Mit Sicherheit in die Krise?

Volker Eick über die Pluralisierung von Überwachung in urbanen Räumen / Der Berliner Politikwissenschaftler ist Mitorganisator einer Konferenz über städtische Sicherheitspolitik

Volker Eick über die Pluralisierung von Überwachung in urbanen Räumen / Der Berliner Politikwissenschaftler ist Mitorganisator einer Konferenz über städtische Sicherheitspolitik

ND: Welche Ziele verfolgen Sie mit der Konferenz »Städtische Sicherheitspolitiken im internationalen Vergleich«, die von der Berliner Freien Universität und der Frankfurter Goethe-Universität an diesem Wochenende in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin veranstaltet wird?
Eick: Wir brauchen eine gesellschaftspolitische Diskussion über die Zukunft, Qualifikation und Legitimation des privaten Sicherheitsgewerbes im öffentlichen Raum. Mit Blick auf die Vorkommnisse während der jüngsten Loveparade sprechen wir vom »Duisburg-Komplex«.

Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass staatliche Polizei bei Großveranstaltungen, etwa bei politischen Demonstrationen, regelmäßig Demonstranten tötet. Wir brauchen auch über diese Tatsache, den »Genua-Komplex«, eine Diskussion. Und nicht zuletzt: Polizeibeamte und Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste sind als Beschäftigte auf einem sich globalisierenden Arbeitsmarkt tätig. Wie dieser strukturiert ist, wie er reguliert wird oder eben nicht, wer hier mit wem zusammenarbeitet, welchen Einfluss die gegenwärtige Krise auf das Verhalten von beiden Berufsgruppen hat, wer wen wofür ins offene Messer laufen lässt, darüber wollen wir reden.

Was steht auf dem Programm?
Wir haben uns drei Aufgaben gestellt, die alle international vergleichend angegangen werden: Wir wollen besser verstehen, wie von Seiten der Polizei und von privaten Sicherheitsdiensten mit so genannten Randgruppen – etwa Obdachlosen – im öffentlichen Raum umgegangen wird. Wir wollen aber auch klären, welche Strategien Polizei einsetzt, um politischem Protest zu begegnen.

In Arizona etwa begann man von Regierungsseite aus, so genannte illegale Ausländer zu jagen, um von der wirtschaftlichen Not abzulenken. In Frankreich beobachten wir ein ähnliches Phänomen; dort werden derzeit EU-Bürger abgeschoben. Und drittens: Wie verändert sich unter Krisenbedingungen das Anforderungsprofil an die Polizei, an private Sicherheitsdienste?

Welche Auswirkungen hat die Wirtschaftskrise auf die städtische Sicherheitspolitik?
Das private Wach- und Sicherheitsgewerbe wächst im Zeichen der Krise. Der Polizeiapparat reagiert langsamer, aber auch hier ist absehbar: Mit Depression kommt Repression, während gleichzeitig über neue Präventionsstrategien nachgedacht wird.

Gibt es gewerkschaftliche Strategien, um Lohndumping in der Sicherheitsbranche zu begegnen?
Die Gewerkschaft ver.di und die Lobbyorganisation des Wach- und Sicherheitsgewerbes, der Bundesverband des Wach- und Sicherheitsgewerbes, haben sich auf einen Mindestlohn-Tarifvertrag geeinigt. Der liegt zwar hinter der Forderung von mindestens 7,50 Euro zurück, aber er zieht eine Linie gegen die unglaublich schlechten Lohn- und Arbeitsbedingungen im Gewerbe ein.

Wird auch Sicherheitspolitik als Ursache von Ausgrenzung und Law&Order-Praktiken diskutiert?
Ja, und genau deshalb haben wir nicht nur wissenschaftliche KollegInnen eingeladen, sondern auch Gewerkschafts- und Unternehmensvertreter. Es gibt in der Branche etwa Firmen, die von Neonazis betrieben werden. Da liegt es in der Verantwortung von beiden – Arbeitgebern und Arbeitnehmern –, klar Stellung zu beziehen. Das gilt auch, wenn mit Unsicherheitsgefühlen Politik gemacht wird. Nur weil sich damit Geld verdienen lässt – ob als höherer Profit oder besserer Lohn –, kann das nicht heißen, dass man sich an solcher Propaganda unkritisch beteiligt.

 http://www.neues-deutschland.de/artikel/178438.mit-sicherheit-in-die-krise.html

Peter Nowak

»Mit der anderen Hand wird zugeschlagen«

Osaren Igbinoba (D.I.)  ist Mitglied des Koordinationsbüros der Flüchtlingsorganisation The Voice Refugee Forum in Jena. The Voice wurde 1994 gegründet und kämpft seitdem u. a. für die Abschaffung der Residenzpflicht.

ND: Einige Bundesländer wie Brandenburg und Berlin haben kürzlich Lockerungen der Residenzpflicht beschlossen. Begrüßen Sie das?

Igbinoba: Es ist schön, dass nach 16 Jahren Kampf von Flüchtlingsorganisationen wie The Voice gegen die Residenzplicht  eine Generation von jungen Politikern herangewachsen ist, die nun eine schüchterne parlamentarische Initiative angestoßen haben und sie endlich diesem Thema im Landtag Platz schaffen. Es bleibt die Fragen, wieso gerade jetzt und wieso nicht schon früher und warum  geht man den Weg nicht jetzt schon zu Ende und schafft die Residenzpflicht völlig ab.
  
  Warum   kritisieren Sie in einer Presseerklärung einige linke Aktivisten wegen deren positiven Stellungnahme zur Lockerung der Residenzpflicht?

 D.I.:   Dieses Gesetz ist kein Grund zu feiern, weil es die generelle  die Residenzpflicht nicht aufhebt. Es dient auch  dazu,  den Flüchtlingen erneut zu bestätigen, dass sie immer nach wie vor unterdrückt werden. Mit einer Hand wird etwas gegeben, und die andere Hand wird dazu benutzt, zuzuschlagen. Das ist der Gegenstand unserer Kritik an die Politik.

