»Retouren aus dem ­Weihnachtsgeschäft«

Die Beschäftigten von Amazon erhalten Unterstützung im Arbeitskampf. David Johns ist Mitglied des »Streik-Solibündnisses Leipzig«, das zum Konsumentenstreik bei dem Versandhandel aufruft, um die Forderung nach einem Einzelhandelstarifvertrag zu unterstützen.

Wie können Kunden die Beschäftigten bei Amazon unterstützen?

Der Konsumentenstreik funktioniert ganz einfach: Man bestellt bei Amazon Waren und schickt diese – am besten mit einer Solidaritätsnachricht an die Streikenden – nach Erhalt umgehend zurück. Die Aktion kostet Amazon unmittelbar Geld, da unprofitable Mehrarbeit entsteht und der Händler sich vertraglich verpflichtet, bei einem Warenwert von über 40 Euro die Portokosten für die Hin- und Rücksendung zu übernehmen.

Wie haben die Kollegen und Verdi auf das Vorhaben reagiert?

Einige Gewerkschaftsfunktionäre haben sich klar abgegrenzt und hervorgehoben, dass Verdi nichts mit der Kampagne zu tun hat. Andere haben unseren Aufruf übernommen und die Aktion unterstützt. Bei vielen Streikenden ist die Kampagne sehr gut angekommen. Der Aufruf wurde erst veröffentlicht, nachdem wir die Einzelheiten mit Beschäftigten aus mehreren Standorten abgestimmt hatten. Wir haben von vielen ein sehr positives Feedback erhalten.

Wissen Sie, wie viele Kunden sich bisher beteiligt haben?

In unserem Aufruf bitten wir darum, uns Fotos von den Solidaritätsbotschaften zu schicken. Wir haben schon viele Fotos erhalten und können die Solidarität nun auch für Beschäftigte außerhalb der Retourenannahme sichtbar machen. Wir haben viele Anfragen für Flyer und Poster bekommen und Material in viele Städte geschickt. Trotzdem ist das Ausmaß der Beteiligung schwer abzuschätzen.

Wann endet die Kampagne?

Sie soll noch bis Ende Januar dauern, dann kommen die ganzen Retouren aus dem Weihnachtsgeschäft. Bis dahin brauchen wir noch viel Unterstützung!

Sie arbeiten nicht bei Amazon. Warum solidarisieren Sie sich dennoch mit den Beschäftigten?

Der Kampf bei Amazon hat eine hohe Signalwirkung auf die Branche, da sich viele andere Unternehmen an dem Flaggschiff orientieren. Erkämpfte Erfolge können andere Belegschaften motivieren, sich gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen zu wehren. Die lange Dauer des Kampfes hat es möglich gemacht, gute Kontakte zu den Streikenden aufzubauen.

http://jungle-world.com/artikel/2016/01/53275.html

Interview: Peter Nowak

»Frontex kann nicht reformiert werden«

Vergangene Woche hat die EU-Kommission einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vorsieht, die Befugnisse der europäischen Grenzschutzagentur Frontex zu erweitern, die zudem besser ausgerüstet und personell verstärkt werden soll. Über die europäische Flüchtlingsabwehr und die Rolle von Frontex sprach die Jungle World mit Harald Glöde. Er ist Mitbegründer und langjähriger Mitarbeiter der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM). 2007 gründete er mit anderen die Initiative Borderline Europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V.

Lange Jahre wurde die europäische Grenz­schutz­agentur Frontex von Antirassisten kritisiert. In der letzten Zeit ist das in den Hintergrund getreten. Was war der Grund?

Es stimmt, dass Frontex im »Sommer der Migration« in der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen wurde. Das liegt aber schlicht daran, dass sie bei den jüngsten Flüchtlingsbewegungen, insbesondere auf der Balkan-Route, bislang keine Rolle gespielt hat.

In neueren Berichten über Frontex wurde öfter die Lebensrettung von Geflüchteten thematisiert. Ist das nur Propaganda oder gab es in dieser Hinsicht Verbesserungen?

Dieser Versuch einer Imageverbesserung ist schon älter. Bei der Neuverhandlung des Frontex-Mandats 2011 wurden dort ein Menschenrechtsbeauftragter und ein sogenanntes Konsultativforum installiert, das Frontex in Menschenrechtsfragen beraten soll. In dieser Zeit hat der Chef der Abteilung Joint Operations, Klaus Rösler, öfter betont, dass seine Organisation Leben rette. Doch das widerspricht anderen Äußerungen von Frontex-Verantwortlichen, die beispielsweise betonten, dass bei der Operation Triton das eindeutige Mandat und damit die Priorität von Frontex bei der Sicherung der Grenzen liegt. Grenzsicherung heißt aber im Klartext Abschottung und Flüchtlingsabwehr.

Mehrere Nichtregierungsorganisationen beraten mittlerweile Frontex. Wäre auch Borderline Europe bereit, in einem dieser Gremien mitzuarbeiten?

Nein, wir würden uns daran nicht beteiligen. Für uns ist Frontex eine Organisation, deren Kernaufgabe die Abschottung und der Ausbau der Flüchtlingsabwehr ist. Sie kann nicht reformiert werden.

Nun soll nach den Plänen der EU Frontex umgebaut werden und mehr Macht bekommen. Was ist geplant?

Nach dem Vorschlag der EU-Kommission soll Frontex in eine Europäische Agentur für Grenz- und Küstenschutz umgewandelt werden. Frontex’ Auftrag wird es dann sein, die Arbeit von etwa 300 verschiedenen militärischen und zivilen Organisationen, die in der EU im Küstenschutz aktiv sind und oft nebeneinanderher arbeiten, zu koordinieren. Sie soll dann auch kontrollieren, ob die Außengrenzenstaaten der EU ­fähig sind, ihre Grenzen zu sichern. Um dies dauerhaft gewährleisten zu können, ist der Aufbau ­eines Analysezentrums zur Beobachtung der Flüchtlingsbewegungen in die EU vorgesehen. Die Abschottungsmaßnahmen der einzelnen Staaten sollen durch regelmäßige »Stresstests« kontrolliert werden. Außerdem soll im Rahmen dieser neuen Agentur ein »Rückführungsbüro« eingerichtet werden, das die Mitgliedstaaten bei der Abschiebung von Flüchtlingen unterstützen soll. Dieses Büro soll auch die Vollmacht erhalten, ohne Anforderung des betreffenden Mitgliedstaates tätig zu werden.

Handelt es sich dabei um mehr als um die bessere Koordinierung der bisherigen Frontex-Arbeit?

Eine qualitative Neuerung an dem Plan der EU-Kommission ist die Forderung nach einer Truppe von mindestens 1 500 Grenzbeamten, die innerhalb weniger Tage einsatzbereit sein sollen. Es ist auch die Möglichkeit vorgesehen, diese Truppe in EU-Mitgliedsländern einsetzen zu können, ohne dass die betroffenen Länder zustimmen. Das Prinzip der Freiwilligkeit, auf dem das Agieren der Grenzschutzagentur bisher beruht, empfindet die EU-Kommission als entscheidenden Mangel. Ob sie einen Frontex-Einsatz überhaupt benötigen und in welchem Umfang sie Personal und Ausrüstung für Einsätze bereitstellen, entscheiden die Mitgliedstaaten nämlich bislang selbst. Im Fokus stehen sicherlich Italien und vor allem Griechenland, die nach Auffassung der Kommission beim Schutz der EU-Außengrenze versagen.

Soll damit verhindert werden, dass eine europäische Regierung die Flüchtlingsrechte ernster als die EU nimmt und nicht nur auf Abschreckung zielt? Solche Forderungen standen sowohl im Programm der griechischen Partei Syriza als auch dem von Podemos in Spanien und anderer linker Parteien.

Es ist offensichtlich, dass diese Pläne auf Griechenland zielen.

Was soll sich ändern?

Mit der Drohung des direkten Eingreifens der EU und der damit verbundenen Verletzung der Souveränität soll auf die betreffenden sogenannten Risikoländer, wozu Griechenland nach diesen Vorstellungen gehört, größerer Druck ausgeübt werden, damit sie ihre Grenzen stärker abschotten. Wie weit die Vorstellungen der EU-Kommission hierbei reichen, zeigt das folgende Zitat aus ihrem Papier: »Die Entscheidungen der Agentur sind für die Mitgliedstaaten bindend.« Die Kommission könne selbständig Anordnungen treffen, »einschließlich der Entsendung europäischer Grenz- und Küstenschutzteams«, wenn die Maßnahmen nicht innerhalb der gesetzten Frist um­gesetzt werden. Die Kommission will dafür eine »stehende Truppe« mit 1 500 Grenzschützern aufstellen, die über die nötige Ausstattung an Fahrzeugen und sonstiger Ausrüstung verfügt.

In Griechenland hat die sogenannte Troika aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank auf wirtschaftlichem Gebiet in die Souveränität des Landes eingegriffen. Passiert Ähnliches durch die geplante Stärkung von Frontex nun auf dem Gebiet der Flüchtlingspolitik?

Die mächtigen Kernstaaten der EU verschaffen sich damit Eingriffsrechte in die Souveränität anderer EU-Mitgliedstaaten, hier den Staaten an den EU-Außengrenzen, die ja auch schon im Zuge der Finanzkrise gezwungen wurden, die Vorgaben aus Brüssel umzusetzen. Insofern gibt es durchaus Parallelen zwischen den aktuellen Bestrebungen zur Stärkung von Frontex und dem Verhalten der EU in der Finanzkrise.

Regt sich gegen diese Pläne Protest?

Ja, den wird es mit Sicherheit geben. Zum einen werden sicherlich die Staaten, die diese Angriffe auf ihre Souveränität befürchten müssen, sich dagegen zur Wehr setzen und auch im EU-Parlament, das diesen Plänen noch zustimmen muss, wird sich sicherlich Widerstand regen. Zu befürchten ist aber auch, dass hierzu nationalistische Diskurse initiiert werden, die rechten Gruppen weiteren Auftrieb geben könnten. Zum an­deren werden natürlich auch Flüchtlings-, Bürgerrechts- und Menschenrechtsorganisationen ­gegen diese Verschärfung der Abschottung protestieren und Widerstand organisieren.

Noch handelt es sich um einen Plan der EU-Kommission. Wie realistisch ist dessen Umsetzung?

Noch ist vieles unklar. Die entsprechenden Verordnungen oder Richtlinien müssen erst noch entworfen und diskutiert werden, was einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Es gibt mehrere Momente, die in dieser Zeit eine wichtige Rolle spielen werden. Da sind zum einen die weitere Entwicklung der Flüchtlingsbewegungen, zum anderen das Ausmaß zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen diese Stärkung von Frontex. Letztlich wird auch der Ausgang anderer EU-weit ­geführter Debatten, wie beispielsweise die Austrittsdrohung Großbritanniens, die Diskussion um den EU-weiten Verteilungsschlüssel von Flüchtlingen, die Frage des TTIP-Abkommens, Auswirkungen auf diese Auseinandersetzungen haben. Es wäre sehr zu wünschen, dass die breite Willkommensbewegung in Deutschland sich stärker an den zivilgesellschaftlichen Aktivitäten und Protesten gegen diese Verschärfungen der EU-Flüchtlingspolitik beteiligt.

Einige zivilgesellschaftliche Initiativen wie Sea-Watch widmen sich der Flüchtlingsrettung im Mittelmeer. Müsste das Engagement an­gesichts dieser Pläne nicht verstärkt werden?

Die Ausweitung der Rettung von Flüchtlingen ist natürlich absolut notwendig angesichts der etwa 3 500 Menschen, die in diesem Jahr im Mittelmeer ertrunken sind. Meiner Meinung nach muss diese Seenotrettung aber verbunden werden mit der Forderung nach legalen Zugangsmöglichkeiten und einem Ende der Abschottungspolitik, die die Ursache für diese vielen Todes­fälle ist. Das praktizieren ja zum Beispiel bereits Sea-Watch und das Alarmtelefon von Watch the Med.

http://jungle-world.com/artikel/2015/52/53233.html

Interview: Peter Nowak

»Antieuropäische Querfront ist fatal«

Rechte wie linke Gruppen und Parteien kritisieren die Europäische Union und schlagen den Austritt einzelner Staaten vor. Der zunehmende Euroskeptizismus geht auch einher mit wachsendem Nationalismus. Mit Daniel Keil sprach die Jungle World über neue völkische Bewegungen, europäischen Antiamerikanismus und eine linke EU-Kritik. Daniel Keil, Mitglied des Arbeitskreises kritische Europaforschung in der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkE/AkG) ,

Nach dem Scheitern von Syriza in Griechenland wird in Teilen der Linken wieder verstärkt darüber diskutiert, Europa den Rücken zu kehren, wie es einen Beitrag in der Monatszeitung analyse und kritik (ak) heißt. Sehen Sie hier die Gefahr einer antieuropäischen Querfront oder hat eine linke EU-Kritik noch eine Chance?

