dem Ende des Franco-Regimes entstanden. Dort waren neben einer maoistischen Strömung auch Teile der christlichen Linken aktiv. Schwerpunkt der SOC war die Organisierung der andalusischen Landarbeiter. Sie stützte sich dabei auf Erfahrungen, wie sie im Franco-Faschismus mit den illegalen comisiones jornaleras (Ausschüsse von Tagelöhnerinnen und Tagelöhnern) gemacht wurden. Dabei standen Landbesetzungen mit der Forderung nach einer Neuaufteilung des Bodens unter der bäuerlichen Bevölkerung im Mittelpunkt der Gewerkschaftsarbeit.
Ist die Kollektivierung von Lebensmitteln eine neue Aktionsform?
Wir haben die Lebensmittel aus den Supermärkten geholt und unter den Erwerbslosen verteilt, um Druck auf die Regierung auszuüben. Sie muss sicherstellen, dass die Grundbedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung befriedigt werden. Es ist natürlich nicht möglich, mit 20 Einkaufswägen voller Lebensmittel die Folgen der Wirtschafskrise zu lindern. Aber wir wollten deutlich machen, dass in der Krise viele Menschen Not leiden. Sie müssen entscheiden, ob sie ihr geringes Einkommen für die Begleichung der Stromrechnung oder für Lebensmittel ausgeben, während die großen Unternehmen mit Millionen subventioniert werden.
Hat die Umverteilungsaktion nicht auch viel Zuspruch in autonomen und anarchistischen Kreisen gefunden?
Es gab viel Zustimmung und auch Nachfolgeaktionen. Aber nicht alle waren im Sinne unserer Gewerkschaft. So hat eine Gruppe andalusischer Jugendlicher mit Bezug auf uns eine Aktion in einem Supermarkt durchgeführt, sich dabei aber vor allem auf alkoholische Getränke beschränkt. Davon hat sich die SAT distanziert.
Nach der Aktion gab es in Spanien eine heftige Debatte über deren Legitimität. Befürchten Sie weitere Repressionen gegen ihre Gewerkschaft?
Die SAT wird von der Justiz seit langem ökonomisch in Bedrängnis gebracht. Wegen verschiedener Besetzungsaktionen musste unsere Gewerkschaft insgesamt 400 000 Euro Strafe zahlen. Weitere Repressalien gegen die SAT sind durchaus wahrscheinlich, aber wir fürchten uns nicht davor. Schließlich haben sie in der Vergangenheit unserer Gewerkschaft Sympathie eingebracht. Mittlerweile hat die SAT auch eine europaweite Spendenaktion initiiert. Die Kontodaten finden sich auf unserer Website (»Llamamiento urgente de solidaridad«).
Wie sieht es mit der Solidarität der anderen spanischen Gewerkschaften aus?
Im Unterschied zu den großen Gewerkschaften UGT und CCOO, die viele öffentliche Gelder zur Verfügung haben, kann unsere Gewerkschaft ausschließlich auf Eigenmittel zurückgreifen. An der Basis gibt es immer wieder Zusammenarbeit bei Streiks und sozialen Auseinandersetzungen. Aber die großen Gewerkschaften sehen uns als Konkurrenz und haben natürlich kein Interesse daran, dass wir an Einfluss gewinnen. So wird SAT-Mitgliedern auf Demonstrationen das Rederecht verweigert. Wir sehen unsere Rolle vor allem darin, Druck von unten auch auf die großen Gewerkschaften auszuüben, damit sie eine kämpferische Politik machen und die Linie der Sozialpartnerschaft aufgeben.
Wie ist die Zusammenarbeit mit den in Spanien traditionell starken anarchosyndikalistischen Gewerkschaften?
Wir haben gute Kontakte zu den anarchosyndikalistischen Basisgewerkschaften in konkreten Auseinandersetzungen. Sie versuchen ebenso wie die CCOO, verstärkt Menschen mit prekären Jobs im wachsenden Dienstleistungssektor zu organisieren. Allerdings haben wir als SAT aufgrund unserer Geschichte eine Struktur, die es uns einfacher macht, diese Beschäftigten zu organisieren.