 Wie wollen Sie  in Zukunft gegen die Residenzpflicht kämpfen?
D.I.: Wir hatten im Juni 2010 in Jena ein internationales Festival organisiert, das darauf fokussiert war, die Isolation der Flüchtlinge in den Heimen zum Thema zu machen.  Wir bereiten jetzt ein „Karawane International Tribunal für die Rechte der Migrantinnen und Flüchtlinge vor, das  die Residenzpflicht untersuchen wird. Und wir werden unseren täglichen Kampf gegen die Unterdrückung der Flüchtlinge dokumentieren, künstlerisch durch Ausstellungen und Medienprojekte stärker präsent sein und das Problem weiter in das Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen. Denn die prekäre rechtliche Lage der Flüchtlinge, kann nur deswegen
aufrechterhalten werden, weil von Seiten der Politik der Mantel des Schweigens darüber ausgebreitet wird und das Problem vor der eigenen Bevölkerung versteckt wird.

  Wird es von Ihrer Seite auch weiterhin eine Zusammenarbeit mit den von Ihnen kritisierten deutschen Linken geben? 

     D.I.: Wir sind weiterhin offen für Zusammenarbeit und Austausch mit denjenigen, die sich vorgenommen haben, die Stellen auszubessern, wo unser System immer noch versagt. Wir erwarten von unseren Mitstreitern, dass sie eine klarere Position einnehmen bezüglich der Unterdrückung der Flüchtlinge in dem Land,das diese eigentlich von Unterdrückung befreien sollte.

 Halten Sie in dieser Frage eine Politik der kleinen Schritte auch in Zukunft nicht für denkbar?
D.I.: Menschenrechte sind nicht nur nicht verhandelbar, sie können auch nicht verkauft werden. Aber heute erleben wir, wie sie auf zynische und menschenverachtende Weise zum Kauf angeboten werden, wenn deren Ausübung durch Menschen ohne finanzielles Einkommen, durch die Verwaltung mit Gebühren belegt wird. Es geht um  Gebühren für die Stellung eines Antrags auf Verlassen des Landkreises.   Das ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie das Geld, das von staatlicher Seite für die Betreuung der Flüchtlinge bereitgestellt wird, am Ende dafür benutzt wird, um eine Kollektivbestrafung an ihnen vorzunehmen. Und zur Änderung dieses
Missstandes wird eine Politik der kleinen Schritte vorgeschlagen. Sie fragen mich ernsthaft, ob ich das für den richtigen Weg halte?

https://www.neues-deutschland.de/artikel/177774.mit-der-anderen-hand-wird-zugeschlagen.html
Interview: .Peter Nowak

Auf Eigeninitiative der Beschäftigten gesetzt

Ex-Opelaner Wolfgang Schaumberg über die Niederlage linker Gewerkschafter bei der Betriebsratswahl
Wolfgang Schaumberg arbeitete 30 Jahre im Opel-Werk Bochum und war 25 Jahre lang im Betriebsrat. Auch als Vorruheständler ist er weiterhin in der linksgewerkschaftlichen Gruppe »Gegenwehr ohne Grenzen« (GoG) aktiv. Über die Betriebsratswahl 2010 sprach mit ihm Peter Nowak.
ND: Die Gruppe »Gegenwehr ohne Grenzen« (GoG) hat bei der letzten Betriebsratswahl bei Opel-Bochum erstmals seit 30 Jahren keinen Sitz bekommen. War die Niederlage überraschend?
Schaumberg: Nicht wirklich. Wir haben unsere Stimmenzahl von der letzten Betriebsratswahl gehalten. Damals haben wir im Bündnis mit der »Liste Offensiv« kandidiert, einer weiteren linken Gewerkschaftsgruppe. Jede Gruppe hatte einen Sitz. Bei der diesjährigen Betriebsratswahl haben wir getrennt kandidiert. Die »Liste Offensiv« hat ihren Sitz gehalten, weil sie mehr Stimmen hatte. Wir gingen leer aus.

 War es also ein Fehler, getrennt zu kandidieren?
Wir sehen die Eigenkandidatur auch im Nachhinein nicht als Fehler. Die politischen Vorstellungen waren in vielen Fragen zu unterschiedlich. Im Gegensatz zur »Liste Offensiv« war die GoG nicht in der Lage, im Wahlkampf mit einem historischen Optimismus aufzutreten.

Was war der Schwerpunkt Ihres Betriebsratswahlkampfes?
Wir haben auf die Eigeninitiative der Beschäftigten gesetzt. Das Motto unserer Liste lautete: »Gegenwehr – das müssen wir schon selber tun«. Das ist auch ein Bruch mit einer Art linker Gewerkschaftsarbeit, die Hoffnungen auf den Betriebsrat setzt, wenn da nur die richtigen Leute drin sind.

Warum haben Sie nicht mehr Zustimmung bekommen?
Viele Kollegen sagen uns, Ihr habt mit Euren Forderungen recht, aber wo ist die Bewegung, die sie durchsetzen kann? Die Fabrik kann nicht als gallisches Dorf alleine Widerstand leisten.

Es gibt außerbetriebliche linke Gruppen, die Flugblätter vor dem Fabriktor verteilen …
Die gibt es, doch sie tragen oft eher zur Resignation der Bewegung bei. Deren Forderungen führen bei den Kollegen oft zu Kopfschütteln, weil sie die konkrete Situation im Betrieb überhaupt nicht erfassen.

Können Sie ein Beispiel dafür geben?
Wenn die Vergesellschaftung von Opel-Bochum gefordert wird, fragen die Kollegen mit Recht, wie soll das gehen in einem Betrieb, der hochgradig in die globale Produktion integriert ist? Selbst die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden halten viele Kollegen für unrealistisch.

Hatten Sie Kontakt zu Kollegen in anderen Opel-Werken?
Wir haben viele Versuche gestartet, um uns mit den Kollegen zu vernetzen und gemeinsam gegen das General-Motors-Management agieren zu können. Dabei haben wir aber zu viel Wert auf den Kontakt zu Gewerkschaftsfunktionären und Betriebsräten gelegt und die betriebsübergreifende Debatte mit den Kollegen in den anderen Werken vernachlässigt. Deswegen ist aus unseren internationalen Kontakten keine lebendige Zusammenarbeit entstanden.

Wie will die GoG ohne Betriebsratsmandat weitermachen?
Wir wollen über die klassische Gewerkschaftsarbeit hinausgehen, die sich in wöchentlichen Treffen und dem Verteilen von Flugblättern erschöpft. Beispielsweise haben wir bei der letzten Personalversammlung, als Bettlertruppe verkleidet, Arbeitshetze und Lohnverzicht kritisiert.

 http://www.neues-deutschland.de/artikel/176720.auf-eigeninitiative-der-beschaeftigten-gesetzt.html?sstr=Schaumberg|Opel

Peter Nowak

Versicherte mit kleinen Einkommen werden Bittsteller

Nadja Rakowitz vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte: Zusatzbeiträge könnten in Zukunft sehr schnell wachsen

 1.)            Monatelang wurde gegen die Kopfpauschale mobilisiert. Sind die jetzt von der Bundesregierung vorgelegten Eckpunkte dagegen das kleinere Übel?

