Jüdische Naziverfolgte fanden in Uruguay Zuflucht und mussten in den 70er-Jahren wieder fliehen
Enrique Blum hieß früher Heinrich. Erst in Lateinamerika hispanisierte er seinen Namen. Der Medizinstudent aus Halle kam zusammen mit seinen Eltern am 24. Juli 1937 in Uruguay an. »Man hat ein Loch außerhalb Europas gesucht«, begründet Heinrich Blum die Wahl seines Exillandes. Auch für andere wurde das kleine Land am Rio de la Plata zwischen 1933 und 1945 zum Zufluchtsort vor dem NS-Terror. Und die große Mehrheit der Exilanten waren Juden.
Die Berliner Historikerin Sonja Wegner hat mit ihrem Buch die Geschichte dieser »Zuflucht in einem fremden Land« erforscht. Im ersten Teil des Buches beschreibt sie die Wege ins Exil, das oft eine Rettung in letzter Minute war. Fast alle Länder verschärften gerade in dem Augenblick ihre Einwanderungsgesetze, als das Naziregime den Druck auf die Juden immer weiter steigerte. In einem eigenen Kapitel schildert die Autorin die perfiden Methoden der Ausplünderung der Emigranten.
Innenpolitik Während in Deutschland die Situation für Juden und Nazigegner immer lebensgefährlicher wurde, entwickelte sich die innenpolitische Situation in Uruguay für die Emigranten günstig. Nachdem eine rechte Diktatur, die gute außenpolitische Kontakte zu Deutschland und Italien pflegte, 1938 abtreten musste, näherte sich das Land außenpolitisch den USA an.
Die liberalen Einreisebestimmungen in Uruguay ermöglichten es den Einwanderern zudem, innerhalb von drei Jahren eingebürgert zu werden. Die Prokuristin Hedwig Freudenheim erhielt das begehrte Dokument sogar bereits nach wenigen Monaten. Dass trotz der Einwanderungsmöglichkeit das Leben für die jüdischen Emigranten in Uruguay keineswegs einfach war, zeigt Wegner am Beispiel von Carl Sichel auf.
Der 50 Jahre alte Rechtsanwalt durfte in Uruguay seinen Beruf nicht ausüben und versuchte, als Geschäftsmann zu überleben. Wie Sichel ging es vielen Exilanten, die in Deutschland bürgerliche Berufe ausgeübt hatten und in dem Aufnahmeland mit Gelegenheitsarbeiten ihren Lebensunterhalt verdienen mussten.
Konflikte Hoch waren die Einwanderungshürden allerdings für politische Emigranten, die häufig bereits in Deutschland in linken Organisationen aktiv waren. In eigenen Kapiteln geht Wegner auf die politischen Aktivitäten der Emigranten und die Auseinandersetzung darum unter den jüdischen Emigranten ein.
Als sich das Ende des NS-Systems abzeichnete, verschärften sich die Diskussionen auch innerhalb der jüdischen Exilgemeinschaft. Während der unter den jüdischen Emigranten in Montevideo sehr einflussreiche Hermann P. Gebhardt mit anderen antifaschistischen Organisationen für ein »anderes Deutschland« eintrat, wandte sich Karl Berets von der deutsch-jüdischen Neuen Israelitischen Gemeinde in einem Offenen Brief gegen dieses Engagement und trat für einen Staat Israel ein.
In den 50er-Jahren verhinderten die in Uruguay ansässigen jüdischen Emigranten, dass ausgerechnet der Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze, Hans Globke, als Staatssekretär der Adenauer-Regierung Uruguay besuchen konnte. Einige der neuen uruguayischen Staatsbürger mussten allerdings in den 70er-Jahren, als in Uruguay eine rechte Militärjunta die Macht ergriff, erneut fliehen. Ernesto Kroch, ein linker Gewerkschafter, der als Jugendlicher vor den Nazis geflohen war, suchte in Deutschland Exil. Sonja Wegner: »Zuflucht in einem fremden Land: Exil in Uruguay 1933–1945«, Assoziation A, Berlin 2013, 375 S., 22 €
Der Film erzählt die bisher unbekannte Geschichte des Überlebenskampfs ukrainischer Juden im Nationalsozialismus.
Die deutschen Verbrechen in der Nazizeit werden schon lange historisiert. Die Menschen, die sie noch selber erleiden mussten, sind fast alle tot. Daher verdienen Filme, in denen die heute Hochbetagten noch selber zu Wort kommen, besondere Aufmerksamkeit.
No Place on Earth, der vom deutschen Verleih mit der Übersetzung «Kein Platz zum Leben» untertitelt wurde, gehört zu diesen Filmen. Die Regisseurin Janet Tobias verfilmt die Geschichte des US-Höhlenforschers Christopher Nicole, der sich nach seiner Pensionierung auf eine Expedition in die unbekannten Unterwelten in der Ukraine aufmacht und dort Spuren menschlichen Lebens entdeckt, die keinesfalls aus prähistorischer Zeit stammen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, wird er fündig. Die Spuren stammen von Juden, die vor den Nazis und ihren ukrainischen Helfern für mehrere Monate Zuflucht in der Höhle suchten. Schließlich findet er sogar einige Überlebende, die nach ihrer Befreiung in die USA ausgewandert sind.
Es wird ein Kapitel von Verfolgung und Überlebenskampf geschildert, das die Zuschauer gefangen hält. Die Flucht in die Höhle bedeutete nicht dauerhafte Rettung. Die Menschen mussten Lebensmittel aus der Umgebung besorgen und kamen dabei mehrmals in gefährliche Situationen. Schließlich schütteten Dorfbewohner alle Eingänge der Höhle zu, und die Eingeschlossenen mussten sich mühselig einen neuen Weg an die Oberfläche graben.
Die Tragödie, die das Leben in der Höhle bedeutete, kann im Film nur angedeutet werden. Sie wird deutlich, wenn berichtet wird, wie einer der Jungen geschlagen wird, nachdem er erwischt wurde, wie er sich aus großem Hunger an den kargen Mehlvorräten zu schaffen machte. Schließlich stürmten die Nazis und ihre einheimischen Hilfstruppen die Höhle und verschleppten einen großen Teil der Bewohner in Vernichtungslager. Einige konnten sich im weit verzweigten Höhlensystem verstecken und überlebten.
Höhepunkt des Filmes ist ein Treffen der Überlebenden, die im hohen Alter erstmals wieder eine geführte Tour durch die Höhle machten und sich dabei erinnerten, an welchen Orten die wenigen Gegenstände des täglichen Bedarfs aufbewahrt worden waren. So spielte der Film für die Überlebenden eine wichtige Rolle bei ihrer Erinnerungsarbeit. Allein deswegen ist es begrüßenswert, dass er erschienen ist. In der deutschen Presse wurde er aber überwiegend negativ besprochen. Vor allem die vielen Reenactment-Darstellungen (die Neuinszenierung geschichtlicher Ereignisse in möglichst authentischer Weise) und die eingespielte Musik wurden als kitschig kritisiert. Diese scharfe Kritik könnte ihren Grund auch darin haben, dass es keinen deutschen Retter à la Oskar Schindler gibt, der zum deutschen Filmhelden wurde. Es war der Überlebenswille der Juden und die Rote Armee, die die Überlebenden aus der ukrainischen Höhle befreite und ihnen das Leben rettete. Dass mit dem Film diese bisher unbekannte Geschichte des jüdischen Überlebenskampfs einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde, ist begrüßenswert und sollte zum Kinobesuch animieren.
Ein Film spricht die Themen an, die in Deutschland auch im Vorwahlkampf kaum diskutiert werden
Wenige Wochen vor der Bundeswahl wird das Sommerloch mit Meldungen über die NSA-Abhöraffäre gefüllt. SPD und Grüne hoffen mit dem Thema doch noch in die Offensive zu kommen, in dem sie die nationale Karte spielen und die Bundesregierung als zu nachgiebig gegenüber den USA darstellen wollen.
Über die alltägliche Überwachung, der beispielsweise alle Hartz IV-Bezieher ausgesetzt ist, für die es kein Bankgeheimnis gibt, die ihre Reisepläne offenlegen müssen und im Verdachtsfall von Sozialdetektiven ausgeforscht werden können, hingegen ist nicht die Rede. Dabei hat diese Art der Überwachung sicherlich für die Betroffenen viel konkretere Auswirkungen als alle Ausspähversuche des Datenstaubsaugers NSA.
Das Verschweigen dieser alltäglichen Überwachung in Deutschland ist nur ein Beispiel dafür, dass zumindest zwischen den größeren Parteien – aller Rhetorik um Mindestlöhne und soziale Kälte zum Trotz – weitgehend Einigkeit darin besteht, dass alles, was der Wirtschaft nützt, gut für den Standort Deutschland ist und oberste Priorität hat.
Wie mit diesem Dogma seit mehr als einem Jahrzehnt der Sozialstaat demontiert wird, zeigt der Regisseur Rolf T. Niemeyer in seinem seit kurzem vollständig im Netz verfügbaren Film „Das Märchen der Deutschen“ [1] mit zahlreichen Interviews in 70 Minuten. Dass es der Film in keinen Fernsehsender geschafft hat, liegt sicher nicht nur an manchen handwerklichen Mängeln, die vor allem dem schmalen Budget geschuldet sein dürften.
