Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt

Auf einem Medienkongress in Berlin wurden manche Mythen über die Internetgesellschaft in Frage gestellt
Viel wurde über Revolution geredet am 8. und 9. April im Berliner Haus der Kulturen der Welt, über die im arabischen Raum ebenso wie über die Internetrevolution. Die sollte eigentlich im Mittelpunkt des von Freitag und Taz organisierten Medienkongresses stehen, der das Motto trug: „Die Revolution haben wir uns anders vorgestellt.“

Doch in die Planungsphase fielen die Aufstände von Tunesien, Ägypten und Libyen und so bekam die Revolution auch wieder eine gesellschaftspolitische Dimension. Auf der Eröffnungsveranstaltung wurden beide Revolutionsvorstellungen verbunden. Über die Rolle des Internet bei den Aufständen diskutierten Medienaktivisten aus Ägypten, Tunesien, Irak und Belarus. Sie stellten unisono klar, dass die ganz realen Aufstände auf den Plätzen und Straßen die Revolution ausmachen und das Internet lediglich ein wichtiges Hilfsmittel sei. So betonte die ägyptische Aktivistin Mona Seif, sie sehe als politische Aktivistin das Internet als eine Möglichkeit, ihre Ideen zu verbreiten.

Die tunesische Bloggerin Lina ben Mhenni betonte ebenfalls die Rolle des Internets für die Koordination der Proteste. Victor Malishevsky aus Belarus berichtete über eine eher demobilisierende Seite des Internetaktivismus. So hätten in seinem Land viele Menschen das Ansehen eines Live-Streams von Demonstrationen im Umfeld der letzten Präsidentenwahlen als ihren Beitrag zur Oppositionsbewegung bewertet, ohne sich an einer Demonstration beteiligt zu haben.

Blogger nicht gleich Dissident

Der Medienwissenschaftler und Blogger Evgeny Morozov räumte mit manchen romantischen Vorstellungen über die politische Dissidenz der Blogger auf und lieferte einige Gegenbeispiele. So zahlte die chinesische Regierung an Blogger 50 Cent, damit sie Beiträge und Kommentare posten, die die chinesische Regierung in ein gutes Licht rücken. Wie Blogger Spitzeldienste für die Polizei leisten, zeigte sich auch im Fall von Adrian Lamo, der Bradley Manning bei den US-Behörden denunzierte, wichtige Informationen an Wikileaks weitergeleitet zu haben.

Sowohl die Solidarität mit Manning als auch die Folgen der Internetplattform Wikileaks waren Themen in den rund zwei Dutzend Workshops und Diskussionen am Samstag. Gerade am Beispiel von Wikileaks wird jetzt schon deutlich, dass der Plattform von den Medien eine Rolle zugeschrieben wurde, die sie mit weder personell noch technisch erfüllen konnte. Seit Monaten wird über den Wikileaks-Gründer mehr diskutiert als über die veröffentlichten Dokumente.

Morozov warnte auch vor der Vorstellung, das Internetzeitalter sei die beste Stütze für demokratische Bestrebungen in der Politik. Die Online-Welt sei wesentlich leichter manipulierbar als Zeitungen und bei weitem nicht so transparent, wie manche Menschen glauben, betonte er. Seine Mahnung auch bei Bloggern genau auf die Inhalte zu schauen, hätte auf dem Kongress gleich im Anschluss beherzigt werden können, als ein Videobeitrag der kubanischen Bloggerin Yoani Sanchez gezeigt wurde. Die selbst innerhalb der kubanischen Opposition wegen ihrer ultrarechten Thesen umstrittene Bloggerin wurde auch auf der Konferenz als Ikone der Meinungsfreiheit gefeiert.

Auffällig war das Fehlen von Positionen auf der Konferenz, die die eine grundsätzliche Kritik auch an den Verhältnissen in Deutschland leisteten. Wenn man bedenkt, in welchen Umfeld und Kontext die Taz Ende der 70e Jahre gegründet wurde, bekommt das Kongressmotto eine zusätzliche Bedeutung. Die Gründer hatten sich eine grundlegende politische Umwälzung auf die Druckfahnen geschrieben und das Internet bekommen.

http://www.heise.de/tp/blogs/6/149632
 
Peter Nowak

Herrschaftskritik als Kurzvideo

Gibt es Herrschaft heute überhaupt noch und wenn ja, wie funktioniert sie? Diesen Fragen hat sich das Medienprojekt »Der Rote Faden« gestellt, das von Aktivisten aus antifaschistischen Initiativen und der »Jungen GEW« Berlin gegründet wurde. In zwölf Kurzvideos untersuchen sie verschiedene Herrschaftsverhältnisse wie Recht und Gerechtigkeit, Wirtschaft, Rassismus, Antisemitismus, Klassen und Geschlechter. Den analytischen Erläuterungen sind Bilder unterlegt, die an die populäre Kulturwelt anknüpfen. »Damit soll Menschen, die nicht mit linken Debatten vertraut sind, der Zugang erleichtert werden«, erklärt einer der Mitarbeiter des Projekts. Er sieht in der modernen Herrschaftskritik einen »roten Faden« für die Entwicklung einer linken Perspektive. Die sechs- bis zwölf-minütigen Videos eignen sich gut für die politische Bildungsarbeit. In den nächsten Monaten sollen sie im Offenen Kanal Berlin (OKB) gesendet werden. Im Internet können sie kostenlos heruntergeladen werden. www.herrschaftskritik.org

http://www.neues-deutschland.de/artikel/194859.bewegungsmelder.html

Peter Nowak

Barrikaden am Kotti gegen Kapp

Revolutionäres aus Kreuzbergs linker Geschichte / Vortrag heute Abend
Straßenkämpfe und Barrikaden am Kottbuser Tor im Herzen von Kreuzberg. Wer denkt da nicht an den 1. Mai? Doch heute informiert Bernd Langer von der Gruppe Kunst und Kampf (kuk), die sich seit Jahren mit linker Geschichte befasst, über ein vergessenes Kapitel linker Geschichte und Repression.

Vor 91 Jahren, am Abend des 17. und in den frühen Morgenstunden des 18. November 1920, wurden rund um das Kottbusser Tor 18 Personen, überwiegend Arbeiter, von Militärs getötet. Sie hatten wie überall in Deutschland mit einem Generalstreik, Fabrikbesetzungen und Barrikadenbau den Kapp-Putsch verhindert. Er war der erste Versuch der monarchistischen und völkischen Rechten, die Weimarer Republik zu stürzen. An dem Putsch waren auch Freikorps beteiligt, die in den Monaten zuvor von der sozialdemokratisch geführten Reichsregierung gegen revolutionäre Arbeiter eingesetzt worden waren.

Im Widerstand gegen den Putschversuch waren Gewerkschaften, SPD, USPD und KPD vereint. Doch damit hörte die Gemeinsamkeit schon auf. Die SPD wollte zum Status quo vor dem Putsch zurück. Dagegen verlangten die KPD, aber auch Teile der Gewerkschaften und der parteilosen, in Räten zusammengeschlossenen Arbeiter, die Entmachtung der alten wirtschaftlichen und politischen Eliten.

Am Freitagabend wird Langer am historischen Ort, im Südblock des Flachbaus in der Admiralstraße 1-2, über das Geschehen vor 91 Jahren berichten. Wer waren die Menschen, die gegen den Putsch gekämpft haben und getötet wurden? Warum waren sie sogar in einem Stadtteil, der doch viel auf seine revolutionären Traditionen hält, bis heute vergessen? So lauten einige der Fragen. Sicher wird es auch um Möglichkeiten gehen, der Opfer rechter Militärs im Straßenbild zu gedenken.

Bernd Langer, der lange Zeit in der antifaschistischen Bewegung Göttingens aktiv war, befasst sich seit den 90er Jahren mit linker Geschichte. Er organisiert regelmäßig Stadtrundfahrten zu Orten von revolutionärer Geschichte, zu Widerstand und Repression. Im Jahr 2009 hat er im AktivDruck-Verlag das Buch »Revolution und bewaffnete Aufstände in Deutschland 1918-1923« herausgegeben. Daneben nutzt Langer die Kunst für die Geschichtsvermittlung.

