«Gesellschaftliche Veränderung ist nur von unten möglich»

Thembani Jerome Ngongoma ist Vorstandsmitglied der Stadtteilinitiative Abahlali baseMjondolo (Bewegung der Wellblechhäuserbewohner) in Durban in Südafrika. Der Vorwärts sprach mit ihm über die Auswirkungen der Fussball-WM, das Verhältnis zum ANC und die Streiks der BergarbeiterInnen.

In Europa waren die sozialen Bewegungen Südafrikas im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft ein größeres Thema. Was bedeutete dieser Event für Euch?
Es mag sein, dass die sozialen Bewegungen Südafrikas in dieser Zeit mehr wahrgenommen wurden, weil der Fokus der Medien auf dem Land lag. Wir aber haben die Zeit der WM nicht als Aufbruch sondern als Stillstand empfunden. Soziale Proteste waren viel schwerer zu organisieren, weil in dieser Zeit besondere Sicherheitsgesetze erlassen worden waren, die die Proteste massiv erschwert hatten. Für die sozialen Bewegungen ging es daher erst nach der WM richtig weiter.

Lag ein Grund, für die größeren Schwierigkeiten in dieser Zeit Proteste zu organisieren, nicht auch in der in weiten Kreisen der Bevölkerung geteilten Ideologie der Regenbogennation Südafrika, die es auch für das Ausland hochzuhalten galt?
Wir können nicht leugnen, dass im Vorfeld der WM eine solche Ideologie auch in großen Teilen der Bevölkerung Anklang fand. Die Menschen wollten zu einer Nation gehören und sich auch der Welt so zu präsentieren. Doch dieses Gefühl schwand schon bald. Die Menschen merkten sehr schnell, dass nicht sie sondern die Fifa bestimmt, was während der WM verkauft werden durfte. Es war für viele Menschen in Südafrika ein Schock, als sie mitbekamen, dass die Fifa und nicht die Regierung die Regeln durchsetze, und den schwarzen Menschen, die einzige Möglichkeit nahmen, an der WM zu partizipieren. Denn für die Straßenhändler gab es keine Möglichkeiten, ihre Waren zu verkaufen. Diese praktischen Erfahrungen vieler Menschen haben die offizielle Ideologie von Südafrika als der großen Regenbogennation für viele Menschen unglaubwürdig werden lassen.

Was ist momentan der Schwerpunkt Eurer Stadtteilinitiative?
Wir bereiten zurzeit den Gipfel der Armen vor. Dabei handelt es sich um eine Armutskonferenz, der von den Betroffenen Menschen selber von Anfang bis Ende organisiert wird. Daher müssen wir den Gipfel gründlich vorbereiten und auf drei Ebenen organisieren. Wir schaffen lokale Strukturen, gehen dann auf die bundesstaatliche Ebene um schließlich eine nationale Armutskonferenz für ganz Südafrika einzuberufen.

Knüpft die Armutskonferenz an das Weltsozialforum an, das auch in Südafrika tagte?
Nein, denn die Sozialforen waren weitgehend eine Mittelstandsveranstaltung und haben das Leben der armen Menschen nicht verbessert. Bei der Armutskonferenz hingegen sollen die Betroffenen selber über die Themen entscheiden, die dort besprochen werden.

Welche Rolle spielt der Kampf um menschenwürdigen Wohnraum in Ihrer Arbeit?
Das ist der zweite zentrale Schwerpunkt unserer Arbeit. Wir unterstützen 38 Familien, die bereits 2007 zwangsgeräumt wurden. Ihre Hütten wurden für ein Wohnungsbauprojekt abgerissen und sie leben noch immer in einem Übergangswohnheim unter unzumutbaren Bedingungen ohne Wasser und Strom. Dabei wurde ihnen von der ANC-Verwaltung versprochen, dass sie in neue Häuser ziehen können. Wir haben die Familien vor Gericht vertreten und dort wurde ihr Recht auf ein Haus bestätigt. Dafür kämpfen wir jetzt.

Welches Verhältnis habt Ihr zum ANC?

Die meisten unserer Mitglieder haben den ANC wegen seiner Rolle im Kampf gegen die Apartheid unterstützt. Aber wir haben schnell gemerkt, dass er eine Politik gegen die Armen macht. Wir sind heute von sämtlichen Parteien unabhängig. Denn wir sind der Überzeugung, dass eine gesellschaftliche Veränderung nur durch Selbstorganisierung von unten und nicht durch Mitarbeit in den staatlichen Institutionen erreicht werden kann.

Welche Bedeutung hat das Massaker von Marikana Mitte August an den streikenden Bergarbeitern für Eure Arbeit?
Es hat einen Aufschrei der Empörung im ganzen Land gegeben. Vergleiche mit der Repression während des Apartheidregimes wurden gezogen. Wir waren darüber nicht überrascht, weil wir seit Jahren erfahren, wie die Regierung gegen die Armen vorgeht, wenn sie sich selber organisieren und dem vom ANC vorgegebenen Rahmen verlassen. Wir haben diese Gewalt selber schon erfahren.

Wie ist man gegen Euch vorgegangen?

2009 wurden Aktivisten unserer Organisation überfallen und ihre Häuser zerstört. Es gab Tote und Verletzte. Offiziell erklärt die Regierung, sie habe mit dem Überfall nichts zu tun und man wisse nicht, wer verantwortlich ist. Wir haben selber recherchiert und dadurch erfahren, dass der ANC hinter dem Überfall steckt. Er sollte uns einschüchtern und unsere Arbeit erschweren. Vor dem Überfall hatten wir 10 000 danach knapp 5000 aktive Mitglieder. Viele Menschen hatten Angst und haben sich aus der Stadtteilarbeit zurückgezogen. In letzter Zeit beteiligen sich viele von ihnen an unseren Aktionen.

In den letzten Monaten machten in Südafrika auch rassistische Überfälle auf Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Ländern Schlagzeilen. Wie geht ihr damit um?

Wir haben damals sofort in einer Stellungnahme erklärt, dass es sich um kriminelle Aktionen handle. Zudem klären wir die Menschen darüber auf, dass die Migranten niemand die Arbeitsplätze wegnehmen. Diese Aktionen fanden überall dort statt, wo es keine starke Stadtteilorganisierung gibt. In der Kennedy-Road-Siedlung, wo wir stark vertreten sind, gab es keine Überfälle.

Interview: Peter Nowak

aus: Vorwärts/Schweiz

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Mangelndes Wissen wird systematisch ausgenutzt

ARBEIT Beratungsstelle Faire Mobilität will EU-Bürgern in Fragen des Arbeitsrechts helfen

Da ist zum Beispiel Agneta G. Sechs Monate hatte die Frau aus Polen in Berlin rund um die Uhr einen Pflegebedürftigen in dessen Familie betreut. Dafür bekam sie einen Abschlag von monatlich 500 Euro. Vereinbart waren mit der Arbeitsvermittlerin aber 2.000 Euro. Als sie am letzten Tag des Arbeitsverhältnisses den restlichen Lohn einforderte, wurde sie im Haus eingeschlossen. Da die Vermittlerin keine neue Pflegekraft geschickt hatte, sollte Agneta G. weiterarbeiten. Mithilfe der Polizei konnte sie das Haus der Pflegefamilie verlassen und ihre Heimreise antreten. Den ausstehenden Lohn hat sie allerdings bis heute nicht erhalten. Mit Unterstützung der Berliner Beratungsstelle Faire Mobilität (FM) hat sie eine Klage eingereicht.

Das Projekt wurde im Oktober 2011 mit Unterstützung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) ins Leben gerufen. In Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg und München haben die Beratungsstellen bereits im vergangenen Jahr die Arbeit aufgenommen, Stuttgart startete im Februar dieses Jahres.

„Überall da, wo wir die Büros eröffnet haben, saßen schon in den ersten Tagen Menschen, um uns ihre Probleme zu schildern“, berichtet Dominique John, der Berliner Leiter des Gesamtprojekts, das sich vor allem an Beschäftigte aus mittel- und osteuropäischen Ländern richtet. „Unsere Berater und Beraterinnen sprechen mindestens eine osteuropäische Sprache, dazu Englisch und Deutsch.“

Faire Mobilität grenzenlos

In einer im Rahmen des Projekts erstellen Expertise zum Thema „Grenzenlose Faire Mobilität“ heißt es: „Die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit funktioniert in vielen Bereichen gut. In einigen Branchen dagegen, wie dem Baugewerbe, der Gebäudereinigung, der Schlachtindustrie, in den Pflegeberufen oder im Hotel- und Gaststättengewerbe, gibt es ein große Anzahl von Beschäftigten aus den mittel- und osteuropäischen Ländern, die aufgrund mangelnder Kenntnisse ihrer Rechte und einer geringen Verhandlungsmacht systematisch ausgenutzt werden.“

Oft haben die Betroffenen keine schriftlichen Verträge, sondern nur mündliche Vereinbarungen. Das erschwert die Durchsetzung ihrer Rechte. „Wir versuchen mit Verhandlungen und öffentlichen Druck die Forderungen der Beschäftigten durchzusetzen, um einen langwierigen juristischen Weg zu vermeiden“, sagt John.

Heimreise bezahlt

Doch das klappt nicht immer. So hätte ein Elektroausstatter für Großbaustellen Insolvenz angemeldet, nachdem circa 100 ungarische Beschäftigte ausstehende Löhne eingefordert hatten. Einigen der ArbeiterInnen hatte die Firma zu Weihnachten eine Heimreise bezahlt, um sie anschließend zu kündigen. „Ein durchaus gängiges Geschäftsmodell“, so John: „Den Leuten fehlen dann die Mittel und das Know-how, um nach Deutschland zurückzukehren und das ausstehende Geld einzuklagen.“

Einige der Betroffenen haben sich an die Berliner Beratungsstelle gewandt. In diesem Fall wird nun mit zuständigen Stellen der IG Metall und dem DGB-Rechtsschutz geklagt.