Da der Film die wirtschaftsliberalen Mythen gnadenlos zerstört, die in fast allen Parteien trotz des häufigen Krisengeredes weiterhin hegemonial sind, findet eine solche Auseinandersetzung auch in öffentlich-rechtlichen Sendern keinen Platz. Dabei werden in dem Film die Themen behandelt, über die eigentlich in der Republik nicht nur im Vorwahlkampf gestritten werden müsste. Doch die Frage, warum auch die grüne und sozialdemokratische Opposition daran kein Interesse zeigt, beantwortet der Film gleich mit.
Diese Parteien haben die wesentlichen Weichenstellungen für die Deregulierung und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen mit veranlasst. Die Rolle des gegenwärtigen SPD-Kanzlerkandidaten als Minister der großen Koalition kommt dort ebenso zur Sprache, wie der Umbau des Sozialstaats unter Rot-Grün. Da fällt dem SPD-Politiker Walter Steinmeier nicht viel mehr ein, als vor einer Legendenbildung zu warnen, die er schon in den kritischen Fragen des Regisseurs erkennen will.
Anschlag auf die Rentenversicherung
Wenn Niemeyer dann mit der kürzlich geschassten [2] Hamburger Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann [3], mit Erwerbslosen aus Höxter und Berlin spricht, dann wird ein Ausschnitt der sozialen Realität in diesem Lande deutlich, der im Märchen vom boomenden Wirtschaftswunderland Deutschland nicht vorkommt.
Vieles, was Niemeyer in dem Film behandelt, hat man in den letzten Jahren so oder ähnlich auf den NachDenkSeiten [4] gelesen, in dem die letzten Verteidiger des rheinischen Kapitalismus eine verzweifelte Abwehrschlacht gegen den Wirtschaftsliberalismus führen. Die Interviews, die Niemeyer im Film mit dem Mitbegründer der NachDenkSeiten Albrecht Müller [5] und den ehemaligen christdemokratischen Bundesarbeitsminister Norbert Blüm [6] führte, gehören zweifellos zu den Höhepunkten.
Sie äußern sich zu einem zentralen Thema des Films, der Zerschlagung eines weitgehend solidarischen Rentensystems zugunsten der privaten Rentenversicherung. Müller geht auf die publizistische Vorarbeit ein, die nicht nur von Medien des Springerkonzerns mit den Schlagworten des demographischen Faktors geleistet wurde, um das bisherige Rentensystem als überholt und unbezahlbar zu diskreditieren. Über die gestiegene Produktivität wurde dabei nicht geredet. Erst auf dieser Basis konnte dann eine Politik relativ geräuschlos vollzogen werden, die Norbert Blüm als Anschlag auf die Rentenversicherung bezeichnet. Die einst als Zusatz angepriesenen privaten Rentenversicherungen wurden zur zentralen Säule des neuen System.
Abschied vom Ruhestand
Die Folgen sind bekannt: Altersarmut und Lohnarbeit bis fast ans Lebensende. Hier wäre ein Blick über den deutschen Tellerrand sinnvoll gelesen. So hat der Jenaer Soziologe Stephan Lessenich [7] in einem Beitrag [8] für Le Monde Diplomatique aufgezeigt, wie das Recht auf Rente erkämpft wurde und wie es mit dem Siegeszug des Wirtschaftsliberalismus europaweit wieder zur Disposition gestellt wurde:
„Sollte sich diese Tendenz zur materiellen Entsicherung der Lebensverhältnisse und zur neuerlichen ‚Eingemeindung‘ der Rentner in die normativen Strukturen der Erwerbsgesellschaft fortsetzen, so wäre die Geschichte des Ruhestands eine ausgesprochen kurzlebige Epoche gewesen. In einer künftigen Sozialgeschichtsschreibung der europäischen Gesellschaften würde man die regulative Idee, die politische Semantik und die soziale Praxis des Ruhestands rückblickend als wohlfahrtsstaatliches Intermezzo deuten müssen – sozusagen als kurzen Sommer der Anarchie im Umgang der Arbeitsgesellschaft mit dem Alter.“
Eine solche theoretische Grundierung würde man sich auch im Film manchmal wünschen. Zudem vertritt Niemeyer wohl die These, dass der Wirtschaftsliberalismus vor allem das Produkt einer bestimmten Politik war. Die ökonomischen Bedingungen, die ihn hervorbrachten, kommen kaum zur Sprache. So wird auch nicht die Frage gestellt, ob ein Anknüpfen an den rheinischen Kapitalismus heute überhaupt noch möglich und sinnvoll ist.
Trotz dieser Einwände ist der Film sehenswert. Schließlich entmystifiziert er manches deutsche Wirtschaftsmärchen und das ist die Grundlage, damit weitere Fragen überhaupt gestellt werden können. Dass in dem Film Demonstrationen gegen die dort beschriebene Entwicklung kaum vorkommen, ist den deutschen Verhältnissen geschuldet, wo auch die Rente mit 67 fast kampflos hingenommen wurde, während in Frankreich dagegen gestreikt wurde, wie in einem sehr [http//:www.grandpuits-lefilm.fr] zu sehen ist.
Die TU Berlin stellt sich endlich ihrer NS-Vergangenheit
»Universitäten oder Hochschulen besinnen sich meist dann auf ihre Geschichte, wenn ihnen ein Jubiläum ins Haus steht«, konstatierte Carina Baganz. Im Lichthof der Technischen Universität Berlin stellte sie ihr Buch ihr Buch „ Diskriminierung, Ausgrenzung, Vertreibung“ – die Technische Hochschule Berlin während des Nationalsozialismus“ vor. Die am Zentrum für Antisemitismusforschung arbeitende Historikerin versteht ihre Publikation als Beitrag, im „Dritten Reich“ begangenes Unrecht wiedergutzumachen und die Erinnerung an die Einst betroffenen wachzuhalten.
Warum erst sieben Jahrzehnte vergehen mussten, ehe die Hochschule sich ernsthaft mit ihrer NS-Vergangenheit auseinandersetzt, wäre selbst der Nachforschung wert. Tatsächlich hatte Studierenden in den 50er und frühen 60er Jahren nicht selten mit Strafverfahren zu rechnen, wenn sie die NS-Geschichte ihrer Hochschule erforschen wollten und dabei die Namen mancher noch lehrender Professoren entdecktem. Erst nachdem fast alle pensioniert waren, setzte die zaghafte Beschäftigung mit der braunen Geschichte ein. In der TU Berlin wurde 1979 eine Festschrift mit dem Titel Wissenschaft und Gesellschaft herausgegeben, das sich erstmals ausführlicher mit der Hochschule im Nationalsozialismus befasste. In drei Jahren steht mit dem 70ten Jahrestag der TU-Gründung ein neues Jubiläum an. Eine gute Zeit also für eine Publikation, die den bisher umfassendsten Überblick über das Ausmaß der Vertreibungen, Diskriminierung und Ausgrenzung von Wissenschaftlern und Studierenden gibt. Der Grundstein wurde bereits vor 1933 gelegt. Der Rektor der TH Berlin in der Zeit von 1938 bis 1942 Ernst Stein erklärte am Ende seiner Amtszeit stolz , dass die TH Berlin schon vor 1933 „als eine Hochburg des Nationalsozialismus unter den deutschen Hochschulen“ galt. Sowohl unter den Studierenden als auch bei einem Teil der Wissenschaftler hatten sich völkisches Gedankengut und Antisemitismus schon längst etabliert. So war der Widerstand auch gering, als oft langjährige Wissenschaftler die Hochschule verlassen und oft auch ihre akademischen Titel zurückgeben mussten, weil sie Juden waren. Einige der Betroffenen verwiesen auf ihre patriotische Gesinnung und ihrer Verdienste im ersten Weltkrieg, was ihnen allerdings nur kurzzeitig das Amt rettete. Andere wie der aus Ungarn stammende Bauingenieur Nikolaus Kelen reagierten auf seine Beurlaubung mit der Erklärung, dass er sich nicht mehr als Angehöriger der TU Berlin betrachte. Für andere Wissenschaftler brach mit ihrer Relegierung eine Welt zusammen. Mehrere der Entlassenen verübten Selbstmord, andere emigrierten. Viele wurden später in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet.
Ein bisher noch weitgehend unerforschtes Kapitel ist der Einsatz von meist osteuropäischen Zwangsarbeitern an der TH-Berlin. Sie sollten in den letzten Kriegsjahren die Schäden beheben, die durch Bombenangriffe an Einrichtungen der Hochschule entstanden sind. Ein weiteres Forschungsthema wäre der Umgang mit Opfern und Tätern an der Hochschule nach 1945. So wurde selbst der Nationalsozialist der ersten Stunde an der TH-Berlin Willi Willing, der für die Maßnahmen gegen jüdische Hochschulangehörige an vorderster Front beteiligt war, als minderbelastet eingestuft. Während viele ehemalige Nationalsozialisten nach 1945 ihre Karriere fortsetzen konnten, wurde vielen Opfern die kalte Schulter gezeigt. Dazu gehört Dmitri Stein, der 1943 an der TH als Jude seine Promotion im Fach Elektrotechnik verweigert wurde. Als er in den 50er Jahren seine Promotion an der TU Berlin zu Ende führen wollte, wurde ihm mitgeteilt, man habe jetzt ganz andere Sorgen. 2008 wurde Dimitri Stein nach 65 Jahren die Doktorprüfung überreicht. Viele andere hatten das Glück nicht. Das Buch sorgt nun dafür, dass ihre Namen nicht vergessen werden und kann für heutige Formen von Diskriminierung auch an der Hochschule sensibilisieren, worauf die Studierende der Geisteswissenschaften Filiz Dagci in ihren Beitrag zur Buchvorstellung hinwies.
