Netzwerk gegen Rassismus?

-nd: Frau Kleff, kürzlich wurde mit dem Domgymnasium aus Naumburg an der Saale die 1000. Schule in das bundesweite Netzwerk »Schule ohne Rassismus« aufgenommen. Dieser Tage haben Sie auf einer Tagung in Berlin über die Arbeit des Netzwerkes diskutiert. Wie hat sich seit der Gründung des Netzwerkes vor 17 Jahren die Situation in Deutschland geändert?
Kleff: Darauf hat Barbara John, die Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer der rechten Mordserie, eine Antwort gegeben. Sie hat in ihrer Rede die heutige gesellschaftliche Situation skizziert und kam zu dem Schluss, dass diese in vielerlei Hinsicht nicht mehr identisch mit der Situation Mitte der 1990er Jahre ist, als wir mit unserer Arbeit begonnen haben.

Besteht der wesentliche Unterschied vielleicht darin, dass in den 1990er Jahren der Fokus auf der Abwehr rassistischer Angriffe aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft lag, während heute auch islamistische und antisemitische Tendenzen in der migrantischen Jugendszenen Thema sind?
Für uns gab es diese Unterscheidung nie. Wir haben uns immer gegen sämtliche Ideologien gewandt, die Ungleichwertigkeiten propagieren und die nach ähnlichen Mechanismen funktionieren, wie der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer auf dem Podium ausführte. Dazu gehören Rassismus, Islamismus, Homophobie und Antisemitismus. Wir wurden vor einigen Jahren noch häufig dafür kritisiert, dass wir uns nicht auf ein Feld beschränken. Heute ist der Ansatz, sich gegen alle Ideologien der Ungleichwertigkeit zu wenden, weitgehend anerkannt.

Die finanzielle Absicherung des Projekts ist seit der Gründung ein großes Problem. Gibt es Aussicht auf Verbesserung?
Die Probleme liegen auch daran, dass die Bildung in Deutschland Ländersache ist, wir aber eine Organisation mit einer Bundesstruktur sind. Wir brauchen in Zukunft Finanzierungsmodelle, die uns Planungssicherheit auch über einen längeren Zeitraum als nur die nächsten Monate gibt. Zu unserer Freude hat die Kultusministerkonferenz begonnen, unser Netzwerk zu fördern. Dadurch wächst auch auf Landesebene die Bereitschaft auf Unterstützung.

Die heutige Jugend wird von vielen als unpolitisch klassifiziert. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ich kann diese Beurteilung nicht bestätigen. Es ist richtig, dass, als wir mit unserer Arbeit begannen, ein großer Druck bestand, gegen den Rassismus aktiv zu werden. In den folgenden Jahren ging das Engagement vieler Jugendlicher zurück. Doch in den letzten Jahren ist ihr Interesse an gesellschaftlichen Fragen wieder enorm gewachsen. Ökologische Themen spielen dabei ebenso eine Rolle wie der Umgang mit privaten Daten, wie sich bei den Protesten gegen das Anti-Produktpiraterieabkommen ACTA zeigte, an denen sich viele Jugendliche beteiligten. Sie nehmen die Krisen des Systems bewusst war und reagieren darauf.

Welche Rolle kann das Netzwerk »Schule ohne Rassismus« dabei spielen?
Ich freue mich, wenn dieses Projekt es schafft, in der Schule einen Handlungsansatz zu bieten und Wege aufzuzeigen, wie sich dort etwas verändern lässt.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/226692.netzwerk-gegen-rassismus.html
Interview: Peter Nowak

»Generalstreiks sind wichtige Waffen«

Florian Wilde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung über politische Streiks

Florian Wilde: Der 35-Jährige ist Wissenschaftlicher Referent für Arbeit, Produktion und Gewerkschaften im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

nd: Warum beschäftigt ihr euch am 5. Mai auf der Konferenz »Politische Streiks im Europa der Krise« gerade mit diesem Thema?
Wilde: Seit dem Ausbruch der Krise erleben wir in Europa eine Welle von politischen Generalstreiks. In den Jahren 2010 und 2011 griffen Gewerkschaften 24 Mal zu diesem Mittel. In diesem Jahr gab es bereits Generalstreiks in Griechenland, Spanien, Portugal, Belgien und Italien. Wir wollen auf der Konferenz die konkreten Erfahrungen mit politischen Streiks im europäischen Ausland diskutieren und nach Erfolgen und Niederlagen fragen.

Wie grenzt ihr den politischen Streik von anderen Arbeitsniederlegungen ab?
Während bei anderen Arbeitsniederlegungen der Adressat die Unternehmen sind, sollen beim politischen Streik immer auch gegenüber dem Staat Forderungen durchgesetzt werden. Dabei muss nicht jeder politische Streik die Form eines Generalstreiks annehmen. Doch jeder Generalstreik ist besonders in Zeiten der Krise politisch, in denen die meisten Regierungen mit ihrer Kürzungspolitik unverhüllt Kapitalinteressen vertreten. Generalstreiks sind daher zu einem entscheidenden Instrument für die Verteidigung der Interessen der abhängigen Beschäftigten geworden. Sie sind dabei auch wichtige Waffen im Kampf zur Verteidigung der Demokratie gegen die Märkte.


Ist eine Unterscheidung in politische und ökonomische Streiks überhaupt sinnvoll?

Ja, schon alleine weil erstere in Deutschland nach vorherrschender Rechtsauffassung als verboten gelten. Interessant ist, das die Zahl ökonomischer Streiks in Europa in den letzten 30 Jahren deutlich zurückging, während die Zahl an Generalstreiks seit den 80er Jahren steigt. Allerdings macht es keinen Sinn, ökonomische gegen politische Streiks zu stellen: Je stärker Gewerkschaften bei den einen sind, um so durchsetzungsfähiger werden sie auch bei den anderen sein.

Welche Erfahrungen gab es mit politischen Streiks im EU-Raum in der letzten Zeit?
Die massive Zunahme politischer Generalstreiks führte bisher leider nicht zu durchgreifenden Erfolgen der Gewerkschaften. Punktuell konnten Kürzungspläne abgemildert werden, eine generelle Abkehr von der Austeritätspolitik konnte noch in keinem Land durchgesetzt werden. Die Gründe wollen wir auf der Konferenz diskutieren.

Werden auch aktive Gewerkschafter aus Deutschland auf dem Kongress auftreten?

Das Interesse aktiver Gewerkschafter an der Konferenz ist groß, wir rechnen damit, dass viele an den Debatten teilnehmen werden. Wir freuen uns sehr, mit dem Linksparteivorsitzenden Klaus Ernst, einen ehemaligen Ersten Bevollmächtigten der IG Metall, der selbst politische Streiks gegen die Rente mit 67 mitorganisierte, als Eröffnungsredner gewonnen zu haben. Mit dem ehemaligen IG-Medien-Vorsitzenden Detlef Hensche spricht ein profilierter Streiter für politische Streiks auf dem Abschlusspodium.

Welche Rolle haben Sparten- und Branchengewerkschaften, die in der letzten Zeit oft viel kämpferischer als DGB-Gewerkschaften sind, beim politischen Streik?
Im Fokus stehen die DGB-Gewerkschaften. Wir wollen die dort geführten Debatten um politische Streiks unterstützen. Kleinere kämpferische Gewerkschaften könnten bei politischen Streiks eine wichtige Rolle spielen. Entscheidend ist aber die Haltung der DGB-Gewerkschaften als Massenorganisationen der Arbeitnehmer.

Infos zur Konferenz: www.rosalux.de
http://www.neues-deutschland.de/artikel/225272.generalstreiks
-sind-wichtige-waffen.html

Behinderung bei Bildung?