Obwohl die Beratungsstellen eigentlich für Beschäftigte aus mittel- und osteuropäischen Ländern zuständig ist, suchen immer wieder auch Arbeiter aus Spanien und Portugal Rat, beobachtet John. Sie versuchen, der wirtschaftlichen Krise in ihren Ländern zu entfliehen, und müssen nun in Deutschland um ihre Rechte kämpfen. PETER NOWAK

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F04%2F03%2Fa0129&cHash=f5cdd0c46740c5d444add97dfabfe979
Peter Nowak

McKinsey-Republik Deutschland

Eine McKinsey-Studie beschwört für Deutschland die „Goldenen Zwanziger“ Jahre

In den letzten Tagen häufen sich die Prognosen, die dem Wirtschaftsstandort Deutschland eine gute Perspektive bescheinigen. So geht eine OECD-Prognose von einem Wirtschaftswachstum in Deutschland von mehr als 2 Prozent aus.

Noch optimistischer sind die Autoren einer McKinsey-Studie, die Deutschland am Beginn eines anhaltenden Aufschwungs sieht. Die Autoren halten bis 2025 ein jährliches Wirtschaftswachstum von 2,1 Prozent in Deutschland für möglich. Dafür nennt die Studie vier Voraussetzungen: die Lösung der Eurokrise und die Konsolidierung der Staatshaushalte in der Eurozone, die Weiterentwicklung des deutschen Exportmodells, die Umsetzung der Energiewende und die Abmilderung des absehbaren Fachkräftemangels.

Im Detail werden viele Maßnahmen vorgeschlagen, die zur Zeit auf dem Wunschzettel der Wirtschaftsliberalen aller Parteien stehen und wohl nach den Bundestagswahlen sehr wahrscheinlich von einer großen Koalition angegangen werden. Aber letztlich ist egal, welche Konstellation nach den Wahlen an die Regierung kommt. Die in der McKinsey-Studie genannten Maßnahmen werden alle Parteien, die mitregieren wollen, als Doping für den Wirtschaftsstandort Deutschland umsetzen. Einzig die ideologische Begleitmusik, mit der die Maßnahmen der Bevölkerung schmackhaft gemacht werden, dürfte etwas variieren.

So wird eine rot-grüne Regierung ihre Förderung der Gleichberechtigung der Frauen und des Gendermainstreaming in den Mittelpunkt rücken, wenn die Wunschliste beim Punkt Fachkräftelücke abgearbeitet werden soll. dort werden unter anderem folgende Maßnahmen als gut für den Standort Deutschland genannt:

Aktivieren lassen sich zusätzliche Fachkräfte durch gezielte Migration, eine Steigerung der Partizipationsrate von Frauen, die Reintegration älterer Arbeitnehmer und gegebenenfalls auch die moderate (tarifliche oder freiwillige) Steigerung der Wochenarbeitszeit.

Beim ersten Punkt dürfte eine rotgrüne Regierung weniger ideologische Bedenken haben, aber auch Konservative wissen heute schon, dass es auch Zuwanderung gibt, die den Standort Deutschland nutzt. Beim Thema Einbeziehung der Frauen in die Wirtschaft hat die Union besonders schnell gelernt. Was selbst von der Taz als besonderes Verdienst von Angela Merkel gelobt wird, ist vor allem der Einsicht in die wirtschaftlichen Notwendigkeiten geschuldet. Wenn Frauen als Arbeitskräftereservoir benötigt werden, müssen eben manche altkonservativen Zöpfe abgeschnitten werden.

Auch die Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeit steht schon lange auf der Agenda sämtlicher Parteien, die die Deutschland-AG mitregieren wollen. Hier liegt auch der Grund, warum eigentlich vernünftige Forderungen nach einer 30-Stunden-Woche von der Politik und selbst von führenden DGB-Gewerkschaften heute so wenig aufgegriffen werden. Die Forderung würde sicher vielen Lohnabhängigen in Zeiten von Stress und Burnout-Syndrom nutzen. Doch in der Politik geht es eben nicht um das Interesse der Menschen, sondern um Standortsicherung, hierin sind sich die meisten Politiker mit den Autoren der Studie einig.

McKinsey-Stratege der Deregulierung

Da der Standort Deutschland auch einem großen Teil der Bevölkerung am Herzen liegt, dürften Politiker nicht einmal zu verbergen versuchen, dass sie eine Politik machen, die der Wunschliste einer Studie gerecht werden will und von einem Unternehmen stammt, das eine wichtige Rolle bei der Deregulierung der Arbeitsverhältnisse spielt. Es gab sogar vor einigen Jahren beim Cateringunternehmen Gate Gourmet am Düsseldorfer Flughafen einen monatelangen Streik, der sich gegen die Einführung der McKinsey-Methoden richtete.

Ein Beschäftigter beschreibt den Zusammenhang so:

Die Arbeitsbedingungen und das Betriebsklima hatten sich seit dem intensiven „Besuch“ der Kopflanger von McKinsey immer weiter verschlechtert. So wurde z.B. die Zahl der LKW-Fahrer von 90 auf 36 reduziert und dadurch, dass jetzt einer die Flugzeugbeladungen macht, was früher zu zweit gemacht wurde, hat sich die Arbeitshetze – und der Krankenstand – massiv erhöht. Rationalisierung im Fabrikstil funktioniert aber am Flughafen nicht, sondern lädt den durch Wechselschichten und Arbeitszeitkonten ohnehin schon hoch „flexibilisierten“ ArbeiterInnen noch zusätzlichen Stress auf, da es keine Pufferzeiten mehr gibt, in denen auftretende Probleme gelöst werden könnten.

Was hier ein Gate-Gourmet-Beschäftigter aus seiner subjektiven Sicht beschreibt, ist das Merkenzeichen von McKinsey. Es geht um Erreichung von Maximalprofit bei den Unternehmen zulasten der Beschäftigten. Doch Streiks gegen die Methode McKinsey sind bisher in Deutschland die Ausnahme geblieben, auch wenn der monatelange Arbeitskampf bei Gate Gourmet dafür gesorgt hat, dass die McKinsey-Methoden in die Kritik geraten sind. Vor allem der Kölner Rechtsanwalt und Publizist Detlef Hartmann hat hierzu wichtige theoretische Grundlagen geliefert:

Die Zurichtung des Individuums – des Selbst – für die kapitalistische Verwertung ist ein aktiver Prozess. Dieser Prozess wird in Strategiepapieren, etwa der Beratungsfirmen McKinsey und Bertelsmann, aber ebenso von einem ganzen Rattenschwanz von Instituten (teils universitär, teils außeruniversitär), Publizisten, Wissenschaftlern, EU Kommissionen, staatlichen wie halbstaatlichen Stellen formuliert, diskutiert und schlussendlich auf verschiedenen Ebenen umgesetzt.

So kann die Studie auch als eine Art Zwischenbericht gelesen werden. Es wird überprüft, wie weit die McKinseyanisierung in Deutschland schon vorangeschritten ist. Vor allem, dass der Auftraggeber der Studie kaum kritisiert wurde, macht deutlich, wie weit die Zurichtung des Selbst vorangekommen ist. Allerdings gab es dafür bekanntlich in Deutschland mit seiner Geschichte der Volksgemeinschaft auch besonders gute Voraussetzungen.

Die Selbstzufriedenheit der Eliten

Selbst kritische Stimmen blenden diesen Aspekt völlig aus. So sieht die taz-Kommentatorin Ulrike Hermann in der Studie vor allem eine Selbstzufriedenheit der Eliten:

Allseits macht sich satte Selbstzufriedenheit breit, und die realen Gefahren der Eurokrise werden unterschätzt.

Solche Kritik wird von der Präsentation im Manager Magazin geradezu herausgefordert . Dort heißt es in Bezug auf den Standort Deutschland: „Die fetten Jahre sind zurück“. Auch der Vergleich mit den angeblich goldenen Zwanziger Jahren ist historisch heikel, wenn man weiß, was dann folgte.

Doch die Kritik an solchen zweifelhaften historischen Reminiszenzen ist ebenso wohlfeil wie der Hinweis, dass die Krise mal wieder unterschätzt wird. Eine Kritik auf der Höhe der Zeit müsste aber auch in der Lage zu sein, darüber nachzudenken, dass der Kapitalismus in Deutschland mit Methoden à la McKinsey und Bertelsmann noch einmal einige fette Jahre erreichen kann und daran die Kritik ausrichten. Dazu müsste nicht die Krise, sondern der funktionierende Kapitalismus in den Mittelpunkt der Kritik gestellt werden. In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, die jetzt verklärend die goldenen genannt werden, haben Kapitalismuskritiker ihrer Zeit auch schon die damaligen Verhältnisse kritisiert, obwohl sie noch nicht wissen konnten, was darauf folgte.
http://www.heise.de/tp/artikel/38/38859/1.html
Peter Nowak

Gericht hält Hartz IV-Sätze für verfassungskonform

Ein Urteil des Bundessozialgerichts konterkariert Versuche von Erwerbslosengruppen, die Hartz IV-Sätze durch die Justiz zu steigern

„Regelbedarf und Bedarfe für Bildung und Teilhabe zusammengenommen decken den grundsicherungsrelevanten Bedarf von Kindern und Jugendlichen“. Mit dieser Begründung wies das Bundesozialgericht in Kassel am Donnerstag die Klage einer Delmenhorster Familie mit einem Kleinkind ab, die gegen die Hartz IV-Sätze geklagt hatte. Sie hatte auch schon beim Oldenburger Sozialgericht keinen Erfolg mit ihrer Klage.

Im Mittelpunkt ihrer Klage stand die Ermittlung des Hartz IV-Satzes für Kinder. Die Kläger argumentierten, es sei nicht nachvollziehbar, wie die Hartz IV-Sätze für die Kinder ermittelt werden. Die Nachvollziehbarkeit hatte aber das Bundesverfassungsgericht zu einem Essential eines mit der Verfassung vereinbaren neuen Hartz IV-Satzes erklärt. In der Folge vertraten einige Initiativen die Auffassung, dass es auf diesen Wege möglich ist, mit Hilfe der Justiz das Hartz IV-System zumindest zu reformieren.

Diese Bestrebungen dürfen durch das aktuelle Urteil einen Rückschlag erlitten haben. Nachdem im Jahr 2010 das Bundesverfassungsgericht die damaligen Hartz IV-Sätze für verfassungswidrig erklärt hatte und für die Neuberechnung bestimmte Grundsätze wie die Nachvollziehbarkeit aufgestellt hatten, sahen einige Initiativen auch weiter im juristischen Weg Chancen einer Erhöhung der Sätze, die politisch nicht durchsetzbar, weil nicht gewollt waren.