Griechenland hat die autoritäre Verfasstheit und die Dominanzverhältnisse innerhalb der EU offen gezeigt. Für die Linke war das eine Niederlage, da selbst parlamentarisch-reformistische Bestrebungen, dem Austeritätsdiktat etwas entgegenzusetzen, angesichts der Kräfteverhältnisse ein fast aussichtsloses Unterfangen sind. Wenn sich Widersprüche so offen zeigen und dann autoritär bearbeitet werden, kann das auch als Anzeichen einer politischen Krise gedeutet werden. Die Verfasstheit der EU ist nicht mehr hegemonial, im Sinne der Ergänzung des Zwangs durch Konsens und Einbindung der Subalternen, sondern nur noch Zwang und Dominanz. Ein Anzeichen der politischen Krise findet sich jetzt auch in der Flüchtlingspolitik, in der offen, wie von Luxemburgs Außenminister Asselborn geäussert, vor einem Zerbrechen der EU gewarnt wird. Ein weiteres Anzeichen ist, klassentheoretisch gesprochen, das Aufbrechen von Konflikten und Widersprüchen innerhalb der Klassenfraktionen und deren Neuordnung, was sich in der Stärke rechter Parteien und Bewegungen ausdrückt. Nationalistische, konservative und faschistische Gruppen stellen sich gerade neu auf. Die Konstellation dieser Krise sollte dabei sehr genau analysiert werden und ich glaube nicht, dass sich die Linke auf ein einfaches »dann halt raus aus Europa« zurückziehen kann. Die Frage dabei ist ja, was das in der derzeitigen Situation bedeutet, welche Alternativen es gibt und was ein Zerbrechen der EU bedeuten würde. Insofern sind Momente einer antieuropäischen Querfront, die es durchaus gibt und die aus einer binären Sicht – der Nationalstaat gegen die EU – entstehen, fatal. Genau so etwas muss Bestandteil einer emanzipatorischen Kritik der EU sein.

Kann es in einer Zeit, wo zahlreiche rechte Bewegungen die Ablehnung der EU zu ihrem Markenzeichen gemacht haben, eine linke Ablehnung der EU geben?

Die EU ist ein wesentlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Verhältnisse, die es zu ändern gilt. Eine linke Kritik an der EU ist notwendig und die EU in ihrer Verfasstheit ist auch nichts, was man als fortschrittlich bezeichnen kann. Aber man muss auch sehen, dass es an manchen Stellen der EU Effekte gibt, die nationale Borniertheiten zumindest in Frage stellen. Eine emanzipatorische Kritik muss die EU nicht nur als ökonomisches Projekt kritisieren, sondern in ihrer politischen Verfasstheit. Die EU sollte als Form von Staatlichkeit begriffen werden, die kein kohärenter Staat ist, aber in der Konstellation mit den Nationalstaaten ein Ensemble von Staatsapparaten bildet, das in sich auch widersprüchlich ist. Prozesse der Europäisierung werden auch von Nationalstaaten vorangetrieben und das heißt, dass es zu einer Europäisierung des Nationalen kommt. Ein zentrales Moment in diesen Prozessen ist sicherlich die Installation von Wettbewerbsfähigkeit, aber das ist eben nicht nur ökonomisch zu verstehen, sondern als politisch-autoritäre Konstitution. Eine emanzipatorische Kritik will dieses Autoritäre nicht einfach durch ein anderes Autoritäres ersetzen, sondern zielt auf Überwindung dieses Zustands. Insofern sind die Essentials einer linken EU-Kritik darin zu sehen, dass sie auf den Abbau von Zwängen zielt und ein gutes Leben für alle erreichen will. Ein Zurück zum Nationalen wäre das Gegenteil.

Wo sehen Sie die Geburtsstunde des EU-Nationalismus?

Es ist die Frage, ob man von einem EU-Nationalismus sprechen kann, da das europäische Moment, zumindest nach einigen Studien, im Bewusstsein der Menschen nicht so eine große Rolle spielt und die meisten sich in erster Linie über ihre nationale Zugehörigkeit definieren. Aber es gibt europäische Züge, die in die nationale Identität quasi eingebaut werden. Institutionell ist hierbei sicherlich die Einführung der Unionsbürgerschaft ein zentraler Punkt neben der Schaffung eines europäischen Territoriums über eine europäisierte Grenzkontrollpolitik, wodurch vor allem auch bestimmt wird, wer nicht zu Europa gehört. Damit reproduzieren sich rassistische Ausgrenzungsmuster über europäisierte Praxen. Das europäische Moment ist eins, das nicht wie es in wissenschaftlichen Debatten häufig verstanden wird, die nationale Borniertheit überwindet, sondern diese vielmehr neu konfiguriert.

Sie fragen in Ihrem Buch »Territorium, Tradition und nationale Identität«, ob es einen negativen europäischen Gründungsmythos gibt. Was verstehen Sie darunter und zu welcher Antwort sind Sie gekommen?

Das ist ein weiterer Teil der europäischen Identität, dass mit der Territorialisierung auch eine Neuerfindung der Geschichte des europäischen Territoriums stattfindet, sei es durch europäische Gedenktage oder europäische Museen. Da Europa nun nicht homogen ist, gibt es auch keinen Gründungsmythos wie es bei Nationen der Fall ist. Stattdessen hat sich in diesem Punkt die deutsche Vergangenheits- und Erinnerungspolitik europäisiert, die sich vor allem dadurch auszeichnet, Auschwitz und den Nationalsozialismus als leere Folie des Schreckens zu begreifen, die als das historisch Andere gelten kann, von dem man sich abgrenzt. Diese Form der Vergangenheitspolitik prägt meines Erachtens auch die Verfasstheit und Politik europäisierter Staatsapparate.

In den Jahren 2002 und 2004 kritisierten antinationale Zusammenhänge, beispielsweise die Leipziger Zeitschrift Phase 2, eine EU, die sich gegen die USA positioniert. Zu dieser Zeit propagierten Intellektuelle wie Jürgen Habermas die EU als angeblich friedliche und soziale Alternative zur USA. Spielen solche Überlegungen heute beispielsweise in der Mobilisierung gegen TTIP wieder eine Rolle?

Habermas und Derrida haben ja in den Demons­trationen gegen den Irak-Krieg, die häufig von antiamerikanischen Ressentiments befördert wurden, sogar die Geburtsstunde einer europäischen Öffentlichkeit erkennen wollen. Ungefähr zur gleichen Zeit machte Schröder mit der Rede vom deutschen Weg und offen antiamerikanischen Aussagen erfolgreich Wahlkampf. Das war also auch eine Kritik der Legitimation von Ressentiments durch Intellektuelle und die Politik. In der derzeitigen Krise spielt die Abgrenzung zu den USA in intellektuellen Debatten eine eher marginale Rolle. Vielmehr fordern Leute wie Herfried Münkler in einer aktuellen Debatte über Europa in der FAZ, dass Deutschland sich seiner Rolle als Zentralmacht endlich bewusst werden solle, um die EU aus der Krise zu führen – also eine Legitimation der deutschen Dominanz. Auf der Straße und bei Demonstrationen, vor allem den neuen völkischen Bewegungen wie Pegida, spielt das antiamerikanische Ressentiment in Verbindung mit Antisemitismus wieder eine Rolle, wenn Flüchtlinge als Waffe der USA und »der Zionisten« gegen die Deutschen bezeichnet werden. Derzeit wird ein allgemein antimoderner Affekt virulent, der sich je nach Situation antiamerikanisch oder antisemitisch oder als beides äußert, was ein zentrales Moment der Querfront-Bestrebungen ist.

http://jungle-world.com/artikel/2015/48/53055.html

Peter Nowak

Trennung nach Religionen?

Für Hagen Berndt ist der Glaube von Flüchtlingen nicht die Ursache von Gewalt in Heimen

Hagen Berndt ist als Konfliktberater beim Forum Ziviler Friedensdienst e.V. tätig und Mitverfasser einer Stellungnahme, die sich gegen die Trennung von Geflüchteten nach Religion und Ethnie wendet. Mit ihm sprach für »nd« Peter Nowak.

In der Nacht zu Dienstag kam es in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft zu einer Schlägerei unter Schutzsuchenden – eine von mehreren in den vergangenen Wochen. Oft werden religiöse Streitigkeiten als Auslöser ausgemacht. Worin sehen Sie die Ursachen?
Konflikte sind Teil allen menschlichen Zusammenlebens. Gewalt tritt jedoch dann auf, wenn die Beteiligten keine andere Möglichkeit sehen, ihre Interessen zu wahren oder ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Dass sich Konflikte in Flüchtlingsunterkünften immer wieder gewaltsam entladen, ist einer extremen Stresssituation geschuldet. Die Flüchtlinge haben vor oder während der Flucht dramatische Erlebnisse erfahren. Starke emotionale Angespanntheit ist verbunden mit großen Hoffnungen auf ein neues Leben. Sie leben dann auf engem Raum mit vielen Menschen. Es herrscht Konkurrenz um Raum und Ruhe, Essen, Kleidung, Chancen und Perspektiven. Rückzugsmöglichkeiten und sinngebende Beschäftigung fehlen. Der Aufenthalt in Deutschland ist nicht gesichert, vielleicht droht schon bald die Abschiebung und erneute Lebensgefahr.

Warum lehnen Sie die von manchen Politikern geforderte Trennung der Flüchtlinge nach ihrer Religion ab?
Die Konflikte verlaufen gar nicht entlang religiöser Trennlinien. Doch Konfliktakteure ziehen gerne religiöse, ethnische oder andere Zugehörigkeiten heran, um Selbst- und Feindbilder aufzubauen und eigenes Handeln zu rechtfertigen, um eigene Interessen durchzusetzen. Diese Konfliktmechanismen können aber nicht durch getrennte Unterbringung durchbrochen werden. Vielmehr würden die falschen Argumente dadurch erst akzeptiert. Ich lehne die getrennte Unterbringung auch deshalb entschieden ab, weil eine Differenzierung, um scheinbar miteinander »harmonisierende« Gruppen zu erzeugen, unmöglich ist und nicht zum Frieden beiträgt. Sie würde den Boden für neue Ressentiments bereiten, für das Gefühl der eigenen Benachteiligung bzw. der Bevorzugung anderer.

Wieso?
Getrennte Unterkünfte würden Debatten zwischen den Kommunen und in der einheimischen Bevölkerung provozieren, wer nun welche »nette« oder »problematische« Flüchtlingsgruppe zugeteilt bekommt. Sie würde außerdem die Botschaft vermitteln, dass ein friedliches Zusammenleben nicht möglich ist und dass Religion und Ethnie das Problem sind. Diese Botschaften sind falsch und hoch gefährlich. Es ist wissenschaftlich längst widerlegt, dass Religionszugehörigkeiten die Ursache von Konflikten wären. Es ist problematisch, dieses Vorurteil nunmehr von politischer Seite zu bestätigen.

Wäre es nicht für einen von Islamisten verfolgten Geflüchteten ein Schutz, wenn er nicht wieder mit Islamisten in einer Unterkunft zusammen leben muss?
Diese Frage legt nahe, dass alle Muslime Islamisten wären. Islamismus ist eine politische Ideologie, die sich der Religion bedient, um Macht auszuüben. Gerade viele muslimische Flüchtlinge zum Beispiel aus Syrien und Irak fliehen auch vor der Gewalt der Islamisten. Eine nach Religionszugehörigkeit getrennte Unterbringung nähme die Bedürfnisse vieler Flüchtlinge nicht ernst, sich von Ideologien abzugrenzen, die in ihrer Herkunftsregion zu Vertreibung und Krieg führen. Sie würde diese Menschen mit dem Segen unseres Staates erst den Islamisten ausliefern.

Welche Lösung schlagen Sie zur Beilegung der Konflikte vor?
Es muss einer Lageratmosphäre von Flüchtlingsunterkünften entgegengewirkt werden. Es gilt, ruhige Rückzugsräume und Orte der Begegnung bereitzustellen, geflüchteten Menschen ein Mindestmaß an Selbstbestimmung zu ermöglichen und persönliche Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung zu erleichtern. Maßnahmen der Psychologischen Ersten Hilfe, um die Betroffenen emotional zu stärken, ein besonderer Schutz für Kinder und alleinstehende Frauen sowie die verbindliche Einführung von Mindeststandards zur Prävention sexualisierter Gewalt wären notwendig. Die Kompetenzen von Haupt- und Ehrenamtlichen zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung müssen entwickelt werden. Parallel zur Sorge für die Flüchtlinge müssen die Bemühungen zur Integration sozial benachteiligter Menschen generell verstärkt werden, um deutlich zu machen, dass die Integration der Flüchtlinge nicht auf Kosten der Schwachen in unserer Gesellschaft geschieht.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/988599.trennung-nach-religionen.html

Peter Nowak

„Die Konflikte verlaufen nicht nach religiösen oder ethischen Trennlinien“

Hagen Berndt über Konflikte in Flüchtlingsunterkünften

Es gibt Politiker und sogenannte besorgte Bürger, die Unterkünfte von Geflüchteten unter Dauerbeobachtung nehmen und Betragensnoten für die Bewohner verteilen. Falls es dann tatsächlich mal zu von manchen sehnsüchtig erwarteten Auseinandersetzungen in den Unterkünften kommt, reagieren sie mit dem Gestus, wir haben es ja immer schon gesagt. Diese Menschen passen nicht hier.