So ist im Goldenen Saal des Kunsthauses Tacheles ein Acrylgemälde von Berd Langer ausgestellt, das den Mitteldeutschen Aufstand vor 90 Jahren thematisiert. Im März 1921 wollten Arbeiter im Industriegebiet um Halle/Merseburg und dem Mansfelder Land mit einem bewaffneten Aufstand die Revolution entfachen und die alten Eliten entmachten.

18.3., 19.30 Uhr, Südblock im Flachbau · Admiralstraße 1-2, am Kotti; www.kunst-und-kampf.de

http://www.neues-deutschland.de/artikel/193464.barrikaden-am-kotti-gegen-kapp.html

Peter Nowak

»Das System wird in Frage gestellt«

Irans Opposition geht wieder auf die Straße
Mila Mossafer war politische Gefangene in Iran und lebt in Berlin. Sie ist Mitbegründerin des Komitees zur Unterstützung der politischen Gefangenen in Iran-Berlin, dass sich 1997 während des Hungerstreiks oppositioneller Häftlinge in Iran mit dem Ziel gegründet hatte, die Gefangenen zu unterstützen und das für den Sturz des Regimes in Teheran eintritt. Aus Schutz vor Verfolgungen durch iranische Geheimdienste möchte Mila Mossafer nicht fotografiert werden
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ND: Am 1. März gab es im Iran wieder Protestaktionen der Bevölkerung. Was war der Grund?
Mila Mossafer: Anlass der Demonstrationen war die Nachricht von der Verhaftung der beiden Politiker Mir-Hossein Mussawi und Mehdi Karubi und deren Verschleppung an einen unbekannten Ort. Bei den Protesten, die in Teheran, Maschhad, Schiras und Isfahan stattfanden, gingen nicht nur die Anhänger der beiden auf die Straße. Die Demonstranten forderten nicht nur die Freilassung dieser in den westlichen Medien gezielt zu Oppositionsführern erklärten Politkern, sondern die Freilassung aller politischen Gefangenen und den Sturz des islamischen Systems.

Geht die Opposition über den von Mussawi und Karubi eingeschlagenen Kurs hinaus?
Anders als in vielen westlichen Medien dargestellt, gehörte ein Großteil der iranischen Protestbewegung nie zu den Anhängern von Mussawi und Karubi. Beide waren jahrelang Funktionäre des islamischen Regimes und haben sich an der Unterdrückung Oppositioneller beteiligt. Sie haben immer betont, dass sie hinter der islamischen Verfassung und der islamischen Republik stehen. Ein Großteil der Protestierenden forderte aber schon bei den Demonstrationen im letzten Jahr den Sturz der islamischen Republik. Bei den jüngsten Protesten wurde noch deutlicher, dass die Bewegung sich nicht auf eine Verteidigung von Mussawi und Karubi reduzieren lässt. Die Demonstranten schweigen nicht mehr, ihre Parolen stellen das System insgesamt in Frage.

Fürchtet die Führung in Teheran, dass die Revolte in den Nachbarländern auf Iran übergreift?
Auf jeden Fall. Zu Beginn der Aufstände versuchte das Regime, die Bewegungen noch als Fortsetzung der islamischen Revolution zu vereinnahmen. Doch bald kamen keine Meldungen mehr. Die Opposition hat die Proteste genutzt, um wieder auf die Straße zu gehen. Die massive Repression, die bis zur Hinrichtung von Oppositionellen reichte, hatte dazu geführt, dass im letzten Jahr Straßenproteste nicht mehr möglich waren. Eine Parole bei den letzten Protesten lautete: »Mubarak, Ben Ali, jetzt Seyed Ali (Khamenei)«.

Wie steht um die Organisierung des Protests?
Bisher fehlt noch eine politische Organisation, die den Protesten, die sich nicht auf der Linie von Mussawi und Karrubi befinden, eine gemeinsame Plattform gibt. Es gibt allerdings Menschenrechtsorganisationen, wie die »Mütter vom Tulpenpark«. Der Name kommt von dem Park in Teheran, wo sich die Angehörigen von ermordeten politischen Gefangenen der 80er Jahre mit Angehörigen von Opfern der aktuellen Repression einmal in der Woche treffen. Am Anfang hatte sich die Gruppe unter anderem vor dem Eingang des berüchtigten Teheraner Ewin-Gefängnis getroffen.

Wie kann die Oppositionsbewegung von Deutschland aus unterstützt werden?
Wichtig ist zu erkennen, dass Debatten über militärische Angriffe auf Iran nicht der Opposition, sondern dem Regime nützen, weil dieses dann die nationalistische Karte spielen kann. Neben der Solidarität mit den Gefangenen sollte die linke Bewegung dafür sorgen, dass der Export von Technologien aus Deutschland, mit denen die Oppositionsbewegung bekämpft wird, gestoppt wird. So wurden die Handys von Oppositionellen mit Programmen abgehört, die von Siemens-Nokia stammen. Zudem sind auf Fotos Militärfahrzeuge von Daimler-Chrysler zu sehen, die gegen die Demonstranten eingesetzt werden.

 http://www.neues-deutschland.de/artikel/192481.das-system-wird-in-frage-gestellt.html

Fragen: Peter Nowak

„FREE ASSANGE“ – NICHT IN UNSEREM NAMEN!

Gegen einseitige Parteinahme für Julian Assange und die Vorverurteilung von Anna A. und Sofia W.!

Julian Assange ist der Medienstar dieser Tage. Für seine Fangemeinde rund um die Welt war es von Anfang an klar, dass der Wikileaks-Gründer von den Mächtigen fertig gemacht werden soll, weil er deren Geheimpapiere öffentlich machte. Im Namen der Unschuldsvermutung wurde der Beschuldigte in hastig inszenierten „FREE ASSANGE“-Kampagnen zum Unschuldslamm und Märtyrer stilisiert, während die beiden betroffenen Frauen, Anna A. und Sofia W., in unerträglicher Weise stigmatisiert, denunziert, diskreditiert und kriminalisiert werden. Als „Honeytrap“, Honigfalle, wurde das Thema in den Medien – und in der Linken – abgehandelt: Ein abgekartetes Spiel der beiden intriganten Schwedinnen gegen Julian Assange – im Auftrag des CIA.

Natürlich sollte diese Möglichkeit mitbedacht werden. Im Rahmen der Unschuldsvermutung muss sie sogar mitbedacht werden. Aber als eine von mindestens zwei Optionen. Die Unschuldsvermutung muss selbstverständlich für beide Seiten gelten.

Wir sind ganz entschieden gegen eine einseitige Parteinahme für Julian Assange und die durch Verschwörungstheorien und Feminismusphobie genährte Vorverurteilung von Anna A. und Sofia W.!

Julian Assange soll in Schweden vernommen werden. Das ist kein Anschlag auf die Pressefreiheit durch die dortigen Behörden, sondern schlicht und ergreifend praktizierter Opferschutz. Opferschutz eines Justizsystems, in dem eindeutig die Befindlichkeiten der (zumeist weiblichen) Opfer im Mittelpunkt stehen.

Die Wahrheit über die Vorfälle zwischen Julian Assange, Anna A, und Sofia W. in jenen Tage im August 2010 kennen wir alle nicht, diese ans Licht zu bringen sollte Aufgabe der schwedischen Justiz sein. Julian Assange streitet die Vorwürfe der sexuellen Belästigung ab. Also sollte es in seinem ureigensten Interesse sein, dass die Wahrheit ans Tageslicht kommt. Wenn er tatsächlich zu Unrecht beschuldigt wird, hat er ein Recht darauf, dass Anna A. und Sofia W. juristisch belangt werden.

Bei Licht betrachtet hat Julian Assange zur Klärung des Sachverhaltes bislang nichts beigetragen. Anstatt nach Schweden zu reisen, eine Aussage zu machen und die Vorwürfe aus der Welt zu schaffen, unterhält er einen internationalen Stab von AnwältInnen, um einer Vernehmung durch die schwedischen Behörden zu entgehen. Warum eigentlich?

