Der Hamburger Politikwissenschaftler Helge Buttkereit analysiert in seinem Buch „Utopische Realpolitik – Die Neue Linke in Lateinamerika“ die Entwicklungen in Bolivien, Venezuela, Ecuador und die zapatistische Bewegung in Südmexiko. Dabei stellt er vor allem die Gemeinsamkeiten heraus und versucht, diese Entwicklungen auf die hiesigen Verhältnisse rückzukoppeln. Seine Auswahl begründet der Autor schlüssig: Er wolle einen „Schwerpunkt auf die Bewegungen legen, die konkret über das derzeit möglich erscheinende hinaus orientiert sind, die also eine mehrheitsfähige utopische Realpolitik betreiben.“ Anders als in Brasilien, Chile und Uruguay erkennt er in den von ihm behandelten Ländern grundlegende Transformationsprozesse. Als Beispiel nennt er die Einberufung von Verfassungsgebenden Versammlungen in Bolivien, Ecuador und Venezuela, die bisher ausgeschlossene Bevölkerungsteile wie die Indigenen oder die BarriobewohnerInnen einbeziehen. Dabei setzt er sich im Fall Venezuela durchaus kritisch mit dem Chavez-Kult auseinander, ohne die eigenständige Organisierung an der Basis zu vernachlässigen. Anders als andere linke Lateinamerikaspezialisten sieht Buttkereit in der zapatistischen Bewegung keinen fundamentalen Gegensatz zu den Entwicklungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador. Im ersten Kapitel versucht er, über das Konzept der revolutionären Realpolitik einen Brückenschlag zwischen der Linken in Lateinamerika und den sozialen Bewegungen in Europa herzustellen. Allerdings bleibt sein Konzept einer Neuen Linken, das er von einer Realpolitik wie bei der Linkspartei abgrenzt, recht vage. Die Stärken des Buches liegen da, wo Buttkereit politische und soziale Prozesse in Lateinamerika mit Sympathie analysiert, ohne die kritischen Punkte auszublenden.
Peter Nowak
Helge Buttkereit: Utopische Realpolitik. Die Neue Linke in Lateinamerika. Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2010, 162 Seiten, 16,90 EUR
Sicherheitsbranche zwischen Niedriglohn und Law-and-Order-Praktiken
Die Sicherheitsbranche gehört seit Jahren zu den boomenden Branchen im Niedriglohnsektor. Gewerkschaften versuchen seit Jahren das Personal in dieser Branche zu organisieren, um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Gleichzeitig ist der boomende Sicherheitsbereich für viele bürgerrechtliche Organisationen auch eine Quelle von Überwachung, Ausgrenzung und Law-and-Order-Praktiken. Mit diesen Ambivalenzen wird sich am Wochenende die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisierte internationale Konferenz Städtische Sicherheitspolitiken im internationalen Vergleich – Urban Security Work Spaces beschäftigen. Telepolis sprach mit zwei Konferenzorganisatoren, den Politikwissenschaftlern Kendra Briken und Volker Eick, die beide seit Jahren zu den internationalen Sicherheitspolitiken forschen.
Welche Ziele verfolgen Sie mit der Konferenz?
Volker Eick: Es sind drei Ziele: Erstens, wir brauchen eine gesellschaftspolitische Diskussion über die Zukunft, Qualifikation und Legitimation des privaten Sicherheitsgewerbes im öffentlichen Raum. Mit Blick auf die Vorkommnisse während der jüngsten Loveparade sprechen wir vom „Duisburg-Komplex“. Wir müssen zweitens zur Kenntnis nehmen, dass staatliche Polizei bei Großveranstaltungen, wie etwa bei politischen Demonstrationen, regelmäßig Demonstranten tötet. Wir brauchen auch über diese Tatsache, den „Genua-Komplex“, eine Diskussion. Drittens, Polizeibeamte und Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste sind als Beschäftigte auf einem sich globalisierenden Arbeitsmarkt tätig. Wir haben es mit einem Markt zu tun, auf dem Angebot und Nachfrage von interessierter Seite auch geschaffen werden. Wie dieser Arbeitsmarkt strukturiert ist, wie er reguliert wird oder eben nicht, wer hier mit wem zusammenarbeitet, welchen Einfluss die gegenwärtige Krise auf das Verhalten von beiden Berufsgruppen hat, wer wen wofür ins offene Messer laufen lässt, darüber wollen wir reden.
Kendra Briken: Unsere Annahme bei allen drei Punkten ist, dass „Sicherheit“ zu einer Rechtfertigung für staatliche wie privatwirtschaftliche Interventionen bzw. Angebote geworden ist. Auf dem Spiel steht dann, da machen die libertären Ansätze, etwa solche der Piratenpartei oder diejenigen Ansätze aus dem Spektrum der Linkspartei einen richtigen Punkt, die individuelle Freiheit. Zugleich folgen sie damit aber einem Diskurs, der sie ins politische Aus stellt. Sicherheit und Unsicherheit werden konstruiert, sie sind Ausdruck von Macht, Interessen und sozialer Ungleichheit. Sicherheit ist ein soziales Verhältnis, auch das wird zu diskutieren sein.
Welche Themen stehen im Vordergrund?
Volker Eick: Wir haben uns drei Aufgaben gestellt, die alle international vergleichend angegangen werden: Wir wollen besser verstehen, wie von Seiten der Polizei und von privaten Sicherheitsdiensten mit so genannten Randgruppen, etwa Obdachlosen, im öffentlichen Raum umgegangen wird. Wir wollen aber auch klären, welche Strategien Polizei einsetzt, um politischem Protest zu begegnen. Wenn in einer Krise wie der gegenwärtigen der Protest zunimmt, was bedeutet das aus polizeilicher Sicht? In Arizona beispielsweise hat man von Regierungsseite aus begonnen, so genannte illegale Ausländer zu jagen, um von der wirtschaftlichen Not abzulenken. In Frankreich beobachten wir ein ähnliches Phänomen; dort werden derzeit EU-Bürger abgeschoben. Drittens, wie verändert sich unter Krisenbedingungen das Anforderungsprofil an die Polizei, an private Sicherheitsdienste?
Welche Auswirkungen hat die Wirtschaftskrise auf die städtische Sicherheitspolitik?
Volker Eick: Zunächst einmal wächst das private Wach- und Sicherheitsgewerbe im Zeichen der Krise.
Kendra Briken: Das schlägt sich aber nicht positiv auf den Lohnzetteln der Beschäftigten nieder, sondern bei den Profiten der Unternehmen. Man kann sagen, dass die gegenwärtige Krise einen Markt geschaffen hat, auf dem sich Geld verdienen lässt. Deutschland gehört zu den wenigen Ländern, die die private Sicherheitsbranche rechtlich nicht reguliert haben. Verfolgt man die Debatten, will man das wohl auch nicht.
Volker Eick: Der Polizeiapparat reagiert langsamer, aber auch hier ist absehbar: Mit Depression kommt Repression, während gleichzeitig über neue Präventionsstrategien nachgedacht wird.
Gibt es gewerkschaftliche Strategien, um dem Lohndumping in der Sicherheitsbranche zu begegnen?
Volker Eick: Die Gewerkschaft ver.di und die Lobbyorganisation des Wach- und Sicherheitsgewerbes, der Bundesverband des Wach- und Sicherheitsgewerbes, haben sich auf einen bundesweit geltenden Mindestlohntarifvertrag geeinigt. Der liegt zwar hinter der Forderung zurück, dass ab sofort mindestens 7,50 Euro pro Stunde gezahlt werden sollen, aber er zieht eine Linie gegen die unglaublich schlechten Lohn- und Arbeitsbedingungen im Gewerbe ein.
Kann man einerseits für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen im Sicherheitsbereich kämpfen und andererseits die Gefahren der Law-and-Order-Praktiken thematisieren, die mit dem boomenden Sicherheitsbereich ebenfalls verbunden sind?
Volker Eick: Ja. Genau deshalb haben wir nicht nur wissenschaftliche Kolleginnen und Kollegen eingeladen, sondern auch Gewerkschafts- und Unternehmensvertreter. Es gibt beispielsweise in der Branche Firmen, die von Neonazis betrieben werden. Da liegt es in der Verantwortung von beiden Seiten, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, klar Stellung zu beziehen. Wenn mit Unsicherheitsgefühlen Politik gemacht wird, gilt das auch: Nur weil sich damit Geld verdienen lässt – ob als höherer Profit oder besserer Lohn –, kann das nicht heißen, dass man sich an solcher Propaganda unkritisch beteiligt.