 N.R.: Auf keinen Fall. Es war schon länger klar, dass die große Kopfpauschale, wie sie die FDP und zuletzt der Arbeitgeberverband geplant hatte, nicht durchgesetzt werden kann. Die jetzt vorgelegten Eckpunkte laufen durch die geplanten pauschalen Zusatzbeiträge, die die Arbeitnehmer zahlen sollen, auf eine kleine Kopfpauschale hinaus. Die könnten aber in Zukunft schnell wachsen.

 2.)            Wovon hängt das ab?

 N.R.: Davon, wie viel an den Ausgaben über den Beitragssatz gedeckt wird. Der Arbeitgeberanteil soll jetzt auf 7,3 % erhöht und dann eingefroren werden. Das bedeutet, für alle weiteren Kosten sollen die Versicherten durch die Zusatzbeiträge aufkommen. Dadurch könnten schnell weitere Belastungen auf große Teile der Bevölkerung zukommen.

 3.)            Kann ein geplanter steuerfinanzierter Ausgleich soziale Härten mindern?

 N.R.: Das könnte er natürlich, aber dadurch werden Versicherte mit niedrigen Einkommen wahrscheinlich zu Bittstellern. Zudem ist noch völlig unklar, wie der Sozialausgleich finanziert werden soll. Weitere Steuererhöhungen würden weitere Belastungen für große Teile der Bevölkerung bedeuten, die schon durch die von der Koalition geplanten Sparpläne von Verschlechterungen betroffen sein werden.

 4.)            Die paritätische Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens wurde von der Politik lange Zeit als Vorzeigemodell der sozialen Marktwirtschaft verkauft. Kann davon heute noch gesprochen werden?

 N.R.: Schon lange nicht mehr. Durch die Einführung von Praxisgebühr, Zuzahlungen zu Medikamenten und anderem und die einseitige Erhöhung des Arbeitnehmeranteils um 0,9 Prozentpunkte wurde schon unter Rot-Grün das Prinzip der paritätischen Finanzierung im Gesundheitswesen aufgegeben. Zudem sollte man nicht vergessen, dass der Arbeitgeberanteil aus der Lohnsumme herrührt, also auch von den Arbeitnehmern erwirtschaftet wird.

 5.)            Eine daraus folgende offensive Forderung, dass die Arbeitgeber den ganzen Beitrag zahlen sollen, scheinen zurzeit utopisch. Wie sollten aktuell soziale Bewegungen und Gewerkschaften auf die Pläne der Bundesregierung reagieren?

 N.R.: Es sollten möglichst schnell Proteste dagegen organisiert werden. Dabei könnten die in den letzten Monaten entstandenen Bündnisse gegen die Kopfpauschale eine tragende Rolle spielen.

 6.)            Die Finanzierungslücke ist ja keine Erfindung der Bundesregierung. Wo soll das Geld für das Gesundheitssystem herkommen?

 N.R.: Es gibt ausgearbeitete und durchgerechnete Alternativvorschläge. Dazu gehört die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze (und entsprechend der Versicherungspflichtgrenze) und die Einführung einer Bürgerversicherung, in die alle nach ihrer Einkommenshöhe und mit allen Einkommensarten in die Krankenversicherung einzahlen. Die hessische SPD hat durchgerechnet, dass damit ein Beitragssatz von ca. 9,5 % erzielt werden könnte. Dass könnte zur Entschärfung der aktuellen Finanzierungsprobleme im Gesundheitswesen beitragen, ohne Menschen mit geringen Einkommen zu belasten.

 

 

 https://www.neues-deutschland.de/artikel/174808.versicherte-mit-kleinen-einkommen-werden-bittsteller.html?sstr=Nadja|Rakowitz

Interview: Peter Nowak  

Juristisch gegen die Volkszählung?

Der Datenschutzexperte Werner Hülsmann bereitet Widerstand vor / Der Diplom-Informatiker ist Mitglied im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung

ND: Deutschland wird sich an der EU-weiten Zensusrunde 2011 mit einem registergestützten Verfahren beteiligen. Was kritisieren Sie daran?
Hülsmann: Bei der Volkszählung im nächsten Jahr geht es um eine umfängliche Erfassung von Menschen. Es sind vor allem zwei Punkte, die wir hier besonders monieren und die Gegenstand unserer Verfassungsklage sind. Die Daten sind nicht anonymisiert. So werden Namen, Anschrift und die Identifikationsnummer mehrere Jahre gespeichert. Über diese Identifikationsnummer ist die Zuordnung zu den Daten möglich. Dieses Vorgehen verletzt wichtige Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, das in seinem Urteil 1983 eine solche gemeinsame Ortungsnummer ausdrücklich verboten hat.

Was ist der andere Kritikpunkt?
Anders als bei der Volkszählung in der BRD 1987 werden diesmal nicht alle Einwohner befragt, sondern sollen die Datensammlungen von Behörden wie den Meldeämtern, der Bundesagentur für Arbeit und anderen öffentlichen Stellen zusammengeführt werden. Das halten wir für eine Zweckentfremdung, weil sensible, für einen begrenzten Zweck gesammelte Daten ohne Einwilligung der Betroffenen zusammengeführt werden.

Wie wehren Sie sich dagegen?
Mit einer Verfassungsbeschwerde will der Arbeitskreis Zensus des AK Vorratsdatenspeicherung diese Bestimmungen juristisch prüfen lassen. Auf unserer Homepage www.zensus11.de kann diese Beschwerde noch bis zum 12. Juli digital unterschrieben werden. Bisher haben sich dort ca. 8000 Menschen eingetragen. Wir denken, dass die Unterstützung in den nächsten Tagen noch wachsen wird.

Wehren Sie sich nur gegen diese Punkte oder lehnen Sie die Volkszählung generell ab?
Generell bezweifle ich den Sinn von Volkszählungen, weil sie nicht auf freiwilliger Basis erfolgen. Wenn es darum geht, eine Datenbasis für Planungen zu bekommen, kann diese über freiwillige, tiefergehende Untersuchungen von seriösen Meinungsforschungsinstituten gewonnen werden.