Wenn die Geschichte von Anna  A. und Sofia W. stimmt, dann setzt Julian Assange Gewalt ein, um seine sexuellen Gelüste zu befriedigen. Und dann gehört er in den Knast. Sexuelle Gewalt ist kein Kavaliersdelikt, auch nicht bei einem Mann wie Julian Assange, der ja mit der großen Weltpolitik beschäftigt ist und deshalb von zwei Frauen nicht behelligt werden soll, die sich gegen „Banalitäten“ wie sexuelle Übergriffe wehren.

Sexuelle Gewalt ist Folter!!!

Es gibt keinen Grund, aufgeregte Pro-Assange-Kampagnen zu inszenieren, die als Votum für die Pressefreiheit verkauft werden, und wo en passant mühsam erkämpfte demokratische und Frauenrechte wie das Recht auf Opferschutz mit Füßen getreten werden. Außerdem ist Julian Assange nicht Wikileaks – und Wikileaks ist nicht Julian Assange. Die Arbeit würde nicht gestoppt, auch wenn der Schutzpatron aller geheimen Informanten im Knast säße.

An dem oben beschriebenen gängigen Deutungsmuster haben vor allem Medien kräftig mitgestrickt. Deshalb finden wir, ist es an der Zeit, dem etwas entgegenzusetzen, und als Publizierende laut und deutlich zu sagen:

FREE ASSANGE – NICHT IN UNSEREM NAMEN!

Pressefreiheit und Unterstützung des Medienprojekts Wikileaks: JA!

Bedingungslose Solidarität mit Julian Assange: NEIN!

Max Böhnel, Journalist, Montclair, NJ – USA, Birgit Gärtner, Journalistin, Hamburg,

Peter Nowak, Journalist, Berlin, Jan Tölva, Journalist und Autor, Berlin.

Wir laden alle Kolleginnen und Kollegen, Medien-, Kunst- und Kulturschaffenden ein, diesen Aufruf zu unterstützen.

Mail mit dem Einverständnis zur Veröffentlichung des Namens als Mitunterzeichner/in an:

Free-Assange-Not-In-Our-Name@web.de

http://www.freitag.de/community/blogs/peter-nowak/free-assange–nicht-in-unserem-namen

Filmarchiv der Arbeiterbewegung

Labournet in bewegten Bildern – linke Internetplattform baut aus
Am Sonntag geht ein neues Film- und Medienprojekt online. »Labournet.tv« ist Teil der kritischen Internetplattform Labournet.
Filme und Videos sind heute bei der Mobilisierung zu Demonstrationen und Protesten der unterschiedlichen Art nicht mehr wegzudenken. Mit dem Projekt labournet.tv, das am kommenden Sonntag startet, soll ein audiovisuelles Archiv der Arbeiterbewegung geschaffen werden.

 Das Projekt ist Teil der Internetplattform Labournet, die sich seit 1999 als »Treffpunkt für Ungehorsame mit und ohne Job« für die Stärkung gewerkschaftlicher und sozialer Gegenmacht einsetzt. »Bei Labournet.tv sollen Videos und Filme zu den bei uns dokumentierten aktuellen Berichten über soziale Kämpfe in aller Welt ins Netz gestellt werden«, erklärt Mag Wompel von Labournet gegenüber ND. »Über Filme lassen sich globale Zusammenhänge der Ausbeutung und der Gegenwehr veranschaulichen«, betont Bärbel Schönafinger. Die Berliner Kulturwissenschaftlerin und Filmemacherin betreut das von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt mit einer halben Stelle geförderte Projekt Labournet.tv.

Die Gliederung auf der Webseite des Filmarchivs ist sehr übersichtlich und benutzerfreundlich. Der virtuelle Besucher kann unter dem Obertitel »Branchen« die unterschiedlichsten Berufssparten von Bergbau über Fischerei und Landwirtschaft, Transport und Logistik anklicken und findet dort die entsprechenden Filme und Videos. Nicht nur über die klassische Lohnarbeit, auch über migrantische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse sowie über Kämpfe auf dem Feld der Reproduktionsarbeit finden sich Beiträge. Bärbel Schönafinger legt großen Wert auf die Präsentation unterschiedlicher filmischen Positionen aus den verschiedenen sozialen Kämpfen. So ist unter der Rubrik »Erwerbslosenbewegung« neben kurzen Videoclips über Zahltags- und Begleitaktionen in verschiedenen Jobcentern der Republik auch der 1988 gedrehte Film »Einstweilen wird es Mittag« über den Alltag von Menschen ohne Lohnarbeit aufgelistet. In dem ebenfalls archivierten Film »Vorsicht Arbeit« von 2004 kommen 12 Erwerbslose zu Wort, die sich ein Leben ohne Lohnarbeit wünschen.

Auf Labournet.tv sollen auch heute oft nur schwer zugängliche Filme aus der Geschichte der Arbeiterbewegung zu finden sein – sofern das Urheberrecht es zulässt. »Bei den vielen Filmen, für die es keine Abspielrechte gibt, können wir nur auf im Handel befindliche DVD oder VHS hinweisen«, so Schönafinger.

Zwei internationale Klassiker der Filmgeschichte der Arbeiterbewegung sind allerdings öffentlich zugänglich und werden ab kommenden Sonntag in voller Länge auf labournet.tv zu sehen sein. Es handelt sich um »Streik« des sowjetischen Regisseurs Sergej Eisenstein und um den Film »Salz der Erde«, der einen Arbeitskampf mexikanischer Migranten in einer Zinnmine in den USA der frühen 50er Jahre zum Thema hat. Sämtliche dokumentierten Filme und Videos sind mit deutschen Untertiteln versehen.

Zum Start des Projekts lädt Labournet.tv am 30. Januar um 11 Uhr zum Lunch in das fsk-Kino am Segitzdamm 2 nach Berlin-Kreuzberg. Dort wird auch der Film »107 Sekunden – Arbeiter des Südens« über drei Fiatarbeiter gezeigt. de.labournet.tv

 http://www.neues-deutschland.de/artikel/189532.filmarchiv-der-arbeiterbewegung.html

Peter Nowak

Buchcafe in Osthessen

Fulda in den späten 70er Jahren war ein schwarzes Nest, wo Oberbürgermeister Dregger (CDU-Rechtsaußen) und Bischof Dyba (christlicher Fundamentalist) den Schlaf der Stadt bewachten. Doch knapp 50 Kilometer entfernt in Bad Hersfeld, gab es eine Oase der Freiheit, ein Buchcafe, geleitet von Peter O.Chotjewitz und Renate Chotjewitz seiner damaligen Frau, die als Lehrerin Berufsverbot hatte. Chotjewitz war schon in Italien gewesen und hatte sogar Andreas Baader verteidigt, erzählte man sich im Flüsterton an den WG-Tischen der wenigen Fuldaer Linken. Der deutsche Herbst war noch nicht vorüber und hatte selbst in Osthessen seine Spuren hinterlassen.