Kendra Briken: Wobei die Branche insgesamt in der Gefahr steht, sexistische, rassistische und soziale Ungleichheiten zu reproduzieren. Schließlich gilt es, den Wünschen der Kunden entsprechend Räume zu „sichern“, also von so genannten Störern zu säubern. Das Schweizer Unternehmen Securitas, das jüngst einen Auftrag ablehnte, weil die Beschäftigten als Türsteher nach rassistischen Kriterien selektieren sollten, bleibt die Ausnahme.
Welche Auswirkungen haben die technischen Fortschritte in der Biometrie und Überwachungstechnik für die Sicherheitsbranche?
Volker Eick: Sehr große. Es ist ja so, dass der polizeiliche Alltag und der Alltag von Mitarbeitern privater Sicherheitsdienste immer mehr von neuen Technologien mitbestimmt werden. Sie sind die ersten, die damit zu tun haben. In Kanada beispielsweise ist die Überwachung von Mitarbeitern privater Sicherheitsdienste durch die Geschäftsführung via Satellit weit verbreitet.
Kendra Briken: Wir wissen, dass beispielsweise Bildschirmarbeit – die Überwachung von Videokameras bedeutet ja nichts anderes – extrem gesundheitsschädlich ist. Das ist sozusagen die Anwenderperspektive. Für diejenigen, die überwacht und kontrolliert werden, stellen sich dagegen ganz andere Fragen, etwa die nach Bürger- und Menschenrechten. Diese beiden Diskussionsstränge wollen wir zusammenbringen.
Volker Eick über die Pluralisierung von Überwachung in urbanen Räumen / Der Berliner Politikwissenschaftler ist Mitorganisator einer Konferenz über städtische Sicherheitspolitik
Volker Eick über die Pluralisierung von Überwachung in urbanen Räumen / Der Berliner Politikwissenschaftler ist Mitorganisator einer Konferenz über städtische Sicherheitspolitik
ND: Welche Ziele verfolgen Sie mit der Konferenz »Städtische Sicherheitspolitiken im internationalen Vergleich«, die von der Berliner Freien Universität und der Frankfurter Goethe-Universität an diesem Wochenende in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin veranstaltet wird?
Eick: Wir brauchen eine gesellschaftspolitische Diskussion über die Zukunft, Qualifikation und Legitimation des privaten Sicherheitsgewerbes im öffentlichen Raum. Mit Blick auf die Vorkommnisse während der jüngsten Loveparade sprechen wir vom »Duisburg-Komplex«.
Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass staatliche Polizei bei Großveranstaltungen, etwa bei politischen Demonstrationen, regelmäßig Demonstranten tötet. Wir brauchen auch über diese Tatsache, den »Genua-Komplex«, eine Diskussion. Und nicht zuletzt: Polizeibeamte und Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste sind als Beschäftigte auf einem sich globalisierenden Arbeitsmarkt tätig. Wie dieser strukturiert ist, wie er reguliert wird oder eben nicht, wer hier mit wem zusammenarbeitet, welchen Einfluss die gegenwärtige Krise auf das Verhalten von beiden Berufsgruppen hat, wer wen wofür ins offene Messer laufen lässt, darüber wollen wir reden.
Was steht auf dem Programm?
Wir haben uns drei Aufgaben gestellt, die alle international vergleichend angegangen werden: Wir wollen besser verstehen, wie von Seiten der Polizei und von privaten Sicherheitsdiensten mit so genannten Randgruppen – etwa Obdachlosen – im öffentlichen Raum umgegangen wird. Wir wollen aber auch klären, welche Strategien Polizei einsetzt, um politischem Protest zu begegnen.
In Arizona etwa begann man von Regierungsseite aus, so genannte illegale Ausländer zu jagen, um von der wirtschaftlichen Not abzulenken. In Frankreich beobachten wir ein ähnliches Phänomen; dort werden derzeit EU-Bürger abgeschoben. Und drittens: Wie verändert sich unter Krisenbedingungen das Anforderungsprofil an die Polizei, an private Sicherheitsdienste?
Welche Auswirkungen hat die Wirtschaftskrise auf die städtische Sicherheitspolitik?
Das private Wach- und Sicherheitsgewerbe wächst im Zeichen der Krise. Der Polizeiapparat reagiert langsamer, aber auch hier ist absehbar: Mit Depression kommt Repression, während gleichzeitig über neue Präventionsstrategien nachgedacht wird.
Gibt es gewerkschaftliche Strategien, um Lohndumping in der Sicherheitsbranche zu begegnen?
Die Gewerkschaft ver.di und die Lobbyorganisation des Wach- und Sicherheitsgewerbes, der Bundesverband des Wach- und Sicherheitsgewerbes, haben sich auf einen Mindestlohn-Tarifvertrag geeinigt. Der liegt zwar hinter der Forderung von mindestens 7,50 Euro zurück, aber er zieht eine Linie gegen die unglaublich schlechten Lohn- und Arbeitsbedingungen im Gewerbe ein.
Wird auch Sicherheitspolitik als Ursache von Ausgrenzung und Law&Order-Praktiken diskutiert?
Ja, und genau deshalb haben wir nicht nur wissenschaftliche KollegInnen eingeladen, sondern auch Gewerkschafts- und Unternehmensvertreter. Es gibt in der Branche etwa Firmen, die von Neonazis betrieben werden. Da liegt es in der Verantwortung von beiden – Arbeitgebern und Arbeitnehmern –, klar Stellung zu beziehen. Das gilt auch, wenn mit Unsicherheitsgefühlen Politik gemacht wird. Nur weil sich damit Geld verdienen lässt – ob als höherer Profit oder besserer Lohn –, kann das nicht heißen, dass man sich an solcher Propaganda unkritisch beteiligt.
Osaren Igbinoba (D.I.) ist Mitglied des Koordinationsbüros der Flüchtlingsorganisation The Voice Refugee Forum in Jena. The Voice wurde 1994 gegründet und kämpft seitdem u. a. für die Abschaffung der Residenzpflicht.
ND: Einige Bundesländer wie Brandenburg und Berlin haben kürzlich Lockerungen der Residenzpflicht beschlossen. Begrüßen Sie das?
Igbinoba: Es ist schön, dass nach 16 Jahren Kampf von Flüchtlingsorganisationen wie The Voice gegen die Residenzplicht eine Generation von jungen Politikern herangewachsen ist, die nun eine schüchterne parlamentarische Initiative angestoßen haben und sie endlich diesem Thema im Landtag Platz schaffen. Es bleibt die Fragen, wieso gerade jetzt und wieso nicht schon früher und warum geht man den Weg nicht jetzt schon zu Ende und schafft die Residenzpflicht völlig ab.
Warum kritisieren Sie in einer Presseerklärung einige linke Aktivisten wegen deren positiven Stellungnahme zur Lockerung der Residenzpflicht?
D.I.: Dieses Gesetz ist kein Grund zu feiern, weil es die generelle die Residenzpflicht nicht aufhebt. Es dient auch dazu, den Flüchtlingen erneut zu bestätigen, dass sie immer nach wie vor unterdrückt werden. Mit einer Hand wird etwas gegeben, und die andere Hand wird dazu benutzt, zuzuschlagen. Das ist der Gegenstand unserer Kritik an die Politik.
Wie wollen Sie in Zukunft gegen die Residenzpflicht kämpfen?
D.I.: Wir hatten im Juni 2010 in Jena ein internationales Festival organisiert, das darauf fokussiert war, die Isolation der Flüchtlinge in den Heimen zum Thema zu machen. Wir bereiten jetzt ein „Karawane International Tribunal für die Rechte der Migrantinnen und Flüchtlinge vor, das die Residenzpflicht untersuchen wird. Und wir werden unseren täglichen Kampf gegen die Unterdrückung der Flüchtlinge dokumentieren, künstlerisch durch Ausstellungen und Medienprojekte stärker präsent sein und das Problem weiter in das Bewusstsein der Öffentlichkeit bringen. Denn die prekäre rechtliche Lage der Flüchtlinge, kann nur deswegen
aufrechterhalten werden, weil von Seiten der Politik der Mantel des Schweigens darüber ausgebreitet wird und das Problem vor der eigenen Bevölkerung versteckt wird.