Ein scheinbar auch für die Geflüchteten vorteilhafter Vorschlag wird von Politikern verschiedener Parteien in die Diskussion gebracht, nämlich die Trennung der Geflüchteten nach Religion und Ethnie. Doch Wissenschaftler und Publizisten, die sich mit dem Thema Flucht und Migration beschäftigten, lehnen diese Vorschläge eindeutig ab.

„Eine nach religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit getrennte Unterbringung von Flüchtlingen ist politisch wie gesellschaftlich inakzeptabel“, heißt es in einer Stellungnahme[1] zahlreicher Fachleute. Zu den Initiatoren gehört Hagen Berndt[2]. Er ist als Konfliktberater beim Forum Ziviler Friedensdienst e.V.[3] tätig und Mitverfasser der Stellungnahme[4], die sich gegen die Trennung von Geflüchteten nach Religion und Ethnie wendet.

Die Forderung, Geflüchtete nach Religionen zu trennen, wird von verschiedenen Politikern getroffen. Warum lehnen Sie eine solche Trennung ab?

Hagen Berndt: Die Konflikte in den Flüchtlingsunterkünften verlaufen gar nicht entlang religiöser Trennlinien. Doch Konfliktakteure ziehen gerne religiöse, ethnische oder andere Zugehörigkeiten heran, um Selbst- und Feindbilder aufzubauen, Unterstützung zu mobilisieren und eigenes Handeln zu rechtfertigen, um eigene Interessen durchzusetzen. Diese Konfliktmechanismen können aber nicht durch getrennte Unterbringung durchbrochen werden. Vielmehr würden die falschen Argumente dadurch erst akzeptiert. Ich lehne die getrennte Unterbringung auch deshalb entschieden ab, weil eine Differenzierung, um scheinbar miteinander „harmonisierende“ Gruppen zu erzeugen, unmöglich ist und nicht zum Frieden beiträgt. Sie würde den Boden für neue Ressentiments bereiten, für das Gefühl der eigenen Benachteiligung bzw. der Bevorzugung anderer.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Hagen Berndt: Sie würde Debatten zwischen den Kommunen und in der einheimischen Bevölkerung provozieren, wer nun welche „nette“ oder „problematische“ Flüchtlingsgruppe zugeteilt bekommt. Sie würde außerdem die Botschaft vermitteln, dass ein friedliches Zusammenleben nicht möglich ist und dass Religion und Ethnie das Problem sind: Werden die Religionen und Ethnien getrennt, ist das Problem „gelöst“. Diese Botschaften sind falsch und hoch gefährlich. Die Annahme ist wissenschaftlich längst widerlegt, dass Religionszugehörigkeiten die Ursache von Konflikten wären. Es ist problematisch, dieses Vorurteil nunmehr von politischer Seite zu bestätigen.

In den letzten Wochen gab es immer wieder Meldungen von Auseinandersetzungen in Unterkünften von Geflüchteten auf Grund von religiösen Streitigkeiten. Worin sehen Sie die Ursachen?

Hagen Berndt: Konflikte gehören zum menschlichen Zusammenleben. Gewalt tritt jedoch dann auf, wenn die Beteiligten keine andere Möglichkeit sehen, ihre Interessen zu wahren oder ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Dass sich Konflikte in Flüchtlingsunterkünften immer wieder gewaltsam entladen, ist einer extremen Stresssituation geschuldet. Die Flüchtlinge haben vor oder während der Flucht dramatische Erlebnisse erfahren. Starke emotionaler Angespanntheit ist verbunden mit großen Hoffnungen auf ein neues Leben. Sie leben dann auf engem Raum mit vielen Menschen aus aller Welt. Es herrscht Konkurrenz um Raum und Ruhe, Essen, Kleidung, Chancen und Perspektiven. Rückzugsmöglichkeiten und sinngebende Beschäftigung fehlen. Der Aufenthalt in Deutschland ist nicht gesichert, vielleicht droht schon bald die Abschiebung und erneute Lebensgefahr.

Haben die Konflikte in Flüchtlingsunterkünften zugenommen oder nur der Blick darauf?

Hagen Berndt: Gewalt – insbesondere sexualisierte Gewalt – in Sammelunterkünften ist nichts Neues, in den letzten Wochen wurde nur häufiger darüber berichtet. Nach der großen Hilfsbereitschaft wurde erwartet, dass Flüchtlinge sich dankbar erweisen. Aber grundlegende menschliche Bedürfnisse lassen sich nicht verdrängen und ihre Befriedigung ist unveräußerliches Menschenrecht.

Wäre es nicht für einen von Islamisten verfolgten Geflüchteten ein Schutz, wenn er nicht wieder mit Islamisten in einer Unterkunft zusammen leben muss?

Hagen Berndt: Diese Frage legt nahe, dass alle Muslime Islamisten wären. Islamismus ist eine politische Ideologie, die sich der Religion bedient, um Macht auszuüben. Gerade viele muslimische Flüchtlinge aus Syrien fliehen auch vor der Gewalt der Islamisten. Eine nach Religionszugehörigkeit getrennte Unterbringung nähme die Bedürfnisse vieler Flüchtlinge nicht ernst, sich von Ideologien abzugrenzen, die in den Konflikten ihrer Herkunftsregionen zu Gewalt, Unterdrückung, Vertreibung und Krieg führen. Sie würde diese Menschen mit dem Segen unseres Staates erst den Islamisten ausliefern.

Es gibt Versuche von in Deutschland lebenden Islamisten, Geflüchtete zu werben. Wie soll damit umgegangen werden?

Hagen Berndt: Berichte der Sicherheitsbehörden zeigen, dass diese Versuche nicht sehr erfolgreich sind. Es wäre auch erstaunlich, wenn Menschen, die vor dem Wahnsinn im Nahen Osten geflohen sind, sich hier dafür erwärmen könnten. Das Mobilisierungspotenzial für Islamisten liegt vielmehr in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen und unter entsprechend ideologisierten Studenten.

http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/46/46291/1.html

Links

[1]

http://ello.co/stellungnahme_fluechtlingspolitik

[2]

http://www.hagenberndt.de/

[3]

http://www.forumzfd.de/

[4]

http://www.forumzfd.de/Stellungnahme_Fluechtlinge

„Jede Zeit hat ihre Kämpfe“

RÜCKSCHAU Im Bethanien werden die Mietkämpfe der vergangenen 150 Jahre dargestellt

taz: Herr Lengemann, die Ausstellung „Kämpfende Hütten“ will eine Geschichte urbaner Kämpfe in Berlin zeigen.
Simon Lengemann: Im Zentrum der Ausstellung stehen die Kämpfe der Berliner MieterInnen der letzten 15 Jahre. Wir zeigen die ganze Bandbreite der Aktionen, von Demonstrationen über Volksbegehren bis zu verhinderten Zwangsräumungen. Zudem sollen Schlaglichter auf historische MieterInnenkämpfe geworfen werden. Anhand von Mietstreiks, migrantischen Besetzungen und Ostberliner Häuserkämpfen wird die Vielfalt vergangener Aktionen deutlich.
Wer sind die Organisatoren?
Wir sind ist ein Ausstellungskollektiv ohne institutionelle Bindung. Die Beteiligten kommen aus den aktuellen MieterInnenkämpfen,
den verschiedenen Berliner HausbesetzerInnenbewegungen  nd der akademischen Beschäftigung mit Miete und Wohnraum.
Thematisch gehen Sie bis 1872 zurück. Wie sahen damals die MieterInenkämpfe aus?
Zunächst handelte es sich um  spontane „Exmissionskrawalle“, so nannte man damals Proteste gegen Zwangsräumungen. Bekanntestes
Beispiel waren die Blumenstraßenkrawalle im Juli 1872.

In der Weltwirtschaftskrise lautete eine Parole „Erst das Essen, dann die Miete“. Welche Rolle spielten linke Parteien und MieterInnenverbände?
Die Krise brachte den offiziellen MieterInnenverbänden einen massiven Mitgliederschwund. Sie stellten sich dennoch massiv
gegen den Mietstreik und pochten auf die Einhaltung der  von ihnen mitgestalteten MieterInnengesetze. Die KPD dagegen
unterstützte die Kämpfe.

Die Ausstellung dokumentiert auch die MieterInnenbewegung im sozialen Wohnungsbau des Märkischen Viertels vor mehr als 40 Jahren. Warum konnte sie sich dort so lange halten?
Die neuen BewohnerInnen dieser Großsiedlung fanden zwar komfortable Wohnungen, aber keine städtische Infrastruktur
vor. Das waren sie vom Wedding, wo sie herkamen, anders gewöhnt. Von dort hatten sie die traditionelle Widerständigkeit
der alten ArbeiterInnenbewegung mitgebracht. Um 1968 beteiligten sich zudem auch linke Studierende und Intellektuelle
wie Ulrike Meinhof an der Stadtteilarbeit.  Mit der Moabiter Viertel Zeitung, deren Geschichte in der Ausstellung dargestellt wird,
hatten die MieterInnen sogar ein eigenes Sprachrohr.

Was können die heutigen MietrebellInnen daraus lernen?
Jede Zeit hat ihre eigenen Kämpfe. Aber natürlich wollen wir durch die Ausstellung und das Begleitprogramm Impulse für aktuelle Auseinandersetzungen um Wohnraum und Miete geben.
INTERVIEW: PETER NOWAK
■■Die Ausstellung findet bis zum 18. Oktober im TheaterSpiel-Raum im Bethanien statt

Simon Lengemann
■■28, Historiker und Amerikanist, forscht zu MieterInnenbewegung in der Weimarer Republik in der Zeit der Weltwirtschaftskrise.

»Wir forschen selbst«

Vor kurzem ist die fünfte Ausgabe des Jahrbuchs des Instituts für Syndikalismusforschung (Syfo-Jahrbuch) erschienen. Das Institut will die Praxis der syndikalistischen Bewegung auf historisch-theoretischer Ebene begleiten. Helge Döhring ist einer seiner Begründer und hat zahlreiche Bücher und Studien zur Geschichte des Syndikalismus in Deutschland herausgegeben. Mit ihm sprach die Jungle World über die Arbeitsweise des Instituts sowie den historischen und gegenwärtigen Syndikalismus.

Wie kam es 2007 zur Gründung des Instituts für Syndikalismusforschung?

Der konkrete Anlass zur Gründung bestand darin, dass wenige Jahre zuvor einige bekannte »Anarchismusforscher« mit einem Spezialanwalt begannen, junge Aktivisten der FAU (Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union) wegen sogenannter Urheberrechtsverletzungen juristisch zu bedrohen. Daraufhin sagten wir entschieden: Nicht mit uns, wir forschen und publizieren jetzt selbst! Wir sind eng verbunden mit Teilen der heutigen anarchosyndikalistischen Bewegung und deren Mitglieder müssen beim Rückgriff auf unsere Materialien nicht befürchten, vor Gericht gezogen zu werden. Uns sind die Genossen wichtig, nicht das Geld.

Gibt es Anbindung an universitäre, wissenschaftliche Apparate?

Wir stehen in freier Kooperation und Zusammenarbeit mit Historikern und Publizisten, die selbst mehr oder weniger unabhängig arbeiten. Es gibt Anfragen und Austausch mit Journalisten, Geschichtswerkstätten, Zeitzeugen, Schülern, Studierenden, freien Publizisten, Archiven, Gedenkstätten und anderen Wissenschaftlern. Bürokratische Apparate sind uns zu träge, für Forschungsstipendien und Dissertationen beispielsweise wird ein Riesenaufwand betrieben. Davon leben diese Institutionen, dass sie die Forschung künstlich hinauszögern, um möglichst lange Geld abzugreifen und ihre Arbeitsplätze zu sichern. In derselben Zeit ist in unabhängiger Forschung oftmals ein Vielfaches leistbar. Effizienz funktioniert nicht in der kapitalistischen Bildungsindustrie.

Wie finanzieren Sie Ihre Arbeit?