Hat es die SAT aufgegeben, sich auf die Organisierung der Landarbeiter zu konzentrieren?
Für uns sind beide Sektoren wichtig. Wir haben natürlich auf die ökonomischen Veränderungen reagiert. Während Ende der siebziger Jahre der Agrarsektor dominierte, ist in den letzten beiden Jahrzehnten der Dienstleistungssektor in den Städten kontinuierlich gewachsen. Die Beschäftigten sind oft junge Menschen, die die Dörfer in der Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen verlassen. Doch sie finden nur extrem prekäre Arbeitsplätze. Wir können unserer Erfahrung bei der Organisierung der Landarbeiter nutzen, wenn wir gewerkschaftliche Strukturen im Dienstleistungssektor aufbauen.
Vor einigen Jahren entstand in Spanien die »Euromayday«-Bewegung, die gezielt Prekäre aus dem Dienstleistungsbereich organisierte und auch in Deutschland bekannt wurde. Mittlerweile ist es um sie ruhig geworden. War die SAT daran beteiligt?
Die SAT hat dort von Anfang an mit anderen außerparlamentarischen Linken zusammengearbeitet. Auch in Spanien war die Bewegung nur für einige Jahre erfolgreich. Trotzdem sehen wir die Erfahrungen sehr positiv. Wir haben in der »Mayday«-Bewegung viel darüber gelernt, wie sich Prekäre im Dienstleistungssektor wehren und organisieren können. Dabei sehen wir die Bewegung in einem größeren Zusammenhang der Neuorientierung einer außerparlamentarischen Linken, die weder in politischen Parteien noch in den bisherigen Gewerkschaften organisiert war und die auch eine Distanz zur anarchosyndikalistischen Bewegung hat. Hier spielte der Zapatismus in den neunziger Jahren eine große Rolle. Später kamen die theoretischen Schriften von Antoni Negri und Michael Hardt hinzu. Vor allem ihr Buch »Empire« hatte einen großen Einfluss auf diese außerparlamentarische Linke und die in Spanien starke globalisierungskritische Bewegung. Diese Vorstellungen gerieten 2003 mit dem Krieg gegen den Irak in eine Krise. Schließlich lautet die zentrale These in »Empire«, dass die Nationalstaaten und der klassische Imperialismus am Ende sind. Viele Aktivisten sahen diese These durch den Krieg gegen den Irak in Frage gestellt. Zudem verlor Negri in großen Teilen der außerparlamentarischen Bewegung an Sympathie, weil er sich hinter die EU in ihrer gegenwärtigen Form stellte. Viele Aktivisten aus diesen Bewegungen der vergangenen Jahre sind jetzt bei der SAT aktiv.
Mit der Bewegung der »Empörten«, die im vorigen Jahr von Spanien auch auf andere Länder übergriff, scheint eine neue außerparlamentarische Bewegung schon wieder Geschichte. Könnte die SAT davon profitieren?
Die Bewegung der »Empörten« hat zu einer Stärkung der Basisgewerkschaften geführt. Viele Aktivisten arbeiten jetzt bei der SAT mit. Dabei war in wenigen Monaten ein inhaltlicher Wandel zu beobachten. Die »Empörten« wandten sich in ihrer Gründungsphase pauschal gegen alle Organisationen. Deshalb durften auch SAT-Mitglieder dort nicht ihre Flugblätter verteilen. Doch nach einigen Monaten begannen die Aktivisten zu unterscheiden zwischen Organisationen, die den Kapitalismus verteidigen oder reformieren wollten, und solchen, die ihn bekämpfen. Die Bewegung ist schwächer, aber inhaltlich schärfer geworden. Die letzten großen gewerkschaftlichen Mobilisierungen wären ohne sie nicht denkbar gewesen. Dabei ist vor allem der landesweite Generalstreik am 29. März dieses Jahres zu nennen.