Aber diesen Chotjewitz, den wollten alle mal sehen, schon weil er Andreas Baader gekannt hat. Für mich ergab sich die Gelegenheit, als auch nach Fulda durchsickerte, dass der Schriftsteller Erich Fried zu einer Lesung nach Hersfeld kommen sollte. Der hatte gerade Schlagzeilen gemacht, weil er den Neonazi Andreas Kühnen im Knast besucht hat. 50 Kilometer durch die osthessische Provinz zu trampen, war auch Mitte der 70er Jahre nicht einfach. Aber ich hatte es geschafft, pünktlich im Buchcafe anzukommen. Viele Menschen waren da versammelt, die vom Alter her meine Lehrer hätten sein können. Und tatsächlich fragte mich ein Freundlicher Alt-68er: Na, kleiner, kommen Deine Eltern auch noch‘“. Dafür revanchierte ich mich, als ich mich nach der Lesung als erster zu Wort meldete und mit Fried gleich auf seinen Kühnen-Besuch ansprach. Da staunten die linken Lehrer, dass „der Kleine, noch im Stimmbruch“ ohne Eltern auf der Veranstaltung war und sich auch noch zu Wort meldete und ihr Idol kritisierte.
Peter O.Chotjewitz, der die Veranstaltung souverän leitete, fand die Wortmeldung und die sich daran anschließende Kontroverse amüsant. Seitdem habe ich in unregelmäßigen Abständen von ihm gehört, mal kam ein neues Buch raus, mal schrieb er in einen Artikel in Freitag, Konkret oder Jungle World. Jahrzehnte später, als er die Autobiographie von Klaus Croissant geschrieben hatte, (Mein Freund Klaus) steigerte sich das Interesse zu einer regelrechten Begeisterung für den Autor. Denn Croissant hatte mich schon in den 70er Jahren fasziniert, ich hatte sein Bild aus einer Zeitung ausgeschnitten, an die Wand in meinen Zimmer aufgehängt und „Mein Freund Klaus“ darübergeschrieben. Das Bild hing bis Mitte der 80er Jahre dort. Ich lud Chotjewitz sogar nach Berlin zur Lesung ein und befragte ihn zum Buch und verschwieg auch nicht, dass ich der eigentliche Erfinder des Titels war. Dass hätte ich mir als osthessischer Jugendlicher nicht träumen lassen, als ich Chotjewitz zum ersten Mal sah. Und der hätte, wenn er sich noch erinnert hätte, sicher auch gestaunt, dass der „Kleine, der ja überhaupt nicht auf den Mund gefallen war und auch vor Kritik an Idolen nicht zurückschreckte, noch nach so langer Zeit den Traum von einer Sache, dem (Kommunismus) nicht abgeschworen hat. Vielleicht hat die damalige Begegnung im kleinen Bad Hersfeld, lang, lang ist es her, mit dazu beigetragen.

http://political-prisoners.net/item/134-buchcafe-in-osthessen.html

Peter Nowak

Von A wie APO bis Z wie Zapatistas

Die „Bibliothek des Widerstands“: Filmbücher zur linken Geschichte

Neun Bände sind bisher in der „Bibliothek des Widerstands“ im Hamburger Laika-Verlag erschienen. Mit ihrem schwarzrot gehaltenen Einband sind die Bücher im linken Buchhandel nicht zu übersehen. Beigelegt ist ihnen je eine DVD mit Filmen, die die Geschichte des linken Widerstands in aller Welt seit den 1960er Jahren, aber auch die staatliche Repression dokumentieren. Herausgegeben wird die Reihe von Karl-Heinz Dellwo und Willi Baer.

Am Anfang stand die Erkenntnis, „dass es viele Bücher mit Erinnerungen gibt, aber die authentischen Materialien nur sehr schwer zugänglich sind. Insbesondere gehören dazu Dokumentarfilme, die in der damaligen Zeit entstanden sind. Diese liegen oft nur in Formaten vor, die sich der Einzelne kaum besorgen kann. Da wollen wir eine Möglichkeit schaffen, dass sich jeder die Filme zu günstigen Konditionen beschaffen kann“, so beschreibt Karl-Heinz Dellwo das Ziel des ambitionierten Projektes: 100 Filmbücher sind in Vorbereitung. Nach den bisher vorliegenden Bänden zu urteilen sind sie eine Bereicherung für alle, die sich mit oft vergessener linker Geschichte befassen.

Die Reihe begann mit zwei Filmdokumenten zum 2. Juni 1967: „Der 2. Juni 1967“ von Thomas Giefer und Hans-Rüdiger Minow und „Der Polizeistaatsbesuch“ von Roman Brodmann. In den Filmen werden die Vorgeschichte und die Aufarbeitung des Schah-Besuches behandelt, der mit dem Mord an Benno Ohnesorg zu einer historischen Zäsur in der Geschichte der BRD wurde.

Eine Fundgrube zur Geschichte der US-Linken

Raritäten finden sich in mehreren Bänden zur Geschichte eines anderen Amerika. Im zweiten Band wird ein Film über die Verhaftung von Angela Davis und den Kampf um ihr Leben und ihre Freilassung vorgestellt, im fünften die Geschichte des SDS (Students for a Democratic Society) in den USA nachgezeichnet. Kombiniert mit den informativen Hintergrundtexten sind diese Bände eine wahre Fundgrube zur Geschichte der linken Bewegung in den USA.

In Band 6 geht es um den Weather-Underground, eine Guerillagruppe, die in Solidarität mit den Black Panthers und dem Vietcong den Krieg in die USA bringen wollte. In dem Film „Underground“ werden die Kämpfer 1976 von befreundeten Filmemachern porträtiert. Damals hatte die Organisation eine Zäsur hinter sich: Ein Unfall beim Hantieren mit Sprengstoff, der drei GenossInnen das Leben kostete, führte zu einer intensiven Selbstkritik. Der zweite Film, ein kritisches Resümee der Gruppe, stammt aus dem Jahr 2002. Dort kommen ehemalige AktivistInnen ebenso zu Wort wie strikte GegnerInnen.

Zwei Filmbücher widmen sich der jüngeren argentinischen Geschichte. Eine ganze Generation von politischen AktivistInnen, GewerkschafterInnen, StudentenvertreterInnen, Bauernoppositionellen wurde umgebracht, darunter auch zwei westdeutsche Linke: die Tübinger Soziologin Elisabeth Käsemann und der Münchner Maschinenbaustudent Klaus Zischank. Käsemann wurde 1977, Zischank ein Jahr zuvor ermordet. Zwei Filme zeigen die Hintergründe und die Reaktion auf ihre Ermordung. Zischanks in Argentinien lebende Mutter wurde auf einer Rundreise durch die BRD von Solidaritätsgruppen unterstützt. Staatliche Stellen verbreiteten dagegen die Version des argentinischen Regimes, Zischank sei nicht entführt worden, sondern habe sich einer Guerillagruppe angeschlossen. Dabei war zu diesem Zeitpunkt schon bekannt, dass sich der Student in einem Geheimgefängnis des argentinischen Militärs in Lebensgefahr befand.

Widerstand gegen die argentinische Diktatur

In dem 190 Seiten umfassenden Buch werden weitere Hintergründe vermittelt. So gab es in der kritischen Öffentlichkeit eine lebhafte Debatte über das Verhalten des BRD-Fußballteams während der WM 1978 in Argentinien. Als amnesty international alle Spieler in einem Offenen Brief bat, eine Petition für die Einhaltung der Menschenrechte zu unterzeichnen, antwortete der Kicker Manfred Kaltz vom Hamburger SV, er habe andere Probleme und es belaste ihn keineswegs, wenn in Argentinien gefoltert werde. Ihn und die anderen Spieler belastete es auch nicht, dass der Altnazi Hans-Ulrich Rudel als Gast im Trainingslager auftauchte. Kritik wies DFB-Präsident Neuberger zurück: „Herr Rudel ist meines Wissens Bundesbürger mit vollen Rechten wie die Protestierenden. Ich hoffe doch nicht, dass man ihm seine Kampffliegertätigkeit aus dem Zweiten Weltkrieg vorwerfen will.“

Neuberger, Kaltz und Co. hatten mit dem Nazi keine Probleme und nahmen es dem Gastgeberregime auch nicht übel, dass es die deutsche Tradition bei der Verfolgung von linken Oppositionellen fortsetzte. Mit diesem Thema beschäftigt sich auch Band 9 mit dem Filmbuch „Panteón Militar“. Dort wird den preußischen Traditionen im argentinischen Militär nachgegangen. Ein junger Offizier bekennt offen, die Junta hätte nur die Subversion bekämpft und für Ruhe und Ordnung gesorgt.

Den Bänden der Bibliothek ist eine hohe Verbreitung zu wünschen – auch damit Karl-Heinz Dellwo und Willi Baer ihre wichtige Arbeit fortsetzen können.