Kampagne für jugendliche Flüchtlinge / Rena Huseinova ist Sprecherin der 2005 gegründeten Initiative Jugendliche ohne Grenzen (JoG)

nd: Was ist das Ziel der gestern gestarteten Kampagne Bildung(s)los?
Huseinova: Wir wollen damit anlässlich der in Berlin tagenden Kultusministerkonferenz die Forderung nach freier Bildung und Ausbildung für alle Jugendliche mit Flüchtlingshintergrund unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus erreichen.
Wer unterstützt die Forderung?
In dem Bündnis sind unter anderem die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der AWO Bundesverband, die Grüne Jugend, die Jusos, Flüchtlingsräte und Migrantenselbstorganisationen vertreten. Unterstützt werden wir auch von
Bildungsexperten wie Lothar Krappmann, der bis Frühjahr 2011 Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes war und im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung tätig ist. Er betont die
Bedeutung der Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen mit Flüchtlingshintergrund auf ihre Bildungschancen.
Wo bestehen bisher die Hürden beim Bildungszugang dieser
Jugendlichen?

Viele Flüchtlinge sind sehr isoliert in Heimen untergebracht. Durch die Residenzpflicht und Wohnrechtsauflagen werden sie gehindert, den Landkreis des für sie zuständigen Ausländeramtes zu verlassen. Dadurch können Jugendliche in
zahlreichen Fällen Schulen, Ausbildungs- oder Praktikumsplätze nicht erreichen. Davon sind bundesweit ca. 47000 Kinder und Jugendliche betroffen. Die offiziellen Stellen, wie aktuell die Kultusministerkonferenz betonen einerseits, wie wichtig eine Ausbildung
für die Jugendlichen ist, anderseits erteilen die Ausländerbehörden Ausbildungs- Arbeits- und Studienverbote, das ist doch absurd.
Gibt es dabei Unterschiede in den Bundesländern?
Ja, in einigen Bundesländern wie in Berlin gibt es erkennbare Versuche, die Bildungsmöglichkeiten für
alle Jugendlichen umzusetzen. Besonders restriktiv ist die Situation in Niedersachsen. Aktuell ist uns ein Geschwisterpaar bekannt, dass einen Ausbildungsplatz nicht antreten kann, weil das Ausländeramt keine Beschäftigungserlaubnis gibt.
Sind Ihnen Fälle bekannt, wo sich Jugendliche über das Verbot hinweg gesetzt haben, um an Bildungsmaßnahmen teilzunehmen und deswegen bestraft wurden?
Nein, das Problem ist, dass die Einstellung mit bestimmten Kriterien verbunden ist. Kein Arbeitgeber oder Bildungsträger stellt Jugendliche ein, wenn das Ausländeramt nicht
zustimmt. Das gilt übrigens auch für unbezahlte Praktika. Es handelt sich also hier um eine massive Benachteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Was ist im Rahmen der Kampagne geplant?
Wir haben am 8.März der Kultusministerkonferenz unseren Forderungskatalog übergeben. Dafür werden auf unser Kampagnenhomepage www.bildung.jogspace.net
Unterschriften gesammelt. Über weiter Schritte entscheiden wir auf unserer Bildungskonferenz, die wir parallel zur Kultusministerkonferenz an der Humboldtuniversität in Berlin veranstalten.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/220751.behinderung-bei-bildung.html
Interview: Peter Nowak

Aufklärung unerwünscht?

Peter Hammerschmidt über Barbie und den Verfassungsschutz

Der Doktorand an der Mainzer Gutenberg-Universität forscht zum Umgang der BRD mit Altnazis wie Klaus Barbie.


nd: Wie kamen Sie dazu, über Klaus Barbie zu forschen?

Hammerschmidt: Ein Hauptseminar an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz über die deutsche Südamerika-Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert hat mein Interesse an den »Rattenlinien« geweckt. Die »Rattenlinien« waren die von westlichen Geheimdiensten, dem Roten Kreuz und dem Vatikan initiierten Fluchtrouten, über die hochrangige NS-Funktionäre nach 1945 nach Südamerika und somit einer Strafverfolgung entkamen. Eine Person, die von dieser Protektion profitierte, war Klaus Barbie, der Schlächter von Lyon, der trotz seiner Eintragung auf internationalen Fahndungslisten bis 1983 in Freiheit lebte und sein NS-Repressionswissen an westliche Nachrichtendienste und an südamerikanische Militärdiktaturen weitergab.

Sie haben auch beim Verfassungsschutz Akten zu Barbie angefordert.
Das mittlerweile aufgrund hartnäckiger Interventionen freigegebene Aktenmaterial von ausländischen Nachrichtendiensten und anderen Behörden legt die Vermutung nahe, dass Barbie bei seinen Reisen in die Bundesrepublik auch von Seiten des Bundesamtes für Verfassungsschutz protegiert wurde. Ein Antrag auf Akteneinsicht wurde im Herbst 2011 mit der Begründung abgewiesen, dass aufgrund der »hohen Anzahl von Verschlusssachen« verschiedener Nachrichtengeber in den Akten sowie aufgrund des »hohen personellen Aufwandes« keine Einzelprüfung erfolgen könne. Nach einer weiteren Intervention ließ sich der Inlandsnachrichtendienst Mitte Oktober 2011 dazu bewegen, doch eine entsprechende Einzelprüfung durchzuführen.

Und das Ergebnis?
Nach einer »überschlägigen Sachverhaltsprüfung« kam der Verfassungsschutz zu dem Ergebnis, dass eine »Offenlegung der Gesamtakte zu Barbie in absehbarer Zeit aus Sicherheitsgründen nicht möglich« sei.

Welche brisanten Inhalte könnten in den Akten zu finden sein?
Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass Barbie in Deutschland neofaschistische Strukturen organisierte und darüber hinaus zwischen 1978 und 1979 ausgewählte Neofaschisten für den politischen Umsturz in Bolivien rekrutierte. In den 1970er Jahren scheint Barbie in diesem Zusammenhang auch aktiv an der Organisation der geheimen NATO-Struktur Gladio beteiligt gewesen zu sein.

Gibt es Möglichkeiten, die Herausgabe der Akten einzuklagen?
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig im Fall des Bundesnachrichtendienstes, das die Öffnung von Aktenmaterial im Fall Adolf Eichmann ermöglichte, bietet auch für eine juristische Intervention in diesem Fall entsprechende Perspektiven.

Wie bewerten Sie die Erklärungen des Verfassungsschutzes, dass ihm »eine transparente und wissenschaftlich seriöse Aufarbeitung der eigenen Geschichte ein wichtiges Anliegen ist«?
Meines Erachtens ist der Wille zu einer transparenten Aufarbeitung des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit Blick auf personelle NS-Kontinuitäten nicht zu erkennen, wenn bereits der Freigabe einer Einzelakte angebliche Sicherheitsrisiken entgegenstehen.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/217564.aufklaerung-unerwuenscht.html
Interview: Peter Nowak

Hat der Rechtspopulismus an Bedeutung verloren?

Interview mit Dirk Stegemann

Überraschend wurde der Rechtspopulismus zu Jahresbeginn zum Gegenstand des öffentlichen Interesses. Während die Frankfurter Rundschau und die Berliner Zeitung von einer Radikalisierung der rechtspopulistischen Szene sprachen, beginnt sich auch der Verfassungsschutz für diese Kreise zu interessieren. Dabei wurde in der letzten Zeit häufiger die These vertreten, der Rechtspopulismus werde überschätzt.

Selbst das Autorenduo Michael Zander und Thomas Wagner kommt im Schlussteil ihres gerade erschienenen Buches Sarrazin, die SPD und die Neue Rechte zu dem Fazit, dass zumindest der antimoslemische Rechtspopulismus durch die EU-Krise an Bedeutung verloren habe.

Telepolis sprach darüber mit Dirk Stegemann, der sich seit Jahren in zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen den Rechtspopulismus engagiert. Mittlerweile wird er in auf rechtspopulistischen Homepages in steckbriefähnlichen Pamphleten als „Feind Deutschlands“ tituliert.