Carina Baganz, Diskriminierung, Ausgrenzung, Vertreibung. Die Technische Hochschule währed des Nationalsozialismus. Metropol Verlag, Berlin 2013, 414 Seiten, 24 Euro
International Ein neues Buch über die Hintergründe der autoritären Entwicklung in Ungarn
Die innenpolitische Entwicklung Ungarns ist immer wieder Thema innerhalb der EU. Verstärkt drängen zivilgesellschaftliche Organisationen auf Sanktionen als Reaktion auf den Rechtskurs der Regierung Orbán, seitdem diese 2010 mit Orbáns Fidesz-Partei eine überragende Mehrheit erreichte und die faschistische Jobbik sich als Opposition etablierte. Anders als vor über zehn Jahren, als in Österreich mit der FPÖ unter Jörg Haider eine offen rechte Partei in Regierungsverantwortung kam, gibt es jedoch in der außerparlamentarischen Linken nur wenige Diskussionen über die innenpolitische Situation in Ungarn.
Da kommt ein Buch gerade Recht, das kürzlich unter dem Titel »Mit Pfeil, Kreuz und Krone« im Unrast-Verlag erschienen ist und einen fundierten Überblick über die Entwicklung Ungarns nach rechts gibt. Im ersten Kapitel geht die deutsch-ungarische Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky auf die ideologischen Hintergründe der völkischen Entwicklung in Ungarn ein und zeigt eine jahrzehntelange innenpolitische Entwicklung nach rechts auf.
Ein zentrales Datum war dabei der Sturm auf das Gebäude des staatlichen Fernsehens in Budapest am 18. September 2006 durch TeilnehmerInnen einer Großdemonstration gegen den damaligen Ministerpräsidenten Gyurcsány. In der darauf folgenden Lynchstimmung gegen Linke, Liberale und kritische JournalistInnen sei die neue Republik geboren worden, die Orbán zunächst als Oppositionspolitiker beschworen hatte und nun als Ministerpräsident vorantreibt.
Präzise beschreibt Marsovszky den nationalistischen Diskurs in der Geschichtspolitik sowie im Umgang mit den Nachbarländern. Wenn sie mit Rekurs auf den US-Historiker Fritz Stern resümiert, dass die Angst vor einer liberalen, offenen Gesellschaft das zentrale Problem in Ungarn sei, bleibt sie liberalen Gesellschaftsvorstellungen verhaftet. So ist es auch nur folgerichtig, dass Marsovszky bei ihrer Beschreibung der oppositionellen Kräfte in Ungarn die kleine kommunistische Arbeiterpartei mit keinem Wort erwähnt. Dabei gab es mehrere Strafprozesse gegen Mitglieder dieser Partei, weil sie weiterhin kommunistische Symbole wie Hammer und Sichel in der Öffentlichkeit zeigten, die in Ungarn kriminalisiert werden.
Antiziganismus, Homophobie und Antisemitismus
Im zweiten Kapitel geht der in Hamburg lebende Publizist Andreas Koob auf die Feindbilderklärung gegen Sinti und Roma, aber auch den Antisemitismus und die Homophobie in Ungarn ein. Koob macht an zahlreichen Beispielen deutlich, wie marginal die Unterschiede zwischen Fidesz, Jobbik und rechten Bürgerwehren besonders in der ungarischen Provinz oft sind. Vor allem in kleineren Orten führt dieses Zusammenwirken zu einem Klima der Ausgrenzung und Diskriminierung insbesondere gegenüber Sinti und Roma. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch ein von der Regierung beschlossenes Gesetz, das Erwerbslose, die öffentliche Leistungen bekommen, zu einem strengen Arbeitsregime mit ständiger öffentlicher Kontrolle verpflichtet.
Der Publizist Holger Marcks geht im dritten Kapitel auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik der ungarischen Regierung ein, die in der öffentlichen Debatte bisher selten erwähnt wird. Er macht deutlich, dass es sich hier um eine Wirtschaftspolitik handelt, wie sie viele völkische Gruppen schon vor 100 Jahren propagierten und die auch auf das Programm der frühen NSDAP großen Einfluss hatte. Der Kampf gegen ausländische Banken, aber auch Großorganisationen wie den IWF gehört ebenso zu den Elementen dieser Wirtschaftspolitik wie die Propagierung des Schutzes der heimischen Industrie und des Mittelstandes.
Trotz aller Kritik erhält die Fidesz-Partei nach wie vor Unterstützung durch die europäischen Konservativen und auch durch PolitikerInnen aus CDU und CSU. Ungarn könnte daher, so die Befürchtung der AutorInnen, durchaus eine Pilotfunktion haben, indem es völkisch-rechte Politik in der EU wieder salonfähig macht. Ein Grund mehr, dass die Linke darüber diskutiert.
Peter Nowak
Andreas Koob, Holger Marcks und Magdalena Marsovszky: Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn. Unrast-Verlag, Münster 2013. 208 Seiten, 14 EUR.
http://www.akweb.de/ ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 584 / 21.6.2013
Vor 40 Jahren traten Arbeiterinnen von Pierburg in den Ausstand – ein Buch versammelt Zeitzeugen und Dokumente
Eine Mark mehr Lohn und die Abschaffung der Leichtlohngruppe lauteten die zentralen Forderungen eines Streiks, der vor 40 Jahren die damalige Linke jenseits aller Differenzen mobilisierte. Es waren überwiegend migrantische Frauen, die bei der Autozubehörfirma Pierburg in Neuss in den Arbeitskampf getreten sind ohne auf die Gewerkschaftsbürokratie zu warten und sogar erfolgreich haben. Dabei hat der im Nationalsozialismus wie in der BRD erfolgreiche Unternehmerpatriarch Alfred Pierburg die streikenden Frauen hart bekämpft. Unterstützt wurde er dabei von den Neusser Polizeipräsidenten Günther Knecht, der die Knüppeleinsätze gegen die streikenden Frauen mit dem Satz rechtfertigte. „Wilder Streik, das ist Revolution“.
Dieses Zitat wurde zum Titel für einen Dokumentenband über den Pierburg-Streik, das der damalige oppositionelle Betriebsrat des Unternehmens Dieter Braeg kürzlich im Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ herausgegeben hat. Er hat dort zahlreiche zeitgenössische Berichte über den Streik und den 40minütigen Film „Ihr Kampf ist unser Kampf“ erneut zusammengestellt.
Hinter der Einschätzung von Dieter Braeg, der Pierburg-Streik sei ein Beispiel für „eine andere deutsche Arbeiterinnen – und Arbeiterbewegung“ muss allerdings ein großes Fragezeichen gesetzt werden. Mit einer viel größeren Berechtigung könnte der Streik als Beispiel für einen selbstorganisierten Kampf migrantischer Frauen angeführt waren. Die in dem Buch aufgeführten Dokumente machen deutlich, wie die im Nationalsozialismus sozialisierten Vorarbeiter auf den Kampf der Frauen reagierten. „Ihr seit doch das aufsässigste Pack, was mir je untergekommen ist“, ihr Scheißweiber“, schrie einer der Pierburg-Vorarbeiter eine griechische Beschäftigte an und drohte ihr mit Schlägen, weil sie sich bei dem Betriebsrat über die Arbeitsbedingungen beschwert hatte. Die Dokumente zeigen auch, die Ignoranz mancher Betriebsräte, denen die Pflege der Trikots der firmeneigenen Fußballmannschaft wichtiger als die Interessenvertretung der Kolleginnen war. Die IG-Metall-Führung versuchte den Streik in institutionelle Bahnen zu lenken. Nachdem der Ausstand erfolgreich abgeschlossen war, überzog das Unternehmen vier oppositionelle Betriebsräte mit langwierigen Gerichtsprozessen, bei denen sie sich für Solidaritätsbesuche bei anderen Betrieben rechtfertigen mussten. Braeg ordnet den Pierburg-Streik in den politischen Kontext jener Jahre ein. Mit den Septemberstreiks von 1969 begann ein Aufbegehren von Lohnabhängigen, die sich nicht mehr in DGB-konforme Vertretungsinstanzen pressen lassen wollten. Daran waren migrantische Beschäftigte federführend beteiligt. Höhepunkt war der Streik und die Besetzung der Kölner Fordwerke im August 1973. Als die Polizei die Fabrik mit Gewalt räumte, zahlreiche Streikende festnahm und mehrere der migrantischen Aktivisten als angebliche Rädelsführer abschieben ließ, titelte die Springerpresse: „Deutsche Arbeiter kämpfen Ford frei“.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/826492.wilder-streik-der-migrantinnen.html
Peter Nowak
Braeg Dieter, Wilder Streik, Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973, Die Buchmacherei, ISBN 978-3-00-039904-6, 13, 50 Euro
Der Herausgeber stellt das Buch und den Film am Samstag, 06. Juli, um 15 Uhr im Berliner Mehringhof Gneisenaustr. 2a vor
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Daud Rawosh (Volkspartei): Soziale Gerechtigkeit und der Kampf gegen ethnische Zersplitterung sind zentrale Ziele **
Es gibt Streit zwischen den USA und der afghanischen Regierung wegen der Verhandlungen mit den Taliban. Wie stehen Sie als Vorsitzender einer linken afghanischen Partei dazu?