Peter Nowak

Die Filmbücher haben 100 bis 200 Seiten und enthalten je eine CD. Sie kosten zwischen 19,90 und 29,90 Euro. Über die Homepage des Laika-Verlages können sie bestellt oder zum Vorzugspreis abonniert werden. Dort gibt es auch Informationen über das gesamte Programm:

www.laika-verlag.de

Peter Nowak

ak – zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 556 / 17.12.2010

Die Geschichte ist nicht zu Ende

FILM Der Regisseur William Perfetti blickt zurück auf 40 Jahre Hausbesetzergeschichte, von den Trebegängern Anfang der 70er bis zu den heutigen Musterhausentwicklern

„Das Rauch-Haus ist unser Haus, ihr kriegt uns hier nicht raus“, schallt es aus dem Demonstrationszug. Man trägt Parka und lange Haare und schreibt das Jahr 1971. Es geht um den Erhalt des frisch besetzten Georg-von-Rauch-Haus am Mariannenplatz, heute wohl das älteste noch existierende Berliner Hausprojekt in Selbstverwaltung. Die Szene ist ein Ausschnitt aus dem in den 70er-Jahren viel diskutierten Film „Das ist unser Haus“. Einige Szenen davon finden sich nun in einem neuen Film wieder: „20 Jahre Mauerfall – 20 Jahre Mainzer-Fall. Mit Willy unterwegs in Berlin“ heißt das Projekt, mit dem der italienische Filmemacher William Perfetti auf die fast 40-jährige Geschichte der Berliner InstandbesetzerInnenbewegung zurückblickt.

Perfetti beginnt Anfang der 70er Jahre und erinnert daran, dass es damals oft aus den Heimen geflohene Jugendliche waren, die auf Trebe gingen und Häuser besetzten. Diese Frühgeschichte der Westberliner BesetzerInennbewegung wird oft selbst von ehemaligen AktivistInnen vergessen, die erst in den frühen 80er Jahren aktiv wurden. Für Perfetti dagegen wurde damals die Stadt zum Experimentierfeld für eine andere Form von Zusammenleben, an die im kurzen sogenannten „Sommer der Anarchie“ 1990 in Ostberlin wieder angeknüpft wurde.

Videoschnipsel aus verschiedenen zeitgenössischen Filmen über die Mainzer Straße erinnern an die kurze Geschichte der besetzten Häuser vor der Räumung – etwa das Mainzer-Straßen-Fest im Sommer 1990 und einen Neonaziangriff einige Wochen zuvor. In den Kommentaren der damaligen Videos wurde immer betont, dass mit der Räumung der Mainzer Straße die gesamte soziale und alternative Bewegung Berlins diszipliniert werden sollte. Perfetti hingegen will zeigen, dass dies nicht gelungen ist – und die Räumung der Mainzer Straße nicht das Ende der Bewegung war.

Im zweiten Teil des Videos werden verschiedene Berliner Projekte vorgestellt, die seit den 90er Jahren in Berlin entstanden sind. Einige beziehen sich allerdings bewusst nicht auf die BesetzerInnenbewegung. So betont Carola Ludwig vom Friedrichshainer RAW-Tempel in der Revaler Straße, dass für sie und ihre MitstreiterInnen eine Besetzung nie zur Diskussion stand. Man habe immer auf eine enge Verbindung mit der Politik Wert gelegt. Hans-Georg Fischer, der seit 1990 in der Kreutziger Straße lebt und 1995 den Verein Southern Networks for Environment and Development (Soned) mitbegründete, zeigt am Beispiel der Kreutziger Straße 19 die Entwicklung vom besetzten Haus zum ökologischen Musterprojekt, das heute umweltfreundlich produzierten Strom an die Versorgungsunternehmen verkaufen kann.

Perfettis positive Sicht auf die Entwicklung vom Hausbesetzer zur alternativen Projekteszene wird unter den ZuschauerInnen sicher ebenso für Diskussion sorgen wie die häufigen und eigentlich für das Thema des Films überflüssigen „Tagesschau“-Ausschnitte zu Mauerfall und Wiedervereinigung.

 „20 Jahre Mauerfall – 20 Jahre Mainzer-Fall. Mit Willy unterwegs in Berlin“. Regie: William Perfetti. D 2010, 113 Min.
Ab 16. 12. um 18 Uhr im Lichtblick-Kino, Kastanienallee 77, Prenzlauer Berg. Am 18. und 19. 12. wird der Filmemacher bei den Vorführungen anwesend sein

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2010%2F12%2F15%2Fa0163&cHash=24df6d8b8d

Peter Nowak

Kunst und Arbeitswelt

Das »Potosi-Prinzip« im Haus der Kulturen

Von außen sieht es aus, als hätte sich in der kleinen Kammer jemand häuslich eingerichtet. Über dem Bett hängen Fotos, in einer Ecke steht ein Fernsehgerät. Der Raum ist eine Unterkunft chinesischer Wanderarbeiter. Die Installation ist Teil des im Erdgeschoss der Berliner IG-Metall-Ortsverwaltung nachgebauten Pekinger Museums der Wanderarbeiter. Dort wird die knapp 30jährige Geschichte der chinesischen Wanderarbeiter auf Bildtafeln, aber auch mit vielen Fotos und Utensilien, anschaulich dargestellt. Dazu gehören extra für die Wanderarbeiter gedruckte Zeitungen ebenso wie die verschiedenfarbigen Aufenthaltsgenehmigungen. Einige Exponate widmen sich der Kultur der Wanderarbeiter in mehreren Generationen. Die Jugendlichen spielen in Bands, die in ihren Texten auf ihre speziellen Probleme eingehen. Auf zahlreichen Fotos wird die Achtung vor der Arbeit beschworen. Die Ausstellung macht deutlich, dass die Wanderarbeiter in China keine vergessene Minderheit mehr sind. Mittlerweile hat die chinesische Politik erkannt, dass sie deren Probleme nicht mehr ignorieren kann. Das im Mai 2008 eröffnete Museum der Wanderarbeiter wäre ohne die Unterstützung durch die offizielle Politik nicht möglich gewesen.

 Das war nicht immer so. Noch am 17. März 2003 ist ein studentischer Wanderarbeiter von der chinesischen Polizei totgeprügelt worden, weil seine Papiere nicht in Ordnung waren. Die vom Arbeitskreis Internationalismus der Berliner IG-Metall organisierte Ausstellung macht deutlich, dass das viel gerühmte chinesische Wirtschaftswunder auf der Arbeitskraft der Wanderarbeiter beruht. Auch viele der bei uns so beliebten Videokameras und Computer wurden von ihnen hergestellt. Auf diese Aspekte wird in mehreren Begleitveranstaltungen hingewiesen.

Die Kisten, mit denen die Utensilien des chinesischen Wanderarbeitermuseums nach Berlin transportiert wurden, befinden sich im Haus der Kulturen der Welt (HdKdW). Sie sind Teil der von Alice Creischer, Max Jorge Hinderer und Andreas Siekmann kuratierten Ausstellung »Das Potosi-Prinzip«. Benannt ist sie nach der bolivarischen Stadt Potosi, im 17. Jahrhundert eine der größten Städte der Welt. Der massive Transport von Silber und Gold aus Lateinamerika nach Europa sorgte damals für einen Akkumulationsschub. Weniger bekannt ist, dass zu dieser Zeit auch Tausende von Bildern nach Europa exportiert wurden, mit denen die Verbreitung der christlichen Religion in Lateinamerika gefeiert wurde.

Im HdKdW sind einige dieser Bilder zu sehen. 25 zeitgenössische Künstler haben sich in ihren Arbeiten mit dem Verhältnis von Christianisierung, Ausbeutung der Arbeitskraft und ursprünglicher Akkumulation auseinandergesetzt. Eine Broschüre dient den Besuchern als Leitfaden für den Gang durch die komplexe Ausstellung. Während im HdKdW die Geburt des europäischen Kapitalismus künstlerisch bearbeitet wird, dokumentiert die Berliner IG-Metallverwaltungsstelle die Geburt einer neuen Arbeiterklasse.