Gibt es Unterstützung für Ihre Initiative aus der Politik und den Gewerkschaften?
Die Diskussion über die Volkszählung im nächsten Jahr steht noch ganz am Anfang. Daher gibt es von den Parteien bisher kaum Reaktionen, auch nicht von den Grünen, die in den 80er Jahren den Widerstand gegen die Volkszählung mitgetragen haben. Nur die Piratenpartei hat sich bisher gegen die Volkszählung positioniert, was aber nicht verwundern dürfte. Auch bei den Gewerkschaften gibt es bisher keine Positionierung. Das könnte sich aber in Zukunft noch ändern, weil sie durch die Auseinandersetzung mit dem elektronischen Datenregister Elena für den Datenschutz stärker sensibilisiert sein dürften.

Planen Sie über den Rechtsweg hinaus weitere Aktionen?
Bis Mitte Juli konzentrieren wir uns auf die Verfassungsklage. Wir sind uns aber im Klaren, dass die Entscheidung auch negativ für uns ausfallen kann. Dann wird zu überlegen sein, wie mit kreativem Widerstand Daten verweigert werden können. Dazu werden wir sicher auch auf die Erfahrungen der Volkszählungsboykottbewegung der 80er Jahre zurückschauen.

Wichtig ist auch eine Auseinandersetzung mit möglichen rechtlichen Folgen einer Datenverweigerung, wie Zwangs- und Bußgelder. Denn wie in den 80er Jahren gibt es auch 2011 keine Wahlfreiheit. Genau das ist das entscheidende Problem bei der Volkszählung.

 http://www.neues-deutschland.de/artikel/174473.juristisch-gegen-die-volkszaehlung.html

Interview: Peter Nowak

Universitäten besetzen?

Stefanie Graf über die Perspektiven der Uni-Proteste / Graf ist Geschäftsführerin des Studierendenverbandes »Die Linke.SDS«
 

ND: Der Studierendenverband der Linkspartei beteiligte sich kurz vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen (NRW) in Düsseldorf an einer Demonstration gegen Studiengebühren. Ist das der Auftakt für die bundesweiten Bildungsproteste in diesem Semester?
Graf: Für diese Demonstration wurde vor allem in NRW mobilisiert. Damit sollte vor der Landtagswahl ein deutliches Zeichen für die Abschaffung von Studiengebühren gesetzt werden. Ein Wegfall der Studiengebühren in einem großen Land wie NRW hätte natürlich auch bundesweite Bedeutung und könnte einen Dominoeffekt in anderen Ländern auslösen. Zudem würde die Protestbewegung durch einen solchen Erfolg gestärkt.

Ihr Studentenverband hat für dieses Semester u.a. die Idee eines sogenannten Besetzungsstreiks entwickelt. Was würde sich dadurch gegenüber den bisherigen Protesten ändern?
Wir haben die Bildungsproteste der letzten Semester analysiert und die Stärken und Schwächen besprochen. Daraus haben wir den Schluss gezogen, dass der Druck verstärkt, die Bewegung verbreitert und die Proteste radikalisiert werden müssen. Daraus haben wir unseren Vorschlag eines Besetzungsstreiks entwickelt. Die Hochschulen würden während des Streiks besetzt und es würden keine Vorlesungen und Seminare stattfinden. Das hätte den Vorteil, dass die Studierenden, die die Forderungen des Bildungsstreiks unterstützen, sich aber am Streik wegen der Anforderungen des Studiums nicht beteiligen konnten, sich aktiv in die Proteste einbringen könnten. Im letzten Semester beteiligten sich viele Studierende an den Vollversammlungen des Bildungsstreiks und gingen danach wieder in ihre Vorlesungen.

Warum wären deren Probleme durch einen Besetzungsstreik behoben?
Bei solchen Streiks konnte in der Vergangenheit mit den Professoren und der Universitätsleitung eine Lösung gefunden werden, damit die beteiligten Studierenden keine Nachteile erleiden mussten. Das funktioniert allerdings nur bei einer großen Beteiligung.

Aber gerade daran haben Kritiker wie der langjährige Geschäftsführer des Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren, Klemens Himperle, Zweifel. Er fordert inhaltliche Auseinandersetzungen statt Aktionismus und warnt vor dem Abbröckeln der Proteste.
Ich würde inhaltliche Arbeit und Aktionen nicht gegeneinander diskutieren. Wir haben unsere Vorschläge im Januar zur Diskussion gestellt und seitdem gibt es darüber eine Auseinandersetzung. Mittlerweile haben sich an verschiedenen Universitäten Bildungsstreikbündnisse wiedergegründet, die die Proteste fortsetzen wollen.

Gibt es konkrete Planungen?

Am 17. Mai findet die durch die Proteste durchgesetzte Bolognakonferenz mit Bundesbildungsministerin Schavan und Studierenden statt, die in die Hörsäle verschiedener Universitäten live übertragen werden soll. Anfang Juni ist eine dezentrale Aktionswoche der Bildungsproteste geplant, die am 9. Juni mit einem Aktionstag enden soll.

Der Besetzungsstreik ist wohl erst einmal verschoben?
Wir können und wollen ihn nicht alleine machen. Aber mit unserem Vorschlag haben wir eine mittelfristige Perspektive für den Bildungsstreik formuliert. Wir sehen darin eine Möglichkeit, den Prostest zu verbreitern und gleichzeitig zu radikalisieren. Das ist nötig, um den Druck zu erhöhen und eine wirkliche Verbesserung im Bildungssystem zu erreichen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/170889.universitaeten-besetzen.html

Gespräch: Peter Nowak

„Kopfpauschale löst Widerstand aus“

 Von der Gesundheitsreform sind viele betroffen. Deswegen könnten die Proteste größer werden als die gegen Hartz IV, sagt die Ärztin Nadja Rakowitz. “ Nadja Rakowitz ist Geschäftsführerin des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Der Verband fördert Demokratie im Gesundheitswesen.

 In öffentlichen Krankenhäusern herrscht bisher noch keine Notwendigkeit, kapitalistische Profite zu machen“, sagt Rakowitz.