Wird es von Ihrer Seite auch weiterhin eine Zusammenarbeit mit den von Ihnen kritisierten deutschen Linken geben?
D.I.: Wir sind weiterhin offen für Zusammenarbeit und Austausch mit denjenigen, die sich vorgenommen haben, die Stellen auszubessern, wo unser System immer noch versagt. Wir erwarten von unseren Mitstreitern, dass sie eine klarere Position einnehmen bezüglich der Unterdrückung der Flüchtlinge in dem Land,das diese eigentlich von Unterdrückung befreien sollte.
Halten Sie in dieser Frage eine Politik der kleinen Schritte auch in Zukunft nicht für denkbar?
D.I.: Menschenrechte sind nicht nur nicht verhandelbar, sie können auch nicht verkauft werden. Aber heute erleben wir, wie sie auf zynische und menschenverachtende Weise zum Kauf angeboten werden, wenn deren Ausübung durch Menschen ohne finanzielles Einkommen, durch die Verwaltung mit Gebühren belegt wird. Es geht um Gebühren für die Stellung eines Antrags auf Verlassen des Landkreises. Das ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie das Geld, das von staatlicher Seite für die Betreuung der Flüchtlinge bereitgestellt wird, am Ende dafür benutzt wird, um eine Kollektivbestrafung an ihnen vorzunehmen. Und zur Änderung dieses
Missstandes wird eine Politik der kleinen Schritte vorgeschlagen. Sie fragen mich ernsthaft, ob ich das für den richtigen Weg halte?
Jour-fixe-Initiative prüft linke Staatstheorien auf ihre Gültigkeit
Galt er im Neoliberalismus schon als ineffizientes Auslaufmodell wird in der Krise wieder nach dem Staat gerufen, der die Banken und auch manchen Konzern retten soll. Haben sich auch all die linken Theoretiker blamiert, die angesichts der Globalisierung vom Souveränitätsverlust der Nationalstaaten sprachen? Und welche Bedeutung haben in dieser Situation soziale Kämpfe? Mit diesen Fragen beschäftigen sich zehn Aufsätze, die in dem Sammelband »Souveränitäten – von Staatsmenschen und Staatsmaschinen« versammelt sind, der von der Berliner Jour-Fixe-Initiative herausgeben wird. Sie organisiert seit Jahren Veranstaltungen zu aktuellen Themen auf hohem theoretischen Niveau und publiziert die Referate einmal jährlich in einem Buch im Unrast-Verlag.
»Wir untersuchen in diesem Sammelband Konstitution und Wirkungsweise staatlicher Macht und befragen verschiedene Staatstheorien auf ihre Gültigkeit«, schreiben die Herausgeber. So setzt sich der kürzlich verstorbene französische Philosoph Daniel Bensaid, dem das Buch gewidmet ist, in seinem letzten Text kritisch mit verschiedenen linken Theorien zur Staatstheorie und -kritik von David Harvey, Antonio Negri bis zu John Holloway auseinander. Der Soziologieprofessor Bob Jessop untersucht, was nach dem Neoliberalismus kommt.
Auffällig an der Themengestaltung der Jour-Fixe-Reihe ist, dass heute wenig bekannten historischen Debatten viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Bini Adamczak hat die mehr als hundert Jahre alte Diskussion zwischen Kautsky, Lenin und Trotzki neu gelesen und interpretiert. Michael Koltan nimmt sich ebenfalls ein historisches Thema vor – das Verhältnis zwischen den Räten und der Bolschewiki nach der Oktoberrevolution – und unterzieht dazu Lenins berühmte Schrift »Staat und Revolution« einer gründlichen Analyse. »Je nachdem, wie sich die Krise entwickelt, könnten Lenins Theorien schneller wieder im Zentrum politischer Diskussionen stehen, als manchem lieb ist«, so Koltan.
Bündnis der Emmelys dieser Welt
Etwas diffus ist das Plädoyer des Hallenser Soziologen Ulrich Bröckling für »eine andere Souveränität«. Seine »Widerstände im kybernetischen Kapitalismus« erschöpfen sich in dem Vorschlag: »Anders zu sein, schließt Verweigerung ebenso ein, wie die Verweigerung der Verweigerung.« Da kann man tagsüber seine IT-Firma gewerkschaftsfrei halten und abends zum Tocotronic-Konzert gehen. Denn, so Bröckling, »die Vorstellung von sozialen Kämpfen, gar Klassenkämpfen im Feld der Arbeit, werden in der Totalität des Sogs in die Selbstunterdrückung erstickt«. Danach dürfte es die Emmelys dieser Welt gar nicht mehr geben, für die die Nürnberger Soziologin Ingrid Artus eine Lanze bricht. Sie stellt den Kampf einer Berliner Kaiser’s-Kassiererin gegen ihre Kündigung wegen eines falsch abgerechneten Flaschenbons in Höhe von 1,30 Euro in den Mittelpunkt ihres Aufsatzes über »Prekäre Kämpfe«. Bei Drucklegung hatte die als Emmely bekannt gewordene Frau ihren Kampf noch nicht gewonnen. Nach ihrem Erfolg ist Artus‘ Fazit noch aktueller: »Die wichtigste Waffe des neuen Prekariats ist sicherlich dieselbe wie die des alten Proletariats: Solidarität.«
Jour fixe Initiative Berlin (Hg.): Souveränitäten – von Staatsmenschen & Staatsmaschinen, Unrast-Verlag, Münster 2010, 202 Seiten, 16 Euro.
Ex-Opelaner Wolfgang Schaumberg über die Niederlage linker Gewerkschafter bei der Betriebsratswahl
Wolfgang Schaumberg arbeitete 30 Jahre im Opel-Werk Bochum und war 25 Jahre lang im Betriebsrat. Auch als Vorruheständler ist er weiterhin in der linksgewerkschaftlichen Gruppe »Gegenwehr ohne Grenzen« (GoG) aktiv. Über die Betriebsratswahl 2010 sprach mit ihm Peter Nowak.
ND: Die Gruppe »Gegenwehr ohne Grenzen« (GoG) hat bei der letzten Betriebsratswahl bei Opel-Bochum erstmals seit 30 Jahren keinen Sitz bekommen. War die Niederlage überraschend?
Schaumberg: Nicht wirklich. Wir haben unsere Stimmenzahl von der letzten Betriebsratswahl gehalten. Damals haben wir im Bündnis mit der »Liste Offensiv« kandidiert, einer weiteren linken Gewerkschaftsgruppe. Jede Gruppe hatte einen Sitz. Bei der diesjährigen Betriebsratswahl haben wir getrennt kandidiert. Die »Liste Offensiv« hat ihren Sitz gehalten, weil sie mehr Stimmen hatte. Wir gingen leer aus.
War es also ein Fehler, getrennt zu kandidieren?
Wir sehen die Eigenkandidatur auch im Nachhinein nicht als Fehler. Die politischen Vorstellungen waren in vielen Fragen zu unterschiedlich. Im Gegensatz zur »Liste Offensiv« war die GoG nicht in der Lage, im Wahlkampf mit einem historischen Optimismus aufzutreten.
Was war der Schwerpunkt Ihres Betriebsratswahlkampfes?
Wir haben auf die Eigeninitiative der Beschäftigten gesetzt. Das Motto unserer Liste lautete: »Gegenwehr – das müssen wir schon selber tun«. Das ist auch ein Bruch mit einer Art linker Gewerkschaftsarbeit, die Hoffnungen auf den Betriebsrat setzt, wenn da nur die richtigen Leute drin sind.
Warum haben Sie nicht mehr Zustimmung bekommen?
Viele Kollegen sagen uns, Ihr habt mit Euren Forderungen recht, aber wo ist die Bewegung, die sie durchsetzen kann? Die Fabrik kann nicht als gallisches Dorf alleine Widerstand leisten.
Es gibt außerbetriebliche linke Gruppen, die Flugblätter vor dem Fabriktor verteilen …
Die gibt es, doch sie tragen oft eher zur Resignation der Bewegung bei. Deren Forderungen führen bei den Kollegen oft zu Kopfschütteln, weil sie die konkrete Situation im Betrieb überhaupt nicht erfassen.