Wir halten Gespräche mit den Taliban nur unter ganz klaren Bedingungen für sinnvoll. Dazu gehört die Respektierung der afghanischen Verfassung, was die Rechte der Frauen einschließt. Zudem müssen sie den bewaffneten Kampf aufgeben.
Befürchten Sie nach dem Abzug der NATO-Truppen einen Machtzuwachs der Taliban?
Die ausländischen Truppen ziehen nicht vollständig ab. Zudem ist mittlerweile auch eine afghanische Sicherheitsstruktur entstanden, die eine Machtübernahme der Taliban verhindern könnte. Aber selbst auf dieses schlimmste Szenario ist unsere Partei vorbereitet. Schließlich konnten wir selbst unter der Taliban-Herrschaft bis 2001 illegale Strukturen aufrechterhalten.
Wie steht Ihre Partei zur Militärintervention von 2001?
Wir sind prinzipiell gegen jede Besatzung. Doch 2001 gab es für uns nur die Alternative, weiter unter dem besonders reaktionären, mittelalterlichen Taliban-Regime zu leben oder es durch die Intervention loszuwerden. Zudem darf nicht übersehen werden, dass in dieser Zeit Afghanistan zum Aufmarschgebiet von Al Qaida und anderen islamistischen Gruppen geworden war. Deshalb lehnen wir nicht die Intervention ab. Wir protestieren aber gegen jegliche Menschenrechtsverletzungen durch die NATO-Truppen in unserem Land.
Afghanische Frauenorganisationen sehen nicht nur in den Taliban, sondern auch in den Warlords ein Problem.
Wir teilen diese Einschätzung völlig. Der Einfluss islamistischer Herrscher ist ein großes Hindernis bei der Durchsetzung von Demokratie und Frauenrechten.
Könnte durch die Verhandlungen mit den Taliban nicht das Gewicht dieser reaktionären Gruppierungen wachsen?
Die in der Verfassung garantierten Rechte dürfen weder durch die Taliban noch durch andere Gruppierungen infrage gestellt werden.
Wie sehen Sie die Rolle von Präsident Hamid Karsai?
Es ist bekannt, dass Karsai einem korrupten politischen System vorsteht, das in Drogenhandel verstrickt ist. Daher sind wir erklärte Gegner von Karsai. Das schließt allerdings nicht aus, dass wir einzelne Maßnahmen von Karsai unterstützen, wenn sie zur Stärkung der demokratischen Rechte beitragen.
Wie ist die von Ihnen repräsentierte Partei entstanden?
Sie ging voriges Jahr aus »Bewegungen für Demokratie« hervor, die in Afghanistan aktiv waren. Die Partei sieht sich in der historischen Tradition der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA), die 1978 führend an der Aprilrevolution beteiligt war. Dennoch sind wir eine völlig neue Partei, die unter den aktuellen Bedingungen und auf dem Boden der afghanischen Verfassung agiert.
Wie groß ist der Zuspruch bisher?
Viele Aktivisten der DVPA sind auch in der neuen Partei aktiv. Mittlerweile ist sie in 24 der 34 Provinzen vertreten. Ein Schwerpunkt der Partei ist die Arbeit in Gewerkschaften und Frauenorganisationen. Auch der Vorsitzende des afghanischen Handwerksverbandes ist Mitglied unsere Partei.
Welche zentralen Ziele verfolgt Ihre Partei?
Wir kämpfen um soziale Gerechtigkeit und lehnen die ethnische Spaltung ab. Die meisten Parteien in Afghanistan sind nur in einer bestimmten Ethnie verankert, was zur Zersplitterung des Landes führt. Wir hingegen haben eine gesamtgesellschaftliche Perspektive und kämpfen für egalitäre Verhältnisse.
** Aus: neues deutschland, Freitag, 21. Juni 2013
https://www.neues-deutschland.de/artikel/825090.wir-verlangen-dass-die-taliban-die-verfassung-nicht-in-frage-stellen.html
Ingo Falk ist Mitglied der Anti-Atom-Gruppe Freiburg
nd: Jährlich protestieren Atomkraftgegner in der Region um das an der Grenze zu Deutschland gelegene, französische AKW Fessenheim. Am Wochenende führt die Fahrraddemonstration »Tour de Fessenheim 2013« von Mulhouse nach Colmar. Was ist geplant?
falk: Bereits im vergangenen Jahr haben wir auf etliche Projekte der erneuerbaren Energien in der Region aufmerksam gemacht. Diesmal steht die Besichtigung der neuen Photovoltaikanlage in Staffelfelden auf 5,5 Hektar Fläche mit einer installierten Leistung von 5,3 Megawatt auf unserem Programm. Im Département Aude in der Gegend um Narbonne und Carcasonne wird schon heute mit Wind- und Solarenergie mehr als 50 Prozent des Stroms erzeugt. Nur in den Mainstreammedien in Deutschland ist immer noch die Rede von der »Atomstromnation Frank-reich«.
Lässt das Interesse am Protest nicht nach, da viele im Elsass meinen, das AKW Fessenheim werde in wenigen Jahren stillgelegt?
Zum einen wollen wir dieser trügerischen Hoffnung etwas entgegensetzen, zum anderen zeigen uns die Anmeldungen, dass gerade die Zahl der französischen Teilnehmer in diesem Jahr höher liegen wird als bei der »Tour de Fessenheim 2012«.
Welche Risiken sehen Sie durch den Betrieb dieses AKWs?
Das Rheintal ist eine geologische Bruchzone und daher Erdbebengebiet. Im Jahr 1356 wurde die rund 35 Kilometer von Fessenheim entfernte Schweizer Stadt Basel durch ein Erdbeben zerstört. Es handelte sich um das stärkste überlieferte Erdbeben in Mitteleuropa. Im Juni 2011 bestätigte ein Gutachten, dass das am Rheinseitenkanal gelegene Atomkraftwerk nicht ausreichend gegen die Folgen eines Dammbruchs gesichert ist. Laut einer TV-Dokumentation auf »France 2« hielt der Betreiberkonzern einen internen Bericht zurück, in dem katastrophale Untersuchungsergebnisse über den Zustand des Rheinseitenkanals zu lesen sind. Ein solcher Dammbruch kann durch ein Erdbeben ausgelöst werden.
Wenn es so gefährlich ist, wie Sie darstellen, warum bleibt das AKW am Netz?
Pro Jahr wirft ein Reaktorblock durchschnittlich 300 Millionen Euro an Profit ab. Bei den zwei Reaktorblöcken des AKW Fessenheim sind dies also rund 600 Millionen. Solange teure Nachrüstungen oder pannenbedingte Stillstandszeiten diesen Profit nicht minimieren, bleibt ein enormes ökonomisches Interesse am Weiterbetrieb. Bekanntlich unterstützt auch die kommunistische Gewerkschaft CGT den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke in Frankreich. Es ist bekannt, dass sich diese Gewerkschaft maßgeblich über Zuwendungen von Konzernen und insbesondere des französischen Stromkonzerns EdF finanziert.
Frankreich bleibt Atommacht?
Wir müssen sehen, dass die politische Kaste in Frankreich unbeirrt an der atomaren Bewaffnung, der »force de frappe«, festhält. Atomkraftwerk und Atombombe sind siamesische Zwillinge. Ohne eine Abkehr von der Atombombe ist daher das Versprechen von Präsident François Hollande, einen Atomausstieg in Frankreich einzuleiten, wenig glaubwürdig. Zumal wenn in Mali ein Krieg geführt wird, der der Sicherung von Uranminen im benachbarten Niger dient, und wenn weiterhin Milliarden Euro staatlicher Gelder in die Förderung der Atomenergie fließen.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/825974.radeln-gegen-akw.html
Interview: Peter Nowak
„Tour de Fessenheim“: Atomkraft-Gegner protestieren gegen das an der deutsch-französischen Grenze gelegene AKW
Am kommenden Wochenende findet die Tour de Fessenheim 2013 statt – in diesem Jahr auf der Strecke von Mulhouse nach Colmar. Nach wie vor gilt die Fahrrad-Demonstration dem Protest gegen das an der deutsch-französischen Grenze gelegene AKW Fessenheim. Frankreichs neuer Präsident François Hollande hat zwar versprochen, das mit rund 36 Jahren älteste französische Atomkraftwerk gegen Ende seiner vierjährigen Amtszeit stillzulegen, doch die Atomkraft-Gegner dies- und jenseits des Rheins haben da ihre Zweifel und drängen auf eine sofortige Stilllegung. Außerdem stehen bei der diesjährigen Tour de Fessenheim die erneuerbaren Energien im Zentrum.
Die Tour de Fessenheim stellt gleich in dreierlei Hinsicht zu schnelle Urteile über die Anti-AKW-Bewegung infrage. Da gibt es die in den Medien immer wieder verwendete Behauptung, dass mit dem langsamen Ausstiegsbeschluss aus der Atomkraft auch die Anti-AKW-Bewegung ihre Funktion verloren habe, und es jetzt nur noch darum gehe, einen Platz für den atomaren Müll zu finden. Eine zweite Behauptung in vielen deutschen Medien besagt, dass die Bevölkerung in Frankreich mehrheitlich gegenüber AKW-kritischen Bestrebungen resistent sei.
Schließlich wird immer wieder behauptet, dass ein Desaster wie in Fukoshima in Europa nicht möglich wäre. Die Proteste gegen das AKW Fessenheim haben in den letzten zwei Jahren nach den Gau in Japan neuen Zulauf bekommen, die Kooperation mit französischen Mitstreitern wurde ausgebaut. Ein Unfall in Fessenheim könnte gravierendere Auswirkungen haben, als das Desaster in Japan, meint Ingo Falk vom Organisationsteam der Tour de Fessenheim im Gespräch mit Telepolis.