Wir leben konsequent die Ideale der anarchosyndikalistischen Bewegung, unter anderem die gegenseitige Hilfe. Wir alle haben kaum Geld, unser gemeinsames Schaffen ist dafür umso effektiver. Das betrifft besonders die Kooperation mit Archiven, Verlagen und Vertrieben, mit denen wir die Grundansichten teilen. Sie schätzen unsere selbstlose Arbeit und legen sich ins Zeug, finanzieren oder vorfinanzieren unseren Output. Sie selbst können ebenfalls jederzeit auf unsere Hilfe und Zuarbeit bauen, dazu zählen beispielsweise das Zusammenstellen von Materialien oder Lektorate. Von befreundeten Verlagen nehmen wir auch keine Honorare.

Welche Rolle spielt das Syfo-Jahrbuch?

Das Institut für Syndikalismusforschung hat bewusst unterschiedliche Publikationsformate. Damit sind wir in unseren Veröffentlichungsvorhaben sehr flexibel: Die Schriften ergänzen sich. Für jede Artikellänge haben wir die entsprechende Form: Kurze Aufsätze für das Syfo-Jahrbuch oder für unseren Syfo-Blog, kürzere Ausarbeitungen als Broschüren in der »Edition Syfo« und lange Texte können als Buch herausgegeben werden. Das Syfo-Jahrbuch wird thematisch ergänzend zu anderen Publikationen genutzt. Insgesamt spiegelt es die Vielfalt unserer Arbeit wider. Es soll dazu anregen und ermutigen, sich selbst und zusammen mit anderen zu informieren oder zu forschen, sich auszutauschen. Forschungsvorhaben können vorgestellt werden und es dient als Plattform für externe Beiträge. Es ist ein interaktives Medium und soll keinesfalls nur Akademiker ansprechen. Entsprechend locker ist es im Layout gestaltet, reichlich bebildert und übersichtlich strukturiert. Es zeigt auf, was einfache Menschen zu leisten imstande sind, wenn sie genug Eigenantrieb und Durchhaltevermögen haben: Jeder kann forschen.

Wie halten Sie es mit der wissenschaftlichen Objektivität?

Das ist ein sehr problematischer Begriff, weil er vorgaukelt, dass Wissenschaft tendenzfrei sei. Das Gegenteil ist der Fall, denn überall gibt es bestimmte Forschungsinteressen, gerade dort, wo finanzielle Abhängigkeit besteht. Wie alle anderen Forschungsinstitute ist auch das Institut für Syndikalismusforschung parteiisch und agiert mit wissenschaftlichen Methoden.

Was verstehen Sie darunter?

Wissenschaften zeichnen sich vor allem durch Transparenz und Überprüfbarkeit aus. Das Dargelegte muss in seiner Substanz und in seiner quellentechnischen Herkunft nachvollzogen werden können. Saubere Recherche, Quellenkritik und darauf aufbauende logische Schlussfolgerungen sind das A und O des wissenschaftlichen Arbeitens. Eine größtmögliche Unvoreingenommenheit und Offenheit, auch politisch unbequemen Ergebnissen gegenüber, ist gerade für Bewegungshistoriker bedeutend, wenn sie keine rein apologetischen Abhandlungen fabrizieren wollen. Wissenschaft ist in erster Linie Selbsterkenntnis und scheut nicht die kritische Rückkopplung an die aktuelle basisgewerkschaftliche Ausrichtung. Zusätzlich liefert sie historisch-theoretische Erkenntnisse, die für die Agitation von unmittelbarem Wert sind.

Sie betonten sehr stark den Bezug auf syndikalistische Strömungen, die unabhängig von Großorganisationen agiert haben. Besteht da nicht die Gefahr, deren politische Fehleinschätzungen zu übersehen?

Es geht nicht nur um Einschätzungen, sondern am spannendsten sind die damaligen Diskussionen und die teils voneinander abweichenden Meinungen. Denn diese wiederholen sich bis in die heutige Zeit nur allzu oft. Wenn das Überleben der Bewegung an politischen Fehleinschätzungen gescheitert wäre, könnten wir sehr glücklich sein, weil wir nützlichen Antworten näher wären. Es ist leider schlimmer: Sie scheiterten, obwohl sie eine sehr intelligente und auch flexible Politik betrieben.

Sie haben sehr gut die militaristischen und nationalistischen Erklärungen führender Mitglieder der Zentralgewerkschaften herausgearbeitet. Aber gab es nicht auch in Deutschland kriegsbefürwortende Äußerungen von syndikalistischen Gewerkschaftern vor und im Ersten Weltkrieg, wie sie ja aus Frankreich und Italien sehr wohl bekannt sind?

Für meine Studie »Syndikalismus in Deutschland 1914-1918« habe ich die syndikalistische Presse und weitere Quellen sorgfältig ausgewertet. Kriegsbefürwortende Äußerungen wären mir dabei sicherlich ins Auge gesprungen. Aber es gab sie nicht. Die syndikalistische Organisation in Deutschland, die »Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften«, wandte sich gegen die international sehr bedeutenden Genossen, die im »Manifest der 16« für die Alliierten Partei ergriffen. Man darf allerdings nicht deren Beweggründe verschweigen, weil man der Sache dann nicht auf den Grund geht. Entscheidend war die Tatsache, dass französische Delegationen von den deutschen Zentralgewerkschaften in schroffer und beleidigender Weise abgewiesen wurden, weil sie gegen den Krieg die gemeinsame internationale Aktion des Proletariats vorschlugen. Die deutsche sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung wollte sich nicht daran beteiligen, den Krieg zu verhindern, im Gegenteil erhoffte sie sich, von einer Niederlage der sozialistischen/syndikalistischen Gewerkschaftsbewegung profitieren zu können. Ähnlich wie nach der Niederlage der Pariser Commune 1871, in deren Folge die marxistische und sozialdemokratische Strömung innerhalb der »Ersten Internationale« Oberwasser gewann, mit fatalen weltgeschichtlichen Folgen und vielen Millionen Kriegstoten.

Dieser Allianz aus sozialdemokratischen Zentralgewerkschaften und deutschem Militarismus hofften einige Syndikalisten und Anarchisten aus romanischen Ländern durch Parteinahme für die alliierten Mächte Einhalt zu gebieten. Man muss nicht ihrer Meinung sein, aber ihre Argumentation ist spätestens mit den Kontinuitätslinien zur Nazidiktatur und dem zweiten großen Krieg nicht von der Hand zu weisen. Die Befürworter der Alliierten, darunter auch Peter Kropotkin, waren keineswegs Befürworter des Krieges und das legten sie in ihrem Manifest auch ausführlich dar. In Anbetracht eigener internationaler Schwäche lag die Wahl des »kleineren Übels« nahe.

Welche Bedeutung haben Ihre Forschungen in einer Zeit, in der Gewerkschaften für viele Menschen ein Relikt aus einer vergangenen Zeit sind?

Ein Hauptgesichtspunkt liegt sicherlich darin, den Gewerkschaftsbegriff überhaupt zu definieren. Dieser ist heute anders gelagert, als vor über 100 Jahren. Wir denken, es ist ein Irrtum, ihn auf sozialpartnerschaftliche und tariffähige Organisationen zu begrenzen. Aus einem anarchosyndikalistischen Verständnis heraus gibt es im Wesentlichen neben den gelben, also unternehmerfreundlichen Gewerkschaften, kämpferische – zum Beispiel die GdL – und revolutionäre Gewerkschaften. Revolutionäre Gewerkschaften kämpfen nicht nur für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, sondern für die Einführung einer freien und sozialistischen Gesellschaft. Unsere Forschungen sollen sowohl die Vorteile als auch die Aufgaben von revolutionären Gewerkschaften aufzeigen, ihre Beschaffenheit, ihre Methoden, Möglichkeiten und Grenzen ihrer Entfaltung. Es geht stets um Alternativen in der Organisation von Lohnabhängigen und darum, der etablierten Herrschaft intellektuell und strategisch nicht mehr hinterherzuhinken.

http://jungle-world.com/artikel/2015/38/52707.html

Interview: Peter Nowak

Mehr Informationen zum Institut:

www.syndikalismusforschung.info und

www.syndikalismusforschung.wordpress.com

„Diese Räte waren von breiter Unterstützung getragen“

FORSCHUNG Die Rätebewegung in Berlin gilt vielen nur als kurze Episode.
Ein neues Buch des Historikers Axel Weipert zeichnet ein anderes Bild

taz: Herr Weipert, lange Zeit wurde die Rätebewegung in Berlin als kurze Episode nach der Novemberrevolution betrachtet.
Sie haben in Ihrem neuen Buch dieses Bild korrigiert. Ist die Rätebewegung unterschätzt worden?

Axel Weipert: Bislang wurde die Rätebewegung primär als Wegbereiter der parlamentarischen Republik von Weimar gesehen. Konservative HistorikerInnen haben sie mitunter auch als völlig undemokratisch und bolschewistisch gebrandmarkt. Ich dagegen zeige, dass die Ansprüche der Räte und ihrer breiten Anhängerschaft deutlich über die Weimarer Ordnung hinauswiesen.

Wieso?
Sie wollten einen basisdemokratischen Sozialismus – also eine Gesellschaftsordnung, die mit den Vorrechten der alten Eliten in Militär, Verwaltung und vor allem in der Wirtschaft wirklich konsequent aufräumt. Dabei hat die Forschung lange übersehen, wie stark die Unterstützung für solche Ziele auch noch in den Jahren 1919/20 war. Allein in Berlin sprechen wir hier über rund eine Million AnhängerInnen, die sich aktiv beteiligten.

Warum wurde der Neuaufschwung der Rätebewegung nach dem Kapp-Putsch bisher kaum wahrgenommen?
Ein Faktor ist sicherlich, dass sie im Schatten des großen Generalstreiks und der bewaffneten Auseinandersetzungen stand. Außerdem ging die Regierung, nachdem sie den Putsch überstanden hatte, schnell zur Tagesordnung über und schob alle weitergehenden Erwartungen erfolgreich beiseite. Das gilt übrigens nicht nur für die Ziele der Räte, sondern auch für die der Gewerkschaften.


Bisher wurden vor allem Arbeiter-und Soldatenräte betrachtet. Welche Räte haben Sie untersucht?

Man kann sicher sagen, dass diese Räte auch den Kern der Bewegung darstellten. Allerdings ist es sehr spannend zu sehen, wie breit der Rätegedanke rezipiert wurde. So gab es auch spezielle Räteorgane für Lehrlinge, Intellektuelle, KünstlerInnen oder Erwerbslose. Diese
Räte waren durchaus von breiter Unterstützung getragen, wie der von den Schülerräten organisierte Streik im Sommer 1919 zeigt, an dem sich rund 30.000 von 35.000 Berliner BerufsschülerInnen beteiligten.

Erstmals untersuchen Sie auch die Rolle der Frauen in der Rätebewegung. Zu welchem Fazit kommen Sie?
Es wurde eine ganze Reihe von Konzepten entwickelt, wie Frauen integriert werden könnten. Allerdings muss man auch festhalten, dass Frauen in der politischen Praxis der Räte nur eine sehr geringe Rolle spielten. Das lag teils an Vorurteilen, wie sie mituinnerhalb der Arbeiterbewegung bestanden. Wichtig war zugleich, dass Frauen oft eine strukturell schwache Position in den Betrieben einnahmen,  waren sie doch meist nur ungelernte Hilfskräfte, politisch und organisatorisch unerfahren sowie rhetorisch kaum geschult. Hinzu
kam noch, dass durch die Wiedereingliederung der Soldaten ins Arbeitsleben viele Frauen ihre Jobs verloren.

Hat Ihre Beschäftigung mit der Rätebewegung nur historische Gründe oder sehen Sie Anknüpfungspunkte für eine linke Politik heute?
Ich würde mir schon wünschen, dass diese Bewegung den heute politisch Aktiven Denkanstöße liefert. Gerade in der Verbindung
von basisdemokratischen und sozialistischen Ansätzen sehe ich eine wichtige Alternative zu einem übervorsichtigen Reformismus und dem zu Recht gescheiterten autoritären Sozialismusmodell à la DDR.
Axel Weipert,  35, Historiker, promovierte an der FU zur Rätebewegung. Erst kürzlich hat er die Studie „Die Zweite Revolution Rätebewegung in Berlin 1919/1920“ herausgegen

aus taz 17.09.2015

Interview: Peter Nowak

Zwang bringt niemandem Vorteile

Landrätin der LINKEN plädiert für die Beendigung der Sanktionen für Betroffene von Hartz IV

Hartz IV hat das Leben für viele Menschen erschwert. Doch die Sanktionen treiben so manch einen in den Ruin. Das ist ungerecht und muss sich ändern findet Micha

Am Wochenende wurde Ralph Boes mit Herzbeschwerden in ein Berliner Krankenhaus eingeliefert, nachdem der 67-Jährige aus Protest gegen die Sanktionierung von Erwerbslosen seit Wochen die Nahrung verweigerte. Der Aktivist wird auch von
Michaele Sojka unterstützt. Die LINKE-Landrätin im Altenburger Land sorgt mit ihrer Kritik am Hartz- IV-System seit langem für Debatten. Mit ihr sprach Peter Nowak.