 Frau Rakowitz, könnte die Bewegung gegen die Kopfpauschale der Bundesregierung so groß werden wie die Proteste gegen Hartz IV? Nadja Rakowitz: Die Proteste könnten sogar noch größer werden. Denn von Hartz IV fühlten sich viele Menschen nicht betroffen und kümmerten sich nicht darum. Doch von der Kopfpauschale und anderen Formen der Gesundheitsreform sind viele betroffen. Das könnte mehr Potenzial zum Widerstand haben. Anzeige Aber Politiker der Koalition rücken doch schon längst von der Kopfpauschale à la FDP ab.

 

Sicherlich, es ist noch nicht klar, wer sich in der Koalition durchsetzt. Es wird vor der Landtagswahl in NRW verstärkt betont, dass es einen abrupten Systemwechsel in der Gesundheitspolitik nicht geben soll. Dabei liegt die Betonung auf abrupt. Doch auch eine stufenweise Hinführung zur Kopfpauschale ist abzulehnen, weil sie dazu beiträgt, dass das Gesundheitssystem unsozialer wird. Zudem sind wir Zeugen der Einführung einer kleinen Kopfpauschale, weil verschiedene Krankenkassen bereits einen pauschalen Zusatzbeitrag erheben.

Warum kämpfen Sie dann nur gegen die Kopfpauschale?

Es ist sicherlich das Projekt, an dem sich der größte Widerstand entzünden wird. Aber eine Bewegung gegen die Kopfpauschale reicht sicher nicht aus. Es muss darum gehen, den Fokus der Kritik auf die Unterwerfung der Gesundheitspolitik unter Kapitalinteressen zu richten.

Halten Sie die von Attac und anderen propagierte Parole „Gesundheit ist keine Ware“ für mobilisierungsfähig?

Sicherlich kann diese Parole dabei helfen, ein größeres Bündnis zu schmieden. Denn noch ist es in großen Teilen der Bevölkerung weitgehend Konsens, dass Gesundheit keine Ware werden darf. Doch aus einer emanzipatorischen Perspektive kann es nicht ausreichen, nur bestimmte Refugien wie Gesundheit und Bildung aus der Kapitalverwertung herauszuhalten.

Ist nicht auch Gesundheit in Deutschland schon eine Ware?

Nein, noch nicht flächendeckend. Zum Beispiel in öffentlichen Krankenhäusern herrscht bisher noch keine Notwendigkeit, kapitalistische Profite zu machen. Durch die Konkurrenz müssen heute aber auch öffentliche Krankenhäuser wirtschaften, als ob sie Unternehmen wären.

http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/kopfpauschale-loest-widerstand-aus/

INTERVIEW: PETER NOWAK

EU-Behörde nennt italienische Flüchtlingspolitik inhuman

Die Deportationen von Flüchtlingen auf hoher See verstoßen gegen grundlegende Rechte, zudem würde unverhältnismäßig Gewalt angewendet und die Flüchtlinge nicht mit den nötigen Lebensmitteln versorgt
Die italienische Flüchtlingspolitik verstößt gegen humanitäre Grundsätze. Diese von Flüchtlingsgruppen schon lange vertretene Meinung wurde nun vom Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) bekräftigt. In seinem gerade veröffentlichten Landesbericht zu Italien befasste sich die Delegation mit der italienischen Praxis, illegale Migranten, die sich der italienischen südlichen Mittelmeerküste nähern, bereits auf See abzufangen und nach Libyen zurückzuschicken. Mehrere dieser Deportationen auf hoher See sind in dem Bericht dokumentiert.

Der Delegationsleiter des Antifolterkomitees Jean-Pierre Restellini fand bei der Vorstellung des Berichts deutliche Worte gegen diese Praxis: „Halbverhungerte Bootsflüchtlinge in dieses Land zu schicken, wo ihnen Folter und schwere Misshandlungen drohen, ist eine Missachtung aller internationalen Regeln.“

Zumal bekannt ist, dass in den lybischen Abschiebezentren katastrophale Zustände herrschen, was ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch nachgewiesen hat. Das Antifolterkomitee forderte die italienische Regierung zum Überdenken ihrer Flüchtlingspolitik, besonders der Abschiebungen nach Lybien, auf. Es wies darauf hin, dass Italien selber lange ein Auswandererland war und es daher besonders unverständlich ist, dass sich die Regierung so inhuman gegen Migranten verhält.

Die italienische Flüchtlingspolitik wird die europäischen Gremien weiter beschäftigten. 24 Flüchtlinge aus Eritrea und Somalia, die von Italien nach Lybien abgeschoben wurden, haben eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht. Italien ist allerdings nicht das einzige EU-Land, das wegen der Flüchtlingspolitik kritisiert wird. So monieren Menschenrechtsgruppen die Behandlung von Flüchtlingen in Griechenland und auch Deutschland steht vor allem wegen der Residenzpflicht für Flüchtlinge und ihrer Abschiebepolitik immer wieder in der Kritik.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/147524

Peter Nowak

Warum noch Krisen-Proteste?

Am Wochenende tagte das Bündnis »Wir zahlen nicht für Eure Krise« / Christina Kaindl aus Berlin ist Mitbegründerin des bundesweiten Anti-Krisen-Bündnisses
 ND: Sie haben am vergangenen Samstag eine bundesweite Aktionsberatung in Wiesbaden durchgeführt. Was war der Inhalt dieser Konferenz?
Kaindl: An dem Treffen haben mehr als 80 Personen teilgenommen. Es gab Referate zu den ökonomischen Aspekten der Krise und zur Stimmung in der Bevölkerung. Ein weiterer Schwerpunkt war die Vorbereitung der beiden bundesweiten Anti-Krisen-Demonstrationen, die am 12. Juni in Stuttgart und Berlin stattfinden werden.

Unter welchem Motto werden die stehen?
Wir haben uns darauf verständigt, das Motto »Wir zahlen nicht für Eure Krise«, unter dem bereits die bisherigen Demos standen, beizubehalten. Der Untertitel wird lauten: »Gemeinsam gegen Erwerbslosigkeit, Kopfpauschale und Bildungsabbau«. Damit wollen wir uns auf die Bildungsproteste beziehen, die Anfang Juni geplant sind. Auch der Protest gegen die geplante Kopfpauschale soll in die Mobilisierung zu den Demonstrationen einfließen. Wie schon im vergangenen Jahr werden auch zum 12. Juni regionale Bündnisse mit eigenen Aufrufen mobilisieren. So heißt das Motto des Berliner Bündnisses »Die Krise heißt Kapitalismus«.