„Ein AKW in einem mitteleuropäischen Erdbebengebiet ist unverantwortlich“
Lässt das Interesse am Protest nicht nach, wenn nun viele im Elsass meinen, das AKW Fessenheim werde in wenigen Jahren stillgelegt?
Ingo Falk: Zum einen wollen wir dieser trügerischen Hoffnung etwas entgegensetzen, zum anderen zeigt uns die Zahl der Anmeldungen, dass gerade die Zahl der französischen Teilnehmer in diesem Jahr sicher höher liegen wird als im vergangenen Jahr.
Welche Risiken sehen Sie für das AKW-Fessenheim?
Ingo Falk: Das Rheintal ist eine geologische Bruchzone und daher Erdbebengebiet. Im Jahr 1356 wurde die von Fessenheim rund 35 Kilometer entfernte Schweizer Stadt Basel durch ein Erdbeben zerstört. Es handelte sich um das stärkste überlieferte Erdbeben in Mitteleuropa. Im Juni 2011 wurde durch ein Gutachten bestätigt, dass das am Rheinseitenkanal gelegene Atomkraftwerk nicht ausreichend gegen die Folgen eines Dammbruchs gesichert ist.
Laut einer TV-Dokumentation auf France 2 hielt der Betreiber-Konzern einen internen Bericht zurück, in dem katastrophale Untersuchungsergebnisse über den Zustand des Rheinseitenkanals zu lesen sind. Und auch ein solcher Dammbruch kann durch ein Erdbeben ausgelöst werden.
Wären die Folgen eines Super-GAU im AKW Fessenheim mit jenen in Japan vergleichbar?
Ingo Falk: Sie könnten weitaus verheerender ausfallen. In der Region um Fukushima hatten die Menschen noch Glück im Unglück, denn es wehte meist ein Wind in Richtung Meer, der dafür sorgte, dass die Todeszone auf einen Radius von 30 bis 40 Kilometer beschränkt blieb. Bei einem Super-GAU im AKW Fessenheim würde bei den vorherrschenden Windverhältnissen nicht nur die Region um das nur 24 Kilometer entfernte Freiburg unbewohnbar, sondern selbst Stuttgart, Schwäbisch Hall und Nürnberg könnten für Jahrzehnte unbewohnbar werden.
Das AKW Fessenheim enthält ein radioaktives Inventar, das 1.760 Hiroshima-Bomben entspricht. Im Februar erklärte Jean-Louis Basdevant, hochrangiger französischer Kernphysiker und Professor an der polytechnischen Hochschule, dass ein schwerer Unfall im AKW Fessenheim eine dramatische Katastrophe für ganz Europa wäre, die – so wörtlich – das Leben der zentraleuropäischen Region bis nach Rotterdam für mehr als 300 Jahre vernichten würde. Er erinnerte daran, dass sich das AKW an der Basis des Rheintals zwischen Basel und Rotterdam befindet, dem am dichtesten besiedelten Gebiet Europas mit einer hohen Konzentration von Industrieanlagen – und dass Fessenheim an der Basis des Oberrhein-Aquifers, einem der größten Trinkwasservorkommen Europas liegt.
Wenn es so gefährlich ist, wie Sie darstellen, warum bleibt das AKW dennoch am Netz?
Ingo Falk: In einem Jahr wirft ein Reaktorblock durchschnittlich 300 Millionen Euro an Profit ab. Bei den zwei Reaktorblöcken des AKW Fessenheim sind dies also insgesamt rund 600 Millionen Euro im Jahr. Solange teure Nachrüstungen oder pannenbedingte Stillstandszeiten diesen Profit nicht minimieren, bleibt ein enormes ökonomisches Interesse am Weiterbetrieb.
Bekanntlich unterstützt auch die französische kommunistische Gewerkschaft CGT den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. Es ist bekannt, dass sich diese Gewerkschaft maßgeblich über Zuwendungen von Konzernen und insbesondere des französischen Strom-Konzerns EDF finanziert. Zudem müssen wir sehen, dass die politische Kaste in Frankreich unbeirrt an der atomaren Bewaffnung, der „force de frappe“, festhält.
Atomkraftwerk und Atombombe sind siamesische Zwillinge. Ohne eine Abkehr von der Atombombe ist daher das Versprechen Hollandes, einen Atomausstieg in Frankreich einzuleiten, wenig glaubwürdig – zumal wenn ein Krieg geführt wird wie in Mali, der der Sicherung von Uranminen im benachbarten Niger dient, und wenn weiterhin Milliarden Euro staatlicher Gelder in die Förderung der Atomenergie fließen.
http://www.heise.de/tp/blogs/2/154529
Peter Nowak
Zur Geschichte der linken Antirepressionsarbeit
Hartmut Rübner untersucht in »Die Solidarität organisieren« die Antirepressionsarbeit linker Gruppen. Im
Fokus stehen die 1970er Jahre.
Nicht alle Afghanen sind erfreut, für Daud Rawosh von der Peoples Party of Afghanistan können Verhandlungen nur unter klaren Bedingungen geführt werden
Der Kampf um ein Afghanistan nach dem Abzug der ausländischen Truppen hat begonnen. In den letzten Tagen lieferten sich die Karsai-Regierung und die USA einen öffentlichen Schlagabtausch über die Frage, wer berechtigt ist, mit den Islamisten zu verhandeln. Doch die Verhandlungen selber standen nicht zur Disposition. Auch der deutsche Verteidigungsminister de Maiziere hat sich grundsätzlich für Verhandlungen mit den Taliban ausgesprochen, wenn diese sich klar von Al-Qaida distanzieren.
Damit rennt er bei großen Teilen der deutschen Friedensbewegung offene Türen ein, die schon lange Verhandlungen mit den Taliban fordern. Vor einigen Wochen berichtete die Delegation von Friedensgruppen voller Stolz, dass sie überraschend die Möglichkeit hatten, einen Taliban-Vertreter zu treffen, der ihnen auch versicherte, dass ihnen in Zukunft auch die Bildung von Frauen am Herzen liege.
Doch linke Parteien, Politiker, Frauenorganisationen und zivilgesellschaftliche Initiativen in Afghanistan, die den Terror der Taliban am eigenen Leib erfahren haben, befürchten, dass Verhandlungen mit den Taliban dazu führen, dass die in der afghanischen Verfassung stehenden Grundrechte weiter zurückgedrängt werden und das Leben für alle Menschen, die sich nicht einen islamischen Tugendterror beugen wollen, noch unangenehmer wird. Zu diesen Kräften gehört auch vor einem Jahr gegründete Peoples Party of Afghanistan Mit deren Vorsitzenden Daud Rawosh sprach Peter Nowak in Berlin.
„Wir sind selbst auf das schlimmste Szenario vorbereitet“
Zur Zeit gibt es Streit zwischen den USA und die afghanische Regierung um Verhandlungen mit den Taliban. Wie stehen Sie als Vorsitzender einer linken afghanischen Partei dazu?
Daud Rawosh: Wir halten Gespräche mit den Taliban nur unter ganz klaren Bedingungen für sinnvoll. Dazu gehört die Respektierung der afghanischen Verfassung, was die Rechte der Frauen einschließt. Zudem müssen sie den bewaffneten Kampf aufgeben.
Befürchten Sie nach deren Abzug einen Machtzuwachs der Taliban?
Daud Rawosh: Die ausländischen Truppen ziehen nicht vollständig ab. Zudem ist mittlerweile auch eine afghanische Sicherheitsstruktur entstanden, die eine Machtübernahme der Taliban verhindern könnte. Aber selbst auf dieses schlimmste Szenario ist unsere vorbereitet. Schließlich konnten wir selbst unter der Taliban-Herrschaft illegale Strukturen aufrechterhalten.
Wie steht Ihre Partei zur Militärintervention von 2001?
Daud Rawosh: Wir sind prinzipiell gegen jede Besatzung. Doch 2001 gab es für uns nur die Alternative, weiter unter dem besonders reaktionären, mittelalterlichen Taliban-Regimes zu leben, oder es durch die Intervention loszuwerden. Zudem darf nicht übersehen werden, dass in dieser Zeit Afghanistan zum Aufmarschgebiet von Al-Qaida und anderen islamistischen Gruppen geworden war. Deshalb lehnen wir diese Intervention nicht ab. Wir protestieren aber gegen jegliche Menschenrechtsverletzungen durch die Natotruppen in unserem Land.
Afghanische Frauenorganisationen sehen nicht nur in den Taliban, sondern auch in den islamistischen Warlords ein Problem, die sich auf Seiten des Westens gestellt haben.
Daud Rawosh: Diese Einschätzung teilen wir uneingeschränkt. Der Einfluss dieser islamistischen Gruppen ist zurzeit ein großes Hindernis bei der Durchsetzung von Demokratie und Frauenrechten.
Könnte durch die Verhandlungen mit den Taliban nicht das Gewicht dieser reaktionären Gruppierungen wachsen und Rechte von Frauen und Minderheiten noch mehr bedroht werden?
Daud Rawosh: Unsere Position ist klar. Die in der Verfassung garantierten Rechte dürfen weder durch die Taliban noch durch andere Gruppierungen infrage gestellt werden.
Wie sehen Sie die Rolle des gegenwärtigen Präsidenten?