Durch rechtspopulistische Gruppierungen werden gesellschaftliche Themen aufgegriffen und rassistisch umgedeutet

Nehmen Sie die Drohungen aus rechtspopulistischen Kreisen Ernst?

Dirk Stegemann: Die Drohungen sind in erster Linie zur Einschüchterung gedacht. Man sollte sie weder ignorieren noch überbewerten. Ausbremsen lasse ich mich davon jedenfalls nicht. Genauso wenig wie von Anzeigen, die mich wohl zeitlich einschränken und finanziell abschrecken sollen. Für mich sind die gegen meine Person gerichteten Aktivitäten vor allem eine Anerkennung meines Engagements und ein Zeichen dafür, von Nazis und Rassisten Ernst genommen zu werden.

Auch in der Politik wird diskutiert, islamkritische Webseiten mehr zu kontrollieren. Sehen Sie darin ein erstes Zeichen, dass die Politik die Gefahr des Rechtspopulismus erkannt hat?

Dirk Stegemann: Die Forderung nach Entfernung rassistischer Inhalte – für die „der Islam“ lediglich als Deckmantel fungiert – aus dem Netz, ist richtig. Doch wichtiger ist, die Ursachen dafür zu bekämpfen, so dass derartige Inhalte keinen Resonanzboden mehr finden. Die Bundesregierung kennt nur eines: die Bekämpfung von Erscheinungen, aber nicht der Ursachen.

Was ist dran an Meldungen von einer Radikalisierung der rechten Islamgegner?

Dirk Stegemann: Von einer Radikalisierung würde ich weniger sprechen. Vielmehr scheint es nach den Attentaten in Norwegen und den Nazimorden des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ eine etwas veränderte Wahrnehmung und Sensibilisierung gegenüber Rechtspopulismus und Rassismus zu geben. Die Gefahr des Rechtspopulismus in der BRD besteht jedoch weniger in seinen bestehenden Strukturen und den sie vertretenden Einzelpersonen.

Durch rechtspopulistische Gruppierungen werden gesellschaftliche Themen aufgegriffen und rassistisch umgedeutet. Es werden aber auch rassistische Realitäten, wie wir sie beispielsweise in der Ausgrenzung und Diskriminierung von Flüchtlingen oder Wohnungslosen staatlicherseits finden, nochmals zugespitzt. Die etablierten Parteien, aber auch Teile der Medien, wollen da nicht nachstehen. So spielt man sich – etwas vereinfacht gesagt – den Ball immer wieder zu und leistet einem beständigen Nach-Rechts-Rutschen der Gesellschaft Vorschub.

Welche Auswirkungen hatte der Breivik-Schock auf die rechtspopulistische Kreise?

Dirk Stegemann: Die Reaktionen waren auf Grund der Heterogenität der Szene unterschiedlich. Kurzfristig hat der Terrorakt in Norwegen insbesondere bei rechtspopulistischen und rassistischen Kleinstparteien einen gewissen Distanzierungsdruck und Legitimationszwang in der Debatte erzeugt. Immerhin standen die Wahlen in Berlin vor der Tür und diese Splitterparteien hatten grandiose Erfolge angekündigt. Anders dagegen reagierte die mutmaßliche Unterstützerszene auf einschlägigen rassistischen Webseiten und Internetforen. Hier reichten die Reaktionen von anfänglicher Ablehnung und Zurückhaltung über Rechtfertigung, Schadenfreude bis hin zur Glorifizierung. Nicht selten wurde dabei die Schuld den Muslimen oder den Befürwortern einer multikulturellen und offenen Gesellschaft selbst in die Schuhe geschoben und Breivick zum Opfer stilisiert.

Zupass kam ihnen dabei auch der schnell nachlassende öffentliche und politische Druck, wozu etwa die Konstruktion eines „wirren Einzeltäters“ beitrug. Oder die Rehabilitierung geistiger Brandstifter über die Fortsetzung der vorgeschobenen Meinungsfreiheitdebatte sowie der unsäglichen Integrationsdebatte. Zu heiß schien das Thema wohl nicht zuletzt angesichts der Unterstützung der Thesen von Sarrazin durch die politisch Herrschenden und eigene rassistische Argumentationsmuster bzw. rechtspopulistische Politikstile.

Die Erfolge von rechtspopulistischen und rassistischen Parteien in Europa sprechen ihre eigene Sprache

Es gibt auch die These, dass der Rechtspopulismus überschätzt wird und seine Bedeutung gering ist..

Dirk Stegemann: Die Erfolge von rechtspopulistischen und rassistischen Parteien in Europa sprechen ihre eigene Sprache. Dazu kommen die Ergebnisse aktueller Studien zum Zustimmungspotential für derartige Parteien in Deutschland. Erinnern wir uns einfach an die Republikaner 1989 oder die Schill-Partei in Hamburg. Ich halte es zumindest für fahrlässig, die Gefahren eines Rechtspopulismus angesichts eines latent vorhandenen Rassismus, wachsender sozialer Abstiegs- und Ausgrenzungsängste sowie eines Rechtsrucks in der Gesellschaft herunterzureden.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist noch nicht vorbei und deren Auswirkungen sind in Deutschland im Bewusstsein vieler Menschen noch nicht angekommen. Sowohl Armut als auch soziale Spaltung wachsen aber weiter, die Umverteilung von unten nach oben wird fortgesetzt und die Verteilungskämpfe nehmen national wie global zu. Ursachenbezogene Lösungsansätze oder eine tiefgreifende Gesellschaftskritik bleibt die herrschende Politik schuldig. Das schafft einen idealen Nährboden für Rechtspopulisten und Rassisten auch in Zukunft.

Zeigten nicht aber die Ergebnisse der Berlin-Wahlen wie unbedeutend der Rechtspopulismus ist?

Dirk Stegemann: Einstellungsmuster von Wählern müssen sich nicht zwangsläufig auch im Wahlverhalten ausdrücken. Die Ursachen für das Scheitern von rechtspopulistischen und rassistischen Kleinstparteien bei den Wahlen in Berlin, trotz eines vorhandenen und bekannten Potentials an Wählern, sind zudem recht komplex.

Angefangen von der Konkurrenz untereinander, der eigenen Unfähigkeit, innerer Zerstrittenheit, personeller und infrastruktureller Schwächen bis hin zum Fehlen einer charismatischen Führungsperson dürften auch Rechtspopulisten und Sozialchauvinisten in so genannten etablierten Parteien als Alternative bei den Wahlen in Berlin eine Rolle gespielt haben; auch könnten Protestwähler durch die „Piratenpartei“ aufgefangen worden sein. Nicht zuletzt ist diesen rechten Parteien dank vieler Proteste nie gelungen, sich bei öffentlichen Auftritten als demokratisch zu legitimieren, sondern waren sie als Problem immer erkennbar.

Affinität zu Ungleichwertigkeitsdenken und Abwertungsverhalten

Hat die Wirtschaftskrise den antimoslemischen Populismus zugunsten von Anti-EU und Anti-Euro-Kampagnen in den Hintergrund drängen lassen?

Dirk Stegemann: Das mag für die Wahrnehmung der medialen Aufmerksamkeit zutreffen, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich bei Menschen, die sich von der Krise betroffen oder bedroht fühlen, eine stärkere Affinität zu Ungleichwertigkeitsdenken und Abwertungsverhalten entwickelt hat und auf hohem Niveau manifestiert. Dies trifft vermehrt auch auf die so genannte bürgerliche Mitte zu, national wie global.

Nicht zuletzt deshalb setzen Rechtspopulisten – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – sowohl auf Rassismus unter dem Deckmantel „Feindbild Islam“, auf die „Integrations- bzw. Einwanderungsdebatte“, auf Marktradikalismus und ungehemmte Konkurrenzgesellschaft, einschließlich der Ökonomisierung des Sozialen, als auch auf Nationalismus und das „Feindbild EU“ in Verbindung mit dem Kampf gegen die herrschenden Eliten.