Können Sie ein Beispiel dafür geben?
Wenn die Vergesellschaftung von Opel-Bochum gefordert wird, fragen die Kollegen mit Recht, wie soll das gehen in einem Betrieb, der hochgradig in die globale Produktion integriert ist? Selbst die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden halten viele Kollegen für unrealistisch.
Hatten Sie Kontakt zu Kollegen in anderen Opel-Werken?
Wir haben viele Versuche gestartet, um uns mit den Kollegen zu vernetzen und gemeinsam gegen das General-Motors-Management agieren zu können. Dabei haben wir aber zu viel Wert auf den Kontakt zu Gewerkschaftsfunktionären und Betriebsräten gelegt und die betriebsübergreifende Debatte mit den Kollegen in den anderen Werken vernachlässigt. Deswegen ist aus unseren internationalen Kontakten keine lebendige Zusammenarbeit entstanden.
Wie will die GoG ohne Betriebsratsmandat weitermachen?
Wir wollen über die klassische Gewerkschaftsarbeit hinausgehen, die sich in wöchentlichen Treffen und dem Verteilen von Flugblättern erschöpft. Beispielsweise haben wir bei der letzten Personalversammlung, als Bettlertruppe verkleidet, Arbeitshetze und Lohnverzicht kritisiert.
Erinnerung an einen linken Intellektuellen – von Peter Nowak
Christian Riechers: »Die Niederlage in der Niederlage. Texte zu Arbeiterbewegung, Klassenkampf, Faschismus«, herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Felix Klopotek, Münster 2010, ISBN: 978-3-89771-453-3, 576 Seiten, 28 Euro
Immer wieder entdecken Linke den Charme von Extremismus- und Totalitarismustheorien, um die Irrwege linker Theorie und Praxis zu erklären. Dabei wird ignoriert, dass es häufig Dissidenten der Arbeiterbewegung und der Linken waren, die den Stalinismus und andere linke Irrwege schon früh mit analytischer Schärfe kritisierten, ohne auf die rostigen Requisiten aus dem Fundus der Totalitarismustheorie zurückzugreifen. Der Münsteraner Unrast-Verlag will mit seiner Reihe »Dissidenten der Arbeiterbewegung« einige dieser heute weitgehend vergessenen linken Theoretiker und Aktivisten einer größeren Öffentlichkeit zugänglich machen.
Gleich mit dem ersten Band hat der Verlag einen Glücksgriff getan. Der Kölner Publizist Felix Klopotek hat den Nachlass des 1973 mit 57 Jahren verstorbenen Hannoveraner Politologen Christian Riechers herausgegeben. Bis zu seiner schweren Krankheit lehrte und forschte Riechers an der Universität Hannover und engagierte sich dort besonders in der Erforschung der lokalen Arbeiterbewegung. Doch daneben beschäftigte er sich seit Mitte der 60er-Jahre vor allem mit jenen Linken bzw. Kommunisten Italiens, die in den ersten Jahren der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale (der sog. Dritten Internationale,kurz Komintern) eine zentrale Rolle spielten, aber aus der ›nominalsozialistischen‹ Geschichtsschreibung ausgeblendet wurden oder als verfemt galten. Zu nennen ist dabei in erster Linie der erste Vorsitzende der KPI, Amadeo Bordiga. Als Riechers in den 60er-Jahren seine Studien zur Geschichte der italienischen Kommunisten aufnahm, war Bordiga weitgehend vergessen. Riechers wollte in Italien eigentlich über Antonio Gramsci forschen. Dieser war damals in den Teilen der Linken, die kritisch zum Nominalsozialismus standen, das große historische Vorbild, hatte er doch schon früh Fehlentwicklungen in der Sowjetunion kritisiert. Gramscis Hegemonietheorie schien zudem für die akademische Linke der 60er- und 70er-Jahre der Schlüssel zur Veränderung der Gesellschaft. Dass Gramsci an den Folgen der faschistischen Haft verstorben war, erhöhte sein Ansehen bei ihnen. Doch Riechers, der auf den Spuren von Gramsci nach Italien gegangen war, wurde zu dessen schärfstem Kritiker. Er traf in Italien noch mit Angehörigen der ersten Generation der italienischen Kommunisten zusammen, unter anderem mit Amadeo Bordiga. In den folgenden Jahren sollten ihn die Auseinandersetzungen der frühen italienischen kommunistischen Bewegung nicht mehr loslassen – wie sich in dem nun vorliegenden Band zeigt.
Der Band enthält zum einen Texte, die verstreut in wissenschaftlichen Zeitschriften und anderen Publikationen veröffentlicht sind, zum anderen aber auch bislang unveröffentlichte Manuskripte, die Klopotek durch Recherchen im bis dahin ungesichteten Nachlass des Autors bergen konnte.
Riechers beginnt mit seiner programmatischen Schrift »Arbeiterklasse und Faschismus« (S. 52) und endet mit dem nicht mehr vollendeten, nur handschriftlich erhaltenden und hier jetzt veröffentlichten Aufsatz »Amadeo Bordiga: Unperson, Abweichler, Altmarxist« (S. 546ff.). Darin kritisiert Riechers u.a. eine bestimmte Art der auch in der Linken populären »Renegatenliteratur«. So schreibt er über Bordiga: »Als historischer Materialist … konnte er, der 1926 den gefürchteten Stalin aus der Reserve lockte und zu Eingeständnissen eigener menschlicher Schwächen zwang, auch ›keinem Gott, der keiner war‹, abschwören.« Er nimmt damit Bezug auf den Titel einer von Arthur Köstler herausgegebenen Abrechnungsschrift ehemaliger Kommunisten, die – anders als Bordiga – tatsächlich an Stalin geglaubt hatten.
Riechers Texten merkt man die Sympathie für das Lebenswerk von Bordiga an, trotzdem bleibt er auch ihm gegenüber kritisch. Vor allem zu Bordigas politischen Epigonen, die sich in verschiedenen kleinen Gruppen und Zirkeln organisieren (in Deutschland gibt eine der Gruppen seit Jahren die Publikation Weltrevolution heraus), bleibt er auf Distanz. Klopotek weist in seiner Einleitung darauf hin, dass Riechers niemals Mitglied eines bordigistischen Zirkels gewesen sei, vielmehr misstrauisch von »echten« Bordigsten beäugt wurde, als er Ende der sechziger Jahre eine kommentierte Übersetzung und Werkausgabe plante (S. 26). In zahlreichen der in dem Buch dokumentierten Aufsätze, Vorträge und Rezensionen kritisiert Riechers Antonio Gramsci als maßlos überschätzten Theoretiker, weil »die Figur Gramscis zu einem Ursprungsmythos der italienischen Kommunistischen Partei geworden ist, deren Konturen lange Zeit in der Geschichte verschwammen«. (S. 134). In dem hier erstmals schriftlich veröffentlichten Rundfunkbeitrag: »Gramsci – eine nicht notwendige Legende« (S. 170) wirft er ihm auch vor, die italienische KP Mitte der 20er Jahre auf die Linie der Komintern gebracht zu haben. Trotzdem bezeugt Riechers Respekt vor Gramscis Lebensweg: »Die größte Tragik Gramscis lag darin, dass er in den beiden Lebensabschnitten, in denen sich sein Denken entwickelte und dann seinen Abschluss fand, er dies völlig auf sich allein gestellt tat.« (S. 140ff.).