Daud Rawosh: Es ist bekannt, dass Karsai einem korrupten politischen System vorsteht, das im Drogenhandel verstrickt ist. Daher sind wir erklärte Gegner von Karsai. Das schließt allerdings nicht aus, dass wir einzelne Maßnahmen von Karsai unterstützen, wenn sie zur Stärkung der demokratischen Rechte beiträgt.
„Soziale Gerechtigkeit und der Kampf gegen die ethnische Zersplitterung sind unsere zentralen Ziele“
Wie ist die von Ihnen repräsentierte Partei entstanden?
Daud Rawosh: Sie wurde2012 gegründet und ging aus den „Bewegungen für Demokratie“ hervor, die in den letzten Jahren in Afghanistan aktiv waren. Die Partei sieht sich in der historischen Tradition der afghanischen Volkspartei, die 1978 führend an der Aprilrevolution beteiligt war, die zu einer tiefgreifenden sozialen Umgestaltung des Landes geführt hat. Allerdings handelt es sich um eine völlig neue Partei, die unter den aktuellen Bedingungen und auf dem Boden der afghanischen Verfassung agiert.
Wie groß ist der Zuspruch bisher?
Daud Rawosh: Viele der ehemaligen Aktivisten der historischen Afghanischen Volkspartei sind auch in der neuen Partei aktiv. Mittlerweile ist die Partei in 24 Provinzen vertreten, in 15 Provinzen wurden Pateibüros eröffnet. Ein Schwerpunkt der Partei ist die Arbeit in Gewerkschaften und Frauenorganisationen. Auch der Vorsitzende des afghanischen Handwerkverbandes ist Mitglied unsere Partei.
Was sind die zentralen Ziele Ihrer Partei?
Daud Rawosh: Der Kampf um soziale Gerechtigkeit und die Ablehnung der ethnischen Spaltung. Die meisten Parteien in Afghanistan sind nur in einer bestimmten Ethnie verankert, was zur Zersplitterung des Landes führt. Wir hingegen haben eine gesamtgesellschaftliche Perspektive und kämpfen für egalitäre Verhältnisse.
Warum wird in dem Programm Ihrer Partei ausdrücklich der Charakter als islamisches Land betont, wo doch die historische Demokratische Volkspartei den Säkularismus betont hat?
Daud Rawosh: Wir müssen anerkennen, dass sich in Afghanistan heute 99 % der Bevölkerung zum Islam bekennen. Wir kämpfen dafür, dass diese Menschen in sozialer Gerechtigkeit und Frieden leben. Wir respektieren den Glauben dieser Menschen, ohne ihn notwendigerweise selber zu praktizieren.
Kandiert Ihre Partei bei den nächsten Wahlen?
Daud Rawosh: Wir arbeiten in einer Allianz mit insgesamt 9 Parteien demokratischen Parteien zusammen. Dort diskutieren wir eine gemeinsame Kandidatur zu den Wahlen. Kommt es nicht dazu, würde unsere Partei selber kandieren.
Im Februar 2013 erklärte die Belegschaft des griechischen Baustoffproduzenten Viomichaniki Metaleftiki (Vio.Me), ihre Fabrik stehe ab sofort unter der Kontrolle der Arbeiterinnen und Arbeiter und nehme die Produktion wieder auf (Jungle World 13/2013). Makis Anagnostou ist Vorsitzender der Basisgewerkschaft der von den Beschäftigten besetzten Fabrik in Thessaloniki. Mit ihm sprach die Jungle World über die Erfolge und Tücken der Selbstverwaltung.
Wie kam die Belegschaft von Vio.Me mitten in der großen Wirtschaftskrise auf die Idee, die Produktion unter Arbeiterkontrolle fortzusetzen?
Uns blieb keine andere Wahl. Wir haben den Kampf im Juli 2011 begonnen, nachdem die Eigentümer die Firma Vio.Me aufgegeben hatten. Wir Arbeiter haben bereits seit Mai 2011 keinen Lohn mehr erhalten. Wir wollten uns nicht damit abfinden und haben viele Betriebsversammlungen organisiert. Dort haben dann 97,5 Prozent der Anwesenden beschlossen, die Fabrik in eine Kooperative unter Arbeiterkontrolle umzuwandeln.
War die Selbstverwaltung schon bei Beginn der Besetzung Ihr Ziel?
Nein, am Anfang wollten wir nur unsere Arbeitsplätze erhalten und haben versucht, die Unterstützung der politischen Parteien zu gewinnen. Wir haben uns also ausschließlich auf gesetzlichem Boden bewegt. Als wir merkten, dass wir von der Politik und auch den meisten Gewerkschaften keine Unterstützung bekommen, planten wir auf unseren Versammlungen die nächsten Schritte. Dabei lernten alle von uns viel über den Kapitalismus, aber auch über die Solidarität unter Arbeitern.
Können Sie ein Beispiel für einen solchen Lernprozess geben?
Auf vielen Veranstaltungen wurde ich gefragt, ob wir uns mit den Erfahrungen der besetzten Zanon-Fabrik in Argentinien auseinandergesetzt haben. Schließlich stellt sie ähnliche Produkte her wie wir und ist in vielen Ländern als selbstverwaltete Fabrik bekannt geworden. Die Zuhörer sind erstaunt, wenn ich ehrlich antworte, dass niemand von uns von Zanon gehört hatte, als wir unseren Kampf begonnen haben. Das Interesse wäre wohl auch nicht groß gewesen. Argentinien ist weit weg und wir müssen unsere Probleme bei uns lösen, hätten wir gesagt. Jetzt haben einige unserer Kollegen das Buch von Raúl Godoy gelesen, der bei der Besetzung von Zanon eine wichtige Rolle spielte. Sie hatten den Eindruck, dass er über Vio.Me schreibt. Er stellt in dem Buch die Fragen, die auch wir uns stellen. So haben wir gelernt, dass die Arbeiter auf der ganzen Welt ähnliche Probleme haben und nach ähnlichen Lösungen suchen.
Wie reagierten die griechischen Gewerkschaften auf Ihre Pläne?
Zunächst hatten wir Kontakt mit der sozialdemokratisch orientierten GSEE gesucht. Doch dort hat man uns geraten, wir sollen uns an unsere Bosse werden, damit sie das Kapital zurückbringen. Damit waren wir natürlich überhaupt nicht einverstanden. Warum sollten wir die Bosse, die die Firma in den Ruin getrieben haben, wieder zurückholen? Auf der Suche nach einer klassenkämpferischen Perspektive haben wir dann zeitweise mit der Pame kooperiert, die der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) nahesteht. Wir waren die einzige Basisgewerkschaft, die auf Demonstrationen gemeinsam mit der Pame die Fahnen hielt. Doch weil unsere Positionen ignoriert wurden, wenn sie nicht hundertprozentig mit der Linie der Pame übereinstimmten, haben wir auf einer Vollversammlung beschlossen, unseren Kampf ohne die Gewerkschaften weiterzuführen. Das bedeutet nicht, dass wir den Gewerkschaften feindlich gegenüberstehen. Doch wir sind nicht bereit, uns einer Zentrale unterzuordnen.
Haben Sie in der ganzen Zeit Ihres Kampfes nie ans Aufgeben gedacht?
Doch, natürlich. Hätte es nicht die täglichen Versammlungen gegeben, auf denen wir alle Schritte gemeinsam diskutierten und jeder auch über seine Probleme und Ängste reden konnte, hätten viele sicher aufgegeben. Besonders vor einem Jahr war die Lage kritisch. Damals verübten mehrere Menschen, die sich monatelang in der Bewegung der »Empörten« engagiert hatten, die auf den großen Plätzen ihren Protest und ihre Wut ausdrückte, Selbstmord. Die Zeitungen veröffentlichten Abschiedsbriefe von Menschen, die geschrieben hatten, dass sie große Hoffnungen in diese Bewegung gesetzt hatten und erfahren mussten, dass sie nicht gehört wurden. Wir befürchteten, dass auch Kollegen von Vio.Me ihrem Leben ein Ende setzen könnten. Schließlich hatten viele von ihnen lange keinen Lohn bekommen. Da beschlossen wir, mit einem Brief an die Öffentlichkeit zu gehen, in dem wir unsere Situation schilderten.
Welche Reaktionen gab es darauf?
Innerhalb kurzer Zeit bekamen wir von uns völlig unbekannten Menschen aus dem ganzen Land Ermutigungen. Wir wurden darin bestärkt, dass wir unbedingt durchhalten sollten. Da haben wir gemerkt, dass es viele Menschen gibt, denen nicht egal ist, was wir machen. Dieser Zuspruch war eine große Hilfe für uns. Ohne ihn hätten wir wahrscheinlich längst aufgegeben.
Gab es neben warmen Worten auch materielle Unterstützung?
Ja, es kam Hilfe aus ganz Griechenland und auch aus dem Ausland. Die meisten Menschen, die uns unterstützen, sind selbst arm und spenden uns etwas von dem Wenigen, das sie haben. Die einen bringen uns eine Packung Spaghetti oder getrocknete Bohnen, andere geben uns zwei Euro als finanzielle Unterstützung. Aber auch diese kleinen Hilfen sind sehr wichtig für uns, weil sie uns die Kraft und den Mut zum Weiterzumachen geben.
Zu welchen Kompromissen sind Sie bereit, um das Unternehmen zu retten?