Haus der Kulturen der Welt, John-Forster-Dulles-Allee 10, Mi.-Mo.: 11-19 Uhr, IG-Metall, Jakobstr. 149, Mo.-Do.: 9-18 Uhr, Fr.: 9-15 Uhr.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/185504.kunst-und-arbeitswelt.html

Peter Nowak

Kein Journalismusersatz

Als PR-Profi in eigener Sache ist Julian Assange fast unübertroffen. Schließlich hat es der Gründer von Wikileaks geschafft, diese Enthüllungsplattform innerhalb von wenigen Monaten weltweit bekannt zu machen. Spätestens nach der Veröffentlichung der Afghanistan-Dokumente und der unverhohlenen Repressionsdrohungen von führenden US-Verantwortlichen galt Wikileaks in kritischen Kreisen als einsamer Streiter für die Informationsfreiheit. Schnell war davon die Rede, dass Wikileaks im Internetzeitalter die Rolle der kritischen Medien übernommen hat. Doch wer sich genauer mit der kurzen Geschichte von Wikileaks auseinandersetzt, wird zu dem Schluss kommen, dass damit Journalismus keineswegs ersetzt oder gar überflüssig wird. Ganz im Gegenteil ist die fehlende journalistische Arbeit das größte Manko der Plattform.
So wäre es für Wikileaks ohne die Zusammenarbeit mit Spiegel, New York Times und Guardian gar nicht möglich gewesen, die Afghanistan-Dokumente zu veröffentlichen. Allerdings wurden die Zeitungen als Zuarbeiter höchstens in einer Fußnote erwähnt, während die Internetplattform den alleinigen Ruhm einheimste. Doch mittlerweile zieht Wikileaks auch die Kritik nicht nur von Kreisen auf sich, die die Veröffentlichung der Dokumente über den Afghanistankrieg ablehnen. So kritisierten Amnesty International gemeinsam mit weiteren Menschenrechtsorganisationen, dass in den bei Wikileaks veröffentlichten Dokumenten Klarnamen von Afghanen stehen, die mit den US-Militärs zusammengearbeitet haben sollen. Die Menschenrechtsorganisationen befürchten wohl nicht zu Unrecht, dass die Geouteten dadurch ins Visier von Islamisten geraten könnten.
Assange erklärte daraufhin, es würden 700.000 Dollar gebraucht, um die 15.000 Kriegsdokumente aus Afghanistan von Namen und Daten zu bereinigen, die Menschen in Gefahr bringen könnten. Auf Twitter suchten die Wikileaks-Gründer die Schuld woanders: „Die Medien übernehmen keine Verantwortung“, hieß es dort.
Doch die Kritik an den Veröffentlichungen von nicht oder schlecht redigierten Dokumenten und die Reaktion darauf zeigt einmal mehr, dass Wikileaks kein Ersatz für Journalismus ist. Die Plattform ist zudem auch gar nicht in der Lage, diese Rolle zu übernehmen. Die Leistung von Wikileaks erschöpft sich in der Bereitstellung einer technischen Infrastruktur und guter Medienarbeit in eigener Sache. Engagierten Journalismus hingegen zeichnet aus, dass er Dokumente auswertet und aufarbeitet. Deshalb haben die vielgescholtenen Medien keinen Grund sich zum Zuarbeiter und Buhmann von Wikileaks degradieren zu lassen.

aus M, Menschen Machen Medien 8/9 -2010

http://mmm.verdi.de/archiv/2010/08-09/kommentiert-aufgespiest

Peter Nowak

K.I.E.Z. To Go

Auf den Spuren des Widerstands
Wem an diesem Wochenende am späten Nachmittag im südlichen Teil des Berliner Stadtteils Friedrichshain Menschen mit altmodischer Kleidung begegnen, denen eine Menschenmenge folgt, der ist in ein Theaterstück der besonderen Art geraten. »Wege und Widerstand« lautet der Titel des Stücks, das auf den Straßen von Friedrichshain und Lichtenberg von der Künstlerinitiative K.I.E.Z. To Go aufgeführt wird. Sie besteht aus Künstlern, die in den letzten 20 Jahren nach Friedrichshain gezogen sind. Vor einigen Jahren hat die Truppe bereits die Geschichte der Gladowbande auf den Straßen von Friedrichshain inszeniert.

 Treffpunkt für ihr aktuelles Stück ist der Club Lovelite in der Simplonstraße. Dort muss sich jeder Besucher an der Kasse für eines der bereitliegenden verschiedenfarbigen Bändchen entscheiden. Sie markieren die Gruppe, mit der er in den nächsten drei Stunden die Darstellungen unterschiedlicher Schicksale aus der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt.

Die Gruppe mit dem blauen Band erlebt das Wirken der jungen Frieda Lang, deren Eltern als Widerstandskämpfer verfolgt wurden. Sehr sensibel fühlt sich die junge Schauspielerin Antje Lea Schmidt in diese Figur ein. Die erste Station ist der Helenenhof im Friedrichshainer Südkiez. Dort werden die Bewohner zu Zuschauern und manchmal auch zu Akteuren. So übertönte ein Mieter mit lauter Popmusik die Arien, die die junge Frieda im Hof zum Besten gab. Einige Ecken weiter auf einem Spielplatz verfolgten Kinder die Darbietungen hingegen mit Aufmerksamkeit. In dieser Szene kommt Frieda erstmals in Loyalitätskonflikte zwischen ihren von der Nazipropaganda beeinflussten Schulfreunden und Lehrern und ihren Eltern. Einer der Höhepunkte des Stücks ist die Auseinandersetzung zwischen Frieda und ihrer Mutter, als sie ihren Mann im Gefängnis besuchen will. Frieda, die fürchtet, dass auch die Mutter wieder verhaftet wird, will sie daran hindern.

Während sie zunächst mit ihren Eltern hadert, weil diese ihr kein Familienleben bieten können, beschließt Frieda später, sich nicht unterkriegen zu lassen. Dafür wird die Entfremdung zu ihren Freunden und Mitschülern, die die NS-Propaganda nicht in Frage stellen, immer größer. Zu einer Auseinandersetzung mit ihrem ehemaligen Schulfreund kommt es auf einem Wäschehof in Lichtenberg, als sie den bei der Hitlerjugend aufgestiegenen Johann vergeblich dazu bewegen will, eine Jüdin zu verstecken.

Auf der Tour durch den Stadtteil kreuzen sich immer wieder die Routen der verschiedenen Theatergruppen, die die Lebenswege anderer Figuren verfolgen. Nach drei Stunden kommen alle Besucher auf einem Ateliergelände in der Nähe des S-Bahnhofs Nöldnerplatz wieder zusammen. In der bewegenden Abschlussszene werden Zitate aus den letzten Briefen von politischen Gefangenen vor ihrer Hinrichtung in Plötzensee vorgelesen. Ein besonderes Theatererlebnis ist zu Ende gegangen. Am Wochenende gibt es noch einmal die Gelegenheit, sich schauspielerisch Geschichte anzueignen.

Aufführungen am 24., 25., 26. September, 17 Uhr, Treffpunkt: Lovelite, Simplonstr. 38-40, weitere Informationen gibt es unter www.kieztogo.de

http://www.neues-deutschland.de/artikel/180280.k-i-e-z-to-go.html

Peter Nowak

Die Punktierungen haben wehgetan

HEIMKIND Bruno Schleinstein wurde durch Filme Werner Herzogs bekannt. Seine Vita, durch jahrzehntelange Aufenthalte in Anstalten geprägt, war wenig bekannt – bis er sich für die Geschichte der „Asozialen“ engagierte

Ein Gefühl der Heimatlosigkeit begleitete den Künstler Bruno Schleinstein von frühester Kindheit an. 1932 wurde er in Berlin-Friedrichshain geboren. Schon im Alter von drei Jahren wurde er in ein Heim eingewiesen, weil er als uneheliches Kind einer Prostituierten geboren worden war. Allein dieser Umstand machte ihn in den Kategorien der Zeit zu einem „Asozialen“.