War das eine einmalige Aktion, oder sind weitere geplant?
Der Erfolg des 29. März bestand darin, dass die Auseinandersetzungen auf einem hohen Niveau geführt wurden und die Streikbeteiligung sehr groß war. Aber mit einem eintägigen Generalstreik, wie er von den großen Gewerkschaften propagiert wird, ist es natürlich nicht getan. Auch nach dem 29. März gingen die Auseinandersetzungen in ganz Spanien weiter. Dazu gehören Landbesetzungen und Lebensmittelaneignungen in Andalusien, aber auch Aktionen wie der Bergarbeiterstreik in Andalusien, der durch den Marsch der Beschäftigten nach Madrid im ganzen Land ein großes Echo fand. Zurzeit laufen die Vorbreitungen für einen Aktionstag am 15. September auf Hochtouren. Zudem gibt es Überlegungen, Mitte Oktober einen gemeinsamen, gleichzeitigen Streik von Beschäftigten in Spanien, Italien und Griechenland zu organisieren. Wir wissen nicht, ob er zustande kommt. Er hätte aber für eine europaweite Organisierung gegen die Krisenfolgen eine große Bedeutung.
http://jungle-world.com/artikel/2012/34/46112.html
dänische Übersetzung: http://www.modkraft.dk/artikel/fagforening-derfor-stj%C3%A6ler-vi-madvarer
Interview: Peter Nowak
Interview Enteignung von Supermarkt-Lebensmitteln, Landbesetzung: Der Koordinator der andalusischen SAT in Sevilla erklärt, wie die Gewerkschaft gegen die Folgen der Krise kämpft
Der Freitag: Ihre Gewerkschaft SAT hat in den vergangenen Wochen mit Landbesetzungen und Enteignungsaktionen in Supermärkten auf sich aufmerksam gemacht. Warum greift die SAT zu solchen Mitteln?
Miguel Sanz Alcántara: Dazu muss man mehr über die Geschichte der SAT wissen. Sie wurde 2007 gegründet und hat sich aus der andalusischen Landarbeitergewerkschaft SOC entwickelt. Dort waren seit 1977 neben vielen unabhängigen Kollegen eine maoistische Strömung sowie Sektoren der christlichen Linken vertreten. Schwerpunkt der SOC war die Organisierung der andalusischen Landarbeiter. Landbesetzungen gehörten seit unserer Gründung zu den wichtigen Kampfmitteln.
Sind die Lebensmittelenteignungen, eine neue Aktionsform?
Wir haben die Lebensmittel aus den Supermärkten enteignet und unter den Erwerbslosen verteilt. Es ist natürlich nicht möglich, mit Lebensmittelenteignungen die Folgen der Wirtschaftskrise zu lindern. Aber wir wollten deutlich machen, dass durch die Krise Menschen Not leiden und sich keine qualitativ wertvolle Nahrung leisten können, während den Banken Millionen geschenkt werden. Immer mehr Menschen müssen entscheiden, ob sie ihr Geld für das Begleichen der Stromrechung oder für Lebensmittel ausgeben. Es gibt zudem immer mehr Kinder, die nur noch einmal am Tag eine Mahlzeit zu sich nehmen. Mit unserer Aktion wollen wir Druck auf die Regierung ausüben, damit den Erwerbslosen genügend Geld für Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt wird.
Nach der Aktion gab es auch in Spanien eine heftige Debatte darüber, ob sie legitim war. Befürchten Sie Repressionen gegen Ihre Gewerkschaft?
Die rechtskonservative Regierung zieht die Repressionsschraube gegen Gewerkschaften an. Davon ist nicht nur die SAT betroffen. Seit dem erfolgreichen Generalstreik vom 29. März 2012 waren Gewerkschafter der Arbeiterkommissionen CCOO aber auch der anarchosyndikalistischen Gewerkschaften mit Razzien und sogar Festnahmen konfrontiert. Die SAT wird von der Regierung seit langem ökonomisch stranguliert. Wegen verschiedener Besetzungsaktionen musste unsere Gewerkschaft insgesamt 400.000 Euro Strafe zahlen. Weitere Repressalien machen die SAT nur populärer und die Solidarität wächst. Diese Erfahrungen haben wir in den letzten Monaten gemacht.