Ist angesichts der vielen Meldungen von einem Ende der Wirtschaftskrise eine Anti-Krisendemo nicht anachronistisch?
Die Probleme der Kapitalverwertung, die zu der Krise geführt haben, sind nicht gelöst; die Regulation der Finanzmärkte ist unterblieben. Auf den Wirtschaftsseiten mancher Zeitungen wird vor neuen Spekulationsblasen gewarnt. Bernd Riexinger von ver.di Stuttgart hat sich auf der Konferenz ausführlich mit den ökonomischen Hintergründen der Krise auseinandergesetzt und beschrieben, dass auch in den Belegschaften die Unruhe wächst. Die Probleme von Erwerbslosigkeit, Kurzarbeit und Sozialabbau brauchen Widerstand von unten.

Aber hat sich nicht ein großer Teil der Bevölkerung mit den von der Bundesregierung favorisierten Maßnahmen wie der Kurzarbeit abgefunden?
Mit diesen Maßnahmen wurde das Problem nur verschoben, aber nicht gelöst. In Zukunft können Firmenzusammenbrüche, die mit Entlassungen verbunden sind, nicht mehr ausgeschlossen werden. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist ja in vielen Umfragen belegt. Verlängerung der Kurzarbeit geht für die Betroffenen auch mit der Befürchtung einher, nie wieder das frühere Lohnniveau erreichen zu können.

Eine weitere Folge der Krise ist die immense Verschuldung der Kommunen. Mehreren Städten im Ruhrgebiet droht die Insolvenz. Sie können dann keinen eigenen Haushalt mehr beschließen. Gebührenerhöhungen und Schließungen von städtischen Einrichtungen drohen ebenso wie weitere Privatisierungen. Das wird die Spaltung in diejenigen, die sich die privatisierten Dienstleistungen leisten können, und diejenigen, die es nicht können, verschärfen.

Muss nicht trotzdem damit gerechnet werden, dass die Demonstrationen eher klein werden?
Ich bin nach der Aktionskonferenz wieder optimistischer. Die Demonstrationen stehen ja auch im Zusammenhang mit den Klimaprotesten am 5. Juni in Bonn und den Bildungsprotesten am 9. Juni. In Süddeutschland haben sich viele Gewerkschafter gegen eine Verschiebung der Proteste auf den Herbst mit den Worten gewandt, wie lange wir noch warten sollen. In den nächsten Wochen wird viel von der Mobilisierung vor Ort abhängen. Demnächst wird es Mobilisierungsmaterial und eine Autobusbörse auf der zentralen Homepage kapitalismuskrise.org geben.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/169530.warum-noch-krisen-proteste.html

Fragen: Peter Nowak

Protest gegen die Kopfpauschale

Nadja Rakowitz vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte über die geplante Gesundheitsreform und die Ökonomisierung des Gesundheitswesens
Noch ist sich die Regierungskoalition nicht einig über den Umfang und das Tempo die Umgestaltung des Gesundheitssystems. Ein Grund dürfte auch in dem Protesten liegen, die sich in Teilen der Bevölkerung schon jetzt dagegen zu artikulieren beginnen. So berichtete eine Sprecherin des Online-Kampagnendienst Campact, dass deren Unterschriftenaktion gegen die Kopfpauschale auf große Resonanz gestoßen sei. Auch der DGB will in den nächsten Wochen mit einer Kampagne gegen die Kopfpauschale beginnen.
   

Allerdings warnen gesundheitspolitische Organisationen vor einer Verengung der Proteste auf den Kampf gegen die Kopfpauschale So betont Ole Baumann vom Berliner Büro für medizinische Flüchtlingshilfe, das sich um die gesundheitliche Versorgung von Menschen ohne Papiere kümmert, dass es heute schon eine Drei- oder Vierklassenmedizin gäbe, weil Menschen ohne Papier aus der Versorgung herausfallen. Demgegenüber fordert die Initiative eine Gesundheitsversorgung für alle in Deutschland lebenden Menschen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Die Vorsitzende der Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung Pro Familia Gisela Notz plädiert dafür, die Forderung nach kostenfreiem Zugang zu Verhütungsmitteln in die Kampagne einzubeziehen, weil vor allem Frauen mit geringen Einkommen aus finanziellen Gründen bei der Familienplanung eingeschränkt seien.

Auch Nadja Rakowitz, Geschäftsführerin des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte und Autorin der Zeitschrift express, begründet im Telepolis-Gespräch mit Peter Nowak, warum der Protest gegen die Gesundheitsreform nicht auf die Kopfpauschale begrenzt bleiben sollte.
 Könnte die Bewegung gegen die Kopfpauschale der Bundesregierung Dimension wie die Proteste gegen Hartz IV annehmen?

Nadja Rakowitz: Die Proteste könnten sogar noch größer werden. Denn von Hartz IV fühlten sich viele Menschen nicht betroffen, und kümmerten sich deswegen nicht darum. Doch von der Kopfpauschale und anderen Formen der Gesundheitsreform sind viele Menschen betroffen. Das könnte mehr Potenzial zum Widerstand haben.

 Aber rücken nicht auch Politiker der großen Koalition schon längst von der Kopfpauschale a la FDP ab?

Nadja Rakowitz: Sicherlich, es ist noch nicht klar, wer sich in der Koalition durchsetzt. Es gibt hier vor allem Differenzen zwischen der CSU und der FDP, während sich die CDU weitgehend aus der Auseinandersetzung heraushält – so scheint es. Es wird nun vor allem vor der für die Bundesregierung wichtigen Landtagswahl in NRW verstärkt betont, dass es einen abrupten Systemwechsel in der Gesundheitspolitik nicht geben soll. Dabei liegt der Schwerpunkt auf abrupt. Doch auch eine stufenweise Hinführung zur Kopfpauschale ist abzulehnen, weil sie ebenfalls dazu beiträgt, dass das Gesundheitssystem unsozialer wird. Zudem sind wir bereits Zeugen der Einführung einer kleinen Kopfpauschale, weil verschiedene Krankenkassen bereits einen pauschalen Zusatzbeitrag von ihren Mitgliedern erheben.

 Ist es da überhaupt sinnvoll, sich auf die Kopfpauschale zu kaprizieren?

Nadja Rakowitz: Es ist sicherlich das Projekt, gegen das sich der größte Widerstand entfalten wird. Aber eine Bewegung gegen die Kopfpauschale reicht sicher nicht aus. Es muss darum gehen, den Fokus der Kritik auf die Unterwerfung der Gesundheitspolitik unter Kapitalinteressen zu richten.