Sie sprechen sich seit Jahren gegen Sanktionen für Hartz-IV-Betroffene aus. Hat es Sie gefreut, als das Sozialgericht Gotha im Juni diese Strafmaßnahmen für verfassungswidrig erklärte?
Ich habe mich spontan darüber gefreut, weil ich der Meinung bin, dass die Hartz-IV-Gesetze zehn Jahre nach ihrer Einführung evaluiert werden müssen. Sanktionen wirken kontraproduktiv und gehören abgeschafft.

Sie haben in der Trägerversammlung des Jobcenters Altenburger Land auf ein Ende der Sanktionen gedrängt. Welche Befugnisse hat dieses Gremium?
Die Trägerversammlung ist ein Kontrollorgan, wie ein Aufsichtsrat bei einer GmbH. Sie ist paritätisch besetzt mit dem Chef der Agentur und mir als Landrätin und dazu je zwei weiteren Personen. Ich leite die Versammlung, mir zur Seite stehen zwei Bürgermeister aus den Fraktionen CDU und SPD. In den Sitzungen werden strategische Dinge, der Wirtschaftsplan und die Personalstellenzahlen besprochen.

Wie waren die Reaktionen auf Ihren Vorstoß?
Es hätte sich keine Mehrheit für die Abschaffung der Sanktionen gefunden. Die gesetzlichen Bestimmungen für die Sanktionspraxis sind zudem im Sozialgesetzbuch II geregelt. Die Trägerversammlung eines Jobcenters kann sie nicht einfach außer Kraft setzen.

Haben Sie eine Debatte über Sanktionen angestoßen?
Das ist auf alle Fälle gelungen und offensichtlich nicht nur regional. Ich muss gerade den Mitarbeitern »meines Jobcenters« danken, dass sie Sanktionen mit großem Augenmaß anwenden und den Gedanken des Förderns mehr in den Mittelpunkt gerückt haben. Weniger Sanktionen werden in Thüringen nur noch von der Optionskommune Greiz ausgesprochen. Das hiesige Jobcenter gehört damit zu den besten zehn Prozent der 408 bundesdeutschen Jobcenter.

Welche Alternativen zur Sanktionierung gäbe es?
Sanktionen sind nicht das erste Mittel der Wahl. Darin sind wir uns in der Trägerversammlung einig. Ziel muss es sein, die Hilfebedürftigkeit zu verringern. Drei Viertel der Sanktionen gehen im Altenburger Land auf Meldeversäumnisse zurück. Arbeit zu vermitteln und alle Projekte des zweiten Arbeitsmarktes anzubieten, ist unser Ziel. Und Menschen zu finden, die freiwillig und gern die Angebote annehmen. Zwang ausüben bringt keinen Vorteil, weder für Betroffene noch für die Arbeitgeber.

Was muss noch getan werden?
Gute Bildung von Anfang an, um vor allem Kindern ein Aufwachsen ohne Armut zu ermöglichen. Dazu gehören für mich kostenfreie Kitas und Ganztagsschulen mit kostenlosem Mittagessen. Zudem ist weniger Bürokratie und echte Hilfe für Betroffene vor Ort durch einen Fonds der Kommunen nötig. So könnte ein öffentlich geförderter Arbeitsmarkt durch gemeinsame Bundes- und Landesprogramme ohne hohen Verwaltungsaufwand möglich werden. Weiter wünsche ich mir kulturelle Teilhabemöglichkeiten für alle, etwa durch Wertschätzung ehrenamtlicher Arbeit in den Vereinen der Kommunen mit anrechnungsfreier Aufwandsentschädigung statt diskriminierender Ein-Euro-Jobs.

Insgesamt sechs Landräte gibt es auf dem Ticket der LINKEN – treten auch die anderen für das Ende der Sanktionen ein?

Darüber haben wir uns noch nicht verständigt.Ich hoffe es und bin gern bereit, mich hierbei einzubringen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/983839.zwang-bringt-niemandem-vorteile.html

Interview: Peter Nowak

»Die Macht lag kurz auf der Straße«

Gepräche mit ehemaligen Besetzerinnen und Besetzern

Gigi

Gigi hat schon in den achtziger Jahren in Friedrichshain gewohnt. Im November 1989 gründete sie einen Mieterladen in der Bänschstraße, in dem sie heute noch ehrenamtlich arbeitet und Mieter berät.

Warum habt ihr den Mieterladen gegründet?

Wir haben nach dem Mauerfall einen leergeräumten Wohnbezirksausschuss (WBA) besetzt und uns war damals schon klar, dass Privatisierungen der kommunalen Wohnungen anstehen und die Mieter Beratung brauchen.

Wie hast du die Besetzungen in der Nachbarschaft erlebt?

Ich habe damals schräg gegenüber der Mainzer Straße gewohnt und bin gleich in Kontakt mit ­einigen Besetzern gekommen. Ich fand es toll, dass die Häuser besetzt wurden, die bereits in den achtziger Jahren gesprengt werden sollten. Zudem freute ich mich, dass neue Leute in den Stadtteil kamen und Leben reinbrachten.

Warst du eine Ausnahme oder gab es viel Unterstützung bei den Nachbarn?

Ich war nicht die einzige, aber ich hatte den kürzesten Weg zu den Besetzern. Zudem war ich in der DDR in der Punkbewegung und so fielen mir die Kontakte leichter. Als dann die Mainzer Straße geräumt wurde, waren auch viele andere Nachbarn auf der Straße. Selbst Rentner setzten sich dem Tränengas aus. Sie waren sicher nicht mit allem einverstanden, was die Besetzer machten, aber sie waren solidarisch gegen die Räumung.

Wie hast du die Räumung der Mainzer Straße erlebt?

Das war wie im Krieg. Es ist ein Glück, dass es nur Verletzte, aber keine Toten gab. Ich habe selber Wache in der Boxhagener Straße gestanden und das erste Mal einen Wasserwerfer unmittelbar vor mir gesehen. Das hat mir Angst gemacht. Ich habe auch mitbekommen, dass noch einige Politiker und DDR-Oppositionelle wie Bärbel Bohley in letzer Minute die Räumung verhindern wollten. Da hat die Polizei schon die ersten Häuser geräumt. Es stellte sich später heraus, dass ein Teil der Räumungen nach der »Berliner Linie«, auf die sich die Politik berief, rechtswidrig waren. Das hatte aber keine Konsequenzen.

Hast du noch Kontakt zu einigen damaligen Besetzern?

Ja, mit denen, die ich damals kennengelernt hatte, habe ich noch immer gute Beziehungen. Einige sind mittlerweile Hausbesitzer über die von ihnen gegründeten Genossenschaften. Es gibt auch immer wieder ehemalige Hausbesetzer, die zur Beratung in den Mieterladen kommen. Sie haben damals noch entweder privat oder über den Rahmenvertrag der Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain (WBF) Verträge bekommen. Ein Teil der Besetzer der Mainzer Straße ist nach der Räumung in andere Städte gezogen. Da ist der Kontakt abgebrochen.

Andreas K.

Andreas K. war im Sommer 1990 Student. Heute lebt er in Friedrichshain in einer Mietwohnung, arbeitet als Taxifahrer und ist weiterhin in gewerkschaftlichen und außerparlamentarischen Gruppen aktiv.

Wie bist du im Sommer 1990 in die Besetzer­bewegung gekommen?

Ich bin in Westberlin aufgewachsen. Ein Genosse, den ich vom gemeinsamen Studium an der FU kannte, hat mich angesprochen, ob ich Lust habe, mit ihm und anderen zusammen ein Haus in Ostberlin zu besetzen. Nach einigem Zögern habe ich zugesagt. Über verschiedene Treffen bildete sich eine feste Gruppe heraus. Etwa ein Drittel hatte Ost-, zwei Drittel hatten Westhintergrund. Wir kamen aus verschiedenen Teilen der radikalen Linken. Unsere erste, nach wenigen Stunden geräumte Besetzung fand aber erst im Herbst statt. Im Sommer 1990 war ich eher Zaungast. Im Dezember gelang uns eine mehrtägige Besetzung in Friedrichshain. Nach der Räumung kamen wir gemeinsam in einem bereits besetzten Haus in der Niederbarnimstraße unter, wo ich bis 1994 lebte.

An welche politischen Aktionen im Sommer 1990 erinnerst du dich noch?

Für mich standen im Sommer keine großen Einzelaktionen im Vordergrund, sondern dass ich erst von Ferne mitbekam, dass Leute in Ostberlin die ungewisse Zeit des Systemwechsels nutzten, um leerstehende Häuser der drohenden kapitalistischen Vermarktung zu entziehen und selbstbestimmte Strukturen zu bilden. Linksradikale Gruppen aus Westberlin, wo ich mitwirkte, bekamen Anfragen für Veranstaltungen. So entstanden die ersten Kontakte.

Welche Bedeutung hatte für dich die Räumung der Mainzer Straße?

Bei der Räumung der Mainzer Straße war ich als Unterstützer auf der Straße aktiv und wurde wie viele andere festgenommen. Sie war eine militante Zuspitzung, die danach in Riot-Videos gefeiert wurde, aber zugleich ein Einschnitt, der ein Ende der Pattsituation in der Zeit des Systemumbruchs bedeutete und die Besetzerinnen und Besetzer in die strategische Defensive führte. Viele Menschen wurden durch die Polizeigewalt traumatisiert, auch bei mir blieb die Erfahrung dieser Konfrontation nicht ohne Auswirkungen.

Welche Bedeutung hatte der Streit zwischen Verhandlern und Nichtverhandlern?

Vor der Räumung hat der Besetzerrat, in dem nahezu alle Häuser vertreten waren, Einzelverhandlungen abgelehnt und eine politische vertragliche Gesamtlösung für alle Häuser gefordert. Nach der Räumung begannen mehr und mehr Häuser, Verhandlungen auf der Bezirksebene um Einzelmietverträge zu führen. Die »Berliner Linie«, die eine schnelle Räumung von Neubesetzungen beinhaltete, wurde aus dem Westteil Berlins übernommen. Politische Lösungen lehnte der Senat ab. Wer nicht über das Stöckchen der Einzelverhandlungen sprang, sondern die Rückgabe der geräumten Häuser forderte, wurde zum Nichtverhandler wider Willen, so auch die Gruppe, deren Teil ich war.

Siehst du längerfristige politische Konsequenzen aus dem Sommer 1990?

Der Sommer 1990 war nur aufgrund der besonderen historischen Situation möglich, in der die Exekutive des DDR-Staates zusammenbrach. Die Besetzer haben sich Strukturen geschaffen, die ein deutliches Gegengewicht zu reaktionären und faschistischen Tendenzen setzten. Viele Linke aus dem Westen fanden das anziehend, haben sich aber zum Teil unreflektiert in eine andere Gesellschaft begeben. Die stark subkulturelle Orientierung vieler Häuser erschwerte leider den Kontakt zu grundsätzlich aufgeschlossenen Teilen der Nachbarschaft. Viele Hausprojekte, die sich auf die Einzelverhandlungen einließen, bestehen noch bis heute. Ob sie noch politisch sind, hängt vom Engagement der Menschen ab, die dort wohnen. Sie sind jetzt oft durch Gentrifizierung nach mehrmaligem Eigentümerwechsel bedroht.

Hartmut S.

Hartmut S. hat 1990 die Köpenicker Straße 137 (Köpi) mitbesetzt und dort einige Jahre gewohnt. Heute lebt er im Oderbruch und arbeitet als Briefträger.

Wie bist du im Sommer 1990 Hausbesetzer geworden?

Vor der Wende haben wir ziemlich beengt in Westberlin gewohnt. Es gab nach dem Mauerfall Kontakte zu dem in Ostberlin tagenden Besetzerrat. Dort gab es ein starkes Interesse an Wohn- und Zusammenlebensprojekten. Während in Westberlin relative Wohnungsknappheit herrschte, standen in Ostberlin unzählige Wohnungen und auch ganze Häuser leer. So entstanden mit Leuten aus Ostberlin konkrete Pläne für eine Hausbesetzung. Die Zusammenarbeit mit Ostberlinern war uns von Anfang an sehr wichtig, da wir auf der einen Seite politisch aktive Leute aus der DDR-Oppositionsbewegung kennenlernen wollten, auf der anderen Seite wollten wir dem Eindruck entgegenwirken, Leute aus dem Westen kommen in den Osten und reißen sich dort alles unter den Nagel. In dem von uns besetzten Haus haben wir zumindest in den ersten Monaten großen Wert darauf gelegt, dass eine zahlenmäßige Ausgeglichenheit zwischen Ostlern und Westlern bestand.