Spanien war einer der Zentren der Bewegung der Empörten im letzten Jahr. Wie sieht es zur Zeit mit den Krisenprotesten aus?
Tatsächlich ist die Bewegung der Empörten schwächer geworden. Aber es hat auch inhaltliche Fortschritte gegeben. Während im letzten Jahr von dem Großteil der Empörten noch alle Organisationen, auch die SAT abgelehnt wurde, wird jetzt unterschieden zwischen Organisationen, die für die Krise verantwortlich sind und andere, die dagegen kämpfen. Für den 15. September sind Großaktionen in Spanien geplant, an denen auch Kollegen aus anderen, vor allem südeuropäischen Ländern teilnehmen sollen. Für Mitte Oktober ist ein gemeinsamer Streik von Beschäftigten in Spanien, Italien und Griechenland in der Diskussion. Ob es gelingt, wird von der Rolle der großen Gewerkschaften abhängen.
http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/nur-noch-eine-mahlzeit-am-tag
Interview. Peter Nowak
Die Warnrufe verkennen, dass die Piraten schon in der kurzen Zeit des Bestehens mehrheitlich eine Rolle akzeptieren, für die die Grünen mehr als ein Jahrzehnt brauchten
Die Zeiten, in denen die Piratenpartei nur Freunde in Deutschland zu haben schien, sind wohl vorbei. Im Magazin Cicero wird die Gefahr vor der Piratisierung Deutschlands an die Wand gemalt. Der Autor Malte Lehming begründet seine These mit der zunehmenden Forderung nach Plebisziten und Volksentscheiden, die mittlerweile zum Repertoire der Politiker fast aller Parteien gehören.
Gerade in der EU-Politik haben auch Unionspolitiker mittlerweile Volksbefragungen ins Gespräch gebracht. Dabei argumentierten gerade sie jahrelang so wie noch heute Lehming im Cicero. Dessen Aufsatz enthält allerdings bedenkenswerte Überlegungen, wenn er etwa daran erinnert, welch hohe Zustimmung die Thesen eines Thilo Sarrazin vor einigen Monaten in Umfragen bekommen haben. Wenn Lehming aber schreibt: „Wenn es etwa in der SPD immer basisdemokratisch zugegangen wäre, hätte Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 kaum Erfolg gehabt. Dann wiederum wäre Deutschland kaum so glimpflich zuerst mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, dann mit der europäischen Schuldenkrise klar gekommen“, bleibt er selber im ideologischen Denken befangen.
Schließlich sehen viele Ökonomen in dem nicht zuletzt durch die Agenda 2010 geschaffenen Niedriglohnland Deutschland, das die Länder an der europäischen Peripherie niederkonkurriert, den Grund für das wirtschaftliche Ungleichgewicht in der Eurozone. Politische Kommentatoren wie Lehming merken gar nicht, dass sie mit ihrem „Weiter so“ schon längst die postdemokratischen Zustände affimieren, die dazu geführt haben, dass immer weniger Menschen von den politischen Parteien etwas erwarten.
Piraten als System
Lehming malt mit seiner Warnung vor der Piratisierung Deutschlands ein Schreckgespenst an die Wand, das seit den 1980er Jahren gegen die Grünen ins Feld geführt wurde. Erst 7 Jahre Rot-Grün haben jene Kassandras endgültig ins Abseits gestellt, die immer vor einer grünen Ökodiktatur warnten. Heute bescheinigen selbst ehemaligs vehemente Gegner der Grünen dieser Partei, dass sie durch die Integration sozialer und ökologischer Bewegungen ins politische System der BRD zur Stabilisierung des politischen Parteiensystems beigetragen habe.