Solchermaßen bereits als Kind stigmatisiert, brachte er die nächsten 23 Jahre in verschiedenen Heimen, psychiatrischen Kliniken und sogenannten Besserungsanstalten zu. Die „Stunde null“ änderte daran nicht alles. Die Wittendorfer Kliniken in Reinickendorf, die Städtische Nervenklinik Wiesengrund und die Claszeile 57 in Zehlendorf waren Stationen seiner Odyssee durch Anstalten und Heime.

Viel hat er über diese ihn prägende Zeit nicht preisgegeben. Doch in dem Wenigen, was er über sich in der dritten Person erzählte, werden seine Gefühle umso deutlicher: „Der Bruno wurde nie besucht“, lautete einer seiner Sätze. Oder: „Die Punktierungen haben dem Bruno wehgetan.“ Damit kommentierte er die Experimente, die Ärzte und Psychiater im Nationalsozialismus an den Insassen von Wiesengrund vornahmen.

„Bruno hat oft die Verbindung zwischen Zuchthaus, Arbeitshaus und Friedhof gezogen“, sagt Anne Allex. Die Erwerbslosenaktivistin und Mitbegründerin des Arbeitskreises „Marginalisierte – gestern und heute“ hat Schleinstein vor mehr als zwei Jahren kennengelernt. „Ein Mitstreiter konnte ihn dafür gewinnen, bei Veranstaltungen aufzutreten, die dem Gedenken der im Nationalsozialismus als asozial verfolgten Menschen gewidmet sind.“ Die AG Marginalisierte will dazu beitragen, dass das Schicksal dieser auch in der linken Geschichtsschreibung weitgehend ausgeblendeten Personengruppe dem Vergessen entrissen wird.

Arbeitshaus Rummelsburg

Auf der Vernissage einer von dem Arbeitskreis organisierten Ausstellung über Wohnungslose im Nationalsozialismus hat Schleinstein im Januar 2008 seine Lieder gesungen. Auch vor dem ehemaligen Berliner Arbeitshaus in Rummelsburg ist Schleinstein im selben Jahr zweimal aufgetreten. Das Arbeitshaus war 1879 gegründet worden. Im kaiserlichen Berlin diente es als Strafanstalt für Leute, die der „Bettelei“ bezichtigt wurden. Im Nationalsozialismus wurde die Anlage zum „Städtischen Arbeits- und Bewahrungshaus Berlin-Lichtenberg“ umgebaut. Unter Beteiligung der Kriminalpolizei wurden am 13. Juni 1938 im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ in ganz Deutschland mehr als 10.000 Personen als „Asoziale“ in Konzentrationslager verschleppt. Einer der Ausgangsorte dieser Aktion war das Arbeitshaus in Rummelsburg.

Begleitet von seinem Akkordeon, sang Schleinstein hier nun seine Lieder von Verfolgung und der Sehnsucht nach Freiheit. Vor sich hatte er verschiedene Glocken mit unterschiedlichen Tönen arrangiert, die er im Takt der Musik läutete. Besonders gern trug er das Lied „Die Gedanken sind frei“ vor. „Er betonte jede Silbe und legte Wert darauf, das Lied mit all seinen Strophen zu singen“, erinnert sich Anne Allex.

In dem von der Berliner Filmemacherin Andrea Behrendt erst in diesem Jahr gedrehten Film „arbeitsscheu – abnormal -asozial“ – Zur Geschichte der Berliner Arbeitshäuser“ findet sich nicht nur ein Ausschnitt von Schleinsteins Auftritt vor dem ehemaligen Arbeitshaus in Rummelsburg. Die Filmemacherin konnte ihm Statements entlocken. „Die Armen sind die Sklaven der Reichen, und die Reichen, wer weiß, was die im Keller oder sonst wo versteckt haben“, erzählt Schleinstein. Die Erfahrungen mit seiner Umwelt fasst er in die Worte: „Die Leute nehmen mich nicht für voll, weil ich anders aussehe.“ In die Kritik hat er auch Filmemacher wie Werner Herzog einbezogen, der sich in den 70er Jahren mit seinem Kaspar-Hauser-Film als Entdecker des Künstlers Bruno S. feiern ließ. „Bruno ist doch nur ein Wegwerfartikel“, war sein Kommentar zu dieser Zusammenarbeit Jahre später.

Auch über den Tod hat Schleinstein in Behrendts Doku philosophiert und die höchst originelle Ansicht beigesteuert: „Wenn die Toten singen könnten, würden sie sagen, ich bin ein Star, holt mich hier raus.“ Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass Schleinstein, der am 10. August im Alter von 78 Jahren gestorben ist, seinen Körper für Forschungszwecke an die Charité verkauft hat. Er, der so viele Jahre eingesperrt war, wollte zumindest nach dem Tod nicht wieder auf jemand warten, der ihn rausholt.

Begleitet von seinem Akkordeon, sang Schleinstein hier seine Lieder von Verfolgung und Freiheit

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2010%2F08%2F28%2Fa0205&cHash=801116a25b

Peter Nowak

Der Chronist der Hausbesetzer

FOTOGRAFIE Kaum einer war so nah an der linken Szene wie Michael Kipp. Seine Fotos sind jetzt online zu entdecken

Der Mann mittleren Alters schaut zur Seite mit gekreuzten Armen. Er fühlt sich unbehaglich, das sieht man. Neben ihm steht ein junger Typ in Lederjacke, eine Sturmhaube über den Kopf gezogen. Auch er hat die Arme verschränkt, als wolle er sein Gegenüber imitieren. Ein Plakat an der Wand hilft bei der zeitlichen Datierung: Es ist der Sommer 1981 in Westberlin; das Foto zeigt den damaligen Vizevorsitzenden der Enquetekommission „Jugendprotest im demokratischen Rechtsstaat“ Rudi Haug im schwierigen Dialog mit BesetzerInnen der Potsdamer Straße 152.

Fotografiert hat die Szene Michael Kipp. Er war in der HausbesetzerInnenbewegung vor 30 Jahren als „Mann mit der Kamera“ bekannt und auch regelmäßig für die taz unterwegs. Nachdem Kipp im September 2009 an Lungenkrebs gestorben war, brachte sein Freund Peter Schwarz sechs Umzugskartons mit Fotoabzügen und Negativen zum Umbruch-Bildarchiv. Das stellte eine Auswahl ins Internet.

Einst heiß diskutierte, heute meist vergessene Politaktionen sind hier verewigt. Etwa das Bild eines Blocks nackter, nur mit einer Sturmhaube bekleideter AktivistInnen bei einer Demonstration gegen Häuserräumungen im September 1981. Oder ein Protestzug in den Villenbezirk Grunewald einige Wochen davor. Kipps Foto einer umgekippten Polizeiwanne bei einer Straßenschlacht nach Häuserräumungen im Dezember 1980 ist in viele Zeitungen gedruckt worden. „Michael war einer der ganz wenigen Fotografen, denen die linke Szene der frühen 80er Jahre vertraute“, berichtet seine langjährige Lebensgefährtin.

Kipp wurde 1951 geboren. Einen großen Teil seiner Kindheit und Jugend verbrachte er in Heimen. Später wurde die außerparlamentarische Linke in Westberlin seine politische Heimat. Er war mehr am Lebensgefühl als an Theorie interessiert. „Was Rudi Dutschke gesagt hat, hat mich nicht interessiert. Lieber habe ich mit Fritz Teufel Fußball gespielt“, hat Kipp einmal erklärt.

Neben den Politaktivismus hat Kipp den Alltag in den besetzten Häusern aufgenommen. Da sieht man etwa Alternative und Autonome, die sich einem Plenum über die richtige Demostrategie streiten. Auch ein Foto vom ersten Wahlplakat der Alternativen Liste (AL) von 1979 fand sich in Kipps Nachlass: Es zeigt die Fußsohlen von drei Personen, die nur mit einem Laken bedeckt in einen Krankhausbett liegen. Kipp war Gründungsmitglied der AL; 1979 kandidierte er auf ihrer Liste für die Bezirksverordnetenversammlung Neukölln.