Welche Bedeutung hatte damals die politische Arbeit in der Köpi? Oder war es hauptsächlich eine große Party?

In der Köpi wohnten irgendwann 40 Menschen, da gab es natürlich Leute, die gerne Partys oder Konzerte organisierten. Aber es gab auch immer Leute, die in verschiedenen politischen Bereichen aktiv waren. Gerade in der Anfangszeit im Frühjahr 1990 war die Situation angespannt.Es gab immer wieder Angriffe von rechten Jugendlichen auf die besetzten Häuser in der benachbarten Adalbertstraße und nachts musste man schon aufpassen, wer einem da in der Gegend entgegenkam.

Die Köpi nannte sich Internationales Haus. Welcher Stellenwert spielte die Arbeit mit Geflüchteten und Migranten damals?

Die Bezeichnung entstand als Kontrapunkt zum deutschnationalen Wiedervereinigungstaumel. Wir hatten viele Besucher und auch einige Bewohner aus dem meist europäischen Ausland. Den Begriff »Arbeit mit Migranten« würde ich nicht verwenden. Wir stellten Räume zur Ver­fügung zum Beispiel für eine türkische Antifa-Jugendgruppe, einige ihrer Mitglieder wohnten dort auch eine Zeitlang. Ein paar Wochen lebte bei uns ein Ägypter, der in Pirna zusammengeschlagen worden und aus dem Flüchtlingsheim dort nach Berlin geflohen war. Er ging jeden Tag arbeiten, um seiner Familie in Ägypten Geld zu schicken.

Siehst du längerfristige politische Konsequenzen aus dem Sommer 1990?

In einigen Stadtteilen wie Friedrichshain, Mitte und Prenzlauer Berg entstanden durch die besetzten Häuser politische und kulturelle Anlaufpunkte.

Dietmar Wolf

Dietmar Wolf war linker DDR-Oppositioneller und Mitbegründer der Antifa Ostberlin. Er ist seit der Gründung im Oktober 1989 Redakteur und Herausgeber der Zeitschrift Telegraph. Er wohnt in Berlin.

Wie hast du als linker DDR-Oppositioneller den Sommer 1990 erlebt?

Heute wird ja immer vom »Kurzen Sommer der Anarchie« geredet. Ich finde den Begriff Quatsch. Hier war nichts mit Anarchie. Die Macht lag im Oktober/November 1989 vielleicht kurz auf der Straße. Doch das Volk wollte sie nicht. Dann hat die SED sie schnell wieder aufgehoben und, wohlgeordnet und mit Zustimmung der DDR-Bevölkerung, an die BRD-CDU und das BRD-Kapital übergeben. Die Gruppen der DDR-Opposition haben sich, statt sofort und konsequent die Kontrolle über die DDR zu übernehmen und natürlich auch die SED-Regierung samt gleichgeschaltetem Parlament zum Teufel zu jagen, derweil an Runden Tischen ohne jeglichen Einfluss und ohne wirkliche Befugnisse abgearbeitet und sich sogar von der Regierung Modrow mit »Ministerposten ohne Geschäftsbereich« bestechen lassen. Viele in der linken DDR-Opposition hatten auf eine neue Gesellschaft mit einem wirklich freien und echten Sozialismus gehofft. Dass die Menschen aber so derart grundsätzlich auf diese dummen und offensichtlichen Wahlkampflügen hereinfielen und schon zur Volkskammerwahl im März 1990 mit so einer überwältigenden Mehrheit auf deutsche Einheit, D-Mark und Kapitalismus setzten, hat viele von uns doch sehr erschüttert.

Welche Rolle spielte der Kampf gegen die Neonazis in der damaligen Zeit?

Das war schon sehr dominant. Es gab ja andauernd Zwischenfälle, was die besetzten Häuser betraf. Zuerst hauptsächlich im Prenzlauer Berg, weil der BFC Dynamo im Jahn-Stadion gespielt hat. Der Anhang von Nazi-Hooligans hat da regelmäßig vor oder nach den Spielen bei den nahegelegenen besetzten Häusern vorbei gesehen. Im Prenzlauer Berg bildete sich damals leider auch eine stärkere Naziszene um die Nazipartei FAP. Mit denen hatten wir dann noch bis Mitte der neunziger Jahre richtig viel Stress. Dann gab es auch im Bezirk Friedrichshain Übergriffe auf besetzte Häuser. Das war schon eine ständige Bedrohung. Und in der Lichtenberger Weitlingstraße gab es ja auch ein besetztes Haus der Nazis. Das war ein bundesweites Anlaufziel und Treffpunkt vieler Nazikader und -führer.

Gab es Widerstand dagegen?

Die Antifa war nicht nur defensiv, sondern ging auch ganz bewusst in die Kieze der Nazis. Flugblätter verteilen, fotografieren, aufklären, antifaschistische Ansagen machen. Wir haben dann, ganz in der Nähe des Nazihauses, ein antifaschistisches Straßenfest und eine große Demonstration veranstaltet. Diese beiden Aktionen wurden von einem sehr breiten politischen Bündnis organisiert. Da haben alle möglichen Gruppen und Organisationen aus Berlin mitgemacht. Ich finde es noch heute sehr ärgerlich, dass die Besetzer der Mainzer Straße im Nachhinein behauptet haben, beispielsweise auch in ihrem Film »Sag niemals nie«, sie allein hätten diese Demonstration organisiert und die Antifa-Arbeit dort in Lichtenberg geleistet. Das ist natürlich absoluter Blödsinn und ein Etikettenschwindel, den sie so gar nicht nötig hatten.

Wie war der Umgang zwischen Ost- und Westbesetzern zu dieser Zeit?

Nach der Maueröffnung gab es schnell viele Kontakte zu Westberliner Autonomen. Und die Westler waren anfangs auch sehr interessiert an uns und an unseren Ideen und »Geschichten aus der DDR«. Doch letztlich lief das immer gleich ab. Egal in welchen politischen Zusammenhang man sich begab, es hieß irgendwann: Na ja, ihr könnt bei uns mitmachen, wenn ihr wollt, aber ausschließlich nach unseren Regeln und Prinzipien. Eure DDR-Anekdoten sind ja ganz schön, aber Vergangenheit. Was hier jetzt kommt, hat mit euren Erfahrungen nichts zu tun. Wir wissen, wie man als Linke im Kapitalismus handelt und kämpft, und ihr nicht. Also ordnet euch schön brav unter, dann ist alles gut. Und es gibt manche, die haben so etwas gemacht, und eine Menge andere eben nicht. Wir haben dann in Prenzlauer Berg lieber erst einmal eine eigene Antifa aufgebaut, die viele Jahre sehr gute und erfolgreiche Arbeit geleistet hat. Viele Gruppen im Osten haben dann auch ihre eigenen Strukturen und Vernetzungen entwickelt. Bis Mitte neunziger Jahre gab es da teilweise eine richtige politische Eiszeit zwischen großen Teilen der autonomen und radikalen Linken in der Ex-DDR und der BRD.

Welche Bedeutung hatte die Räumung der Mainzer Straße für dich?

Aber auch wenn ich Probleme mit der politischen Dominanz der Mainzer Straße hatte, war es wichtig und keine Frage, die Mainzer zu verteidigen. Denn das war ja nicht nur ein Angriff des Staates auf die Leute in der Mainzer, sondern auf die Struktur, auf unser Modell von Leben und Gesellschaft. Die haben uns und allen gezeigt, wo der Hammer hängt, und ihren Herrschafts- und Machtanspruch klar und deutlich unterstrichen. Gnadenlos. Skrupellos. Dieser Staat tut alles, um seine Macht zu sichern. Wenn es ­darauf ankommt, wird nicht gezögert und auch auf die eigene Bevölkerung geschossen. Übrigens im Gegensatz zu den Herrschenden in der DDR. Die haben sich das 1989 nicht getraut.

http://jungle-world.com/artikel/2015/35/52560.html

Interview: Peter Nowak

Zu oft allein in der Prärie

Über 50 Prozent der Mitglieder in nur sieben Staaten: Der Niedergang der einst mächtigen US-Gewerkschaften

Gewerkschaften in den USA haben es nicht leicht. Gezielte Angriffe, Das Verschwinden der politischen Ansprechpartner oder gezielter Wirtschaftslobbyismus schränken ihre Möglichkeiten ein.

Die US-Journalistin Barbara Ehrenreich benannte schon vor 15 Jahren die politisch gewollte Schwächung der Gewerkschaften in den USA als eine wichtige Bedingung für die Durchsetzung des Modells Working Poor – Menschen die trotz mehrere Jobs in Armut leben. In Deutschland fanden ihre Reportagen Beachtung, weil Politiker und Wirtschaftsvertreter die Arbeitsverhältnisse in den USA als Modell bezeichneten. Ehrenreichs Analysen bestätigte jetzt der Geschichtsprofessor Joseph McCartin von der Georgetown-Universität in Washington DC in der im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellten Studie »Sanierung des bröckelnden Tarifsystems? Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen in den Vereinigten Staaten von Amerika«.

Nur noch 11,3 Prozent der US-Bevölkerung sind gewerkschaftlich organisiert, in der Privatwirtschaft sind es nur 6,7 Prozent. Alarmierender ist, dass sich über die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder auf sieben der 50 US-Bundesstaaten verteilen. Das bedeutet, dass es nahezu gewerkschaftsfreie Regionen gibt. Die Studie benennt die Verantwortung der Politik: Zunehmende Polarisierung zwischen den beiden dominierenden Parteien, Republikaner und Demokraten, sowie die Wahlkampfunterstützung durch Industrie und konservative Organisationen hätten es den Gewerkschaften »in den letzten Jahren weiter erschwert, ihre politische Agenda durchzusetzen« oder in den Demokraten Verbündete zu finden, heißt es.

Ein Kapitel widmet sich systematischen Einschränkungen der Gewerkschaftsarbeit. Dabei werden in einigen Bundesstaaten vor allem Beschäftigte im Öffentlichen Dienst, etwa Erzieher und Lehrer, zum Ziel von politischen Angriffen. Auch die Einführung neuer Technologien wirkt sich negativ aus. So stehen die drei Großunternehmen Amazon, Google und Wal-Mart, die nicht nur der US-Ökonomie, sondern auch der Weltwirtschaft ein neues Gesicht gegeben haben, für eine extrem gewerkschaftsfeindliche politische Agenda. »Sollten diese und ähnliche Unternehmen die Bedingungen für die gewerkschaftliche Arbeit in der Privatwirtschaft vorgeben, ist in den kommenden Jahren mit einer weiteren Verschlechterung zu rechnen«, heißt es wenig optimistisch in der Studie.

Gerade weil Republikaner in den USA immer weiter nach rechts rücken und die Führungsebenen der Demokraten sich dem anpassen, fehlen den Gewerkschaften zunehmend die politischen Ansprechpartner. Sie sind gezwungen, sich auf gesellschaftliche Bündnispartner zuzubewegen. Dazu gehören Stadtinitiativen, die Selbstorganisation von Migranten oder die Workers Center, in denen sich Beschäftigte außerhalb ihrer Arbeitsplätze treffen und organisieren. Auch eine verstärkte transnationale Kooperation der Gewerkschaften zählt der Historiker zu den Wegen, mit der sie langfristig auch in den USA wieder an Einfluss gewinnen könnten. Schnelle Lösungen gibt es nicht, betont McCartin. Auch hierzulande werden Gewerkschaften nur eine größere Durchsetzungskraft erlagen, wenn sie sich nicht auf politische Parteien, sondern auf soziale Bewegungen stützen und über Landesgrenzen hinweg kooperieren. In diesem Punkt ist die Analyse der USA mit hiesigen Verhältnissen vergleichbar.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/981848.zu-oft-allein-in-der-praerie.html

Peter Nowak

»Jede Alternative sollte ­ausgelöscht ­werden«

Der Ökonom Kamal Salehezadeh war im Iran bei der revolutionären linken Gruppe Volksfedajin aktiv und lebt in Hamburg. Derzeit plant er eine Veranstaltungsreihe zu den Hintergründen der Gefangenenmassaker im Iran 1988.

Wer genau waren die Opfer der Massenhinrichtungen im Iran vor 27 Jahren?