Zurück zur Politik

Im April 2012 erklärt eine Kammer des Berliner Sozialgerichts tatsächlich, dass die Hartz IV-Sätze um 36 Euro zu niedrig liegen und damit verfassungswidrig seien. Dabei handelte es sich um das erste Urteil, in dem es um die Verfassungsmäßigkeit der neuen Regelsätze ging. Doch die Vorstellung, dass damit die Hartz IV-Sätze juristisch schon gekippt sind, erwies sich als voreilig. Nur wenige Wochen später kam das Bundessozialgericht bereits zu der Auffassung, die Hartz IV-Sätze kollidieren nicht mit der Verfassung.

In diesem Fall hatte eine alleinlebende Frau geklagt, die mit der Berufung auf die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip 1.000 Euro im Monat forderte. Sie konnte das Bundesverfassungsgericht davon nicht überzeugen. Gerade in diesem Fall wird aber auch deutlich, wie illusionär es ist, die Forderung nach einem Grundeinkommen von 1.000 Euro im Monat auf den Gerichtsweg erreichen zu wollen, statt dafür politisch zu streiten, gesellschaftlichen Druck zu erzeugen und über dieses Umfeld vielleicht sogar Gerichtsentscheidungen beeinflussen zu können. Schließlich fließen in die Urteile und Entscheidungen der Gerichte durchaus auch gesellschaftliche Stimmungen mit ein.

So kann das Urteil von 2010, das die damaligen Hartz IV-Sätze beanstandete, durchaus als Reaktion auf ein allgemeines Ungerechtigkeitsempfinden interpretiert werden, das sich auf den Höhepunkt der Bankenkrise bis in konservative Medien hinein zum Ausdruck kam. Diese Gerechtigkeitsdebatte ist heute gesellschaftlich nicht verschwunden, aber spielt aktuell nicht die dominierende Rolle. Der Anwalt der klagenden Familie will den Instanzenweg weitergehen. Doch für aktive Erwerbslose sollte eine Konsequenz aus dem jüngsten Urteil eigentlich darin bestehen, ihre Forderungen wieder verstärkt in die politische Arena zu bringen, wie es beispielsweise 2010 mit der Kampagne Krach schlagen statt Kohldampfschieben geschehen ist und das Jobcenter dabei in den Mittelpunkt zu stellen.

Mittlerweile hat die Hamburger Jobcentermitarbeiterin Inge Hannemann öffentlich ihre Weigerung bekundet, erwerbslose Jugendliche und junge Erwachsene zu sanktionieren. So wurde nach Jahren vergeblicher Suche doch noch eine deutsche Fabienne gefunden, nach dem Vorbild der französischen Angestellten eines Arbeitsamtes, die bereits vor Jahren mit ihrer Ankündigung für Aufmerksamkeit sorgte, auf Sanktionen zu verzichten. Nicht juristische Entscheidungen, sondern gesellschaftliche Debatten haben in beiden Fällen dazu geführt.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/154022
Peter Nowak

Keiner muss allein zum Jobcenter

Initiative begleitet Hartz-IV-Empfänger und protokolliert Gespräche

Der Kühlschrank ist leer, das Konto ebenfalls, und das Jobcenter weigert sich, Geld zu überweisen. Dieser Albtraum vieler Erwerbsloser wurde für Bettina Kemper (Name geändert) zur Realität.

Viele Betroffene sind in dieser Situation überfordert und hilflos. Frau Kemper holte sich Unterstützung bei der Berliner Erwerbsloseninitiative Basta. Sie bietet jeden Mittwoch zwischen 10 und 13 und donnerstags zwischen 15 und 18 Uhr Beratung für Erwerbslose an.

»Die unübersichtlichen und immer repressiver werdenden Gesetze der so genannten Arbeitsmarktreform sorgen dafür, dass sich viele Betroffene als ohnmächtige Opfer einer willkürlich agierenden Behördenmaschinerie empfinden«, erklärte eine Basta-Mitbegründerin. Deshalb sei der Bedarf an Beratung groß. Ein Angebot der Gruppe ist die Begleitung von Erwerbslosen zu ihren Terminen im Jobcenter. Mit der Parole »Keine/r muss allein zum Amt« wird auf die rechtlichen Grundlagen hingewiesen. Jeder Erwerbslose hat das Recht, bis zu drei Begleiter seiner Wahl zum Termin mitzunehmen und muss so nicht mehr allein mit den Mitarbeitern der Jobcenter verhandeln. Ob die Begleitperson selber in die Verhandlungen eingreift oder nur zuhört und den Gesprächsverlauf protokolliert, entscheiden die Erwerbslosen selber. Der protokollierte Gesprächsverlauf des Termins von Frau Kemper beim Jobcenter Mitte liegt »nd« vor.

Danach bestätigte die zuständige Sachbearbeiterin, dass kein Geld überwiesen worden ist. Man wisse gar nicht, ob Kemper in der Wohnung lebt, die sie in dem Antrag als Adresse angibt. Ein Team von zwei Außenmitarbeitern, so die offizielle Bezeichnung der vom Jobcenter beauftragten Sozialdetektive, sei im Februar gleich drei Mal an der Wohnung gewesen, habe Frau Kemper aber nicht angetroffen. Dafür hätten die Mitarbeiter festgestellt, dass ihr Briefkasten gefüllt gewesen sei. Auch hätten Nachbarn auf Nachfragen deren Namen nicht gekannt.

Bettina Kemper weist die Vorwürfe zurück und spricht von »einer unangemessenen Unterstellung«. Der Briefkasten sei wegen eines Zeitungsabonnements voll gewesen. Sie sei nicht in ihrer Wohnung anzutreffen gewesen, weil sie in der Zeit an einer vom Jobcenter finanzierten Weiterbildung teilgenommen habe. Zudem hätte sie die Sozialdetektive auch nicht unangemeldet in die Wohnung gelassen, wenn sie Zuhause gewesen wäre.

Die Jobcentermitarbeiterin quittierte laut Protokoll diese Klarstellung mit der Bemerkung, wenn sie den Außendienst nicht in die Wohnung lasse, würden die Gelder von Frau Kemper erst recht gekürzt. Ein weiterer Streitpunkt zwischen der Erwerbslosen und dem Jobcenter ist das Namensschild am Briefkasten. »Wenn drei Namen drauf stehen, dann wird auch die Miete gedrittelt. Wir zahlen also höchstens noch die Hälfte von dem, was bis jetzt gezahlt wurde«, wird die Mitarbeiterin des Jobcenters im Protokoll zitiert. »Am Briefkasten hängen drei Namen, weil eine Freundin des Hauptmieters noch Post an diese Adresse bekommt«, begründete Frau Kemper den Sachverhalt. »Wenn selbst ein Briefkastenschild darüber entscheiden kann, ob das Jobcenter die Miete übernimmt, ist die Belastung für die Betroffenen besonders groß«, so die Basta-Aktivistin.

Erwerbsloseninitiative Basta, Wedding, Schererstraße 8
http://www.neues-deutschland.de/artikel/816849.keiner-muss-allein-zum-jobcenter.html
Peter Nowak

Opel-Belegschaft will nicht für die Autokrise zahlen

Was das Nein der Bochumer Opel-Beschäftigten mit dem Nein des zypriotischen Parlaments zu den EU-Troika-Plänen zu tun hat

Die Belegschaft von Opel Bochum hat vor einigen Tagen mit einer Mehrheit von über 76 Prozent ein Abkommen abgelehnt, das die IG-Metall mit dem Opel-Management ausgehandelt hatte. Es hat den hochtrabenden Titel „Deutschlandplan“ getragen. Die Beschäftigten sollten dort weiteren Verzichtsleistungen zustimmen, darunter einem Lohnstopp und der Streichung von übertariflichen Entgeltbestandteilen. Im Gegenzug wollte das Management die Opel-Produktion bis 2016 in Bochum belassen und eine Transfergesellschaft einrichten.

In der Regel werden solche Verzichtsleistungen für den Standort von den Lohnabhängigen mehr oder weniger zähneknirschend akzeptiert, gerade dann, wenn eine DGB-Gewerkschaft als Vertragspartner mit im Boot ist. Doch bei Opel Bochum lief es anders. Die Mehrheit der Belegschaft hatte genug vom ewigen Verzicht und zeigte nicht nur dem Management, sondern auch der IG-Metall die kalte Schulter. Daher ist die Einschätzung eines taz-Kommentators, wonach mit dem Votum aus Bochum auch die IG-Metall eine Ohrfeige bekommen habe, völlig korrekt. Schließlich hatte auch die IG-Metall den Standort Bochum längst aufgegeben und sich auf den Erhalt von Rüsselsheim konzentriert.

Sechs Tage der Selbstermächtigung

Das Nein aus Bochum kommt nicht überraschend. Mehr als zwei Jahrzehnte hatte die linksgewerkschaftliche Gruppe Gegenwehr ohne Grenzen in dem Werk eine Basis. Sie lehnte jeden Standortnationalismus ab und setzte sich schon früh für einen länderübergreifenden Kampf aller Beschäftigten gegen die Konzernpläne ein. Im Oktober 2004 erregte ein Großteil der Opel-Belegschaft mit einem sechstägigen wilden Streik bundesweit große Aufmerksamkeit (Details können in dem im Verlag Die Buchmacherei herausgegebenen Buch Sechs Tage der Selbstermächtigung nachgelesen werden).

Nach dem Schließungsbeschluss vom 11. Dezember letzten Jahres war die Stimmung bei Opel zunächst gedämpft. Ca. 100 Beschäftigte beteiligten sich an einer Demonstration am gleichen Tag. Am 14. Dezember rief die IG Metall zu einer Kundgebung vor dem Tor 4 auf. „Die meisten Reden verbreiteten Zweckoptimismus“, erklärte der langjährige Betriebsrat und GoG-Aktivist Wolfgang Schaumberg. Er registriert die Veränderungen im Opel-Werk sehr genau und kennt auch die Ursachen.

„Heute liegt der Altersdurchschnitt im Werk bei über 47 Jahren. Gerade die Älteren hoffen auf eine Abfindung und rechnen sich schon aus, wie sie mit Abfindungen und Arbeitslosengeld bis zum Rentenalter kommen“, beschrieb er Situation. Weil die Komponentenfertigung für andere Werke aus Bochum abgezogen wurde, könnte ein Ausstand heute nicht mehr, wie 2004, die Opel-Produktion in ganz Europa lahmlegen. Dieser durch die technologische Entwicklung begünstigte Verlust der Produzentenmacht hat auch dazu geführt, dass viele Streikaktivisten von 2004 Abfindungen angenommen und sich aus dem Betrieb verabschiedet haben.