Zu trennen sind diese einzelnen Ausrichtungen dann in der realen Umsetzung kaum noch, da auch hier die Grenzen fließend ineinander übergehen, miteinander verknüpft und oft durch Äußerungen aus der Politik legitimiert werden. Via der Konstruktion von „Nutzlosen“, Unwilligen“ oder „Unfähigen“ stehen die Verlierer der Konkurrenzgesellschaft, die ohnehin sozial Benachteiligten, bereits fest und müssen als Sündenböcke herhalten.
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36203/1.html
Interview: Peter Nowak

Ursachen werden nicht bekämpft

Dirk Stegemann über die Gefahren des Rechtspopulismus

Dirk Stegemann ist im Berliner Bündnis »Rechtspopulismus stoppen« aktiv.
nd: In der Politik wird diskutiert, islamkritische Webseiten mehr zu kontrollieren. Ein erstes Zeichen, dass die Politik die Gefahr des Rechtspopulismus erkennt?
Stegemann: Die Forderung nach Entfernung rassistischer Inhalte aus dem Netz, für die u.a. »der Islam« lediglich als Deckmantel fungiert, ist richtig. Doch wichtiger ist, die Ursachen dafür zu bekämpfen, dass derartige Inhalte keinen Resonanzboden mehr finden. Dieser Staat kennt nur eines: die Bekämpfung von Erscheinungen, aber nicht der Ursachen. Dabei geht er selbst oftmals rechtspopulistisch ans Werk. Es gilt, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen.

Was ist dran an Meldungen von einer Radikalisierung der rechten Islamhasser, wie »FR« und »Berliner Zeitung« vermeldeten?
Von einer Radikalisierung würde ich weniger sprechen. Vielmehr scheint es derzeit eine etwas veränderte Wahrnehmung und Sensibilisierung gegenüber Rechtspopulismus und Rassismus zu geben. Insbesondere nach den Attentaten in Norwegen und den Nazimorden des »Nationalsozialistischen Untergrundes«. Hier sind sicher einige aufgeschreckt. Die Gefahr des Rechtspopulismus in der BRD besteht weniger in seinen bestehenden Strukturen und den sie vertretenden Einzelpersonen. Durch rechtspopulistische Gruppierungen werden gesellschaftliche Themen aufgegriffen und rassistisch umgedeutet. Es werden aber auch rassistische Realitäten wie etwa die Ausgrenzung und Diskriminierung von Flüchtlingen, Wohnungslosen etc. staatlicherseits nochmals zugespitzt. Die etablierten Parteien, aber auch Teile der Medien wollen da nicht nachstehen. So wird sich – etwas vereinfacht gesagt – der Ball immer wieder zugespielt und einem beständigen Nach-Rechts-Rutschen der Gesellschaft Vorschub geleistet.

Es gibt Stimmen, die die Bedeutung des Rechtspopulismus für gering halten. Liegen die falsch?

Ich halte es zumindest für fahrlässig, die Gefahren eines Rechtspopulismus angesichts eines latent vorhandenen Rassismus, wachsender sozialer Abstiegs- und Ausgrenzungsängste sowie Rechtsrucks in der Gesellschaft herunterzureden. Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist nicht vorbei und deren Auswirkungen in Deutschland im Bewusstsein vieler Menschen noch nicht angekommen. Sowohl Armut als auch soziale Spaltung wachsen aber weiter, die Umverteilung von unten nach oben wird fortgesetzt und die Verteilungskämpfe nehmen national wie global zu. Ursachenbezogene Lösungsansätze oder eine tiefgreifende Gesellschaftskritik bleibt die herrschende Politik schuldig. Ein idealer Nährboden für Rechtspopulisten und Rassisten auch in Zukunft.

Können sich solche Stimmen nicht durch die Ergebnisse der Berlin-Wahlen bestätigt sehen?
Einstellungsmuster von Wählern müssen sich nicht zwangsläufig im Wahlverhalten ausdrücken. Die Ursachen für das Scheitern rechtspopulistischer und rassistischer Kleinstparteien bei diesen Wahlen, trotz eines vorhandenen, bekannten Wählerpotenzials, sind zudem recht komplex. Angefangen von deren Konkurrenz untereinander, innerer Zerstrittenheit, personeller und infrastruktureller Schwächen bis zum Fehlen einer charismatischen Führungsfigur.

Hat die Wirtschaftskrise nicht den antimuslimischen Populismus zugunsten von Anti-EU-Kampagnen in den Hintergrund gedrängt?
Das mag für die Wahrnehmung der medialen Aufmerksamkeit zutreffen, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich bei Menschen, die sich von der Krise betroffen oder bedroht fühlen, eine stärkere Affinität zu Ungleichwertigkeitsdenken und Abwertungsverhalten entwickelt und auf hohem Niveau manifestiert hat. Dies trifft vermehrt auch auf die so genannte bürgerliche Mitte zu, national wie global. Nicht zuletzt deshalb setzen Rechtspopulisten, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, sowohl auf Rassismus unter dem Deckmantel »Feindbild Islam« und »Integrations- bzw. Einwanderungsdebatte«, Marktradikalismus und ungehemmte Konkurrenzgesellschaft einschließlich der Ökonomisierung des Sozialen, als auch auf Nationalismus und das »Feindbild EU« in Verbindung mit dem Kampf gegen die herrschenden Eliten.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/214829.ursachen-werden-nicht-bekaempft.html
Interview: Peter Nowak

Banker gegen Kunst

Der Aktionskünstler Philipp Ruch über die Schwierigkeiten, wenn Pressesprecher ihre Äußerungen zurücknehmen wollen
Philipp Ruch ist Gründer des Zentrums für Politische Schönheit, in dem Aktionskünstler mit politischen Aktivisten zusammenarbeiten. Gegen ihren Film »Schuld – Die Barbarei der Privatheit« über Nahrungsmittelspekulationen wollte die Deutsche Bank juristisch vorgehen. Peter Nowak sprach mit dem Aktionskünstler, der wie alle Mitglieder des Zentrums bei öffentlichen Auftritten an Kohle- und Rußspuren erkennbar ist. Denn: Sie wühlen in den verbrannten politischen Hoffnungen Deutschlands.
nd: Was störte die Deutsche Bank an Ihrem Film?
Die Passage ihres Pressesprechers Frank Hartmann, in der er die Menschen in Somalia für ihre Armut selber verantwortlich machte.

Der Bankkonzern zog inzwischen seine Ankündigung zurück. Ist das ein Erfolg der massiven Internetproteste?
Das kann man so sehen. Nach Bekanntwerden eines Eingriffsversuchs der sonst so kunstaffinen Deutschen Bank in die Kunstfreiheit wurde der Film zum Gesprächsthema Nummer 1 im Internet. Nach den ersten Agenturmeldungen über den Fall hagelte es Kritik auf der Facebook-Seite der Bank. Die Deutsche Bank wird aber eher wegen des Interesses von drei überregionalen Zeitungen eingelenkt haben.

Wurde nicht vor allen wegen der drohenden Eingriffe in die Kunst protestiert?
Die Kunst war nur der Anlass. Es ging von Anfang an um die unmoralischen Geschäfte mit dem Hunger von Millionen Menschen. Bis heute hält der Proteststurm an. Ich fürchte, die Bank wird sich bald erklären müssen.