In den 80er Jahren gelang Kipp der berufliche Durchbruch als Fotograf. Spiegel und Stern druckten seine Fotos. 1987 arbeitete Kipp für eine Fotoagentur, die den Wahlkampf des Regierenden Bürgermeisters Eberhardt Diepgen (CDU) managte. Dieses Engagement stieß auf Kritik in der linken Szene.

Plötzlich, von einem Tag auf den anderen, beendete er seine Arbeit als Fotograf und zog zu seiner kranken Mutter. „Unmittelbarer Anlass war eine Steuerschätzung des Finanzamtes, die Kipp Schulden in vierstelliger Höhe bescherte“, erinnert sich Peter Schwarz, Kipps Mitbewohner in einem Hausprojekt in Neukölln. „Kipp vergaß, Rechnungen für seine Fotos auszustellen, und versäumte auch die Steuererklärung.“

Doch er scheint auch die plötzlichen Veränderungen in seinem Leben genossen zu haben. „Wenn Kipp Erfolg hatte, zog er sich zurück“, meint Peer Zeschmann vom Rixdorfer Café Linus, wo Kipp nach dem Tod seiner Mutter zum Stammgast wurde und von seiner Vergangenheit als Fotograf schwärmte. „Finanziell befand er sich damals auf dem Status eines Sozialhilfeempfängers. Mit Putzarbeiten besserte er seine kargen Einkünfte auf, bis er nach einem Streit Hausverbot bekam“, erinnert sich Zeschmann.

Zum Millenniumswechsel wollte Kipp noch einmal etwas Neues ausprobieren und bildete sich autodidaktisch zum Computerexperten aus. Die Lungenkrebsdiagnose machten seine Zukunftspläne zunichte. „Michael hatte auch nach vielen Krankenhausaufenthalten und gescheiterten Therapieversuchen noch einen enormen Lebenswillen“, erinnert sich Schwarz. Kipp plante in den letzten Wochen noch die Veröffentlichung seiner Fotos im Internet, doch die Krankheit war stärker. Das Umbruch-Bildarchiv hat mit der Fotogalerie nicht nur den Mann mit der Kamera, sondern auch ein Stück Westberliner Geschichte vor dem Vergessen bewahrt.

 Bilder unter www.umbruch-bildarchiv.de

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2010%2F08%2F10%2Fa0150&cHash=fb3be2ec74

Peter Nowak

Wenn ein Gespräch über Spatzen zum Verbrechen wird

Es gibt viele Filme über politische Repression.  Doch der „Tag der Spatzen“ ist in vielerlei Hinsicht der außergewöhnlichste Film in diesem Genre. Schon der Beginn ist ungewöhnlich.  Die Kameraführung ist extrem langsam. Erst putzen sich mehrere Hausspatzen, dann kommt ein einzelner Sperling  ins Bild Der Filmemacher Philipp Scheffner will damit an eine wenig beachtete Episode
erinnern. Am   14. November 2005 wird im holländischen Leeuwarden ein Spatz erschossen, nachdem er 23000 Dominosteine umgeworfen hat, die für eine Ausstellung aufgebaut worden waren. Via Internet war der „Dominospatz“  weltweit bekannt geworden. Er wurde schließlich konserviert und der holländische Wachtdienst bekam Todesdrohungen. Ebenfalls am 14. November 2005 starb in Afghanistan ein deutscher Soldat bei einem Selbstmordattentat. Damit sind die beiden  Grundthemen  des Films beschrieben. Die Vögel und der Krieg.

Militär und Natur
Immer wieder führt die Kamera durch Natur, durch Wälder, die aus der Perspektive eines Vogelkundlers betrachten werden. Lustige Vögel mit langen Beinen watscheln öfter durch das Bild.  Der Filmemacher kann dabei auf eigene Erfahrungen
zurückblicken. Scheffner ist von frühester Jugend an ein begeisterter Vogelbeobachter und politisch bewusster Zeitgenosse.  Mit der Kamera wird er die Zuschauer in abgelegene scheinbar idyllische Gegenden gelotst, wo es kaum Menschen gibt. Gerade dort  trifft der Filmemacher auf militärische Einrichtungen, die möglichst wenig Publicity wünschen. Dazu gehört das nsatzführungskommando in der Henning-von-Tresckow-Kaserne in einem Wildpark bei Potsdam, wo laut eigener Homepage “Operationen gegen irreguläre Kräfte“ geprobt werden. Das Bild zeigt drei Soldaten, von denen einer ein Gewehr auf einen Menschen in ziviler Kleidung richten.     Das „Zentrum für Operative Information“, eine Bundeswehrdienststelle bei Mayen wurde bei Scheffners Vogelsuche ebenso umrundet, wie der Flughafen Büchel. Auch Militärstellen, die  mögliche Schäden auf Militärflughäfen durch Vogelflug untersuchen, werden vorgestellt.

„Wir wollen nicht in ihrem Film auftauchen“

Im Film werden auch die Schwierigkeiten dokumentiert, denen Scheffner beim Drehen seines Naturfilms  durch militärische Stellen, die argwöhnten, ausspioniert zu werden, begegnet. Als sich  Scheffner dann gar bei Bundeswehrstandorten in Afghanistan nach dem
Vogelschutz erkundigen will, wird die im Film vorgestellte Kommunikation unfreiwillig komisch. Zeigte die Pressestelle  der Bundeswehr anfangs noch verhaltenes Interesse an dem Projekt, so kam bald die Absage. Doch Scheffner gab nicht auf und nahm
immer  Kontakt auf, bis sich ein Ministerialbeamter weitere Kommunikationsversuche verbittet. Im Film sind der Emailverkehr und verschiedene Telefonate eingeblendet. Manchmal wundert man sich über Scheffners Hartnäckigkeit und seine Versuche, der Bundeswehr die Vorteile einer neuen Offenheit vor Augen zu führen.

Festnahme in Rambo-Manier
Der Höhepunkt des Filmes aber ist die Verhaftung seines Freundes Harald im Jahr 2007. Er wurde  mit 2 weiteren  Männern  von der Polizei bei einer antimilitaristischen Aktion verhaftet. Man sieht den Verhafteten nach seiner Haftverschonung  bei der Vogelbeobachtung mit dem Filmemacher ins Gespräch vertieft. Fast beiläufig berichtet Harald über die Festnahme in Rambo-Manier, bei der die Polizei erst die Fenster des Autos und dann auf die Insassen einschlug. Bei einem der Beteiligten löste diese  Festnahmesituation ein Trauma aus und er ist noch immer in ärztlicher Behandlung.  Harald berichtet auch, wie
er nach seiner Festnahme per Hubschrauber zur Bundesanwaltsschaft nach Karlsruhe transportiert wurde, dabei seine Flugangst überwunden hat und noch einmal einen Blick in deutsche Vorgärten werden konnte. Er genoss die Situation, weil er
wusste, dass er längere Zeit solche  Blicke  wissen wird. Wenn Harald dem Filmemacher dann über sein antimilitaristisches Engagement und die Prozessführung erzählt und beide gleichzeitig ins Fernrohr blicken, wirken sie selber wie zwei weise Vögel   
„Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen ist, weil sie soviel Gesagtes mit einschließt“, schrieb Brecht. Scheffner hat  mit seinem Film den Satz variiert. „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch fast ein
Verbrechen ist…“. Den Film sollte man sich nicht entgehen lassen, wenn er gelegentlich in Programmkinos und vielleicht demnächst auch mal bei Arte läuft.
Wer darauf nicht warten will, kann ihn ausleihen über das Berliner Institut für Film und Videokunst Arsenal (www.arsenal-berlin.de

Peter Nowak
„Der Tag des Spatzen“. Regie: Philip Scheffner. Essayfilm, Deutschland 2010, 104
Min. Infos zum Film im Netz: http://www.dertagdesspatzen.de/

veröffentlicht in der Publlikation Gefangeninfo http://www.gefangenen.info/