Der „Arbeitermilitante“, der, wie der vor einigen Jahren verrentete Wolfgang Schaumberg, über Jahrzehnte im Betrieb arbeitete und seine Erfahrungen an die jeweils nächste Generation weitergab, war auch bei Opel schon vor den Schließungsplänen ein anachronistischer Typus geworden. Schließlich haben die Bochumer Opelaner den Machtverlust selber erfahren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Zahl der Belegschaftsmitglieder kontinuierlich zurückgegangen. Die Beschäftigten haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ihr Verzicht nicht etwa belohnt, sondern mit weiteren Kürzungs- und Schließungsplänen beantwortet wurde. Das Nein zu einem erneuen Verzicht war dann nur eine logische Konsequenz.

Die Weigerung

„Die Alternative wäre gewesen, dass wir noch ein paar Tage länger hätten produzieren können – mit einer schrumpfenden Belegschaft“, beschrieb der durchaus nicht als besonders radikal bekannte Bochumer Opel-Betriebsratsvorsitzende Reiner Einenkel den von der IG-Metall beworbenen Vertrag.

Dass sich die Belegschaft nicht widerspruchslos fügen würde, war bereits im letzten Jahr zu erkennen. So empfahl ein oppositioneller Betriebsrat den Beschäftigten auf einer Kundgebung am 14. Dezember, sich an den belgischen Ford-Kollegen aus Genk ein Beispiel zu nehmen. Die sind Anfang November nach der Ankündigung der Schließung ihres Werkes spontan zum Ford-Werk nach Köln gefahren und haben dort protestiert. Die Aktion ist in den Medien in Deutschland als Randale hingestellt worden und die belgischen Arbeiter wurden von der Polizei erkennungsdienstlich behandelt. Die mangelnde Solidarität der IG-Metall sorgte an der Gewerkschaftsbasis durchaus für Unmut. Manche der Beschäftigten werden sich an diese Aktionen erinnert haben, als sie sich jetzt bei der Abstimmung weigerten, dem eigenen Verzicht aktiv zuzustimmen.

Eine Form der Krisenproteste

Das Management hat die Ablehnung mit der Bemerkung kommentiert, man bedauere, dass die Belegschaft ein attraktives Angebot ausgeschlagen hat und werde nun das Opel-Werk bereits 2014 schließen. Bei großen Teilen der Belegschaft wird diese Ankündigung als Bluff aufgefasst. Das Management könne sich eine Schließung im nächsten Jahr gar nicht leisten und werde weiter verhandeln, lautet eine weitverbreitete Einschätzung. Doch was ist, wenn sie nicht zutrifft und das Werk tatsächlich geschlossen werden soll? Gibt es dann eine Werksbesetzung?

Solche Fragen sollten sich die Beschäftigten in Bochum zumindest stellen. Denn sie haben mit ihrer Weigerung, weiter für den Standort Verzicht zu üben, in Deutschland etwas Seltenes getan. Sie haben Nein gesagt und dem Druck wiederstanden, der auf sie ausgeübt wurde.

In dieser Hinsicht kann man das Nein zum Verzichtsplan in Bochum mit dem Nein des zypriotischen Parlaments zu dem von der Troika festgelegten Krisenplan vergleichen. In beiden Fällen waren sich fast sämtliche Medien und Politiker einig, eine Annahme der Pläne ist sowohl in Zypern als auch in Bochum alternativlos, eine Ablehnung dagegen würde schlimme Folgen haben. Im Fall Zypern will die EU-Troika nun mit allen Mitteln durchsetzen, dass die renitenten Parlamentarier doch noch einen Rückzieher machen und den EU-Plan akzeptieren. Solche Pressionen könnten auch der Belegschaft in Bochum noch bevorstehen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153986
Peter Nowak

Lohngeprellt und fern der Heimat

Die Beratungsstellen des DGB-Projekts »Faire Mobilität« helfen ausländischen Beschäftigten

Vor einigen Wochen hat die Unterbringung von in Spanien angeworbenen Beschäftigten in deutschen Amazon-Filialen für Schlagzeilen gesorgt. Dabei handelt es sich keinesfalls um Ausnahmen. In Deutschland müssen viele Beschäftigte aus EU-Ländern um ihre Rechte kämpfen.
Sechs Monate hatte Agneta G. aus Polen rund um die Uhr einen Pflegebedürftigen in dessen Familie betreut. Ausgezahlt bekam sie einen Abschlag von monatlich 500 Euro. Vereinbart waren mit der Arbeitsvermittlerin 2000 Euro. Als sie am letzten Tag des Arbeitsverhältnisses den restlichen Lohn einforderte, wurde sie im Haus eingeschlossen. Da die Vermittlerin keine neue Pflegekraft geschickt hatte, sollte sie weiterarbeiten. Mit Hilfe der Polizei konnte G. ihre Heimreise antreten. Auf den ausstehenden Lohn wartet sie bis heute. Mit Unterstützung der Berliner Beratungsstelle »Faire Mobilität« wurde ihr Fall an die Zollbehörden übergeben – Ausgang bislang ungewiss.

Das DGB-Projekt »Faire Mobilität« wurde in im August 2011 ins Leben gerufen. Ziel ist, für Beschäftigte aus den mittel- und osteuropäischen EU-Staaten gerechte Löhne und faire Arbeitsbedingungen durchzusetzen. In Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg, München und Stuttgart gibt es schon Beratungsstellen, im März 2013 wird in Dortmund ein Büro eröffnet. »Überall da, wo wir die Büros eröffnet haben, saßen schon in den ersten Tagen Menschen, um uns ihre Probleme zu schildern«, sagt der Leiter des Berliner Büros und Projektmanager Dominique John gegenüber »nd«.

In einer von ihm erstellen Expertise » heißt es: «Die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit funktioniert in vielen Bereichen gut. In einigen Branchen dagegen gibt es ein große Anzahl von Beschäftigten aus den mittel- und osteuropäischen Ländern, die aufgrund mangelnder Kenntnisse ihrer Rechte und einer geringen Verhandlungsmacht systematisch ausgenutzt werden.»«

Oft haben die Betroffenen keine schriftlichen Verträge, sondern nur mündliche Vereinbarungen. Das erschwert die Durchsetzung ihrer Rechte. Doch die Beratungsstellen können Erfolge vorweisen: Im Jahr 2012 konnte die IG BAU 52 polnischen Arbeitern, die für Abbrucharbeiten eines Klinikums verantwortlich waren, 73 000 Euro vorenthaltenen Lohn auszahlen. Vorausgegangen waren intensive Verhandlungen der Gewerkschaft mit dem Bauunternehmen, dem Generalunternehmer und den öffentlichen Auftraggebern. Den Beschäftigten war gekündigt worden, nachdem sie ihren Lohn eingefordert hatten.

»Wir versuchen mit Verhandlungen und öffentlichen Druck die Forderungen der Beschäftigten durchzusetzen, um einen langwierigen juristischen Weg zu vermeiden«, betont John. Doch das klappt nicht immer. So hätte die Firma Condor Elektronik Insolvenz angemeldet, nachdem 150 ungarische Beschäftigte ausstehende Löhne eingefordert hatten. Der Arbeitgeber hatte ihnen zu Weihnachten einen Heimflug bezahlt und ihnen anschließend gekündigt. Nur einige der Betroffenen haben sich an die Beratungsstelle gewandt. Auch Arbeiter aus Spanien und Portugal suchten immer wieder Rat, beobachtet John. Sie versuchen der wirtschaftlichen Krise durch Beschäftigung in Deutschland zu entfliehen und müssen in hier um ihre Rechte kämpfen.

Dazu gehören auch Pedro Sanchez Nula und Sergio Barbero Escavy. Sie haben fast ein Jahr für die Firma Messeshop, die ihren Sitz in Eimersleben bei Magdeburg hat, gearbeitet und statt Lohn nur kleine Abschläge bekommen. Die beiden haben sich an die anarchosyndikalistische Basisgewerkschaft Freie Arbeiter Union (FAU) gewandt, die kürzlich eine Sektion »ausländische Beschäftigte« gründete. Anfang März übergaben die Gewerkschafter dem Unternehmen eine Petition, in der die Auszahlung der ausstehenden Löhne gefordert wird. Die Initiative hat die Firma Messeshop bisher ebenso ignoriert wie Presseanfragen.
www.neues-deutschland.de/artikel/816583.lohngeprellt-und-fern-der-heimat.html
Peter Nowak

Guten Morgen, liebe Sorgen

Deutschland feiert das zehnjährige Jubiläum der Agenda 2010.

In den vergangenen Tagen häuften sich in den Medien Reportagen, in denen Journalisten Erwerbslose beim Einkaufen oder auf dem Weg zur Essenstafel begleiteten. Schließlich durften zum zehnjährigen Jubiläum der Agenda 2010 auch die Menschen nicht fehlen, die mit und unter Hartz IV leben müssen. In der Regel ähnelt sich der Tenor solcher Berichte. Das Leben mit Hartz IV ist hart, aber man kann damit überleben. Den Porträtierten wird der Status moderner Trümmerfrauen zugesprochen, die auch in widrigen Zeiten die Ärmel hochkrempeln und klaglos anpacken. Schließlich geht es nicht nur um individuelle Schicksale, sondern um Deutschland. Die Bild-Zeitung brachte es am deutlichsten auf den Punkt. Unter dem Motto »Zehn Jahre nach der Jobrevolution« wird dort das Hartz-IV-Jubiläum begangen und am Ende eines Artikels, in dem die Härten der Agenda 2010 nicht einmal verschwiegen werden, kommt der CDU-Arbeitsmarktexperte Karl Schiewerling zu Wort: »Die Hartz-Gesetze haben eine Menge an Flexibilität gebracht – und sie sind die Grundlage für die momentan starke wirtschaft­liche Stellung Deutschlands in Europa. Das ist gut.«
Zehn Jahre Prekarisierungspolitik. Protest gegen die Agenda 2010 vor dem Symposium der Friedrich-Ebert-Stiftung, das vorige Woche anlässlich des Jubiläums stattfand (Foto: PA/dpa/Maurizio Gambarini)

Darin ist Schiewerling sich mit der FDP ebenso einig wie mit einer großen Mehrheit der SPD, die im Vorwahlkampf den Hartz-IV-Kanzler Gerhard Schröder reaktivierte. Schließlich pocht die SPD darauf, dass unter ihrer Ägide jene Maßnahmen auf den Weg gebracht wurden, die seither angeblich Deutschlands Aufstieg befördert haben. Allein die Grünen wollen lediglich mit am Kabinetts­tisch gesessen haben, als die Agenda 2010 beschlossen wurde. Sie hätten sich einen Mindestlohn dazu gewünscht, sagt Jürgen Trittin heute. Dabei hatten 2004 selbst die Gewerkschaften einen Mindestlohn noch als Eingriff in die Tarifautonomie abgelehnt. Erst einige Jahre nach der Einführung der Agenda 2010 hatte sich der Niedriglohnsektor in einigen Branchen dermaßen ausgeweitet, dass mehrere Einzelgewerkschaften einen Mindestlohn zu verfechten begannen.