 Wäre da nicht die Attac und anderen sozialen Gruppen schon länger propagierte Parole „Gesundheit ist keine Ware“ ein geeignetes Motto?

Nadja Rakowitz: Sicherlich kann diese Parole dabei helfen, ein größeres Bündnis zu schmieden. Noch ist es in großen Teilen der Bevölkerung weitgehend Konsens, dass Gesundheit keine Ware werden darf. Doch aus einer emanzipatorischen Perspektive kann es nicht ausreichen, nur bestimmte Refugien, wie Gesundheit und Bildung, aus der Kapitalverwertung herauszuhalten, was auf die Dauer auch kaum gelingen kann. Vielmehr müssten wir die Frage stellen, warum andere Teile der Gesellschaft, beispielsweise die Lohnarbeit, weiter unter den Zwängen der Ökonomie stehen sollen. Außerdem wird die Parole „Gesundheit ist keine Ware“ auch schon von ganz konservativen Organisationen aufgegriffen, weil sie ihr Pfründe retten wollen. Man muss also deutlicher machen, was man damit meint.

 Ist denn nicht Gesundheit in unserer Gesellschaft jetzt schon eine Ware?

Nadja Rakowitz: Nein, noch nicht flächendeckend. Zum Beispiel in öffentlichen Krankenhäusern herrscht bisher noch keine Notwendigkeit, kapitalistische Profite zu machen. Sie standen bis Anfang der 2000er Jahre nicht in kapitalistischer Konkurrenz zueinander, sondern waren Teil eines Krankenhausplans der öffentlichen Hand und mussten sich nicht auf den Markt bewähren. Durch die Konkurrenz untereinander und mit den privaten Krankenhäusern müssen heute aber auch öffentliche Krankenhäuser wirtschaften, als ob sie Unternehmen wären.

Bis heute zirkuliert auch ein großer Teil des Geldes im Gesundheitswesen zwischen Körperschaften öffentlichen Rechts und öffentlichen Einrichtungen und ist nur sehr beschränkt Teil der Kapitalakkumulation. Daher kann man sehr wohl sagen, dass das Gesundheitswesen nicht vollständig in das Kapitalverhältnis einbezogen war. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass das Krankenhaus unberührt vom Kapitalverhältnis war. Im ambulanten Sektor ermöglichte die rot-grüne Gesundheitsreform im Jahr 2003 die Gründung von medizinischen Versorgungszentren (MVZ). Wenn diese von Konzernen wie z.B. Rhön oder Asklepios übernommen werden, sind auch hier die Anreize verstärkt, medizinischen Entscheidungen betriebswirtschaftlichen Kriterien unterzuordnen

 Gab es nicht auch schon bei den vorigen Bundesregierungen Bestrebungen, die Ökonomisierung des Gesundheitswesens zu fördern?

Nadja Rakowitz: Diese Bestrebungen gehen bis Mitte der 90er Jahre zurück. Unter der Ägide des im Kabinett Kohl amtierenden Bundesgesundheitsministers Horst Seehofer wurden schon Weichen gestellt, als z.B. die Konkurrenz der Gesetzlichen Krankenkassen eingeführt wurde. Den größten Beitrag zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens leistete allerdings die Politik der rot-grünen Bundesregierung. Sie ist unter anderem für die Einführung der Praxisgebühr und die einseitige Erhöhung des Arbeitnehmeranteils um 0,9 Prozentpunkte bei der Finanzierung des Gesundheitssystems verantwortlich. Damit wurde das Prinzip der paritätischen Finanzierung im Gesundheitswesen aufgegeben.

 Warum gibt es in der letzten Zeit verstärkte Bestrebungen, das Gesundheitswesen unter das Kapitalverhältnis zu subsumieren?

Nadja Rakowitz: Viele Gesundheitsökonomen erwarten, dass die Wirtschaftskrise den Trend zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens beschleunigen wird, weil das anlagensuchende Geldkapitel im Gesundheitsmarkt noch Möglichkeiten der Verwertung sieht. Die politischen Rezepte des Doktor Rösler aber auch anderer Politiker wollen hier die Rahmenbedingungen schaffen.

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32469/1.html

Interview:  Peter Nowak

»Sachleistungen entmündigen Menschen«

 

Flüchtlingsaktivistin Marei Pelzer: Auch Regelsätze für Asylbewerber sind verfassungswidrig / Marei Pelzer ist rechtspolitische Referentin des Flüchtlingsnetzwerks Pro Asyl
 

ND: Sie haben in einer Pressemeldung geschrieben, dass nach der Karlsruher Entscheidung zu Hartz IV die Regelsätze für Asylbewerber ebenfalls verfassungswidrig sind. Wo ist da der Zusammenhang?
Pelzer: Das Bundesverfassungsgericht hat bezogen auf Hartz IV entschieden, dass die Leistungen nicht auf »offensichtlich freihändig geschätzten« Zahlen beruhen dürfen. Was bei Hartz IV bemängelt wird, ist bei den Leistungen für Asylsuchende noch viel krasser der Fall: Die Betroffenen müssen seit 1993 von um mehr als 35 Prozent gekürzten Sozialleistungen leben. Bei Kindern unter acht Jahren gibt es weitere Abzüge. Hier ist nicht nur die Festsetzung willkürlich – die gekürzten Leistungen machen aus den Betroffenen auch noch Bedürftige zweiter Klasse.

Wie hoch sind die Leistungen für Flüchtlinge bisher?
Seit Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes im Jahr 1993 sind die Sätze von 360 DM für den Haushaltsvorstand, 220 DM für Kinder unter acht Jahren und für andere Familienmitglieder 310 DM nicht mehr geändert worden. Der Gesetzgeber hat nicht einmal eine Umrechnung auf Euro-Beträge vorgenommen geschweige denn die Beträge der Inflationsrate angepasst. Asylsuchende, Geduldete und auch Menschen mit einem humanitären Aufenthaltsstatus werden mindestens vier Jahre vom sozialen Existenzminimum ausgeschlossen und müssen unter Mangelversorgung leiden.