In nur neun Wochen, vom August bis zum Oktober 1988, hat das iranische Regime Massenexekutionen von Oppositionellen durchgeführt. Die Menschen, die getötet wurden, waren inhaftiert und ein Großteil von ihnen hatte die Haftstrafen, zu denen sie verurteilt waren, bereits verbüßt. Die genaue Zahl der Hingerichteten konnte bis heute nicht ermittelt werden. Es ist aber klar, dass mehrere Tausend Menschen dem Terror zum Opfer fielen. Die Hingerichteten repräsentierten die ganze Bandbreite der Opposition gegen das Mullah-Regime. Doch die meisten der Opfer stammten aus der Linken. Reformerische Kräfte waren ebenso betroffen wie linke Guerillakämpfer und kurdische Aktivisten.

Welches Ziel verfolgte das Regime mit dem Terror?

Nach dem Sturz der Schah-Diktatur war die Linke im Iran sehr stark. Im kurdischen Teil des Irans hatte sich die Bevölkerung ebenso in Räten organisiert wie im Nordiran, wo es eine starke Bauernorganisation gab. In allen Bereichen der iranischen Gesellschaft, in Schulen, Universitäten und Fabriken, gab es Versammlungen, auf denen die Menschen selber über ihre Interessen entscheiden wollten. Mit den Massakern sollte jede Alternative zum islamistisch-kapitalistischen Regime ausgelöscht werden.

Gibt es im Iran Gedenkveranstaltungen für die Opfer?

Offiziell wird über das Massaker nicht gesprochen. Doch die Angehörigen organisieren Gedenkveranstaltungen an dem anonymen Massengrab, in dem das Regime die Ermordeten begraben hat. Bei den Veranstaltungen kommt es immer wieder zu Festnahmen. Einige Angehörige sind wegen der Beteiligung an den Gedenkaktionen im Gefängnis, doch davon lässt sich niemand abhalten.

Warum machen Sie jetzt, 27 Jahren danach, in Deutschland eine Rundreise dazu?

Weil ich immer wieder feststellen musste, dass in Deutschland Menschen oder Organisationen, die sich als links verstehen, das iranische Regime verteidigen und dessen staatsterroristischen Charakter ausblenden.

http://jungle-world.com/artikel/2015/33/52491.html

Interview: Peter Nowak

»Es war kein hierarchiefreies Gremium«

Chris Rotmund ist Mitglied der Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e.V., die kürzlich aus der Arbeitsgemeinschaft (AG) Uckermark ausgetreten ist. Das Gelände des nicht erhaltenen Lagers Uckermark grenzt an das ehemaligen Frauenkonzentrationslager Ravensbrück in Fürstenberg/Havel (Brandenburg), das bereits eine Gedenkstätte ist.

Welches Ziel hatte die AG Uckermark?

Sie war ein institutionalisierter Runder Tisch für einen würdigen Gedenkort an der Stätte des ehemaligen Jugendkonzentrationslagers für Mädchen und junge Frauen und späteren Vernichtungslagers Uckermark während des Nationalsozialismus. In den Gremien waren unter anderem die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN/BdA), die Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis, die Stadt Fürstenberg sowie verschiedene Abteilungen des Landes Brandenburg und die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten vertreten.

Wie verlief die bisherige Kooperation?

Wir konnten die Entfernung der vorhandenen militärischen Bebauung und des militärischewn Geräts der Roten Armee auf dem Gelände beenden. Seit Februar 2015 wurde die AG Uckermark ohne Begründung nicht mehr einberufen.

Warum hat Ihre Initiative das Gremium verlassen?

Es war kein hierarchiefreies und kein gleichberechtigtes Gremium. Das bemängeln im übrigen nicht nur wir, sondern auch andere Beteiligte der AG Uckermark.

Gab es auch inhaltliche Gründe für euren Austritt?

Ja. Die Vertreterinnen und Vertreter der Mahn- und Gedenkstätte verwenden beispielsweise den Begriff »Jugendschutzlager«. Diesen euphemistischen Begriff aus der NS-Zeit lehnen wir aus zwei Gründen ab. Juristisch ist das Lager Uckermark als »KZ-ähnliches Lager« anerkannt, was für die Entschädigung der Opfer eine große Bedeutung hat. Für die ehemals Inhaftierten ist die Verwendung des Nazibegriffs außerdem ein Schlag ins Gesicht.

Wie wollt ihr eure Arbeit fortsetzen?

Wir fordern ein Gremium, in dem alle Personen und Gruppen, die sich für einen würdigen Gedenkort am KZ Uckermark einsetzen, gleichberechtigt zusammenarbeiten. Beim diesjährigen feministischen Bau- und Begegnungscamp, das vom 25. August bis 3. September auf dem Gelände stattfindet, werden wir die Diskussion darüber fortsetzen.

http://jungle-world.com/artikel/2015/30/52366.html

Interview:  Peter Nowak

Soziale Reproduktion in der Krise

Interview mit Gabriele Winker von Peter Nowak

Die So­zi­al­wis­sen­schaft­le­rin Ga­brie­le Win­ker lehrt und forscht an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Ham­burg-Har­burg und ist Mit­be­grün­de­rin des Fe­mi­nis­ti­schen In­sti­tuts sowie des bun­des­wei­ten „Netz­werks Care Re­vo­lu­ti­on“. Die­sen März ist im Tran­script-Ver­lag ihr Buch „Care Re­vo­lu­ti­on. Schrit­te in eine so­li­da­ri­sche Ge­sell­schaft“ er­schie­nen. Peter Nowak sprach für den Vor­wärts mit Win­ker über die Krise so­zia­ler Re­pro­duk­ti­on und die ent­ste­hen­de Ca­re-Be­we­gung.

vor­wärts: Im März 2014 fand in Ber­lin eine Ak­ti­ons­kon­fe­renz zur „Care Re­vo­lu­ti­on“ statt. Was ist seit­her ge­sche­hen?

Ga­brie­le Win­ker: Die „Care Re­vo­lu­ti­on“ nimmt einen grund­le­gen­den Per­spek­tiv­wech­sel vor. Das öko­no­mi­sche und po­li­ti­sche Han­deln darf nicht wei­ter an Pro­fit­ma­xi­mie­rung, son­dern an mensch­li­chen Be­dürf­nis­sen, pri­mär der Sorge um­ein­an­der aus­ge­rich­tet sein. Eine Ge­sell­schaft muss sich also daran mes­sen las­sen, inwie­weit sie grund­le­gen­de Be­dürf­nis­se gut und für alle Men­schen rea­li­sie­ren kann. Nach der Ak­ti­ons­kon­fe­renz, an der sich etwa 500 im Ca­re-Be­reich tä­ti­ge Men­schen in viel­fäl­ti­gen Work­shops be­tei­lig­ten, haben wir im Mai 2014 das „Netz­werk Care Re­vo­lu­ti­on“ ge­grün­det. Das ist eine Art Platt­form, über die sich die ver­schie­dens­ten Ca­re-In­itia­ti­ven ver­net­zen, aus­tau­schen und ge­gen­sei­tig un­ter­stüt­zen kön­nen. Wir haben uns fer­ner dar­auf ge­ei­nigt, uns in die­sem Jahr als Netz­werk an Ak­tio­nen zum In­ter­na­tio­na­len Frau­en­kampf­tag am 8. März, zu Block­u­py und zum 1. Mai zu be­tei­li­gen. An die­sen drei Tagen war das „Netz­werk Care Re­vo­lu­ti­on“ durch klei­ne De­mons­tra­ti­ons­blö­cke oder In­fo­ti­sche in meh­re­ren Städ­ten deut­lich sicht­bar. Auch gibt es in­zwi­schen re­gio­na­le Netz­wer­ke in Ber­lin, Bran­den­burg, Han­no­ver, Ham­burg, Frank­furt und Frei­burg. An­de­re be­fin­den sich im Auf­bau. Für April 2016 pla­nen wir die zwei­te bun­des­wei­te Ak­ti­ons­kon­fe­renz Care Re­vo­lu­ti­on, wie­der in Ber­lin.

vor­wärts: Warum kommt die De­bat­te um die Care Re­vo­lu­ti­on ge­ra­de in die­ser Zeit auf?

Ga­brie­le Win­ker: Der Wan­del vom Er­nährer­mo­dell zu ver­schie­de­nen neo­li­be­ra­len Re­pro­duk­ti­ons­mo­del­len, die alle kein gutes Leben er­mög­li­chen, ist in der BRD sehr lang­sam er­folgt, nicht zu­letzt wegen der jahr­zehn­te­lan­gen Kon­kur­renz mit der DDR. Die neo­li­be­ra­le Fa­mi­li­en­po­li­tik, die mit dem Ziel der Er­hö­hung der Frau­en­er­werbs­tä­tig­keit und der Ge­bur­ten­ra­te Wirt­schafts­po­li­tik be­treibt und sehr stark zwi­schen Leis­tungs­trä­ge­rin­nen und -trä­gernund Aus­ge­grenz­ten un­ter­schei­det, bei­spiels­wei­se durch gros­se Un­ter­schie­de in der Höhe des El­tern­gelds, nahm erst nach der Jahr­tau­send­wen­de Fahrt auf. So wird erst der­zeit deut­lich spür­bar, dass Men­schen damit über­for­dert sind, sich – un­ab­hän­gig von Ge­schlecht, Fa­mi­li­en­sta­tus, Um­fang der Sor­ge­auf­ga­ben – je ein­zeln durch den Ver­kauf ihrer Ar­beits­kraft exis­ten­zi­ell ab­zu­si­chern und gleich­zei­tig die wegen der staat­li­chen Kos­ten­sen­kungs­po­li­tik zu­neh­men­de Re­pro­duk­ti­ons­ar­beit in Fa­mi­li­en zu leis­ten. Ar­beit ohne Ende wird für immer mehr Men­schen zur Rea­li­tät. Die Selbst­sor­ge kommt zu kurz. Musse ist zum Fremd­wort ge­wor­den. Und auch die­je­ni­gen, die auf die Un­ter­stüt­zung an­de­rer an­ge­wie­sen sind, wie Kin­der oder pfle­ge­be­dürf­ti­ge Er­wach­se­ne, kön­nen ihre Be­dürf­nis­se nicht rea­li­sie­ren. Es nimmt nicht nur der Stress zu, son­dern auch die Er­schöp­fung, da Er­ho­lungs­pha­sen feh­len. Dies führt nicht zu­letzt zu mehr Fäl­len psy­chi­scher Er­kran­kun­gen.

vor­wärts: Sie haben den Be­griff der „Care Re­vo­lu­ti­on“ we­sent­lich ge­prägt. Auf wel­che theo­re­ti­schen und prak­ti­schen Vor­ar­bei­ten haben Sie sich ge­stützt?

Ga­brie­le Win­ker: Ei­ner­seits bin ich be­ein­flusst von der Zwei­ten Frau­en­be­we­gung. Be­reits in den 70er Jah­ren wurde in die­sem Rah­men auch in der BRD dafür ge­kämpft, die nich­tent­lohn­te Haus­ar­beit als ge­sell­schaft­lich not­wen­di­ge Ar­beit an­zu­er­ken­nen. Dies füh­ren bei­spiels­wei­se Gi­se­la Bock und Bar­ba­ra Duden in ihrem Bei­trag zur Ber­li­ner Som­mer­uni­ver­si­tät für Frau­en 1977 aus. In den 90er Jah­ren be­gan­nen dann in den USA De­bat­ten um die Ca­re-Ar­beit. Mit die­sem Be­griff wies bei­spiels­wei­se Joan Tron­to sehr früh dar­auf hin, dass Men­schen ihr gan­zes Leben lang Sorge von an­de­ren be­nö­ti­gen und somit nicht völ­lig au­to­nom leben kön­nen, son­dern ihr Leben viel­mehr in in­ter­de­pen­den­ten Be­zie­hun­gen ge­stal­ten. Meine Vor­stel­lung von einer so­li­da­ri­schen Ge­sell­schaft, die ich als Ziel einer Ca­re-Re­vo­lu­ti­on ent­wi­ckel­te, baut des­we­gen auf mensch­li­che So­li­da­ri­tät und Zu­sam­men­ar­beit.

vor­wärts: Wor­auf stützt sich die neue Ca­re-Re­vo­lu­ti­on-Be­we­gung?