Natürlich wissen wir, dass wir noch eine Weile im Kapitalismus leben müssen. Aber das heißt nicht, dass wir unsere Ziele aufgeben und die Erfahrungen der vergangenen Monate preisgeben. Deswegen gehen wir zweigleisig vor. Mit der Produktion unter Arbeiterkontrolle greifen wir das Recht der Kapitalisten an, über uns zu bestimmen. Dazu muss aber die Fabrik erhalten bleiben. Daher haben wir gemeinsam mit Ökonomen Pläne ausgearbeitet, wie die Firma überleben kann. Dazu haben wir auch einen Katalog mit konkreten Forderungen an die Regierung zusammengestellt.
Können Sie einige Forderungen nennen?
Ein Kernpunkt ist der Erwerb der Aktien des Unternehmens ohne die angehäuften Schulden, eine Subventionierung in Höhe von 1,8 Millionen Euro, die zum Teil aus dem Fonds der Europäischen Union finanziert werden soll. Eine gesetzliche Vorlage soll das Risiko für die Beschäftigten begrenzen. Damit soll ausgeschlossen werden, dass wir selbst mit persönlichem Vermögen haftbar gemacht werden. Zudem fordern wir die Rückgabe von 1,9 Millionen Euro, die von Vio.Me an den Mutterkonzern ausgeliehen wurden.
Wären Sie nicht dazu gezwungen, wie Kapitalisten zu handeln, wenn diese Forderungen umgesetzt werden?
Solange wir Solidarität erfahren, sehe ich bei uns das Problem nicht. Wenn die Arbeiterbewegung auf unserer Seite ist und unseren Kampf unterstützt, besteht kaum die Gefahr, dass wir uns mit dem Kapitalismus versöhnen. Wenn aber die Arbeiterbewegung auf Distanz geht, dann versuchen die Arbeiter individuelle Wege zum Überleben zu finden, und hier liegt die Gefahr der Wendung zum Bürgerlichen.
Gibt es weitere Betriebe in Griechenland, die ebenfalls unter Arbeiterkontrolle weiterarbeiten wollen?
Ja, in einer kleinen Stadt in Nordgriechenland hat die Belegschaft einer Zigarettenfabrik in einer Vollversammlung beschlossen, den Betrieb ebenfalls unter Arbeiterkontrolle weiterzuführen. Solche Überlegungen gibt es auch bei einer Firma im Bereich der Solar- und Windenergie. Die Kollegen waren unsicher, ob sie diesen Schritt gehen sollen. Wir haben uns mit ihnen getroffen und ihnen geraten, den Kampf um die Arbeiterkontrolle jetzt zu beginnen.
aus Jungle World 20/2013
http://jungle-world.com/artikel/2013/20/47715.html
Interview: Peter Nowak
Über einen aktuellen Versuch J.W. Stalin mit Hilfe seiner Gegner in einem neuen Licht erscheinen zu lassen
Der italienische Historiker Domenico Losurdo erhebt mit seinem nun im Papyrossa-Verlag auf Deutsch erschienenen Buch über „Stalin “ den Anspruch, den langjährigen sowjetischen Herrscher zu entdämonisieren. Gleich im Vorwort wird deutlich, wie Losurdo dabei vorgeht. Er beschreibt
Reaktionen auf Stalins Tod. So zitiert er einen Historiker, der Szenen beschreibt, wie sie heute noch aus Nordkorea bekannt sind: „Während seiner Agonie drängten sich Millionen von Menschen im Zentrum Moskaus, um dem sterbenden Führer die letzte Ehre zu erweisen“. Aus einem anderen
Buch entnimmt der Autor den Satz: „Viele weinten auf den Straßen von Budapest und Prag.“ Dass Stalins Tod in der Zeitung der israelischen Kibbuzbewegung al Hamishamar mit dem Satz kommentiert wurde „Die Sonne ist untergegangen“, wird heute viele überraschen, denen nicht
bekannt ist, dass die Sowjetunion sich in der UN vehement für die Gründung Israels einsetzte. Erst mit dem Beginn des Kalten Krieges positionierte sich Israel auf Seiten der USA und die SU und der gesamte Ostblock ging auf Konfrontationskurs. Wer das Einleitungskapitel gelesen hat, kennt schon die Methode mit der Losurdo „die schwarze Legende“ Stalin entdämonisieren will. Er reiht in den acht Kapiteln Zitat an Zitat aneinander, mit denen er zu beweisen sucht, dass Stalin von Historikern und Politikern zu bestimmten Zeiten gelobt wurde. Besonders erfreut ist er, wenn er einen späteren erklärten Gegner Stalins mit einem solchen Zitat vorführen kann. Dabei verfolgt er mit der Zitatauswahl natürlich eine durchsichtige Absicht. Schließlich scheint es um so glaubwürdiger, wenn von später ausgewiesenen Stalinkritikern und -gegnern, wie dem sowjetischen
Historiker Wadim Rogowin, der Philosophin Hannah Ahrendt oder dem britischen Premierminister Winston Churchill, Sätze überliefert werden, die den sowjetischen Herrscher in einem guten
Licht erscheinen lassen. Nur beschränkt sich Losurdo weitgehend auf die Zitate und verzichtet auf eine Einordnung in den politischen und historischen Kontext. So macht er genau das, was er den Stalinkritikern in dem Buch ständig vorwirft. Das wird deutlich, wenn Losurdo Stalinlob von Churchill in der Zeit der Anti-Hitler-Koalition heranzieht. Dass er später auch lobende Churchillworte für Hitler anführt, und gleichzeitig historisch richtig bemerkt, dass Churchill die Oktoberrevolution von Anfang an bekämpft hat, führt nicht dazu, Churchills Stalinlob so einzuordnen, als das Geschäft eines Staatsmannes, der dem jeweiligen Bündnispartner nicht vor
den Kopf stoßen will. Noch problematischer ist es, wie Losurdo gleich an mehreren Stellen Hannah Ahrendt zitiert, die sich Mitte der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts positiv über die sowjetische Nationalitätenpolitik äußert. Unberücksichtigt lässt Losurdo, dass Ahrendt wie viele Menschen, die sich vor dem mörderischen Antisemitismus der Nazis retten konnten, alles dafür taten, um einen schnellen Sieg der Anti-Hitler-Koalition zu ermöglichen. Für viele Juden auf der ganzen Welt war
der schnelle Vormarsch der von den USA mit Waffen unterstützten Roten Armee mit der Hoffnung verbunden, die totale Vernichtung der Jüdinnen und Juden zu verhindern. Neben der Aneinanderreihung von Zitaten und Bemerkungen, die Stalin in einem positiveren Licht erscheinen lassen, führt Losurdo zu dessen Rehabilitierung noch an, dass die Geschichte der bürgerlichen
Staaten mit Menschenrechtsverletzungen im großen Maßstab verbunden ist. Dabei
gelingen ihm im Detail treffende Einschätzungen, wenn er an die Geschichte der Lynchmorde an Schwarzen in den USA erinnert. Da er aber auch hier auf historische Einordnungen verzichtet, und eine zeitlose Verbrechensgeschichte aufmalt, die in der Antike begann und bei der alliierten
Bombardierung von Dresden nicht endet, bleibt als Fazit nur übrig, die Welt ist ein großes Schlachthaus und Stalin war dort nicht der größte Metzger. Damit hat Losurdo wohl gegen seinen Willen auch bestätigt, dass Stalin mit Sozialismus und Kommunismus wenig zu tun hat. Das
kann auch von dem Autor gesagt werden. Denn der ist sich mit seinen größten Gegnern in dem Verdikt einig, dass eigentlich schon Marx und Lenin, vor allem aber die linken Bolschewiki mit ihren übersteigerten Vorstellungen einer Gesellschaft der Gleichheit und dem Infragestellen von Familie und Nation für Terror und Massenmord mit verantwortlich sind.
Domenico Losurdo: Stalin, Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende, Papyrossa-Verlag, Neue Kleine Bibliothek 183, 450 Seiten, 22,90 Euro, ISBN:978-3-89438-4968
aus: telegraph 127/128 2013
Die Ausstellung „The Whole World“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt hinterlässt viele Fragen
Das zentrale Objekt liegt angekettet auf einem kleinen Tischchen aus. Es handelt sich um einen engbedruckten, schlecht lesbaren Katalog mit vielen kurzen Artikeln, Fotos und allerlei undefinierbaren Zeichen, die wohl zur besseren Lesbarkeit eingebaut wurden. Dieser Katalog, der an ein frühes Punkfunzine erinnert, wurde zwischen 1968 und 1972 jährlich später unregelmäßig von Stewart Brand unter dem Titel The whole World-Catalog.
Dieser Katalog sollte die sich Ende der 60er Jahren in den USA entwickelten Landkommunen über Produkte abseits des Mainstreams der Konsumgesellschaft informieren. Bald entwickelte er sich zu einem Almanach der Gegenkultur. In diesem Katalog gab es die ersten Hinweise auf alternative Energieerzeugung ebenso wie auf Synthesizer. Steve Jobs bezeichnete den „Catalog“ später als die erste Suchmaschine im Vorinternetzeitalter. Jetzt dient dieser Katalog als Namens- und Stichwortgeber für eine von Diederich Diederichsen und Anselm Franke kuratierte Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt.