Gab es Einigungsversuche?
Wir hatten im Vorfeld Gespräche mit drei verschiedenen Abteilungen der Bank, in denen wir eine nichtöffentliche Einigung erzielen wollten. Alle drei Stellen verhielten sich dabei ziemlich merkwürdig. Ich habe selten erlebt, dass Menschen, die professionell Öffentlichkeitsarbeit betreiben wollen, so wenig Sensibilität für die Bedeutung von Strafanzeigen gegenüber Aktionskünstlern besitzen. Insbesondere der Pressesprecher kam uns zeitweise wie eine schlechte Kopie von Achilles vor, der nicht weiß, wann man Gefühle zulässt und wann man schweigt. Er drohte mir ernsthaft mit zwei Jahren Gefängnis. Ich weiß ja nicht, in welchen Ländern er sich so herumtreibt. Aber in jedem Fall wäre ihm eine Welt genehm, in der Menschen für unliebsame Werke in Haft kommen.

Wie konnten Sie den Banksprecher überhaupt zu einem Interview gewinnen?
Indem wir anriefen, uns als Dokumentarfilmreporter zu erkennen gaben und nach einem Interview fragten. Danach hat er uns eine halbe Stunde mit dem Nutzen von Nahrungsmittelspekulationen voll-gequatscht. Daraufhin habe ich ihm vom Nutzen gigantischer Freiluftgulags vorgeschwärmt, die so groß sind wie Staaten. Da war dann erst mal Ruhe.

Hatten Sie Schwierigkeiten, Vertreter aus Wirtschaft und Politik für den Film vor die Kamera zu bekommen?
Nein. Die großen Akteure warten darauf. Das Thema findet keine Beachtung. Das Zentrum für Politische Schönheit nimmt sich generell nur schwersten Menschenrechtsverletzungen an. Wie kann es sein, dass Deutschland heute drittgrößter Waffenhändler der Welt ist? Wie kann es sein, dass in Kongo über sechs Millionen Menschenleben vernichtet werden, ohne dass wir es mitbekommen? Diese Fragen sind allesamt »under-reported«, wie es im Englischen heißt. Sprich – sie werden weit unter ihrer Bedeutung abgebildet.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/213766.banker-gegen-kunst.html
Interview: Peter Nowak

Schlupfloch für die Zwangsbehandlung

Urteil des Bundesverfassungsgerichtes stärkt die Rechte psychisch kranker Straftäter
Das Bundesverfassungsgericht erklärte kürzlich das baden-württembergische Gesetz über die zwangsweise medizinische Behandlung psychisch kranker Straftäter teilweise für nichtig. Es gab damit einem Kläger aus Baden-Württemberg recht, dem – seit 2005 im Maßregelvollzug – gegen seinen Willen ein Neuroleptikum gespritzt werden sollte.

ND: Handelt es sich um das erste Urteil des höchsten Gerichts zur Zwangsbehandlung?
Seibt: Bereits im März 2011 hatte das Bundesverfassungsgericht den entsprechenden Passus des rheinland-pfälzischen Landesgesetzes über den Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln für nichtig erklärt. Auch in diesem Fall ging es um die Zwangsbehandlung.

Stützt sich das Gericht dabei auch auf internationale Verträge, wie die Menschenrechtskonvention?
Nein, es stützt sich in dem Urteil ausschließlich auf das Grundgesetz. Die Zwangsbehandlung ist ein unverhältnismäßiger Eingriff in die durch Artikel 2, Absatz 2, Satz 1 des Grundgesetzes geschützte körperliche Unversehrtheit, argumentieren die Richter. Dabei hat sie wohl unser Gutachten überzeugt, in dem wir nachgewiesen haben, wie schädlich die Zwangsbehandlung ist und wie viele Todesfälle daraus resultieren.

Gibt es auch in anderen Bundesländern Gesetze, die eine Zwangsbehandlung erlauben?
Die gibt es in allen Bundesländern und sie gelten so lange, bis ein Betroffener aus dem jeweiligen Bundesland dagegen klagt. Ein Jurist aus Niedersachsen hat schon erklärt, dass das Maßregelgesetz dort fällt, wenn ein Betroffener es schafft, mit seiner Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zugelassen zu werden.

Aber ein generelles Verbot kam aus Karlsruhe nicht?
Nein, das Gericht hat entschieden, dass die laxe Praktizierung von Zwangsbehandlungen nicht mehr möglich ist. So kann sie nicht mehr wegen einer angeblichen Gefährdung der Öffentlichkeit angewendet werden. Lediglich wenn jemand keinen freien Willen mehr besitzt und dadurch auf unabsehbare Zeit in der Psychiatrie bliebe, ist eine Zwangsbehandlung möglich. Wir kritisieren, dass das BVG doch noch ein Schlupfloch für die Anwendung der Zwangsbehandlung offen gelassen hat. Aber angesichts der Tatsache, dass sich über Jahrzehnte nichts in der Psychiatrie verändert hatte, war ein generelles Verbot der Zwangsbehandlung auch nicht gleich zu erwarten gewesen.

Betrifft das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes nur verurteilte Straftäter?
Keineswegs, mit dem Urteil wird die Zwangsbehandlung generell stark eingeschränkt. Also nicht nur der psychisch kranke Straftäter, sondern auch der harmlose Spinner, der aus irgendwelchen Gründen in der Psychiatrie landet, kann in Rheinland Pfalz und Baden-Württemberg und hoffentlich bald auch anderen Bundesländern nicht mehr gegen seinen Willen behandelt werden.

Gibt es für Ihre Organisation in dieser Frage noch Handlungsbedarf?
Mehr denn je. Wir müssen darauf achten, dass nicht durch die Hintertür um den angeblich nicht vorhandenen freien Willen herum wieder Regelungen getroffen werden, die die alte Praxis der Zwangsbehandlung fortsetzen. Daher müssen wir auf Kongressen für die Abschaffung kämpfen und Politiker der Landesparlamente von unseren Argumenten zu überzeugen versuchen.

Gibt es in dieser Richtung Unterstützung von Parteien?
Momentan haben wir auf der parlamentarischen Ebene für unsere Forderung nach einem Verbot der Zwangsbehandlung keine Verbündeten.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/209815.schlupfloch-fuer-die-zwangsbehandlung.html

Interview: Peter Nowak

 

Wächst jetzt die Angst?

Bilge Gecer über Zwangsexmatrikulationen an der Universität Köln / Bilge Gecer ist Referentin für die Hochschulpolitik und Bildung beim AStA der Universität Köln

ND: Vor einigen Tagen sorgte die Exmatrikulation von 32 Studierenden an der Kölner Universität für Aufsehen. Warum wurden die Kommilitonen exmatrikuliert?

Gecer: Die Studienordnung der 32 Diplom- und Magisteranwärter war ausgelaufen. Sie hatten die Frist für die Magisterzwischenprüfung zum Ende Wintersemester 2010 / 2011 nicht eingehalten. Die Universitätsverwaltung war nicht bereit, diese Frist zu verlängern. Die Universitätsleitung hatte schon im Frühjahr die Exmatrikulationen angekündigt und in den vergangenen Tage die Bescheide rausgeschickt.

Im Frühjahr war noch von bis 1600 Kommilitonen die Rede, die von der Exmatrikulierung betroffen sind. Ist es da nicht ein Erfolg, dass sie jetzt nur bei 32 Studierenden umgesetzt wurde?

Darin kann ich keinen Erfolg sehen. Studierende sind keine Nummern. Es kommt uns auf jeden einzelnen Fall an. Zudem werden über die unmittelbar Betroffenen hinaus alle Kommilitonen unter Druck gesetzt. Die Angst vor einem Versäumen der Fristen wächst. Unter diesen Umständen erhöht sich die Gefahr, bei wichtigen Prüfungen und Klausuren zu versagen, noch zusätzlich.

Warum konnten die Studierenden die Fristen nicht einhalten?

Die Gründe dafür sind sehr unterschiedlich. Einige haben sich hochschulpolitisch engagiert, das heißt, sie haben sich für andere Kommilitonen eingesetzt; das kostet Zeit. Andere mussten nebenbei arbeiten, um sich überhaupt ein Studium leisten zu können. Auch Studierende mit Behinderungen oder mit Kind gehören zu den Exmatrikulierten.