Wie leben die Menschen damit?
Der Alltag ist für die Betroffenen sehr belastend. Sie bekommen die

Mangelversorgung in allen Lebensbereichen zu spüren – angefangen bei der Kleidung, über Stifte und Hefte für die Schule bis hin zu Lebensmitteln. Hinzu kommt ja auch, dass in manchen Bundesländern nur Sachleistungen gewährt werden. Das bedeutet Lebensmittelpakete, Zwangsunterbringung in Lagern und Kleidung aus der Kleiderkammer. Sachleistungen entmündigen Menschen. Dies ist weder für Flüchtlinge noch für Hartz-IV-Bezieher zumutbar.

Werden hier von den Gerichten, ähnlich wie bei der Residenzpflicht, Sonderregelungen für Menschen ohne deutschen Pass herangezogen, um Ungleichbehandlung zu rechtfertigen?
Das Asylbewerberleistungsgesetz wurde als Teil einer Abschreckungsstrategie gegen Flüchtlinge eingeführt. Pro Asyl fordert die Abschaffung des Gesetzes, weil es nur eine Menschenwürde gibt. Eine Unterscheidung beim sozialen Existenzminimum darf es nicht geben.

In der Erwerbslosenbewegung wird die These vertreten, dass der Umgang mit Flüchtlingen ein Experimentierfeld ist, das dann auch auf andere Gruppen von Erwerbslosen angewandt wird.
Das kann man so sagen. Vieles von dem, was die Agendapolitik gebracht hat, wurde vorher schon an Flüchtlingen ausprobiert. Ein Beispiel ist, dass Asylsuchende zur Arbeit gezwungen werden können. Hartz IV hat den so genannten Ein-Euro-Job als neue Form des Zwangs gebracht. Ebenfalls kann man die verstärkte Möglichkeit nennen, die Leistungen bis auf Null zu drücken. Der völlige Entzug von Leistungen zur Verhaltenskontrolle ist im Asylbereich schon seit Längerem bekannt.

Kommt das Thema Regelsätze für Asylbewerber in der Debatte um Hartz IV ihrer Meinung nach zu kurz?
Wir hoffen sehr, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch positive Effekte für das Leistungsrecht für Asylsuchende haben kann. Die Politik sollte von sich aus die notwendigen Reformen auch auf diese Gruppe ausweiten. Wenn sie sich weigert, bleibt wohl auch hier nur der Gang nach Karlsruhe. Es ist an der Zeit, den Skandal der Mangelversorgung von Asylsuchenden endlich zu beenden.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/165037.sachleistungen-entmuendigen-menschen.html

Fragen: Peter Nowak

Mehr als nur ein Strohfeuer?

Florian Wilde (32), Bundesgeschäftsführer des Studierendenverbandes »Die Linke.SDS«, über die Perspektiven der Studentenproteste
 

ND: Vergangenes Wochenende traf sich der Studierendenverband »Die Linke.SDS« in Bochum zu seinem mittlerweile fünften Bundeskongress. Wie wurden die aktuellen Bildungsproteste bewertet?
Wilde: Wir sehen in ihnen aus mehreren Gründen einen großen Erfolg. Es ist gelungen, das Thema Bildung wieder in einer größeren Öffentlichkeit zu verankern. Die Zusammenarbeit zwischen Schülern und Studierenden stellt einen großen Fortschritt dar. An den Hochschulen war es der erste Aufstand einer Generation, die unter den völlig veränderten Bedingungen des Bachelor-Master-Systems studiert. Zudem war die zweite Protestwelle die erste soziale Bewegung unter der konservativ-liberalen Bundesregierung.

Wo sehen Sie Schwächen der Bewegung?
Sie hat noch nicht die Stärke erreicht, um substanzielle Reformen im Bildungsbereich durchzusetzen. Schließlich sind Studiengebühren und Bachelor- und Masterstudiengänge noch nicht abschafft.

Bekommt Ihr Verband nicht auch die Furcht vieler studentischer Aktivisten vor linker Vereinnahmung zu spüren?
Wir sind ein sozialistischer Verband, der in den Protesten eigene Akzente setzen will. Dabei geht es nicht um Vereinnahmung, sondern um solidarische Diskussion auf Augenhöhe im Bildungsstreikbündnis über die richtige Proteststrategie. Wir haben bei den Protesten die Erfahrung gemacht, dass Studierende durchaus auf Themen ansprechbar sind, die nicht nur das Bildungsthema betreffen. So gab es eine große Unterstützung für den Streik des Reinigungspersonals und der Mensamitarbeiter an den Hochschulen Das grundlegende Problem besteht jedoch darin, dass durch die Umstellung auf die Bachelor- und Masterstudiengänge der linke Aktivismus an den Unis insgesamt in eine Krise geraten ist, weil die Studierenden kaum noch Zeit für politische Aktivitäten haben. Wir müssen darauf Antworten finden, um wieder handlungsfähig zu werden. Der Aufbau eines bundesweiten Verbandes, der den Aktiven vor Ort die Arbeit erleichtert, gehört dazu.

Wie soll es mit den Bildungsprotesten weitergehen?
Wir haben den Vorschlag eines Besetzungsstreiks in die Diskussion gebracht. Im Unterschied zu den bisherigen Protesten würde damit der Unibetrieb komplett lahmgelegt. Die Studierenden müssen sich dann nicht wie bisher individuell zwischen der Beteiligung an Aktionen oder der Teilnahme an Vorlesungen entscheiden. Damit würde ein Freiraum geschaffen, um Alternativen zur bisherigen Bildungspolitik zu entwickeln und den Protest von der Uni in die Gesellschaft zu tragen. Allerdings muss eine solche Aktion gut vorbereitet werden und unter den Studierenden verankert sein. Ein Besetzungsstreik könnte 2011 oder 2012 aktuell werden, wenn die doppelten Abiturjahrgänge an die Unis drängen.

Warum soll dadurch die Protestbereitschaft steigen?
Schon jetzt sind die Studienbedingungen oft sehr schlecht. Durch die doppelten Jahrgänge wird sich die Situation noch verschärfen. Da schon bisher gerade die Erstsemester stark an den Protesten beteiligt sind, bestehen hier große Chancen, dass dann der Widerstand wächst.

Wie soll es aber in den nächsten Monaten kurzfristig mit den Bildungsprotesten weitergehen?
Wir wollen die Landtagswahl in NRW zu einer Abstimmung über die Abschaffung der Studiengebühren machen. Konkret schlagen wir eine bundesweite Demonstration in NRW Anfang Mai vor, um die Parteien außerparlamentarisch unter Druck zu setzen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/162970.mehr-als-nur-ein-strohfeuer.html

Interview: Peter Nowak