Anlässlich des Hartz-IV-Jubiläums meldeten sich auch in vielen Medien Ökonomen und Politiker zu Wort, die darüber aufklären wollen, dass die Agenda 2010 keinen so großen Anteil am neuen deutschen Wirtschaftswunder trage, wie gerne behauptet wird. So betätigt sich der zum Club der sogenannten Wirtschaftsweisen zählende Ökonom Peter Bofinger in der Taz als Entzauberer des Mythos: »Der Erfolg der deutschen Wirtschaft hat mit den Reformen nichts zu tun. Er verdankt sich dem Export deutscher Autos nach China und Indien.« Solche Hartz-IV-Kritiker sehen vor allem den Beitrag der Facharbeiter für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu wenig gewürdigt.

Aber nicht nur Politiker fast aller Parteien, sondern auch viele Erwerbslose sind der Meinung, dass Opfer gebracht werden müssen, um Deutschlands Stellung zu halten. Mit dieser Ideologie hat schließlich die deutsche Volksgemeinschaft im vorigen Jahrhundert ganz an­dere Zeiten überstanden. Wer einfach nur ein schönes Leben möchte, wird von einem Bündnis aus Mob und Boulevard als »Florida-Rolf« oder »Deutschlands frechster Arbeitsloser« an den öffentlichen Pranger gestellt. Schließlich verübt er in den Augen der braven Bild-Leser ein besonders schweres Verbrechen: Er will keine Opfer für Deutschland bringen. Gern melden sich die großen und kleinen Sozialdetektive zu Wort, die den erwerbslosen Nachbarn beim Jobcenter anzeigen, weil dieser vermeintlich Nebeneinkünfte bezieht. Dort findet sich in der Regel genügend Personal, das sich nicht lange bitten lässt und Erwerbslosen sogar die ALG-II-Leistungen vollständig streicht.

Eine Arbeitsvermittlerin wie Fabienne Brutus war in Deutschland lange nicht zu finden. Die Mitarbeiterin der französischen Agentur für Arbeit weigerte sich 2007, Erwerbslose zu sanktionieren, und ging an die Öffentlichkeit. Unter dem Motto »Fabienne gesucht« forderten auch in Deutschland Erwerbsloseninitiativen die Mitarbeiter von Jobcentern dazu auf, dem Beispiel der französischen Jobvermittlerin zu folgen und sich ebenfalls gegen die Zumutungen des Hartz-IV-Regimes auszusprechen. Kürzlich hat die Hamburger Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann erklärt, keine Sanktionen mehr gegen junge Erwerbslose zu verhängen. Auf ihrem Blog beschreibt sie die Zumutungen des Hartz-IV-Regimes, ohne sie mit dem Aufstieg Deutschlands zu rechtfertigen, und teilt mit, dass die Mitarbeiter der Jobcenter beim Umgang mit den Sanktionen durchaus einen Ermessungsspielraum haben, den sie nun nutze. Erfreut, endlich eine »deutsche Fabienne« gefunden zu haben, bekundeten zahlreiche Erwerbslose Hannemann ihre Solidarität, als sie wegen ihrer Kritik vom Jobcenter gerügt werden sollte. Dabei hätte das Personal der Jobcenter auch eigene Gründe, sich gegenüber den Erwerbslosen solidarischer zu zeigen. So hat der Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit in einem Schreiben von Anfang März, das der Jungle World vorliegt, eine von den Personalräten geplante Unterschriftenaktion gegen befristete Arbeitsverhältnisse in den Jobcentern untersagt, weil sie »dem gesetzlichen Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Personalvertretung und Dienststellenleitung widerspricht«.

Was anlässlich des Hartz-IV-Jubiläums in den Medien kaum thematisiert wurde, war der selbst­organisierte Widerstand von Erwerbslosen. Dabei brachte der Frankfurter Sozialwissenschaftler Harald Rein erst vor wenigen Wochen die Dokumentation »Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest 1982–2012« heraus. Das Buch präsentiert nicht nur alle Formen der Erwerbslosenproteste der vergangenen Jahre, sondern leistet auch einen historischen Rückblick auf einen Zeitraum von fast 100 Jahren. So dürfte wenig bekannt sein, dass sich nach der Novemberrevolution neben Arbeiter- und Soldatenräten auch Erwerbslosenräte gründeten und dass »wilde Cliquen« von Erwerbslosen in der Weimarer Republik Zwangsräumungen verhinderten. Anschaulich werden auch die Proteste bei der Eröffnung des als »Hungerburg« bezeichneten Arbeitsamts im Berliner Stadtteil Neukölln im Jahr 1932 geschildert.

Diese Aktivitäten kann man als Vorbilder für die »Zahltag«-Aktionen bezeichnen, die seit 2007 von Köln ausgehend immer wieder kurzfristig für Schlagzeilen sorgen. Hier schließen sich Erwerbslose zusammen und fordern von den Jobcentern die Auszahlung von Geldern, die Bearbeitung von Anträgen und das Ende von Sanktionen. Vorige Woche organisierte der »Freundeskreis Bert Neumann« im Jobcenter von Forst den ersten »Zahltag« in Ostdeutschland. Der Kreis gründete sich zur Unterstützung des Erwerbslosen, dem seit dem 1. Januar für drei Monate das Arbeits­losengeld II vollständig gestrichen worden war, weil er einen Computerkurs abgebrochen hatte (Jungle World 5/2013). Obwohl der Erwerbslose nachweislich unter gesundheitlichen Problemen leidet, wurde die Sanktion nicht aufgehoben. Im Unterschied zu vielen anderen ging Neumann an die Öffentlichkeit und fand Menschen, die ihn unterstützen. »Wir wollen deutlich machen, dass die Sanktion immer Einzelne betrifft, aber alle gemeint sind«, sagt Erik Hofedank, der Pressesprecher des Freundeskreises.
Dass es zehn Jahre nach der Verkündung der Agenda 2010 auch Menschen gibt, die nicht Deutschland, sondern Bert Neumann sein wollen, und dass mittlerweile auch eine »Fabienne« in einem deutschen Jobcenter gefunden wurde, sind die erfreulichen Nachrichten dieses unerfreulichen Jubiläums
http://jungle-world.com/artikel/2013/12/47359.html
Peter Nowak

Die Armut der Anderen


Die Kritik der Opposition am Armutsbericht der Bundesregierung konzentriert sich auf Nebensächlichkeiten. Kritik an der Armut selbst oder an ihren Ursachen gibt es dagegen kaum.

»FDP schafft Armut in Deutschland ab – zumindest auf dem Papier.« So oder so ähnlich könnte die Debatte der vergangenen Wochen zusammengefasst werden. Bereits Ende November hatten Oppositionsparteien, Gewerkschaften und soziale Initiativen empörte Pressemitteilungen verfasst, als bekannt geworden war, dass der ursprüngliche Entwurf des alle vier Jahre vom Bundesarbeitsministerium veröffentlichten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung auf Druck der FDP entschärft worden war. Jetzt wurde dieser Bericht über »Lebenslagen in Deutschland« in seiner endgültigen Form veröffentlicht und die Kritiker setzten sich erneut in Szene.

Die FDP habe sich durchgesetzt und der Bericht schöne die soziale Wirklichkeit in Deutschland, lautet die meist eher moderat vorgetragene Kritik. Sigmar Gabriel, der sich als Vorsitzender der SPD schon ganz im Wahlkampfmodus befindet, fühlte sich gar an die Praktiken »totalitärer Staaten« erinnert, wo die Wirklichkeit »gefälscht, Statistiken verändert, retuschiert und Zensur ausgeübt« werde.

Davon kann im Armutsbericht allerdings keine Rede sein. Tatsächlich sind jedoch einige prägnante Aussagen aus der Zusammenfassung des Berichts in den hinteren Teil gewandert – darunter die Feststellungen, dass vier Millionen Beschäftigte in Deutschland für einen Stundenlohn von weniger als 7,50 Euro arbeiten oder dass die Privatvermögen in Deutschland ungleich verteilt sind.

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU), deren Mitarbeiter für die ursprüngliche Version des Berichts verantwortlich waren, wies die Kritik vehement zurück. Ihre Erklärung zu der Veränderung des Berichts ist so vage, wie es in der Politik üblich ist. »Die vorliegenden Daten belegen eine positive Entwicklung der meisten Lebenslagen in Deutschland. Es gibt aber auch Befunde im vierten Armuts- und Reichtumsbericht, die Handlungsbedarf signalisieren«, lautet ihre Stellungnahme, die auch von einem rot-grünen Arbeitsministerium nicht wesentlich anders formuliert worden wäre. Schließlich ging in der aufgeregten Debatte um die unterschiedlichen Fassungen fast gänzlich unter, welche Zeiträume in dem neuen Armutsbericht eigentlich verglichen wurden. Für die größte Oppositionspartei ein echter Glücksfall, denn der Armutsbericht – ob nun in der alten oder der neuen Fassung – vergleicht den Zustand im Jahr 1998, also dem Jahr, als die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder an die Regierung kam, mit dem des Jahres 2008, also einer Zeit, in der zwar eine große Koalition die Regierung stellte, Arbeits- und Finanzministerium aber immer noch in den Händen der SPD waren.