Was bedeutet das für die Betroffenen?

Sie sind erst einmal aus der Hochschule raus. Einige von ihnen haben es vielleicht geschafft, sich an anderen Hochschulen zu bewerben, wo sie ihr Studium fortsetzen können. Aber dann müssen sie aus der Stadt wegziehen, und ob das als die beste Lösung bezeichnet werden kann, ist sehr fragwürdig. Schließlich haben sich die Studierenden zum Studienbeginn für die Universität Köln entschieden, mit der Absicht ihr Studium hier erfolgreich abzuschließen. Es wird wohl bitter: Einigen Betroffene droht wahrscheinlich die Arbeitslosigkeit als Perspektive.

Wie können sich die Gemaßregelten wehren?

Wenn die Exmatrikulation erst einmal ausgesprochen ist, ist das schwierig. Aber: Juristisch mag die Maßnahme einwandfrei sein, trotzdem ist der Umgang mit den Studierenden nicht hinnehmbar. Es handelt sich hier schließlich nicht um Daten, die einfach so aus der Kartei genommen werden können, sondern um Menschen. Wir sind weiterhin bemüht, einen politischen Druck gegen die Exmatrikulationen aufzubauen.

Gibt es schon konkrete Projekte?

Mittlerweile wurde unter exmatrikulation.blogsport.de eine Internetseite eingerichtet, auf der Informationen zum Thema zusammengetragen werden, um eine Solidaritätserklärung zu verfassen, die online unterschrieben werden kann. Es haben sich neben verschiedenen studentischen Initiativen auch gewerkschaftliche Gremien gegen die Exmatrikulationen ausgesprochen.

Drohen an anderen Universitäten ähnliche Maßnahmen?

Köln ist keine Ausnahme. Es gibt Befürchtungen von Studierenden, dass auch an anderen Hochschulen solche Restriktionen geplant sind. Auch aus diesem Grund setzen wir uns für die Rücknahme der Exmatrikulationen in Köln ein. Wir wollen verhindern, dass daraus eine Pilotprojekt wird.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/205676.waechst-jetzt-die-angst.html

Interview: Peter Nowak

Polizisten unter Druck

Von 2013 an müssen Polizisten in Brandenburg einem Beschluss des Landtags zufolge Namensschilder tragen oder durch eine andere Kennzeichnung identifizierbar sein. Neben der FDP-Fraktion stimmte auch Jürgen Maresch, ein Landtagsabgeordneter der Linkspartei, gegen die Einführung von Namensschildern für Polizisten in dem Bundesland. Zuvor hatte der Politiker, der selbst im Polizeidienst tätig war, sich in einer persönlichen Erklärung dagegen ausgesprochen.
Fast jede Kassiererin an der Supermarktkasse trägt ein Namensschild. Warum soll das bei Polizisten anders sein?

Die Berufsbilder sind nicht vergleichbar. Ich war 20 Jahre Polizist, bevor ich in die Politik gegangen bin, und ich habe zeitweise freiwillig ein Namensschild im Dienst getragen.

Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Ich war bei Kontrollen im Grenzgebiet eingesetzt und habe Straf­taten zur Anzeige gebracht. Weil mein Namensschild zu sehen war, wurde ich mit SMS konfrontiert und war psychologischem Druck ausgesetzt. Ich will nicht weiter ins Detail gehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kriminelle die Namensschilder nutzen, um Polizisten unter Druck zu setzen, auch durch die Drohung mit Gegenanzeigen.

Viele zivilgesellschaftliche Organisationen sehen in den Namensschildern eine Möglichkeit für betroffene Bürger, sich leichter gegen Übergriffe der Polizei zu wehren, beispielsweise durch eine Anzeige.

Ich bestreite nicht, dass so etwas vorkommt. Die Polizei ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Aber ich wehre mich dagegen, dass alle Polizeibeamten unter Generalverdacht gestellt werden und ihre ­informationelle Selbstbestimmung aufgehoben wird.

Würden die Namensschilder nicht die Aufklärung von polizeilichen Übergriffen erleichtern?

Unsere Justiz und unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft sind stark genug, um solche Fälle aufzuklären. Das ist bisher auch immer geschehen. Ich habe es während meiner 20jährigen Tätigkeit bei der Brandenburger Polizei noch nie erlebt, dass ein gesuchter Polizist nicht identifiziert werden konnte. Zudem wende ich mich nur gegen eine namentliche Kennzeichnung der Polizei, nicht aber gegen eine Nummerierung. Auch damit wäre eine Identifizierung möglich.

Wie wird Ihre Position in Ihrer Partei aufgenommen?

Dort wird meine Meinung nicht geteilt, aber respektiert. Eine generelle Kritik an meiner Position ist bisher nicht an mich herangetragen worden. Aber das kann sich noch ändern.

http://jungle-world.com/artikel/2011/33/43814.html

Small Talk von Peter Nowak

Mehr Transparenz bei Hartz IV?

Harald Thomé über den schwierigen Zugang zu amtlichen Informationen
 
Harald Thomé ist Vorsitzender des Erwerbslosen- und Sozialhilfevereins Tacheles aus Wuppertal und Referent für Arbeitslosenrecht.

ND: Was hat das Informationsfreiheitsgesetz (IFG) mit den Jobcentern zu tun?
Thomé : Dieses Gesetz wurde am 1. Januar 2006 eingeführt. Es gewährt jeder Person einen voraussetzungslosen Rechtsanspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen von Bundesbehörden. Weil im Hartz-IV-Bereich bekanntlich eine Menge Verwaltungsanweisungen anfallen, sind natürlich auch die Jobcenter davon betroffen.

Können Sie Beispiele nennen?
Der gesamte Bereich der Kosten der Unterkunft von Hartz-IV-Empfängern ist über solche Verwaltungsvorschriften geregelt, aber auch das Bildungspaket sowie die Regelung bei Erstausstattungen für Wohnraum. Seit dem 1. Januar dieses Jahres fallen außerdem kommunale Behördenanweisungen unter das Bundes-IFG. Die Jobcenter müssen nun auch die kommunalen Dienstanweisungen jedem Interessierten zugänglich machen.

Wie sieht es damit in der Praxis aus ?
Ich habe im Juni bei 135 Jobcentern in Bayern und Baden-Württemberg Anträge gestellt und beantragt, dass diese Verwaltungsanweisungen und Richtlinien zu den Unterkunftskosten, zum Bildungs- und Teilhabepaket, aber auch zur Erstausstattung von Wohnraum und Bedarfen bei Schwangerschaft und Geburt herausgeben. Nach einem Monat, dem spätesten Termin nach dem solche Informationen von Amts wegen herauszugeben sind, wurden in Bayern die Unterlagen lediglich in elf, in Baden-Württemberg in 17 Fällen vollständig herausgegeben. Mehr als zwei Drittel der Jobcenter haben in den beiden Bundesländern jedoch überhaupt nicht geantwortet. Die übrigen schickten unvollständige Unterlagen. Der Leiter eines Jobcenters hat mir sogar mit einer Anzeige bei der örtlichen Anwaltskammer wegen Verstoßes gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz gedroht.

Wie wollen Sie jetzt weiter vorgehen?
Ich habe die Angelegenheit zunächst öffentlich gemacht. Nach dem 1. August werde ich mich dann an den Bundesbeauftragten für Informationsfreiheit wenden. Sollten die Behörden auch nach drei Monaten die Unterlagen nicht veröffentlichen, werde ich entsprechende Untätigkeitsklagen einleiten.

Hatten Sie schon erfolgreich geklagt?
Der Erwerbslosenverein Tacheles hatte im Jahr 2006 in Sachen IFG gegen die Bundesagentur für Arbeit geklagt und sie dazu gezwungen, ihre internen Weisungen zum Arbeitslosengeld im Internet zu veröffentlichen. Auch die Informationen, die ich jetzt von den bayerischen und baden-württembergischen Jobcentern angefordert habe, sollen veröffentlicht werden. Es ist schlimm genug, dass dies aus der Erwerbslosenbewegung heraus gefordert werden muss, die Behörden wären doch nach dem Informationsfreiheitsgesetz von sich aus zur Veröffentlichung verpflichtet.