Während die Grünen aber im ersten Jahrzehnt nach ihrer Gründung mit dieser Rolle noch haderten und ein einflussreicher linker Flügel vergeblich dagegen ankämpfte, haben die Piraten schon kurz nach ihrer Gründung diese Rolle als Systemstabilisierer anerkannt und werben offensiv damit. Dieser Befund zieht sich zumindest durch die 18 Aufsätze eines kürzlich im transcript-Verlag erschienenen Buches mit dem Titel „Unter Piraten. Erkundungen in einer neuen politischen Arena“.
Die Frage, ob die neue Partei etwa zur Transformation des kapitalistischen Systems beitragen könnte, wird dort gar nicht erst gestellt. Sie wäre ja auch absurd bei einer Partei, die zu allen möglichen Themen eine Arbeitsgruppe eingerichtet hat, nur nicht zur weltweit durchaus heftig diskutierten Frage des Computersozialismus. In dem Buch sind viele Aufsätze aus dem Bereich von Politikwissenschaftern, die gerne daran erinnern, dass sie in der Süddeutschen Zeitung, der Zeit und Spiegel-Online publizieren und ihre Arbeit auch als Politikberatung verstanden wissen wollen.
Die Stärke der meisten Aufsätze, die sich mit der Vorgeschichte der Piraten, sowie ihres Nah- und Fernumfelds befassen, besteht in der oft treffenden Einordnung der neuen Partei in das bundesdeutsche Parteiensystem. Die Autoren nehmen die Metaphern vom neuen Betriebssystem, das die Piratenpartei liefern will, um einen Neustart und eine Optimierung des Systems durchzuführen, durchaus ernst. Der Exkurs zu der kurzen Geschichte der Barcamps, in denen auch die Managementerfahrungen der um das Internet zentrierten Unternehmen ausgetauscht wurden, schärft den Blick für die ökonomischen Veränderungen, die eine Voraussetzung für das Entstehen der Piratenparteien in vielen Ländern waren.
Soziale Blindheit der Piraten wird nicht hinterfragt
Während sich ein ausführliches Kapitel kenntnisreich mit der angeblichen Geschlechtsblindheit der Piraten auseinandersetzt, wird die Blindheit der Partei gegenüber der sozialen Frage nicht weiter hinterfragt, sondern von den meisten Autoren übernommen. Die Autorin Katja Kullmann thematisiert in ihrem Aufsatz, der auch in dem vor wenigen Monaten erschienen Buch „Die Piratenpartei. Alles klar zum Entern?“ veröffentlicht ist, die Blindheit der Piraten dagegen mit polemischer Schärfe. Sie klassifiziert sie als „Speerspitze der kreativen Klasse“, die „ihr Kapital gewinnbringend einsetzen will“. Mit diesem Anspruch konkurrieren sie gegen andere Arten von Kapital, teilen aber mit diesen die Abwehr sozialer Ansprüche der unterbezahlten Beschäftigten der verschiedenen Industrien. Vor diesem Hintergrund könnte Lehmings Warnung vor der Piratisierung der deutschen Politik eine vom Verfasser nicht beabsichtigte Stoßrichtung bekommen.
INNSE, Emmely, Bellinzona: Aufsatzband beschreibt positive Beispiele von Arbeiterselbstorganisation Zum Streik rufen die Gewerkschaften auf – oder auch nicht, wenn sie einen Kampf für aussichtslos halten. Dann kann es passieren, dass Arbeiterinnen und Arbeiter ihr Geschick selbst in die Hand nehmen, streiken, ihre Fabrik besetzen. Ein Sammelband beschreibt Beispiele von Selbstermächtigung.
Die Klage über den Machtverlust der Lohnabhängigen wird oft angestimmt. Doch der Kölner Publizist und Aktivist Christian Frings möchte in dieses Lamento nicht einstimmen. »Der Neoliberalismus hat den unmittelbaren Produzentinnen weniger ihre realen Machtmöglichkeiten beraubt als das Bewusstsein ihrer Macht«, schreibt er in seinem Aufsatz in dem im österreichischen ProMedia-Verlag erschienenen Buch mit dem Titel »Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung«. In insgesamt fünf Aufsätzen werden darin autonome Arbeitskämpfe der letzten Jahre aus Deutschland, Österreich, Serbien, Frankreich und der Schweiz vorgestellt.