Vorarbeiten zur Fabrik und Arbeitswelt
Neben der Riechers Leben begleitenden Auseinandersetzung mit der italienischen Linken findet sich in dem Buch ein Aufsatz über eine Begegnung mit dem Linkssozialisten Willy Huhn, einem sowohl von ›Nominalsozialisten‹ als auch von der Sozialdemokratie weitgehend ignorierten Dissidenten der deutschen Arbeiterbewegung. Äußerst aufschlussreich sind auch die meist kurzen persönlichen Notizen, mit denen Riechers auf aktuelle Ereignisse im Wissenschaftsbetrieb eingeht. Dort setzt er sich auch ironisch mit linken Kollegen auseinander, die sich allmählich in verbeamtete Marx-Exegeten verwandeln. »Sie starren gebannt auf die Gazetten, die sie anspringern und anfazen, und sehen voraus, dass ihre Öffentlichkeit begrenzt, ja eliminiert werden soll, wie diese Gazetten das fordern«. (S. 174) In einem Kurztext macht sich Riechers über »die Sprache der ozialwissenschaftlichen Intelligenz« lustig:
»ohne begriffe keine eingriffe, ohne begreifen kein eingreifen. aber dann bitte begriffene und keine abgegriffenen. und vor allem nicht beim verwenden der abgegriffenen, ungriffig gewordenen begriffe noch die miese haltung des akademischen näselns«. (S. 172; Kleinschreibung i.O.). In den letzten Jahren widmete sich Riechers verstärkt der Erforschung der Regionalgeschichte im Raum Hannover und plante eine längere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Veränderungen im Fabriksystem. Zahlreiche Notizen dazu sind in dem Buch dokumentiert, aber auch Riechers Schwierigkeiten mit dem Thema. Leider ist Riechers wegen seines frühen und plötzlichen Tods nicht mehr dazu gekommen, das Thema weiterzubearbeiten. Allein die erhaltenen Vorarbeiten machen deutlich, was uns da entgangen ist.
So schreibt er 1986 in den »Thesen zum industriellen Konstitutionalismus«: »[D]ie konflikte von lohnarbeit und kapital in den fabriken können auch durch staatliches dazwischentreten geschlichtet werden, der staat bleibt aber so lange draußen, bis er gerufen wird. clearingstelle bleibt auf der seite der lohnarbeit der betriebsrat, der wegen seiner gesetzlich orgeschriebenen ‚friedenspflicht’ als vorgeschobene position der am sozialen frieden interessierten zu sehen ist, obwohl diesem instrument in einigen fällen auch die militante vertretung der arbeiterforderungen gegen die kapitalseite zugekommen ist. der betriebsrat ist nicht deswegen reaktionär, weil die gesetzlichen bestimmungen seine funktionen beschränken, sondern – wenn er reaktionär sein sollte – weil sich die reaktionären betriebsräte daran halten, überhaupt nicht darüber hinaus wollen.« (S. 432)
In den Notizen häufen sich die Klagen über die zunehmende Marginalisierung marxistischer Lehre und Forschung an den Hochschulen ab Ende der 70er Jahre. Gelegentlich äußert Riechers – im Zuge der Terrorismushysterie der 70er Jahre – auch seinen Widerwillen gegen eine Verteufelung von linken Vorstellungen. Insgesamt fällt allerdings auf, wie sparsam Riechers die aktuellen politischen Themen seiner Zeit kommentiert. Die den linken Wissenschaftsbetrieb in jenen Jahren stark tangierende Praxis der Berufsverbote bleibt ebenso ausgeblendet wie die Entlassung des linken Sozialpsychologen Peter Brückner, der sich nicht vom Nachdruck des Buback-Aufrufs distanzieren wollte.
Diese Leerstelle ist besonders verwunderlich, weil Brückner ebenfalls in Hannover lehrte und dort eine starke Solidaritätsbewegung existierte. Ob es Desinteresse oder die Vorsicht eines linken Intellektuellen waren, die Riechers hier schweigen ließen? Das Buch regt zu vielen Fragen an. Mit der Herausgabe dieses Bandes haben sich Felix Klopotek und der Unrast-Verlag in doppelter Hinsicht Verdienste erworben. Sie haben nicht nur einen linken Intellektuellen wieder entdeckt, der – obwohl noch nicht zwei Jahrzehnte tot –weitgehend vergessen war. Mit den Texten wird ein Fundus linker Theorie präsentiert, an die wir auch heute noch kritisch anknüpfen können.
erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 7/2010
Neues Buch gibt Tipps für die Stärkung der Verbrauchermacht auf dem Energiesektor
Welcher Verbraucher will nicht weniger für Strom und Gas bezahlen? Jetzt haben Aribert Peters und Leonora Holling ein Nachschlagewerk herausgebracht, dass den Strom- und Gaskunden in Deutschland beim Sparen helfen soll. Herausgegeben wurde das Buch vom Bund der Energieverbraucher e. V.. In der bundesweit ersten Interessenvertretung für Energieverbraucher sind laut Eigenangaben über 13 000 private und kleingewerbliche Verbraucher organisiert. Bundesweit bekannt wurde das Bündnis, als es Verbraucher mit seiner Hilfe schafften, durch Klagen zu viel gezahltes Geld vom Gas- und Stromversorger zurück zu bekommen.
Handynummer eintragen und mit Glück und Geschick gewinnen: >>hier klicken<< Die gesetzlichen Grundlagen der Verbrauchermacht spielen im Buch eine zentrale Rolle. Es wird beschrieben, dass die Energiekonzerne gesetzlich zur »billigen Preisgestaltung« verpflichtet sind. Die Billigkeitsprüfung soll den Endverbraucher als schwächeren Vertragspartner davor schützen, durch Preisabsprachen der Konzerne übervorteilt zu werden. Sowohl im EU-Recht als auch im Bürgerlichen Gesetzbuch sind die Grundlagen dafür zu finden, wie die Autoren kenntnisreich belegen: »Laut § 315 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) muss die Partei eines Vertrags, der das einseitige Preisbestimmungsrecht zusteht, dieses angemessen (billig) ausüben. Gegebenenfalls kann die Partei, die den Preis nicht bestimmt, ein deutsches Gericht anrufen, damit dieses die Angemessenheit der Preise überprüft.«
Dabei gelingt es den beiden Autoren, juristisch komplexe Sachverhalte in einer Sprache zu vermitteln, die auch von Menschen ohne höhere Schulbildung verstanden wird. Mit vielen Schautafeln und einer leserfreundlichen Schrift zeigen sie die Schritte auf, die Verbraucher gehen müssen, wenn sie ihre eigenen Strom- und Gaspreise überprüfen oder sogar kürzen wollen.
Die Autoren verschweigen aber auch die Risiken nicht: »Sie gehen, damit in eine strittige Auseinandersetzung mit ihrem Energieversorger, die Zeit und Nerven kostet. Im schlechtesten Fall unterliegen sie, wenn der Versorger vor Gericht auf Zahlung klagt.« Es spricht für die Herausgeber, dass sie deutlich machen, dass man auf dem Rechtsweg auch verlieren kann. Die Autoren informieren auch über weitere Protestmöglichkeiten, die die Energiekunden haben. So wird erklärt, wie der Kunde auf Abrechnungsfehler reagieren und wie er Zahlungsrückstände ausgleichen kann.
Auch wenn Gas und Strom bereits gesperrt sein sollten, muss der Betroffene nicht im Dunklen und im Winter sogar im Kalten sitzen. Die Verfasser machen die Leser mit einem wenig bekannten Grundrecht auf Energieversorgung bekannt, das sich auf den EU-Vertrag von Lissabon stützt. Dort heißt es in Artikel 34 E: »Um die soziale Ausgrenzung und Armut zu bekämpfen, anerkennt und achtet die Union das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen.« Einige Seiten weiter skizziert das Buch die bundesdeutsche Realität, die mit diesen hehren Grundsätzen kollidiert. Es gibt jährlich tausende Strom und Gassperrungen, die allerdings nur dann Schlagzeilen machen, wenn sie zu schweren gesundheitlichen Schäden des Verbrauchers führen.
Auch in diesem Kapitel gibt es weitere nützliche Tipps, so auch dafür wie eine drohende Sperre noch abgewendet werden kann. Hilfreich für die Betroffenen sind die Dokumente im knapp 60-seitigen Anhang. Dort sind Musterbeschwerdebriefe ebenso abgedruckt wie Adressen von Initiativen, bei denen sich der Verbraucher Rat und Hilfe holen kann.
Dr. Aribert Peters, Leonora Holling: Energie für Verbraucher, Weniger zahlen für Strom und Gas, Bund der Energieverbraucher 2010, 283 Seiten, 18,50 Euro (14 Euro für Vereinsmitglieder), zu bestellen auf der Seite www.energienetz.de/de/site/Verein/Energie-fuer-Verbraucher__2672/
Nadja Rakowitz vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte: Zusatzbeiträge könnten in Zukunft sehr schnell wachsen
1.)Monatelang wurde gegen die Kopfpauschale mobilisiert. Sind die jetzt von der Bundesregierung vorgelegten Eckpunkte dagegen das kleinere Übel?