Wer die Ausstellung gründlich erkunden will, muss viel Zeit mit bringen. Denn die Kuratoren haben in der großen Ausstellungshalle eine Fülle von Dokumenten ausgestellt, die die US-Gegenkultur der 60er Jahre und der dort integrierten Kommunebewegung noch einmal lebendig machen. Kaum noch bekannte Bücher sind dort ebenso aufgelistet, wie Musikstücke legendärer Bands dieser Gegenkultur, die auch heute noch den Spirit jener Jahre vermitteln. Hier sei nur exemplarisch an Crown of Creation von Jefferson Airplane erinnert.
Wie in dieser Zeit kulturelle gesellschaftliche und politische Emanzipation für einen kurzen geschichtlichen Moment zusammenfielen, wird auch in vielen der ausgestellten Exponate deutlich. So werden Ausschnitte des Filmes „The whole World watching“ von Raimund Pettybon gezeigt, der sich auf satirische Weise mit der linken Bewegung der Weathermen beschäftigte, die in den späten 60er Jahre den Krieg aus Vietnam in die USA zurückbringen wollten und den Aufbau einer Stadtguerilla propagierten. Schon die kurzen Ausschnitte machen deutlich, dass ein solcher Film Welten von den filmischen Erzeugnissen entfernt ist, die in den letzten Jahrzehnten zum RAF-Komplex in der BRD entstanden sind. Als eine Fundgrube einer weithin vergessenen Gegenkultur mit dem „The World Catalog“ als Guide wäre diese Ausstellung schon einzigartig und empfehlenswert.
Große und kleine Erzählungen?
Doch die Kuratoren lassen es damit nicht bewenden, sondern verbreiten um die Exposition noch mehrere große und kleine Erzählungen. Da steht an erster Linie die Erzählung vom blauen Planeten Erde. Aus dem Weltraum aufgenommen bewirkte er angeblich einen Paradigmenwechsel in großen Teilen der Wissenschaften und soll das Bild vom Atompilz der Bomben, die auf Hiroshima und Nagasaki fielen, verdrängt haben. So richtig es ist, an die heute weitgehend vergessene Bedeutung der Weltraumprogramme der NASA zu erinnern, so fraglich ist die These vom grundlegenden Paradigmenwechsel. Schließlich wurde das NASA-Weltraumprogramm schnell reduziert und die Mondlandungen bald eingestellt.
Das Bild vom Atompilz aber war auch noch die gesamten 80er Jahre über eine zentrale Symbolik der Gegen- und zunehmend auch der Mainstreamkultur. Zudem waren die Bilder von mit Napalm verbrannten Kindern in Vietnam und erschossenen Studenten an der Universität von Kent für große Teile der damaligen Gegenkultur sicher prägender als das offizielle NASA-Programm. Aber die Kuratoren wollen mit ihrer These schließlich einen Link herstellen zwischen diesen Inseln der US-Gegenkultur in den späten 60er Jahren und den sich entwickelnden Internetgemeinden bis zum Neoliberalismus unserer Tage.
In der Biographie des The Whole World-Catalog-Erfinders Stewart Brand finden die Kuraten Anhaltspunkte für ihre These. Er arbeitete für die NASA ebenso wie später für Internetkonzerne. Nur war er eben nie Teil der Gegenkultur und hat es auch nie behauptet. Er hat mit seinem Katalog diese Gegenkultur aber passgenau als Zielgruppe für Produkte ausgemacht, die damals noch keine große Käuferschicht in den USA hatten. Biographien wie die von Stewart Brand waren nicht selten, wie sich in der Ausstellung zeigte. Es gab auch Personen, die Ende der 60er Jahre tatsächlich Teil dieser Gegenkultur waren und dann zu Pionieren der sich entwickelten Internetbranche geworden sind.
Verschwörungstheoretische Anklänge
Im von Michael Rothschild verfassten Buch „Bionomics: The Inevitability of Capitalism“ werden Schlüsselwörter gefunden, die für die Durchsetzung des wirtschaftsliberalen Denkens zentral waren. Nun ist die These von der Geburt des neoliberalen Denkens in den Zentren der Gegenkultur nicht neu und weist auf wichtige Verbindungen hin.
Doch wie schnell solche Verbindungen in Verschwörungstheorien münden können, wird an der Ausstellung am Beispiel der Installation Hexen 2.0 von Suzanne Treister gut deutlich. Auf eine ihrer Zeichnungen wird eine gerade Linie von Kybernetikern organisierten Macy-Konferenzen bis zum Neototalitarismus gezogen. So bekommen diese Treffen, die zwischen 1946 und 1953 stattfanden, eine Bedeutung, die heute manche den Bilderbergkonferenzen geben wollen. Die Ausstellung „The whole World“ macht noch einmal deutlich, wie nötig der Gebrauch des eigenen Verstandes ist, um in der Fülle des ausgestellten Materials auch krude Verschwörungstheorien und diverse esoterische Einschläge erkennen zu können.
Die Ausstellung „The Whole World“ ist bis um 1. Juli im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen. Am 21. und 22. Juni findet ein Symposium zur Ausstellung statt.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/154245
Peter Nowak
Der Streik migrantischer Arbeiterinnen bei einem Automobilzulieferer im Jahr 1973 erhält zum Jubiläum wieder Aufmerksamkeit.
Wer an Streiks in Deutschland denkt, dem kommen bunte Plastikleibchen, Trillerpfeifen, hohle DGB-Rhetorik und Tarifabschlüsse in den Sinn, die man nur mit viel Mühe als Erfolg verkaufen kann. Dass auch in Deutschland Arbeitskämpfe möglich sind, die anders verlaufen, zeigt der Pierburg-Streik. 1973 streikten die Arbeiterinnen beim Automobilzulieferer Pierburg im nordrhein-westfälischen Neuss für die Abschaffung aller Leichtlohngruppen, die dafür sorgten, dass Frauen weniger als Männer verdienten, und für eine Erhöhung des Stundenlohns um eine Mark.
Wie groß das Interesse an dem Streik damals war, zeigt sich an den zahlreichen Büchern und Filmen, die sich dem Ausstand widmen. Anfang der achtziger Jahre, als ein Großteil der Linken seinen Abschied vom Proletariat nahm, geriet auch der Pierburg-Streik in Vergessenheit. Doch nun macht ein Buch mit dem Titel »Wilder Streik, das ist Revolution«, das im Berliner Verlag »Die Buchmacherei« erschienen ist, wieder auf den Arbeitskampf aufmerksam. Der Herausgeber Dieter Braeg, damals einer der oppositionellen Betriebsräte in dem Unternehmen, hat das anstehende Jubiläum zum Anlass genommen, einige Dokumente erneut zu veröffentlichten.
Dazu gehört auch der 40minütige Film »Pierburg – ihr Kampf ist unser Kampf«, der immer noch sehenswert ist, vor allem aus einem Grund: Es ist sinnvoll, daran zu erinnern, dass es in Deutschland auch Kämpfe von Lohnabhängigen gab, die sich nicht in den von den DGB-Vorständen vorgegebenen Bahnen bewegen. Bei Pierburg war das der Fall: »Wilder Streik, das ist Revolution« – so begründete der Neusser Polizeipräsident Günther Knecht damals den Einsatz von knüppelnden Polizisten gegen die Streikenden.
Braegs Einschätzung, der Pierburg-Streik sei ein Beispiel für »eine andere deutsche Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung«, kann man allerdings Skepsis entgegenbringen. Mit einer viel größeren Berechtigung kann der Streik als Beispiel für einen selbstorganisierten Kampf migrantischer Frauen angeführt waren. Sie traten nicht nur gegen den Unternehmer Alfred Pierburg an, der eine einflussreiche Stellung in der Kriegswirtschaft des Nationalsozialismus inne gehabt hatte und in der Bundesrepublik Träger zahlreicher Orden inklusive des Bundesverdienstkreuzes war. Die Dokumente verdeutlichen auch, wie die streikenden Frauen mit dem Rassismus der im NS sozialisierten Vorarbeiter konfrontiert wurden. »Ihr seid doch das aufsässigste Pack, was mir je untergekommen ist, ihr Scheißweiber«, schrie einer der Pierburg-Vorarbeiter eine griechische Beschäftigte an und drohte ihr mit Schlägen, weil sie sich beim Betriebsrat über die Arbeitsbedingungen beschwert hatte. Die Dokumente zeigen aber auch die Ignoranz mancher Betriebsräte, denen die Pflege der Trikots der firmeneigenen Fußballmannschaft wichtiger war als die Interessenvertretung der Kolleginnen. Auch die Taktik der IG-Metall-Führung wird deutlich. Sie tat alles, um den Streik wieder in die institutionellen Bahnen zu lenken, und die Justiz überzog die oppositionellen Betriebsräte mit langwierigen Gerichtsprozessen.
Dieter Braeg ordnet den Pierburg-Streik in das politische Geschehen jener Jahre ein. Mit den Septemberstreiks von 1969 begann ein Aufbegehren von Lohnabhängigen, die sich nicht mehr von DGB-konformen Instanzen vertreten lassen wollten. Daran waren migrantische Beschäftigte federführend beteiligt. Höhepunkt waren der Streik und die Besetzung der Kölner Ford-Werke im August 1973. Als die Polizei die Fabrik mit Gewalt räumte, zahlreiche Streikende festnahm und mehrere migrantische Arbeiter als angebliche Rädelsführer abschieben ließ, titelte die Bild-Zeitung: »Deutsche Arbeiter kämpfen Ford frei«. Zuvor hatten Bürgerwehren die Streikenden mehrmals angegriffen. So wurde unter tatkräftiger Mithilfe von Betriebsräten der proletarische Eigensinn gebrochen.