Welche Vorteile haben die Betroffenen davon?
Die Betroffenen können so prüfen, ob die jeweilige behördliche Entscheidung rechtsmäßig ist, und ob das Amt Ermessen ausgeübt hat. Zudem können sie bei der Formulierung von Anträgen auf die wesentlichen, für die Entscheidung erheblichen Umstände hinweisen. Sie können aber auch prüfen, ob das Amt organisiert durch Weisung gegen geltendes Recht verstößt. Letzteres ist ein Phänomen, welches bei Hartz IV nicht selten vorkommt.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/203094.mehr-transparenz-bei-hartz-iv.html

Interview: Peter Nowak

»Verhöhnung der Opfer«

Das Berliner Abgeordnetenhaus hat beschlossen, auf dem Areal des ehemaligen Flughafens Tempelhof einen »Gedenk- und Informationsort« zu errichten. Dort soll an die Opfer des KZ Columbiadamm und die Zwangsarbeiter erinnert werden, die am Flughafen eingesetzt wurden. Beate Winzer, Vorsitzende des »Fördervereins für ein Gedenken an die ­Naziverbrechen in und um das Tempelhofer Feld«, spricht über die Entscheidung.

Small Talk von Peter Nowak

Wie bewerten Sie den Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses, einen Gedenkort für die Opfer des NS-Terrors am Tempelhofer Feld einzurichten?

Lange Jahre wurde über das erste Berliner Konzentrationslager auf dem Areal ebenso geschwiegen wie über die Zwangsarbeiter, die dort seit 1938 für die deutsche Rüstung schuften mussten. Daher ist der Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses ein wichtiger erster Schritt. Jetzt müssen praktische Konsequenzen folgen.

Worin sollten sie bestehen?

Die historisch sensiblen Flächen müssen Grünflächen ohne Sportnutzung werden, damit die Vernichtung historischer Spuren verhindert wird.

Was stört Sie an der Auszeichnung des Tempelhofer Flughafens als »historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst« durch die Bundesingenieurkammer?

Der Flughafen Tempelhof ist ein nationalsozialistisches Monument, in dem die Inszenierung von Technik, zivile Nutzung und Massenvernichtung miteinander verbunden sind. Ingenieure und Physiker haben wie kaum eine andere Berufsgruppe durch Erfindungen wie Bomberflugzeuge, Langstreckenraketen und andere Rüstungsgüter den Vernichtungskrieg des NS-Regimes maßgeblich unterstützt.

Das Areal wird zudem von offizieller Seite immer noch als »Tempelhofer Freiheit« bezeichnet.

Das KZ Columbiadamm auf dem Gelände war ein berüchtigtes Folterzentrum. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs wurde das Tempelhofer Feld mit Barackenlagern für Zwangsarbeiter überzogen. Von der »Tempelhofer Freiheit« zu sprechen, ist eine Verhöhnung der Opfer.

Gibt es Informationen über den Einsatz von jüdischen Zwangsarbeitern auf dem Gelände?

Der Historiker Lutz Budraß konnte 69 Personen identifizieren. Sie haben zwischen 1938 und 1941 als »Zwangsarbeiter im geschlossenen Arbeitseinsatz« für die Lufthansa gearbeitet. In ganz Berlin wurden jüdische Berliner eingesetzt. Sie wurden ab 1941 nach Auschwitz deportiert und ermordet.

http://jungle-world.com/artikel/2011/28/43589.html

Interview Peter Nowak

Peter Nowak

»Die Proteste sind hier geringer als anderswo«

Gewerkschaftslinke diskutieren Krisenproteste

 
Unter dem Motto »Wo bleibt mein Aufschwung?« organisieren die Gewerkschaft ver.di und das Bündnis »Wir zahlen nicht für Eure Krise« an diesem Wochenende in Stuttgart einen Kongress. Für ND sprach PETER NOWAK mit dem Vorsitzenden von ver.di- Stuttgart, BERND RIEXINGER.

 ND: Alle reden vom Aufschwung, wozu braucht es noch einen Kongress?Riexinger: Der Anteil der prekären Arbeitsverhältnisse wächst. Unfreiwillige Teilzeit- und Leiharbeit nimmt weiter zu. Daher können wir sagen, dass der Aufschwung bei einem großen Teil der Beschäftigten nicht angekommen ist. Zudem ist überhaupt nicht sicher, ob der  Aufschwung nicht nur eine weitere Etappe in der Krise ist, wofür gibt es einige Anzeichen gibt. Wir wollen uns Klarheit verschaffen, wo wir stehen und wo unsere Handlungsmöglichkeiten  als Gewerkschaftler in Zukunft sein  werden.  Dazu haben wir Referenten  von sozialen Bewegungen wie Attac und aus dem linkskeynisianischen, gewerkschaftlichen Spektrum eingeladen. 
 
2.) Welche Rolle werden die Proteste in Griechenland und Spanien auf dem Kongress eine Rolle?                                                                     B.R.: In diesen Ländern bekunden die Menschen massenhaft, nicht für eine Krise zahlen zu wollen, für de sie nicht verantwortlich sind. Wenn wir  uns mit der Frage beschäftigten, warum in Deutschland die Proteste viel geringer als in anderen Ländern sind, müssen wir die unterschiedliche Rolle betrachten,  die die deutsche Wirtschaft im Vergleich zu den Ökonomien in Spanien und Griechenland spielt..    Die exportorientierten Teile der  deutschen  Industrie profitieren von der Krise in  diesen  Ländern. Das Niedriglohnmodell, das in Deutschland die Löhne drückt, sorgt dort für die enormen ökonomischen  Probleme.   

3.) Müssten nicht gerade in Zeiten des  Wirtschaftsaufschwungs bessere Bedingungen für gewerkschaftliche Erfolge bestehen?                                                                                                                             

        B.R.:  Theoretisch schon. Aber wir wollen uns auf den Kongress auch mit den gewerkschaftlichen Umbrüchen der letzten Jahre auseinandersetzen, die eine  offensive Interessensvertretung erschweren. Während de Beschäftigung in den traditionell gewerkschaftlich gut organisierten Bereichen abnimmt, ist es vor allem im Dienstleistungsgewerbe, wo neue oft schlecht bezahlte Arbeitsplätze geschaffen werden, schwer  Gewerkschaften zu gründen und Arbeitskämpfe zu führen.  Daran schließt sich die Frage an, ob der DGB nur noch  Teile der Lohnabhängigen,  beispielsweise in den exportabhängigen Sektoren der Industrie vertritt, oder ob er den Anspruch hat, alle Lohnabhängigen zu vertreten, weiter aufrecht erhalten kann. Dann müssten auch neue Formen der Gewerkschaftsarbeit entwickelt werden.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/201734.die-proteste-sind-hier-geringer-als-anderswo.html?sstr=Bernd|Riexinger

Peter Nowak

Schnüffeln an biologischer Spur der Bürger

Organisationen warnen in bundesweiter Kampagne vor der Datensammelwut des Staates
 Das Gen-ethische Netzwerk (GeN) überreicht am heutigen Montag, dem Tag des Grundgesetzes, an Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger einen offenen Brief. Darin fordert das GeN zusammen mit anderen Organisationen die Revision der gesetzlichen Regelungen zur Speicherung von DNA-Profilen durch das Bundeskriminalamt und den Ausstieg aus der internationalen Vernetzung polizeilicher DNA-Datenbanken. Dies ist zugleich Auftakt einer bundesweiten Kampagne »DNA-Sammelwut stoppen«.