N.R.: Auf keinen Fall. Es war schon länger klar, dass die große Kopfpauschale, wie sie die FDP und zuletzt der Arbeitgeberverband geplant hatte, nicht durchgesetzt werden kann. Die jetzt vorgelegten Eckpunkte laufen durch die geplanten pauschalen Zusatzbeiträge, die die Arbeitnehmer zahlen sollen, auf eine kleine Kopfpauschale hinaus. Die könnten aber in Zukunft schnell wachsen.
2.)Wovon hängt das ab?
N.R.: Davon, wie viel an den Ausgaben über den Beitragssatz gedeckt wird. Der Arbeitgeberanteil soll jetzt auf 7,3 % erhöht und dann eingefroren werden. Das bedeutet, für alle weiteren Kosten sollen die Versicherten durch die Zusatzbeiträge aufkommen. Dadurch könnten schnell weitere Belastungen auf große Teile der Bevölkerung zukommen.
3.)Kann ein geplanter steuerfinanzierter Ausgleich soziale Härten mindern?
N.R.: Das könnte er natürlich, aber dadurch werden Versicherte mit niedrigen Einkommen wahrscheinlich zu Bittstellern. Zudem ist noch völlig unklar, wie der Sozialausgleich finanziert werden soll. Weitere Steuererhöhungen würden weitere Belastungen für große Teile der Bevölkerung bedeuten, die schon durch die von der Koalition geplanten Sparpläne von Verschlechterungen betroffen sein werden.
4.)Die paritätische Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens wurde von der Politik lange Zeit als Vorzeigemodell der sozialen Marktwirtschaft verkauft. Kann davon heute noch gesprochen werden?
N.R.: Schon lange nicht mehr. Durch die Einführung von Praxisgebühr, Zuzahlungen zu Medikamenten und anderem und die einseitige Erhöhung des Arbeitnehmeranteils um 0,9 Prozentpunkte wurde schon unter Rot-Grün das Prinzip der paritätischen Finanzierung im Gesundheitswesen aufgegeben. Zudem sollte man nicht vergessen, dass der Arbeitgeberanteil aus der Lohnsumme herrührt, also auch von den Arbeitnehmern erwirtschaftet wird.
5.)Eine daraus folgende offensive Forderung, dass die Arbeitgeber den ganzen Beitrag zahlen sollen, scheinen zurzeit utopisch. Wie sollten aktuell soziale Bewegungen und Gewerkschaften auf die Pläne der Bundesregierung reagieren?
N.R.: Es sollten möglichst schnell Proteste dagegen organisiert werden. Dabei könnten die in den letzten Monaten entstandenen Bündnisse gegen die Kopfpauschale eine tragende Rolle spielen.
6.)Die Finanzierungslücke ist ja keine Erfindung der Bundesregierung. Wo soll das Geld für das Gesundheitssystem herkommen?
N.R.: Es gibt ausgearbeitete und durchgerechnete Alternativvorschläge. Dazu gehört die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze (und entsprechend der Versicherungspflichtgrenze) und die Einführung einer Bürgerversicherung, in die alle nach ihrer Einkommenshöhe und mit allen Einkommensarten in die Krankenversicherung einzahlen. Die hessische SPD hat durchgerechnet, dass damit ein Beitragssatz von ca. 9,5 % erzielt werden könnte. Dass könnte zur Entschärfung der aktuellen Finanzierungsprobleme im Gesundheitswesen beitragen, ohne Menschen mit geringen Einkommen zu belasten.
Der Datenschutzexperte Werner Hülsmann bereitet Widerstand vor / Der Diplom-Informatiker ist Mitglied im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung
ND: Deutschland wird sich an der EU-weiten Zensusrunde 2011 mit einem registergestützten Verfahren beteiligen. Was kritisieren Sie daran?
Hülsmann: Bei der Volkszählung im nächsten Jahr geht es um eine umfängliche Erfassung von Menschen. Es sind vor allem zwei Punkte, die wir hier besonders monieren und die Gegenstand unserer Verfassungsklage sind. Die Daten sind nicht anonymisiert. So werden Namen, Anschrift und die Identifikationsnummer mehrere Jahre gespeichert. Über diese Identifikationsnummer ist die Zuordnung zu den Daten möglich. Dieses Vorgehen verletzt wichtige Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, das in seinem Urteil 1983 eine solche gemeinsame Ortungsnummer ausdrücklich verboten hat.
Was ist der andere Kritikpunkt?
Anders als bei der Volkszählung in der BRD 1987 werden diesmal nicht alle Einwohner befragt, sondern sollen die Datensammlungen von Behörden wie den Meldeämtern, der Bundesagentur für Arbeit und anderen öffentlichen Stellen zusammengeführt werden. Das halten wir für eine Zweckentfremdung, weil sensible, für einen begrenzten Zweck gesammelte Daten ohne Einwilligung der Betroffenen zusammengeführt werden.
Wie wehren Sie sich dagegen?
Mit einer Verfassungsbeschwerde will der Arbeitskreis Zensus des AK Vorratsdatenspeicherung diese Bestimmungen juristisch prüfen lassen. Auf unserer Homepage www.zensus11.de kann diese Beschwerde noch bis zum 12. Juli digital unterschrieben werden. Bisher haben sich dort ca. 8000 Menschen eingetragen. Wir denken, dass die Unterstützung in den nächsten Tagen noch wachsen wird.
Wehren Sie sich nur gegen diese Punkte oder lehnen Sie die Volkszählung generell ab?
Generell bezweifle ich den Sinn von Volkszählungen, weil sie nicht auf freiwilliger Basis erfolgen. Wenn es darum geht, eine Datenbasis für Planungen zu bekommen, kann diese über freiwillige, tiefergehende Untersuchungen von seriösen Meinungsforschungsinstituten gewonnen werden.
Gibt es Unterstützung für Ihre Initiative aus der Politik und den Gewerkschaften?
Die Diskussion über die Volkszählung im nächsten Jahr steht noch ganz am Anfang. Daher gibt es von den Parteien bisher kaum Reaktionen, auch nicht von den Grünen, die in den 80er Jahren den Widerstand gegen die Volkszählung mitgetragen haben. Nur die Piratenpartei hat sich bisher gegen die Volkszählung positioniert, was aber nicht verwundern dürfte. Auch bei den Gewerkschaften gibt es bisher keine Positionierung. Das könnte sich aber in Zukunft noch ändern, weil sie durch die Auseinandersetzung mit dem elektronischen Datenregister Elena für den Datenschutz stärker sensibilisiert sein dürften.
Planen Sie über den Rechtsweg hinaus weitere Aktionen?
Bis Mitte Juli konzentrieren wir uns auf die Verfassungsklage. Wir sind uns aber im Klaren, dass die Entscheidung auch negativ für uns ausfallen kann. Dann wird zu überlegen sein, wie mit kreativem Widerstand Daten verweigert werden können. Dazu werden wir sicher auch auf die Erfahrungen der Volkszählungsboykottbewegung der 80er Jahre zurückschauen.
Wichtig ist auch eine Auseinandersetzung mit möglichen rechtlichen Folgen einer Datenverweigerung, wie Zwangs- und Bußgelder. Denn wie in den 80er Jahren gibt es auch 2011 keine Wahlfreiheit. Genau das ist das entscheidende Problem bei der Volkszählung.