Die gespielte Empörung der Opposition lässt sich daher wohl eher unter der Rubrik »Wahlkampfgetöse« verbuchen. Kritisiert wird von ihr nur, dass der Bericht von der ersten Fassung bis zur Veröffentlichung verändert wurde. Dabei müsste die erste Frage eigentlich lauten, ob es überhaupt einen Armutsbericht braucht, um über die gegenwärtige soziale Lage in Deutschland aufzuklären. Schließlich muss man nur mit wachen Augen durch eine beliebige Großstadt gehen, um etwas über Armut in Deutschland zu erfahren. Immer mehr Menschen leben vom Flaschensammeln oder dem Verkauf von Obdachlosenzeitungen, und die Vorräume vieler Bankfilialen sind – wenn sie nicht »aus Sicherheitsgründen« um Mitternacht abgeschlossen werden – in Winternächten von obdachlosen Schlafgästen belegt. Wer sich über Armut in Deutschland ein Bild machen will, kann auch – bevorzugt am Monatsende – ein Jobcenter besuchen und zuschauen, wie die Menschen dort Essensgutscheine abholen wollen, weil sie keinen Cent mehr haben. Auch ein Besuch bei einer der vielen »Tafeln«, bei denen Bedürftige von den Supermärkten entsorgte Lebensmittel abholen, wäre ein geeigneter Ansatzpunkt, um etwas über Armut in Deutschland zu erfahren.

Doch nur eine Minderheit der Armen ist in der Öffentlichkeit sichtbar. Längst ist die Verelendung auch in der Mittelschicht angekommen, die jedoch die eigene Misere möglichst zu verbergen versucht. In der Taz etwa kam vor einigen Wochen ein Augenarzt aus Ulm zu Wort, der eine Praxis für verarmte Angehörige der Mittelschicht eröffnet hat. Er beschreibt seine Patienten als »ganz bürgerliche Leute, die sauber gearbeitet haben und dann plötzlich arbeitslos wurden oder bankrott gegangen sind«. Ehemals Selbstständige seien ebenso darunter wie Akademiker. Der Arzt berichtet exemplarisch über einen dieser Armutsfälle: »Einer ist ein ehemaliger Lehrer, der seine Medikamente nicht mehr zahlen kann. Die Frau hatte Krebs, und sie haben, nachdem nichts mehr half, Chemo gemacht mit ausländischen Ärzten, Akupunktur usw., er ist dabei ausgenommen worden. Das ganze Geld war weg. Und nun kriegte er den grünen Star, die Kasse verlangt soundso viel Selbstzahlung, was er nicht leisten kann. Er kommt regelmäßig sehr gepflegt mit Anzug und Krawatte in die Praxis und bekommt von mir kostenlos seine Tropfen.«

Wer also etwas über die wachsende Armut in Deutschland erfahren will, ist auf die Lektüre des Armutsberichts wahrlich nicht angewiesen. Auch das Scheingefecht von Regierung und Opposition über die Frage, wer die Verantwortung dafür zu tragen habe, dass diese oder jene Passage verändert oder in den hinteren Teil verfrachtet worden ist, geht am Kern des Problems vorbei. Stattdessen müsste über die Ursachen der wachsenden Armut in Deutschland diskutiert werden. Hierbei stünden aber nicht nur die derzeitige Bundesregierung und insbesondere die FDP in der Verantwortung, sondern auch SPD und Grüne. Schließlich fällt die Einführung der Agenda 2010, die den Niedriglohnsektor erst richtig expandieren ließ, ebenso in die rot-grüne Ära wie der Boom im Bereich der Leiharbeit und die deutliche Senkung des Höchstsatzes bei Einkommenssteuer.

Zudem sollte bei einer Debatte über den Armutsbericht die europäische Dimension des Problems nicht vernachlässigt werden. Schließlich verordnet die deutsche Regierung mit Unterstützung der Oppositionsparteien SPD und Grüne, die nur gelegentlich Detailkritik üben, der gesamten Euro-Zone eben jenes Wirtschaftsmodell, das in Deutschland zur Ausbreitung der Armut führte. Die Folgen in den Ländern der europäischen Peripherie sind bekannt. Dennoch wurde die Debatte darüber nach der Veröffentlichung des Armutsberichts kaum geführt, stattdessen wurden die unterschiedlichen Fassungen zum Skandal aufgeblasen. Damit ist die Differenz zwischen Regierung und Opposition exakt benannt. Nicht die Existenz von Armut ist für sie das Problem, sondern die Art, wie man über sie berichtet.

Nur wenige Tage nach der zweiten Aufregung um Formulierungen im Armutsbericht tagte in Berlin der 19. Kongress Armut und Gesundheit. Mehr als 2 000 Teilnehmende diskutierten dort und stellten einen sehr direkten Zusammenhang zwischen Armut, Krankheit und frühem Tod her. Bei Alleinerziehenden mit Kindern in einem Alter von bis zu drei Jahren liege das Armutsrisiko bei über 50 Prozent. Bei Menschen mit niedriger Schulbildung und ohne berufliche Ausbildung sei es jeder Vierte, der an oder unter der Armutsgrenze lebe, hieß es dort in einer Erklärung. »Statistisch gesehen werden arme Menschen häufiger krank und sterben früher. Frauen, die in Armut leben, haben eine um acht Jahre kürzere Lebenserwartung als sozial Bessergestellte, bei Männern sind es sogar elf Jahre«, schrei­ben die Veranstalter des Kongresses und benennen damit Sachverhalte, die weder in der ersten noch in der letzten Fassung des Armutsberichts formuliert wurden.

Diese Fakten aber fanden in der Medienöffentlichkeit längst nicht das Echo, das die Debatte um die unterschiedlichen Versionen des Armutsberichts hervorrief. Auch an Darstellungen über die Altersarmut haben wir uns längst gewöhnt. Schließlich sind Renten, von denen man nicht ­leben kann, nur die logische Fortsetzung der Hartz-IV-Politik. Schon jetzt versuchen auch Rentner mit Minijobs ihre kärglichen Einnahmen aufzubessern. Für die Unternehmen dagegen ist es ein gutes Geschäft, wenn das Erreichen des Rentenalters keine Grenze mehr für die Ausbeutung der Menschen darstellt. Armut ist also durchaus ein Thema in der deutschen Öffentlichkeit. Der Schwerpunkt dabei liegt jedoch meist auf den unterschiedlichen davon betroffenen Gruppen, die zudem noch häufig isoliert voneinander betrachtet werden. Dabei müsste die Kritik auf die kapitalistisch verfasste Gesellschaft zielen, die Armut für viele ebenso hervorruft wie Reichtum für Wenige.
http://jungle-world.com/artikel/2013/11/47319.html
Peter Nowak

Wann kommt die Rente mit 69?

Eine von der Bertelsmannstiftung in Auftrag gegebene Studie wird für eine solche Debatte instrumentalisiert

Wenn von Reformen die Rede ist, kann man schon seit Jahrzehnten voraussagen, dass damit neue Belastungen für viele Menschen angekündigt werden. Das zeigt sich am Medienceho einer von der Bertelsmannstiftung in Auftrag gegebenen Studie zur Zukunft des Rentensystems in Deutschland, in der für einschneidende Reformen geworben wurde. Erstellt wurde die Studie von dem Bochumer Sozialwissenschaftler Martin Werding. Dort werden durchaus Forderungen erhoben, wie sie auch von Vertretern eines solidarischen Rentensystems schon länger vertreten wurde. So sollen auch Beamte und Selbstständige in das Rentensystem einzahlen, um die Rentenfinanzierung auf eine breitere Grundlage zu stellen.

Die FAZ, hingegen stellte in ihrer Überschrift eine andere Forderung ins Zentrum: „Die Rente mit 69 wird bald nötig“. Tatsächlich klingen die Töne in der Studie alarmistisch: „Wenn die geburtenstarken Jahrgänge 1955 bis 1970 demnächst aus dem Berufsleben ausscheiden, wird das Niveau der Renten in Deutschland weiter sinken und der Beitragssatz steigen müssen. Um eine langfristige Unterfinanzierung der gesetzlichen Rentenkassen zu verhindern, reichen einzelne Veränderungen nicht aus, sondern nur ein Paket an Maßnahmen.“

Welchen Stellenwert hat die Demografie in der Rentendebatte?

Tatsächlich wird in der Studie sehr stark mit dem demographischen Faktor argumentiert:

„Während heute der Anteil der über 65-Jährigen bei 30 Prozent liegt, sieht die Prognose für2030 einen Anteil von 49 Prozent und für 2060 von 63 Prozent. Damit entsteht spätestens ab 2030 ein neuer Anpassungsbedarf in der gesetzlichen Rentenversicherung. Zwar werden sich bis 2030 die Veränderungen von Beitragssatz und Rentenniveau in Grenzen halten. So wird der Beitragssatz auf 21,3 Prozent ansteigen, während das Rentenniveau auf 45,2 Prozent absinkt. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Geburtenrate gleichbleibt, die Lebenserwartung nur zwei Jahre pro Dekade steigt und die Nettozuwanderung bei durchschnittlich 150.000 pro Jahr liegt. Die weitere Fortschreibung dieser Größen bis zum Jahr 2060 würde allerdings dazu führen, dass der Beitragssatz auf 27,2 Prozent ansteigen muss, wenn wenigstens noch ein Rentenniveau von 41,2 Prozent erreicht werden soll.“

Sozialwissenschaftler wie Christoph Butterwegge wenden sich scharf gegen demografische Argumente für weitere Einschnitte in das Sozialsystem. Der „demografische Niedergang“ habe die Funktion, den „neoliberalen ‚Um-‚ bzw. Abbau des Sozialstaats und drastische Leistungskürzungen zu legitimieren“, konstatiert Butterwegge. Er kam schon 2002 zu dem Fazit:

„In den medialen Diskursen zur sozialen Sicherung erörtert man jedoch nicht, wie aus einer Verschiebung der Altersstruktur ggf. resultierende Schwierigkeiten solidarisch bewältigt werden können, z.B. durch die Verbreiterung der Basis des Rentensystems, die konsequente Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Erhöhung der Frauenerwerbsquote und/oder die Erleichterung der Zuwanderung. Stattdessen fungiert die ‚immer ungünstigere Altersstruktur‘ als Grundlage der Rechtfertigung für Sozial- und Rentenkürzungen.“

Der von der Bertelsmann-Stiftung neu entfachte Diskurs bestätigt Butterwegges Warnungen. Die Rente mit 69 wird von der Bundesregierung keineswegs ausgeschlossen, nur als gegenwärtig nicht vordringlich auf spätere Zeiten verschoben. Zunächst müsse die Rente mit 67 durchgesetzt werden, erklärt ein Sprecher des Bundesarbeitsministeriums. Vehement wandte er sich allerdings gegen die Einbeziehung von Beamten und Selbstständigen in die Rentenversicherung. Damit würde die Klientel der Bundesregierung tangiert, der man im Wahljahr eine Beteiligung an einer solidarischen Rente nicht zumuten will.