ND: Welche Gefahren sieht das Gen-ethische Netzwerk in der DNA-Datenspeicherung?
Schultz: Die bestehen vor allem in der enormen Expansion, die die DNA-Speicherung erfahren hat. 1998 wurde die zentrale DNA-Datenbank beim Bundeskriminalamt eingerichtet. Mittlerweile sind über 700 000 Personendatensätze und 180 000 Spurenprofile gespeichert. Wir sehen hier die Tendenz der Etablierung eines präventiven Überwachungsstaates, in dem jeder, gegen den einmal ermittelt wurde, mittels biologischer Spuren überwacht werden soll. Zudem können mittlerweile mittels DNA-Analyse auch Verwandte überprüfter Personen gesucht werden.

 Dient diese Methode nicht der Verbrechensaufklärung?
Unter vier Prozent der Delikte, die über DNA-Datenbanktreffer beim BKA ermittelt wurden, waren Kapitalverbrechen. Diese Fälle werden aber medial gerne zur Verteidigung der DNA-Analyse in den Mittelpunkt gestellt. Unseres Erachtens wiegen selbst einige spektakuläre Erfolge die Gefahren der Totalüberwachung durch DNA-Datenbanken nicht auf. In den 90er Jahren haben feministische Antigewalt-Gruppen sogar die Einrichtung der DNA-Datenbank beim BKA als Mittel zur Aufklärung von Sexualdelikten abgelehnt und als trojanisches Pferd für den Überwachungsstaat bezeichnet.

 Basiert die DNA-Analyse nicht auf Freiwilligkeit?
Über 90 Prozent der DNA-Profile in der BKA Datenbank werden von den Betroffenen ohne richterliche Anordnung abgegeben. Das macht den Druck deutlich, unter dem diese Personen etwa in Verhörsituationen stehen, und relativiert die vorgebliche Freiwilligkeit. Auch bei formal freiwilligen Massengentests ist der soziale Druck so hoch, dass nur wenige die Teilnahme verweigern.

 Was sind Ihre zentralen Forderungen?
Zusammen mit dem Chaos Computer Club, der Humanistischen Union und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen fordern wir eine unabhängige, regelmäßige Kontrolle der Datenbanken. Nach einer Stichprobe des Datenschutzbeauftragten von Baden-Württemberg gab dieser 2007 bekannt, dass 42 Prozent der überprüften Datensätze gelöscht werden mussten, weil sie unrechtmäßig gespeichert worden waren. Zudem fordern wir eine Revision des umstrittenen Gesetzes von 2005, das zu einer drastischen Expansion der DNA-Datenbank beim BKA geführt hat. Ein Verbot, mittels DNA-Tests Verwandtschaftsbeziehungen und persönliche Eigenschaften zu ermitteln, gehört ebenso dazu. Zudem setzen wir uns für einen Ausstieg aus dem globalen Datenaustausch ein.

 Ist Datenschutz bei der DNA-Analyse überhaupt möglich?
Ein selbstorganisierter Datenschutz der DNA ist im Gegensatz zu den Kommunikationstechnologien nahezu unmöglich. Man kann seine DNA nicht zu Hause lassen wie das Handy – und das DNA-Profil auch nicht verschlüsseln. Man muss wissen, dass die Polizei keine DNA ohne richterliche Anordnung abnehmen darf. Außerdem kann man mittels Klagen unrechtmäßig gesammelte DNA löschen lassen. Allerdings gilt: Am besten ist es, wenn DNA nicht erst abgegeben wurde.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/198228.schnueffeln-an-biologischer-spur-der-buerger.html

Fragen: Peter Nowak

Kein Datenschutz bei Sozialhilfe?

Kampagne macht gegen Gesetzvorhaben im Schweizer Kanton Bern mobil / Rolf Zbinden engagiert sich gegen die Gesetzespläne. Er ist Mitglied der Partei der Arbeit (PdA) im Berner Stadtrat

ND: Sie sind in der Berner Kampagne für ein Referendum gegen die Revision des Sozialhilfegesetzes aktiv. Worum genau geht es dabei?
Zbinden: Im Kanton Bern wurde Ende Januar ein Sozialhilfegesetz verabschiedet, das eine Klausel enthält, nach der Sozialhilfeempfänger eine Generalvollmacht für die Offenlegung all ihrer Daten unterschreiben müssen, wenn sie Leistungen erhalten wollen. Das betrifft nicht nur ihre Bankdaten – auch Ärzte und Vermieter können nach dieser Bestimmung befragt werden.

Wir sehen darin ganz eindeutig eine Diskriminierung von Sozialhilfeempfängern. Die Stigmatisierung beginnt schon, wenn durch die Befragung bekannt wird, dass jemand Sozialhilfe beantragt hat. Von den 160 Abgeordneten im Berner Kantonsparlament haben nur vier Grüne die Vorlage abgelehnt.

 Wie begründen die Befürworter des Gesetzes ihre Zustimmung?
Es gibt in der Schweiz seit Jahren eine Polemik gegen Sozialhilfeempfänger. Da werden publizistisch einige wenige Fälle aufgegriffen, wo Sozialhilfeempfänger einen BMW gefahren sind. Mittlerweile gibt es in Bern eine Regelung, dass jedem Sozialhilfeempfänger ein Testarbeitsplatz in der City-Reinigung angeboten wird. Wer ihn ablehnt, bekommt keine Sozialhilfe. Zudem wurden zum 1. April dieses Jahres, als das neue Arbeitslosenversicherungsgesetz in Kraft getreten ist, zahlreiche Menschen aus der Arbeitslosenkasse in die Sozialhilfe gedrängt. Das ist der sozialpolitische Hintergrund für den Angriff auf den Datenschutz für diese Menschen.

 Wie unterstützen die anderen Parteien und die Gewerkschaften das Referendum?
Die Sozialdemokraten und die Grünen unterstützen das Referendum verbal, beteiligen sich aber kaum am Unterschriftensammeln. Bei den Sozialdemokraten liegt es auch daran, dass deren Abgeordnete das Gesetz mehrheitlich mitgetragen haben. Die Gewerkschaften mobilisieren zeitgleich für eine Initiative zur Einführung eines Mindestlohns. Daher sind es neben der PdA nur weitere kleinere Gruppen, die das Referendum für den Datenschutz unterstützen.

Eine wesentliche Rolle bei der Mobilisierung nimmt das Komitee der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen ein.

 Gibt es Kontakte zu Gruppen, die sich bisher vor allem für Datenschutz im Internet einsetzen?
Auch in dieser Frage ist die Debatte in der Schweiz nicht weit entwickelt. Nachdem dort vor 20 Jahren der Fichenskandal* – ein Schnüffelstaatssystem aus der Zeit des Kalten Krieges – aufgedeckt wurde, gibt es zurzeit raffinierte Versuche, solche Methoden wieder einzuführen, ohne dass daran viel Kritik geübt wird. Diejenigen aber, die sich für den Erhalt des Schweizer Bankgeheimnisses einsetzen, etwa die Liberalen, sind an vorderster Front für den Abbau des Datenschutzes für Sozialhilfeempfänger.

 Mit welchem Ausgang des Referendums rechnen Sie?
Wir sind noch optimistisch, dass wir bis zum Monatsende die nötigen 10 000 Unterschriften zusammen bekommen. Allerdings ist die Hürde sehr hoch, wenn man bedenkt, dass wir vom Großteil der Medien totgeschwiegen werden. Sollten wir es schaffen, kommt es zur eigentlichen Volksabstimmung.

Dann würden die Karten ganz neu gemischt, denn Sozialdemokraten und Gewerkschaften müssten sich eindeutig positionieren und könnten dem vollständigen Verlust des Datenschutzes für Sozialhilfeempfangende nicht gut zustimmen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/197357.kein-datenschutz-bei-sozialhilfe.html

Fragen: Peter Nowak

* Fiche ist die französische Bezeichnung für Karteikarte