Ga­brie­le Win­ker: Auf­fal­lend ist, dass es im ent­lohn­ten Ca­re-Be­reich, in Bil­dung und Er­zie­hung sowie Ge­sund­heit und Pfle­ge, aber auch im un­ent­lohn­ten Be­reich, aus­ge­hend von der Sor­ge­ar­beit in Fa­mi­li­en, viele klei­ne In­itia­ti­ven gibt, zum Bei­spiel El­tern­in­itia­ti­ven, Or­ga­ni­sa­tio­nen von pfle­gen­den An­ge­hö­ri­gen, Grup­pen von Men­schen mit und ohne Be­hin­de­run­gen, In­itia­ti­ven von und für Flücht­lin­ge, aber auch Ver­di-Grup­pen sowie queer­fe­mi­nis­ti­sche und links­ra­di­ka­le Grup­pen, die das Thema Care auf­neh­men. Viele en­ga­gie­ren sich für bes­se­re po­li­tisch-öko­no­mi­sche Rah­men­be­din­gun­gen, damit sie für sich und an­de­re bes­ser sor­gen kön­nen. Al­lei­ne und ver­ein­zelt sind sie al­ler­dings bis­her zu schwach, um po­li­tisch wahr­ge­nom­men zu wer­den und eine grund­le­gen­de Ver­bes­se­rung der Ar­beits- und Le­bens­be­din­gun­gen zu er­rei­chen. Hin­ter der Care Re­vo­lu­ti­on steht die Idee, diese Grup­pen nicht nur über die­sen Be­griff zu ver­bin­den, son­dern damit auch auf­ein­an­der zu ver­wei­sen und eine sicht­ba­re Ca­re-Be­we­gung zu ent­wi­ckeln. Wich­tig ist dafür al­ler­dings auch eine klare Ana­ly­se, die deut­lich macht, dass der ge­sam­te Ca­re-Be­reich unter den Fol­gen staat­li­cher Kos­ten­sen­kungs­po­li­tik lei­det, die mit der po­li­tisch-öko­no­mi­schen Krise so­zia­ler Re­pro­duk­ti­on ver­bun­den ist. Davon aus­ge­hend kön­nen wir mit der Ca­re-Re­vo­lu­ti­on als Trans­for­ma­ti­ons­stra­te­gie ge­mein­sam erste Re­form­schrit­te in Rich­tung be­din­gungs­lo­se exis­ten­zi­el­le Grund­si­che­rung, deut­li­che Ver­kür­zung der Er­werbs­ar­beits­zeit sowie Aus­bau der so­zia­len In­fra­struk­tur gehen.

vor­wärts: Sie fas­sen in Ihrem Buch Ak­ti­vi­tä­ten der „In­ter­ven­tio­nis­ti­schen Lin­ken“ über Ver­di-Grup­pen bis zu Pfle­ge­initia­ti­ven unter den Be­griff „Care Re­vo­lu­ti­on“. Wird da nicht über ganz un­ter­schied­li­che Ak­ti­vi­tä­ten ein Label ge­stülpt?

Ga­brie­le Win­ker: Wich­tig ist zu­nächst fest­zu­stel­len, dass die im Buch ge­nann­ten Grup­pen und viele mehr, die zur Ak­ti­ons­kon­fe­renz Care Re­vo­lu­ti­on im März 2014 auf­ge­ru­fen haben, sich selbst die­sem Be­griff und der Vor­stel­lung zu­ord­nen, dass die Be­din­gun­gen für Sor­ge­ar­beit in un­se­rer Ge­sell­schaft grund­le­gend re­vo­lu­tio­niert wer­den müs­sen. Dabei sind das keine gros­sen Ver­bän­de, son­dern Grup­pen vor Ort, wie die IL Tü­bin­gen, die Ver­di-Be­triebs­grup­pe Cha­rité, die El­tern­in­itia­ti­ve „Nicos Farm“ für be­hin­der­te Kin­der in Ham­burg oder klei­ne­re Or­ga­ni­sa­tio­nen wie die In­itia­ti­ve „Armut durch Pfle­ge“, die be­reits viele Er­fah­run­gen in so­zia­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen im Ca­re-Be­reich haben. Die Zu­sam­men­ar­beit die­ser Grup­pen wird eben nicht durch eine Or­ga­ni­sa­ti­on ge­stal­tet, die über ein Label Be­deu­tung er­rin­gen will. Viel­mehr sehe ich die be­son­de­re Stär­ke der im Wer­den be­grif­fe­nen Ca­re-Be­we­gung darin, dass sich Men­schen in un­ter­schied­li­chen Po­si­tio­nen in­ner­halb der Ca­re-Ver­hält­nis­se aus­tau­schen und ihre Kämp­fe auf­ein­an­der be­zie­hen.

vor­wärts: Kön­nen Sie Bei­spie­le nen­nen?

Ga­brie­le Win­ker: Bei Tref­fen und Ak­tio­nen kom­men bei­spiels­wei­se Be­schäf­tig­te in Kran­ken­häu­sern und Al­ten­pfle­ge­hei­men mit pfle­gen­den An­ge­hö­ri­gen und Men­schen zu­sam­men, die auf­grund von kör­per­li­chen Ein­schrän­kun­gen oder Krank­hei­ten zeit­lich auf­wän­dig für sich sor­gen müs­sen. Wir alle kön­nen mor­gen von Krank­heit be­trof­fen sein und sind dann auf gute Pfle­ge an­ge­wie­sen. Und die staat­li­che Kos­ten­sen­kungs­po­li­tik trifft nicht nur die Be­schäf­tig­ten in allen Ca­re-Be­rei­chen glei­cher­mas­sen, son­dern in der Folge auch Fa­mi­li­en, Wohn­ge­mein­schaf­ten und an­de­re Le­bens­for­men, wenn Pa­ti­en­ten „blu­tig“ ent­las­sen wer­den oder not­wen­di­ge Ge­sund­heits­leis­tun­gen für Kas­sen­pa­ti­en­tin­nen ge­stri­chen wer­den. Diese Ver­bin­dun­gen sind noch viel zu wenig prä­sent, auch in lin­ken po­li­ti­schen Zu­sam­men­hän­gen. Nur wenn sich etwa Er­zie­he­rin­nen und El­tern oder be­ruf­lich und fa­mi­li­är Pfle­gen­de als ge­sell­schaft­lich Ar­bei­ten­de be­grei­fen, kön­nen sie sich auf Au­gen­hö­he in ihren Kämp­fen um aus­rei­chen­de Res­sour­cen und gute Ar­beits­be­din­gun­gen un­ter­stüt­zen. Dies gilt unter dem As­pekt der Selbst­sor­ge auch für As­sis­tenz­ge­ben­de und As­sis­tenz­neh­men­de.

vor­wärts: Warum kann im Ka­pi­ta­lis­mus das Pro­blem der Sor­ge­ar­beit nicht ge­löst wer­den?

Ga­brie­le Win­ker: Das Ziel ka­pi­ta­lis­ti­schen Wirt­schaf­tens ist Pro­fit­ma­xi­mie­rung. Die ist nur durch den Ein­satz von Ar­beits­kraft zu er­rei­chen, die al­ler­dings tag­täg­lich und auch über Ge­ne­ra­tio­nen hin­weg immer wie­der neu re­pro­du­ziert wer­den muss. Der sich dar­aus er­ge­ben­de Wi­der­spruch, dass ei­ner­seits die Re­pro­duk­ti­ons­kos­ten der Ar­beits­kraft mög­lichst ge­ring ge­hal­ten wer­den sol­len, um die Ren­di­te nicht allzu sehr ein­zu­schrän­ken, gleich­zei­tig aber diese Ar­beits­kraft be­nö­tigt wird, ist dem Ka­pi­ta­lis­mus im­ma­nent. Grund­vor­aus­set­zung für die Auf­recht­er­hal­tung die­ses wi­der­sprüch­li­chen Sys­tems ist, dass ein gros­ser Teil der Re­pro­duk­ti­on un­ent­lohnt ab­ge­wi­ckelt wird. Mit der tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lung las­sen sich nun zwar Güter und pro­duk­ti­ons­na­he Dienst­leis­tun­gen schnel­ler her­stel­len, nicht aber Ca­re-Ar­beit be­schleu­ni­gen, zu­min­dest nicht, ohne dass es zu einer mas­si­ven Ver­schlech­te­rung der Qua­li­tät kommt. Denn Ca­re-Ar­beit ist kom­mu­ni­ka­ti­ons­ori­en­tiert und auf kon­kre­te ein­zel­ne Men­schen be­zo­gen und damit sehr zeit­in­ten­siv. Die Folge ist, dass Pro­duk­ti­vi­täts­stei­ge­run­gen in die­sem Be­reich nur be­grenzt mög­lich sind. Es kommt zu einer Krise so­zia­ler Re­pro­duk­ti­on, die ich als Teil der Über­ak­ku­mu­la­ti­ons­kri­se sehe.

Für mehr Infos siehe:
www.care-revolution.org

VORWÄRTS/1120: Interview mit Gabriele Winker – Soziale Reproduktion in der Krise

vorwärts – die sozialistische zeitung, Nr. 25/26 vom 3. Juli 2015
http://www.schattenblick.de/infopool/medien/altern/vorw1120.html

Zwischen allen Stühlen

GWR-Redakteur Bernd Drücke über gewaltfreien Anarchismus und wie man als Außenseiter etwas bewegen kann

Bernd Drücke, 36, ist Soziologe in Münster und hauptamtlicher Redakteur der gewaltfrei-anarchistischen Monatszeitung »Graswurzelrevolution«.

Vor drei Jahren feierte die Monatszeitung »Graswurzelrevolution« (GWR) ihr 40-jähriges Bestehen, jetzt die 400. Ausgabe. Dienen die vielen Jubiläen der Lesergewinnung?
Sie schaden zumindest nicht. Die Aboentwicklung ist okay. Wir bekommen oft mehr Neuabos als Kündigungen. Die Zeitung wird durch Abos und Spenden finanziert, macht aber kaum Werbung und ist deshalb vielen unbekannt

Wieso überlebte die GWR die Auflösung der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen, mit der sie eng verbunden war?
Die Föderation wurde 1980 als bundesweites Netzwerk anarchopazifistischer Gruppen mit antimilitaristischem Schwerpunkt gegründet und galt laut Verfassungsschutz als »größte anarchistische Organisation der Nachkriegszeit«. Ihre Entstehung hängt eng mit der seit 1972 erscheinenden GWR zusammen. Von 1981 bis 1988 war die Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen Herausgeberin der GWR. Seitdem wird die Zeitung wieder von einem unabhängigen Kreis herausgegeben, der sich aus etwa 40 Menschen zusammensetzt und alle Entscheidungen basisdemokratisch fällt. 1997 wurde die Föderation aufgelöst. Aber es gibt etliche ehemalige Mitglieder, die noch politisch aktiv sind und uns nahe stehen. Dazu findet sich einiges in der GWR 400.

Hatte diese Selbstständigkeit auch etwas Befreiendes, weil es jetzt keine politische Gruppierung mehr gab, die Einfluss nehmen konnte?
Die GWR ist assoziiertes Mitglied in einem globalen antimilitaristischen Netzwerk, den War Resisters’ International. Sie hat sich in den letzten Jahren geöffnet. Sie ist ein Sprachrohr emanzipatorischer sozialer Bewegungen aus aller Welt, von Anarchisten, Gewaltfreien Aktivisten, Feministinnen, Anti-Atom-, Anti-Gentech-, Anti-TTIP-Aktiven, von antirassistischen Gruppen, Antifas, Blockupy bis hin zu Menschen, die sich gegen Abschiebungen oder den Klimakiller Kohle stemmen.

Welchen Stellenwert hat der gewaltfreie Anarchismus heute in der außerparlamentarischen Linken?
Wir sind Außenseiter, können aber etwas bewegen. Wir wollen eine gewaltfreie Umwälzung von unten und vertreten Positionen, die anderswo nicht vorkommen. Nehmen wir das Beispiel Ukraine-Konflikt, da sitzen wir zwischen allen Stühlen. Wir lassen Anarchisten und Antimilitaristen aus Russland und der Ukraine zu Wort kommen, unterstützen die Deserteure und Verweigerer aller Kriegsparteien und agitieren sowohl gegen das homophob-autoritäre Putin-Regime als auch gegen NATO, EU, ukrainische und ostukrainische Nationalisten. Leider ist der gewaltfreie Anarchismus immer noch eine Nischenbewegung. Aber dass heute direkte gewaltfreie Aktionen und basisdemokratische Entscheidungsfindungen innerhalb der sozialen Bewegungen selbstverständlich sind, ist auch dem jahrzehntelangen Engagement von gewaltfreien Anarchistinnen zu verdanken

Wie ist Ihr Verhältnis zu marxistischen Ansätzen, die sich von autoritären Parteikonzepten distanzieren?
Kritisch-solidarisch. Der antiautoritäre Marxist John Holloway war zum Beispiel häufiger Interviewpartner und unter unseren Autoren sind auch Zapatistas und libertäre Marxisten. Als libertär-sozialistisches Blatt diskutieren wir undogmatisch-marxistische Theorieansätze aus anarchistischer Sicht.

Ein Teil der GWR-Artikel ist online zugänglich auf graswurzel.net, auch ausgewählte Artikel der 400. Ausgabe. Einzelheft 3,80 Euro, Schnupperabo 5 Euro, Probeexemplar kostenlos

http://www.neues-deutschland.de/artikel/977874.zwischen-allen-stuehlen.html

Peter Nowak