Christian Frings widerlegt in seinem Beitrag die These, dass es in Deutschland keinen Widerstand gegen die Krisenfolgen gäbe. Er sieht im Jahr 2004 den Wendepunkt. Nach dem Versagen des DGB, das mit dem Abbruch des Kampfes um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland offenkundig geworden sei, hätten Streiks ohne den DGB-Apparat an Bedeutung gewonnen. Vom wilden Streik bei Opel im Sommer 2004 über den monatelangen Lohnkampf bei Gate Gourmet bis zur Auseinandersetzung bei der Reinigungsfirma Klüh werden exemplarisch einige dieser Arbeitskämpfe dargestellt, über die ohne großen Gewerkschaftsapparat im Rücken oft nur auf die hinteren Seiten der Lokalmedien berichtet wurde.
Für die an den Auseinandersetzungen Beteiligten waren es wichtige Schritte der Selbstermächtigung. Sie sind aus der Ohnmachtshaltung ausgebrochen, dass man doch nichts an den Betriebsschließungen, Kündigungen und Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse ändern kann. Oft entstanden diese selbstbestimmten Auseinandersetzungen aus gewerkschaftlichen Kämpfen, die vom Apparat verloren gegeben wurden. Ein bundesweit bekannt gewordenes Beispiel, dass auch Frings in seinem Aufsatz erwähnt, ist die Kampagne für die Kassiererin »Emmely«, die nach ihrer aktiven Rolle beim ver.di-Streik im Einzelhandel mit der Beschuldigung gekündigt wurde, Pfandbons unterschlagen zu haben. Nicht ihre Gewerkschaft, sondern eine Gruppe von solidarischen Aktivisten haben die am Ende erfolgreiche Kampagne für die Wiedereinstellung der Kassiererin initiiert.
Besonders erfreulich ist, dass in Buch auch die Arbeitskämpfe in drei Ländern in den Fokus gerückt werden, die in der Regel nicht mit kämpferischen Belegschaften verbunden werden. So wird im letzten Kapitel gezeigt, dass das Modell der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung bei allen Mängeln im Alltag Bezug von Belegschaften ist, die sich gegen die Privatisierungspolitik der serbischen Regierung wehren.
Der Schweizer Basisgewerkschafter Rainer Thomann geht auf die Lohnkämpfe in einem Land ein, das hierzulande immer nur als Eldorado für Steuermillionäre wahrgenommen wird. Der erfolgreiche Arbeitskampf im Bahnreparaturwerk Bellinzona im Jahr 2008 hat in der Gewerkschaftslinken hierzulande Interesse geweckt. Thomas schildert die Hintergründe des Erfolgs und die Auswirkungen bis zum Streik bei der Maschinenfabrik INNSE in Mailand. Er macht auch deutlich, dass neben den Beschäftigten auch deren Familien Teil der Auseinandersetzung waren. Das ist ein Unterschied zur Situation beim von Thomas geschilderten Arbeitskampf 1974 in einer Schweizer Klavierfabrik, wo die Streikaktivisten ihre Frauen ausdrücklich aus den Konflikt heraushalten wollen.
Insgesamt ist es ein lesenswertes Werk. Das Buch macht Mut und schärft den Blick für Lohnkämpfe, die es nicht in die Schlagzeilen schaffen wie ein eintägiger Generalstreik, aber mehr Eigenaktivität der Basis erfordern.
Leder, Anna (Hg.) – ARBEITSKÄMPFE IM ZEICHEN DER SELBSTERMÄCHTIGUNG – Kollektive Gegenwehr in Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Serbien, Promedia-Verlag, 2011, Wien, ISBN 978-3-85371-333-4, 224 Seiten, 17,90 Euro
Peter Nowak