Stellt man aber die Rentenfinanzierung nicht auf eine breitere Grundlage, wird die Erhöhung des Rentenalters als Sachzwang verkauft. Schon vor einigen Wochen lieferte die konservative Welt die passende Umfrage, nach der schon mehr als die Hälfte der Befragten sich auf eine schrumpfende Rente und der Erhöhung des Rentenalters einstellen. Dabei könnte man ja auch mal nach Frankreich blicken, wo es in den letzten Jahren einen der längsten Streiks gegen eine Erhöhung des Rentenalters gab. Seit kurzen gibt es einen informativen Film mit deutschen Untertiteln über diesen Ausstand, der fast das gesamte Land lahmlegte.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153908
Peter Nowak

Bis zu 50 Prozent der Menschen sind nicht mehr krankenversichert

Eine Ärzte-Delegation informierte sich über die Folgen der Krise für das griechische Gesundheitssystem, aber auch über solidarische Gegenstrategien


Kirsten Schubert (K.S.) ist Ärztin und Referentin für Gesundheit bei Medico International und hat vom 25.- 28. Februar gemeinsam mit dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte an einer Delegation in Griechenland teilgenommen.

Was war das Programm Ihrer Delegation?

K.S.: Wir haben in den vier Tagen Ärzte, Aktivisten und Politiker in Athen und Thessaloniki getroffen. Dabei wurde sehr schnell klar, dass das, was wir in einigen Medien über die Folgen der Krise hören, zutrifft und sich massive Konsequenzen der Sparpolitik von Troika und griechischer Regierung für den medizinischen Sektor zeigen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

K.S. Wir haben unter anderem das größte Athener Krankenhaus besucht. Dort haben die Ärzte bestätigt, dass viele ihrer Patienten nicht mehr krankenversichert sind. Die offiziellen Zahlen liegen bei 30 %, in der Realität aber bis zu 50% betroffen. Ein Teil der Arbeit der Ärzte besteht mittlerweile darin, dafür zu sorgen, dass die Patienten an ihre Behandlungsmöglichkeiten kommen, auch wenn sie nicht krankenversichert sind. Da gibt es kreative Ideen. Manche Ärzte raten ihren Patienten beispielsweise nachts aus der Klinik zu verschwinden, damit sie nicht zahlen müssen.

Welche Menschengruppen sind am stärksten von der Krise im Gesundheitswesen betroffen?

K.S: Vor allem Menschen mit psychischen oder anderen chronischen Erkrankungen. Sie können sich die dringend benötigten Medikamente nicht mehr leisten oder gehen zu spät zum Arzt. Es ist ein schleichender Tod..

Wie ist die Situation im Bereich der Psychiatrie und der psychosozialen Versorgung?

K.S.: Dort ist die Situation besonders katastrophal, da dieser Bereich besonders unter den Einsparungen leidet. Geplant sind offenbar Kürzungen von bis zu 40 %. Wir haben eine psychiatrische Abteilung des größten griechischen Krankenhauses besucht. Dort lagen mindestens 20 Patienten auf Pritschen im Flur. Das macht deutlich, wie angespannt die Situation schon jetzt ist.

Wie gehen die Ärzte und Patienten mit der Situation um?

K.S: Wir haben zwei solidarische Klinken besucht, die von Ärzten, Patienten und sozialen Initiativen gegründet worden sind. Dort werden nichtversicherte Patienten behandelt. Die Finanzierung läuft ausschließlich auf Spendenbasis. Dabei haben wir bei unseren Besuch sehr kreative Ideen erlebt. Eine Nachbarschaftsinitative hat zu einem Fest eingeladen, auf dem Speisen und Getränke verkauft wurden. Die Einnahmen kommen der solidarischen Klinik zugute. Andere Gruppen organisieren Veranstaltungen, um die Klinik zu finanzieren.

Geht es dabei nur um medizinische Hilfe?

K.S.: Nein, vor allem die solidarische Klinik in Thessaloniki ist gutes Beispiel für eine soziale und politische Initiative. Wir haben an einer ihrer Demonstrationen teilgenommen, wo es um die Forderung nach gesundheitlicher Versorgung für Alle gegangen ist. Dabei ist die Kooperation zwischen Medizinern, Patienten und sozialen Initiativen aus dem Stadtteil eine wichtige Grundlage.

Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus dem Besuch?

K.S.: Wir haben in dem griechischen Gesundheitssystem Phänomene wiedergefunden, die Medico bereits in den 80er Jahren in Lateinamerika angeklagt hat. Auch dort waren sie eine Folge der Strukturanpassungsprogramme, die zu einem massiven Einschnitt bei sozialen Leistungen auch im Gesundheitswesen führten. Eine öffentliches, qualitativ gutes Gesundheitssystem für alle Menschen muss jedoch an erster Stelle stehen und darf nicht den Sparauflagen zum Opfer fallen.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/153884
Peter Nowak

»Kein Anspruch, weil das Gesetz geändert wurde«

Allein in Berlin gibt es unzählige erwerbslose EU-Bürger, die keinerlei finanzielle Unterstützung bekommen, weil die Bundesregierung vor einem Jahr gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) einen Vorbehalt eingelegt hat. Giulia Tosti, eine vom Hartz-IV-Entzug Betroffene, berichtet von ihren Erfahrungen.

Wann haben Sie mit dem deutschen Hartz-IV-System zu tun bekommen?

Ich bin im Sommer 2010 nach Berlin gekommen und habe als Assistentin in einer Galerie gearbeitet. Ein Jahr später musste die Galerie schließen und ich wurde erwerbslos. Nach einigen Monaten Jobsuche auf eigene Faust habe ich dann einen Antrag auf Arbeitslosengeld II gestellt, der auch genehmigt wurde. Im Februar 2011 ging die erste Zahlung auf meinem Konto ein. Als einen Monat später dann kein Geld kam, dachte ich, es würden wohl noch Dokumente fehlen. Doch die Sachbearbeiterin teilte mir mit, dass ich keinen Anspruch mehr auf Hartz IV habe, weil das Gesetz geändert worden sei.

Wurden Sie im Jobcenter über Ihre Rechte informiert?

Nein, die Sachbearbeiterin sagte mir, es täte ihr leid, aber mir blieben nur drei Möglichkeiten: Ich müsse schnell wieder einen Job bekommen, nach Italien zurückkehren oder mir einen reichen deutschen Freund anschaffen.

Das waren für Sie aber keine Optionen?

Nein, ich informierte mich bei einer Beratungsstelle über meine Rechte. Ich stellte einen Eilantrag und bekam dann auch schnell wieder Hartz-IV-Leistungen ausgezahlt. Leider war der Erfolg aber nur von kurzer Dauer. Mein Folgeantrag wurde nämlich mit der Begründung abgelehnt, dass ich wegen des EFA-Vorbehalts keinen Anspruch mehr hätte. Da ich zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als ein Jahr in Deutschland lebte, ist dieser Vorbehalt in meinem Fall aber gar nicht anwendbar. Obwohl ich alle Belege und Rechnungen an das Jobcenter schickte, erhielt ich nach drei Wochen erneut eine Ablehnung, und das mit derselben Begründung wie beim ersten Mal. Ich nahm mir dann einen Rechtsanwalt und klagte.

Wie ist der derzeitige Stand?

Obwohl ich mittlerweile wieder in einer Galerie arbeite und theoretisch Hartz IV als »Aufstockerin« beantragen könnte, halte ich die Klage aus Prinzip aufrecht. Bisher gab es noch keine endgültige Entscheidung. Zum Glück bin ich jetzt aber über meinen deutschen Freund, der ebenfalls Hartz IV bezieht, krankenversichert.
http://jungle-world.com/artikel/2013/10/47284.html
Interview: Peter Nowak

FDP schafft Armut in Deutschland ab – zumindest auf dem Papier

Die heuchlerische Debatte um den veränderten Armutsbericht geht weiter, die grundsätzlichen Fragen werden kaum gestellt

Ende November gaben sich Oppositionsparteien, Gewerkschaften und soziale Initiativen empört. Auf Druck der FDP war der ursprüngliche Entwurf, der Ende September vom Bundesarbeitsministerium (http://www.bmas.de) vorgelegt worden war, entschärft worden. Jetzt wurde dieser geänderte Bericht veröffentlicht und die Kritiker melden sich erneut zurück. Die FDP habe sich durchgesetzt, heißt es, und die Armut in Deutschland zumindest auf dem Papier abgeschafft.

Tatsächlich sind einige prägnante Aussagen aus der Zusammenfassung in den hinteren Teil des Berichts gewandert. Dazu gehört die Feststellung der Tatsache, dass 4 Millionen Beschäftigte in Deutschland für einen Stundenlohn von weniger als 7,50 Euro arbeiten oder dass die Privatvermögen in Deutschland ungleich verteilt sind.

Die Bundesarbeitsministerin von der Leyen, deren Mitarbeitern ja in ihren Text hinein redigiert wurde, will von der Debatte nichts mehr hören. Ihre Botschaft aus dem Bericht ist so vage, wie es eben in der Politik üblich ist. „Die vorliegenden Daten belegen eine positive Entwicklung der meisten Lebenslagen in Deutschland. Es gibt aber auch Befunde im 4. Armuts- und Reichtumsbericht, die Handlungsbedarf signalisieren“, heißt die Nullaussage, die auch von einem rotgrün besetzten Arbeitsministerium nicht anders formuliert worden wäre.

Die Heuchelei der Opposition

Daher ist die Kritik der Opposition auch heuchlerisch und berechnend. Im Zentrum ihrer Kritik steht eigentlich nur, dass der Bericht auf dem Weg von der Fassung bis zur Veröffentlichung Veränderungen erfahren hat. Das aber ist eigentlich nichts Besonderes. Die Frage ist vielmehr, wer den Armutsbericht braucht, um über die aktuellen sozialen Realitäten in Deutschland zu erfahren?