Ein Blick hinter die WM-Kulissen Südafrika. Die Grenzen der Befreiung Hg. J.E.Ambacher/R.Khan Berlin/Hamburg: Assoziation A, 2010 263 Seiten, 16 Euro von Peter Nowak Die ersten Werbesymbole für die Fußballweltmeisterschaft in Südafrika tauchen schon in deutschen Städten auf. Wer sie zum Anlass nehmen will, um sich über die sozialen und politischen Verhältnisse des Landes zu informieren, dem sei dieses Buch empfohlen. In 17 Aufsätzen geben Soziologen, Politologen und Journalisten, die alle auch Teil von politischen und sozialen Bewegungen sind, einen kurzen Überblick über ein Land, das nach dem Ende der Apartheid auch in der Linken enorm an Interesse verloren hat. Die WM wird nur in zwei von Romin Khan geführten Interviews gestreift. Während der Historiker Achille Mbembe davon spricht, dass die Regierung mit der konkreten Ausgestaltung der WM eine Chance auf eine Gesellschaftsumgestaltung verpasst hat, berichtet der aus Kongo stammende Straßenfriseur und soziale Aktivist Gaby Bikombo über die Schwierigkeiten, die gerade Straßenhändler und Arme in Zeiten der WM haben. Die Regierung will die Vorgaben der FIFA erfüllen, was für Bikombo und seine Kollegen Vertreibung und weitere Verarmung bedeuten kann. Solche unterschiedlichen Sichtweisen stehen in dem Buch häufiger nebeneinander. Was aber in den unterschiedlichen Beiträgen immer angesprochen wird, sind die Probleme von sozialen Bewegungen, die in den letzten Jahren des Apartheidregimes gewachsen waren und später zum großen Teil vom allmächtigen ANC kooptiert oder an den Rand gedrängt wurden. Dass dafür auch interne Probleme verantwortlich sind, machen Stephen Greenberg am Scheitern der Landlosenbewegung und Prishani Naidoo an den internen Konflikten des Antiprivatisierungsforums transparent. Es kommen auch kritische ANC-Mitglieder zu Wort, wie der Anti-AIDS-Aktivist Zackie Achmat. Der sieht die Partei noch immer als ein Bollwerk gegen Xenophobie und Rassismus. Achma und die Aktivistin Manisa Mali zeichnen ein wesentlich differenzierteres Bild von der AIDS-Politik der ANC-Regierungen als ein Großteil der hiesigen Medien. So sehr sie die Ignoranz des vorletzten Präsidenten Mkebi und seiner Gesundheitsministerin in der Frage der Entstehung von AIDS kritisieren, so sehr betonen sie, dass es bei der Herstellung wirksamer, günstiger Medikamente sogar eine Zusammenarbeit gegen die Verbände der Pharmaindustrie gegeben hat. Die letzten beiden Kapitel befassen sich mit dem Rassismus gegenüber Migranten aus anderen afrikanischen Ländern. Dabei geht der in der Arbeiterbildungsarbeit tätige Oupa Lehulere scharf mit der Position der größten südafrikanischen Gewerkschaft COSATU ins Gericht, der er vorwirft, sich hauptsächlich für die südafrikanischen Arbeiter zu engagieren. Für Lehulere ist der wachsende Rassismus in Südafrika nicht in erster Linie eine Folge der Verarmung sondern der Niederlage der linken Kräfte in der Arbeiterbewegung. Das Buch schließt mit einer Erklärung von Aktivisten aus Armensiedlungen in der Nähe von Durban, die sich wenige Tage nach den rassistischen Pogromen vom Mai 2008 in bewegenden Worten für einen gemeinsamen Kampf aller Unterdrückten ausgesprochen haben. Solche Stimmen von der Basis hätte sich der Leser öfter gewünscht, weil das Buch doch gerade in den Kapiteln über den Kampf der Frauen in einem sehr soziologischen Duktus gehalten ist. Es liefert aber einen guten Blick hinter die WM-Kulissen.
Ein Sammelband liefert einen Blick hinter die WM-Kulissen am Kap der Guten Hoffnung
Die ersten Werbebanner für die Fußballweltmeisterschaft in Südafrika sind mittlerweile in deutschen Städten aufgetaucht. Wer sich über die sozialen und politischen Verhältnisse des Landes am Kap der Guten Hoffnung informieren will, der greife statt zu WM-Broschüren besser zu einem kürzlich im Verlag Assoziation A erschienenen Buch: »Südafrika – die Grenzen der Befreiung.«
Die eine Lesart über die Gesellschaft des heutigen Südafrika gibt es nicht. Deswegen kommen in dem Sammelband »Südafrika – Grenzen der Befreiung« 17 Wissenschaftler und Aktivisten aus und außerhalb von Südafrika zu Wort. Sie geben einen fundierten Überblick über ein Land, das bis zum Ende der Apartheid im Fokus der internationalen Linken stand. Die vor der Tür stehende WM wird nur in zwei von Romin Khan geführten Interviews gestreift. Während der Historiker Achille Mbembe moniert, die Regierung habe mit der konkreten Ausgestaltung der WM eine Chance auf eine Gesellschaftsumgestaltung verpasst hat, berichtet der aus Kongo stammende Straßenfriseur und soziale Aktivist Gaby Bikombo, was die WM für die Armen bedeutet. Um die Vorgaben des Weltfußballverbands zu erfüllen, sollen Bikombo und seine Kollegen während des Turniers von den Straßen verschwinden. Unterschiedlichen Sichtweisen stehen in dem Buch häufiger nebeneinander.
Was die unterschiedlichen Beiträgen vereint, sind die Probleme von sozialen Bewegungen, die in den letzten Jahren des Apartheid-Regimes gewachsen sind. Später wurden die sozialen Bewegungen zum großen Teil vom mächtigen Afrikanischen Nationalkongress (ANC) kooptiert oder an den Rand gedrängt. Dass dafür aber auch interne Probleme verantwortlich sind, zeigt Stephen Greenberg am Scheitern der Landlosenbewegung und Prishani Naidoo an den internen Konflikten des Antiprivatisierungsforums.
In dem Buch kommen kritische ANC-Mitglieder zu Wort, wie der Anti-Aids-Aktivist Zackie Achmad. Er sieht die Partei noch immer als ein Bollwerk gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Achmad und die Aktivistin Manisa Mali zeichnen in ihren Beiträgen ein wesentlich differenziertes Bild von der Aids-Politik der ANC-Regierungen, als ein Großteil der hiesigen Medien. So sehr sie die Ignoranz vom vorletzten Präsidenten Thabo Mkebi und seiner Gesundheitsministerin Manto Tshabalala-Msimang in der Frage der Aidsentstehung kritisieren, so machen sie doch deutlich, dass es in der Frage der Herstellung von wirksamen, günstigen Medikamenten sogar eine Zusammenarbeit gegen die Verbände der Pharmaindustrie gegeben hat.
Die letzten beiden Kapitel befassen sich mit dem Rassismus gegenüber Migranten aus anderen afrikanischen Ländern. Dabei geht der in der Arbeiterbildungsarbeit tätige Oupa Lehulere scharf mit der Position der größten südafrikanischen Gewerkschaft COSATU ins Gericht, der er vorwirft, sich hauptsächlich für die südafrikanischen Arbeiter zu engagieren. Für Lehulere ist der wachsende Rassismus in Südafrika nicht in erster Linie eine Folge der Verarmung sondern eine Niederlage linker Kräfte in der Arbeiterbewegung. Erst dadurch sei der Raum für rassistische Deutungsmuster der Armut geöffnet worden. Das Buch schließt mit einer Erklärung von Aktivisten aus Armensiedlungen in der Nähe von Durban, die sich wenige Tage nach den rassistischen Pogromen vom Mai 2008 in bewegenden Worten für einen gemeinsamen Kampf aller Unterdrückten ausgesprochen haben. Das Buch liefert einen guten Blick hinter die WM-Kulissen, die in den nächsten Monaten die Sicht auf die realen Lebensverhältnisse in Südafrika verstellen.
Jens Erik Ambacher, Romin Khan: Südafrika – die Grenzen der Befreiung. Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg, April 2010, 263 Seiten, 16 Euro.
Kein Mensch ist asozial – Arbeitskreis wendet sich gegen die Verfolgung von Armen
Der Begriff »asozial« dient bis heute zur Stigmatisierung
und Ausgrenzung von Menschen. Der damalige Wirtschaftsminister
und vielseitige Wirtschaftslobbyist Clement hat sich
im Zuge der Einführung von Hartz IV mit der Hetze gegen Erwerbslose
hervorgetan. Doch der Begriff hat eine Geschichte, die
oft wenig bekannt ist. Das will Arbeitskreis der »Marginalisierte
– gestern und heute« ändern. Er vereint Aktivisten von
Erwerbsloseninitiativen, Gewerkschaften oder antifaschistischen
Gruppen. »Wir beschäftigten uns mit den Ursachen, Erscheinungsformen
und Auswirkungen der Ausgrenzung und Verfolgung von Menschen, die vom gesellschaftlichen Reichtum an Waren und Gütern, Kultur sowie sozialen
Beziehungen ausgeschlossen sind«, fasst Anne Allex die
Arbeit des von ihr mitbegründeten Arbeitskreises zusammen. In
den knapp zwei Jahren des Bestehens hat er schon mehrere Veranstaltungen
und Ausstellungen konzipiert, die sich mit der Ausgrenzung
und Stigmatisierung von Menschen befassten. Die letzte Veranstaltungsreihe zeigt das Schicksal von vier Heimkindern von der Nazizeit bis in die
Gegenwart. Auch ver.di gehört zu den Kooperationspartnern.