Dabei braucht man nur mit wachen Augen durch eine Großstadt gehen, um etwas über Armut in Deutschland zu erfahren. Immer mehr Menschen leben vom Flaschensammeln und Zeitungsverkauf, Bankfilialen sind im Winter von obdachlosen Schlafgästen belegt, wenn sie nicht um Mitternacht abgeschlossen werden. Oder man geht zu einem Jobcenter, wo besonders am Beginn oder Ende eines Monats die Menschen hinkommen, die kein oder zu wenig Geld auf ihren Konto haben und nicht wissen, wie sie etwas zu essen kaufen können.

Um also etwas über die wachsende Armut in Deutschland zu erfahren, braucht man nur einen wachen Blick in den Alltag. Wenn der Armutsbericht überhaupt einen Sinn hat, dann sollte er eine Debatte darüber anregen, warum in einem Land wie Deutschland die Armut wächst. Da wären nicht nur die Bundesregierung im Allgemeinen und die FDP im Besonderen angesprochen. Zumindest SPD und Grüne müssten sich ebenso nach ihrem spezifischen Beitrag zur Armut in Deutschland fragen. Schließlich fällt die Einführung der Agenda 2010, die den Niedriglohnsektor so richtig beflügelte, ebenso in ihre Amtszeit wie der Beginn des Booms im Leiharbeitssektor, während die Steuern für die Reichen und Vermögenden gekappt wurden.

Wenn es also um die Ursachen der wachsenden Armut in Deutschland geht, müsste die Frage gestellt werden, wer die politischen Weichen dafür stellte. Zudem dürfte bei einer Debatte über den Armutsbericht die europäische Dimension nicht vernachlässigt werden. Es ist schließlich genau jenes Politikmodell, das die deutsche Regierung mit Unterstützung der größten Oppositionsparteien, die höchstens Detailkritik äußern, der EU-Zone verordnen hat. Die Folgen in den Ländern der europäischen Peripherie sind bekannt. Damit genau solche Debatten durch die Veröffentlichung des Armutsberichts nicht geführt werden, macht man die unterschiedlichen Fassungen zum großen Skandal.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153871
Peter Nowak

Ein unmoralischer Vertragsentwurf

Die Chefin einer Zeitarbeitsfirma erhebt schwere Vorwürfe gegen Amazon

Mitte Februar geriet der Onlineversandhandel Amazon wegen der Arbeitsbedingungen seiner Leiharbeiter heftig in die Kritik. So sollen Leiharbeiter aus Spanien auf engen Raum in einer hessischen Gemeinschaftsunterkunft untergebracht worden sein, wie ein Fernsehbeitrag enthüllte. Ende Februar versuchte Amazon in die Offensive zu gehen und warf den Fernsehjournalisten einseitige Recherche und Stimmungsmache vor. Doch werden neue Vorwürfe gegen Amazon aus einer ungewöhnlichen Ecke laut. Die Geschäftsführerin der Koblenzer Zeitarbeitsfirma IMUS GmbH, Ute Siry, hat im SWR schwere Vorwürfe gegen Amazon erhoben.

Zeitarbeit mit Humantouch?

Das Unternehmen habe ihr einen Vertragsentwurf geschickt, der unlautere Beschäftigungsmodelle vorsehe und eine Ausbeutung der Leiharbeiter zur Folge hätte. Siry habe den Entwurf abgelehnt und einen eigenen Vertrag geschickt. Amazon habe sich daraufhin nicht mehr gemeldet.

Der Vertragsentwurf sei schlichtweg unmoralisch gewesen, so die Koblenzer Unternehmerin. „Amazon verlangt, dass wir unsere Verträge automatisch ihren Bedingungen anpassen“, erklärte sie dem SWR. Die von Amazon gestellten Bedingungen seien im Markt jedoch unüblich, kritisierte Siry. Vor allem die Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit lägen in dem Vertragsentwurf weit unter Tarif. Und noch einige andere Klauseln, wie solche zu den Festlegungen der Arbeitszeiten, widersprächen geltendem Recht.

Siry ist gleichzeitig bemüht, dem schlechten Ruf der Zeitarbeitsbranche entgegenzuwirken. Es gebe dort schwarze Schafe, doch mit ihnen dürfe nicht die gesamte Branche verurteilt werden. Siry betont, dass ihre Firma mit dem DGB einen Tarifvertrag abgeschlossen hat, den Amazon nicht anerkennen wollte. Sie befürchtet nun, dass die Zeitarbeitsbranche durch die Diskussion um Amazon in ein schlechtes Licht gerückt wird.

„Ich wehre mich massiv dagegen, dass unsere Branche unter Generalverdacht gestellt wird, nur weil der eine oder andere Mitbewerber mit Amazon zusammenarbeitet.“

Leiharbeiter mit Rückgaberecht

Besonders empört gibt sich die Unternehmerin über die Amazon-Forderung, einen missliebigen Mitarbeiter gegen einen anderen umzutauschen. „Es geht hier nicht um Ware, es geht hier um Menschen und die haben wir nicht einfach im Regal sitzen, dass wenn Amazon zu uns sagt, bringen sie Ersatz, dass wir aus dem Regal irgendeinen Zeitarbeiter rausnehmen, den wir dann als Ersatz zu Amazon schicken. Das war eigentlich schon die Krönung dessen, was ich bisher kennengelernt habe.“

In einer Stellungnahme an den SWR wehrt sich Amazon gegen die Darstellung der Kritiker, bleibt aber selber vage. „Selbstverständlich entsprechen die von Amazon geschlossenen Arbeitnehmerüberlassungsverträge den gesetzlichen Vorschriften“, heißt es in einer Erklärung des Unternehmens. Auf konkrete Vorwürfe wollten sie allerdings nicht eingehen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153859
Peter Nowak

Inhaltlich blockiert

Wie im vergangenen Jahr soll es auch im kommenden Mai »Blockupy«-Aktionstage in Frankfurt am Main geben. Ob diese Form des Protests allerdings sinnvoll ist, scheint fragwürdig.

Die linken Krisenprotestler von »Blockupy« wollen es noch einmal wissen und haben für den 31. Mai und den 1. Juni erneut Aktionstage in Frankfurt am Main angekündigt. Mitte Februar haben dort rund 200 Aktivisten aus der gesamten Republik die Grundzüge der Protestchoreographie vorgestellt.

Das Konzept aus Blockaden, Camps und einer Großdemonstration zum Abschluss erinnert stark an die ersten »Blockupy«-Tage, die im vorigen Jahr Mitte Mai ebenfalls in Frankfurt stattfanden. Damals wurden alle Blockadeversuche von der Polizei unterbunden. Trotzdem sei es als Erfolg zu bezeichnen, dass die Polizei den Demonstranten gleichsam das Blockieren abgenommen habe, meinte ein Aktivist anlässlich der Gründung der Berliner »Blockupy«-Plattform, einem lokalen Vorbereitungskreis für die Proteste. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Polizei die Proteste blockierte, während die Geschäftstransaktionen, die das eigentliche Ziel der Protestierenden waren, weiterliefen. Zudem hat die Repression verdeckt, dass die Zahl der Aktivisten zu gering gewesen wäre, um effektiv zu blockieren. Erst bei der anschließenden Großdemonstration waren tatsächlich Menschenmassen auf der Straße. Von bis zu 20 000 Demonstrierenden war hinterher die Rede.

Ob das »Blockupy«-Remake durch die bloße Wiederholung an Attraktivität gewinnt, ist offen. Auch wenn seit der Zusammenarbeit mit dem kommunistischen »Ums Ganze«-Bündnis eine Öffnung nach links erfolgte, bewegt sich ein Großteil der Gruppen doch eher auf dem Niveau der Globalisierungskritiker von Attac, die ebenfalls beteiligt sind. »Wir werden uns nach Kräften bemühen, den Protest noch größer, bunter und lauter auf die Straßen in Frankfurt zu tragen«, hieß es in einer Pressemeldung nach dem bundesweiten Treffen in Frankfurt. Werner Rätz, Mitglied des Koordinierungskreises von Attac, betonte, dass die Aktionen »Elemente des zivilen Ungehorsams« enthalten sollen. Zudem sieht er bei den Frankfurter Behörden Anzeichen, dass die rigide Verbotspolitik des vergangenen Jahres nicht wiederholt werde. Schließlich habe es auch erste Gerichtsurteile gegeben, die einige der Polizeimaßnahmen für rechtswidrig erklärten.

Es dürfte sich mittlerweile auch bei den Sicherheitsexperten herumgesprochen haben, dass es sich hier nicht um Radikale handelt, die die Frankfurter Innenstadt verwüsten wollen. Doch auch mit der inhaltlichen Schärfe ist es bei den Blockupy-Aktivisten nicht besonders weit her. So werden als eine Art Warm-up »kreative Aktionen« anlässlich des EU-Gipfels am 13. März in Berlin vorbereitet. In der entsprechenden Arbeitsgruppe beim Berliner Vorbereitungstreffen stehen vor allem symbolische, pressefotokompatible Aktionen in der Nähe des Reichstagsgebäudes zur Diskussion. Ein Vorschlag, stattdessen eine Aktion vor dem Sitz der Bild-Zeitung durchzuführen, um gegen deren Hetze gegen Arbeitslose und griechische Lohnabhängige zu protestieren, fand dagegen keinen Anklang.

Auch in der Arbeitsgruppe, die Aktionstage in Frankfurt vorbereitet, wirkt die Stimmung wenig umstürzlerisch. Eine der Anwesenden will der Veranstaltung durch den Einsatz von Stiften und Kärtchen das »sozialistische Flair« nehmen, wie sie es nennt. Die Kritik von Justin Monday, der in der Zeitschrift Phase 2 die Verbindung linker An­tikrisengruppen mit der in Deutschland politisch diffusen »Occupy«-Bewegung als inhaltlichen Rückschritt bezeichnete, scheint sich hier in der Praxis zu bestätigen.

Zudem wird mit der erneuten Konzentration auf ein Großereignis in der Bankenmetropole Frankfurt ignoriert, dass die realen Krisenerfahrungen vieler, die von Hartz IV oder Niedriglohn leben, mit dem Geschehen im Bankensektor wenig zu tun haben. Proteste gegen Zwangsumzüge, Aktionen vor und in Jobcentern oder Streiks im Niedriglohnsektor wären weit näher an der Alltagserfahrung vieler Menschen. Darum werden sich aber wohl andere kümmern müssen.

http://jungle-world.com/artikel/2013/09/47228.html
Peter Nowak