Aktualitätsbezug ist wichtig.
»Die Stigmatisierung und Verfolgung von sogenannten Asozialen
und schwer Erziehbaren war in beiden deutschen Staaten nach
1945 keineswegs zu Ende«, betont Allex. Dem Arbeitskreis gehe
es darum, deutlich zu machen, dass kein Mensch asozial ist und
dass es kein unwertes Leben gibt. Die Aktivisten kämpfen um einen
Gedenkort für die Opfer der Asozialenverfolgung im ehemaligen
Berliner Arbeitshaus in der Rummelsburger Bucht. Seit 1876
sind dort Tausende als asozial stigmatisierte Menschen eingeliefert
worden. In der NS-Zeit diente das Gebäude als Arbeitslager
und Gefängnis für sogenannte unerwünschte Personen. Es
war Teil des NS-Terrorsystems, betont AK-Mitglied Lothar Eberhardt.
Eine Tafel, die an die Opfer erinnern soll, sei aber dort bis
heute nicht angebracht worden. Mittlerweile ist die Rummelsburger
Bucht ein begehrtes Wohngebiet. Als Geheimtipp für »Kenner
und Liebhaber Berlins« wirbt das Hotel »Das andere Haus 8«
im ehemaligen Arbeitshaus um Gäste. Eine Übernachtung in einer
»individuell eingerichteten, ehemalige Zellen, teilweise mit
Wasserblick«, kostet 40 Euro pro Nacht. Ein Gedenkort an dieser
Stelle, wie ihn der AK Marginalisierte fordern, könnte wertmindernd
sein.
In zwei Veröffentlichungen werden die Aktivitäten des Arbeitskreises
dokumentiert. Ein Sonderheft der Zeitschrift Telegraph beschäftigt
sich ebenso mit der Geschichte der Armenverfolgung wie
ein im Verlag AG Spak herausgegebenes Buch.
In 17 Aufsätzen geben SoziologInnen, PolitologInnen und JournalistInnen, die alle auch Teil von politischen und sozialen Bewegungen sind, einen Überblick über die Lebensverhältnisse in Südafrika. Die bevorstehende WM wird nur in zwei von Romin Khan geführten Interviews gestreift. Während der Historiker Achille Mbembe meint, die Regierung habe mit der Ausgestaltung der WM eine Chance auf eine Gesellschaftsumgestaltung verpasst, berichtet der Straßenfriseur und soziale Aktivist Gaby Bikombo über die Schwierigkeiten von Straßenhändlern und Armen während der WM. Die Regierung will die Vorgaben der FIFA erfüllen, was für Bikombo und seine Kollegen Vertreibung und weitere Verarmung bedeuten kann. In anderen Beiträgen werden die Probleme von sozialen Bewegungen deutlich, die in den letzten Jahren des Apartheid-Regimes gewachsen sind und später vom allmächtigen ANC kooptiert oder an den Rand gedrängt wurden. Dass dafür aber auch interne Probleme verantwortlich sind, wird am Scheitern der Landlosenbewegung und an den internen Konflikten des Antiprivatisierungsforums gezeigt. Auch kritische ANC-Mitglieder kommen zu Wort, wie der Anti-Aids-Aktivist Zackige Achmad. Er sieht die Partei noch immer als ein Bollwerk gegen Xenophobie und Rassismus. Achmad und die Aktivistin Manisa Mali zeichnen in ihren Beiträgen ein wesentlich differenziertes Bild von der Aids-Politik der ANC-Regierung als ein Großteil der hiesigen Medien. Die letzten beiden Kapitel befassen sich mit dem Rassismus gegenüber MigrantInnen aus anderen afrikanischen Ländern. Dabei geht der in der Arbeiterbildungsarbeit tätige Oupa Lehulere scharf mit der Position der größten südafrikanischen Gewerkschaft Costa ins Gericht. Das Buch schließt mit einer Erklärung von AktivistInnen aus Armensiedlungen in der Nähe von Durban, die sich wenige Tage nach den rassistischen Pogromen im Mai 2008 für einen gemeinsamen Kampf aller Unterdrückten aussprachen.
Stefanie Graf über die Perspektiven der Uni-Proteste / Graf ist Geschäftsführerin des Studierendenverbandes »Die Linke.SDS«
ND: Der Studierendenverband der Linkspartei beteiligte sich kurz vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen (NRW) in Düsseldorf an einer Demonstration gegen Studiengebühren. Ist das der Auftakt für die bundesweiten Bildungsproteste in diesem Semester?
Graf: Für diese Demonstration wurde vor allem in NRW mobilisiert. Damit sollte vor der Landtagswahl ein deutliches Zeichen für die Abschaffung von Studiengebühren gesetzt werden. Ein Wegfall der Studiengebühren in einem großen Land wie NRW hätte natürlich auch bundesweite Bedeutung und könnte einen Dominoeffekt in anderen Ländern auslösen. Zudem würde die Protestbewegung durch einen solchen Erfolg gestärkt.
Ihr Studentenverband hat für dieses Semester u.a. die Idee eines sogenannten Besetzungsstreiks entwickelt. Was würde sich dadurch gegenüber den bisherigen Protesten ändern?
Wir haben die Bildungsproteste der letzten Semester analysiert und die Stärken und Schwächen besprochen. Daraus haben wir den Schluss gezogen, dass der Druck verstärkt, die Bewegung verbreitert und die Proteste radikalisiert werden müssen. Daraus haben wir unseren Vorschlag eines Besetzungsstreiks entwickelt. Die Hochschulen würden während des Streiks besetzt und es würden keine Vorlesungen und Seminare stattfinden. Das hätte den Vorteil, dass die Studierenden, die die Forderungen des Bildungsstreiks unterstützen, sich aber am Streik wegen der Anforderungen des Studiums nicht beteiligen konnten, sich aktiv in die Proteste einbringen könnten. Im letzten Semester beteiligten sich viele Studierende an den Vollversammlungen des Bildungsstreiks und gingen danach wieder in ihre Vorlesungen.
Warum wären deren Probleme durch einen Besetzungsstreik behoben?
Bei solchen Streiks konnte in der Vergangenheit mit den Professoren und der Universitätsleitung eine Lösung gefunden werden, damit die beteiligten Studierenden keine Nachteile erleiden mussten. Das funktioniert allerdings nur bei einer großen Beteiligung.
Aber gerade daran haben Kritiker wie der langjährige Geschäftsführer des Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren, Klemens Himperle, Zweifel. Er fordert inhaltliche Auseinandersetzungen statt Aktionismus und warnt vor dem Abbröckeln der Proteste.
Ich würde inhaltliche Arbeit und Aktionen nicht gegeneinander diskutieren. Wir haben unsere Vorschläge im Januar zur Diskussion gestellt und seitdem gibt es darüber eine Auseinandersetzung. Mittlerweile haben sich an verschiedenen Universitäten Bildungsstreikbündnisse wiedergegründet, die die Proteste fortsetzen wollen.
Gibt es konkrete Planungen?
Am 17. Mai findet die durch die Proteste durchgesetzte Bolognakonferenz mit Bundesbildungsministerin Schavan und Studierenden statt, die in die Hörsäle verschiedener Universitäten live übertragen werden soll. Anfang Juni ist eine dezentrale Aktionswoche der Bildungsproteste geplant, die am 9. Juni mit einem Aktionstag enden soll.
Der Besetzungsstreik ist wohl erst einmal verschoben?
Wir können und wollen ihn nicht alleine machen. Aber mit unserem Vorschlag haben wir eine mittelfristige Perspektive für den Bildungsstreik formuliert. Wir sehen darin eine Möglichkeit, den Prostest zu verbreitern und gleichzeitig zu radikalisieren. Das ist nötig, um den Druck zu erhöhen und eine wirkliche Verbesserung im Bildungssystem zu erreichen.