Das Volk ruft laut und vernehmlich „Hallo!“

SPEAKERS‘ CORNER Am Rosa-Luxemburg-Platz hat der Künstler Thomas Kilpper ein Megafon aufgebaut. Passanten ergreifen das Wort

Auf der Wiese vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz sitzt am Samstagnachmittag eine Gruppe von Menschen und lauscht einem Redner. Er spricht durch ein trichterförmiges Megafon, das dort auf einem Holzpodest aufgebaut ist und mit seinen bunten Farben sofort auffällt. Immer wieder steigen Neugierige auf das Podest und sprechen in den Trichter. „Willkommen in Berlin“, sagt eine Frau erst so leise, dass es kaum zu verstehen ist. Unterstützt von ihren FreundInnen wiederholt sie den Satz zweimal. Jetzt ist er auf dem gesamten Platz zu hören. Menschen bleiben stehen und zücken ihre Handykamera, andere wollen selber in den großen Trichter sprechen.

Das ist ganz im Sinne des Künstlers Thomas Kilpper, der in der vergangenen Woche mit seinem MEGAphone-Projekt einen Speakers‘ Corner auf dem Rosa-Luxemburg-Platz eingerichtet hat. Kilpper, der in der kleinen Lichtenberger Galerie „after the butcher“ seit Jahren gesellschaftskritische Kunst ausstellt, hat den Ort bewusst gewählt. Der Künstler erinnert daran, dass der heutige Rosa-Luxemburg-Platz in der Weimarer Republik als Sitz der KPD-Zentrale Ausgangspunkt großer linker Protestdemonstrationen war. Im Jahr 1913 richtete sich die Volksbühne unter dem Motto: „Die Kunst dem Volke“ mit ihrem Programm an all jene Menschen, die bisher aus dem Theater ausgeschlossen blieben.

Unverständliche Laute

100 Jahre später will Kilpper mit seinem Kunstprojekt die aktuellen Machtverhältnisse hinterfragen. „Wer kommt in unserer Gesellschaft zu Wort? Wer verschafft sich Gehör? Wer ergreift die Initiative im Sinne gesellschaftlicher Veränderung?“, erklärt er sein Anliegen.

Nicht nur Passanten nutzen den Trichter. An manchen Tagen tragen auch KünstlerInnen Texte vor. Am vergangenen Mittwoch las etwa Katja von Helldorff Ausschnitte aus wenig bekannten Briefen Rosa Luxemburgs vor, in denen sie sich an dem kleinen Ausschnitt Natur vor den vergitterten Fenstern ihrer Gefängniszelle freut.

An diesem Samstag lässt sich Achim Lengerer auf dem Podest nieder. Er liest aus historischen Dokumenten. Die zeigen, wie die ostdeutsche Stasi und westdeutsche Apo-Studierende aus unterschiedlichen Gründen 1970 die Aufführung des von dem Dramatiker Peter Weiss geschriebenen Stücks „Trotzki im Exil“ verhindern wollten.

Solche anspruchsvollen Texte sind auf dem Platz aber die Ausnahme. Die Stimme des Volkes klingt ansonsten auch mal schlicht: Die Mehrheit der Menschen schickt Grüße, Hallo-Rufe und manchmal auch einfach nur unverständliche Laute über das Megafon. Das ist noch bis Ende August möglich, dann wird der Trichter voraussichtlich wieder abgebaut.
taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F08%2F19%2Fa0112&cHash=3f7699273f12504c7daa038630fdda0b

Peter Nowak

Eine Liste mit 750 Namen erinnert an die Opfer

GEDENKEN Vor 75 Jahren begann Stalins Terroraktion gegen deutsche Kommunisten in der UdSSR

Am heutigen Mittwoch gedenken AntifaschistInnen am Rosa-Luxemburg-Platz der Opfer des Stalinismus. Ab 11 Uhr sollen insgesamt 750 Namen von Menschen verlesen werden, die entweder als KommunistInnen und SozialistInnen oder als SpezialarbeiterInnen beim Aufbau der Sowjetunion mithelfen wollten und in die Mühlen des stalinistischen Terrors gerieten.

Am 25. Juli 1937 begann mit dem NKWD-Befehl Nr. 00439 auf Anordnung Stalins und seines Geheimdienstchefs die sogenannte Deutsche Operation. In der UdSSR lebende Deutsche wurden unter den Generalverdacht profaschistischer Spionage- und Diversionstätigkeit gestellt. Die Aktion war Teil der als Großer Terror in die Geschichtsbücher eingegangenen Verfolgungen der Jahre 1937/38. Viele Überlebende gingen in den 1950er Jahren in die DDR, wo sie den Verfolgten des Naziregimes rechtlich gleichgestellt wurden, aber in der Öffentlichkeit nicht über die Verfolgung sprechen sollten.

„Mit der Gedenkaktion zum Jubiläum wird das erste Mal in Berlin öffentlich der namenlosen deutschen Opfer des Großen Terrors in der Sowjetunion gedacht“, betont Hans Coppi vom Arbeitskreis zum Gedenken an die in der sowjetischen Emigration verfolgten, deportierten und ermordeten deutschen Antifaschisten bei der Berliner VVN-BdA. Der Arbeitskreis wurde vor zwei Jahren von Angehörigen der Opfer initiiert und hat bisher mehrere Veranstaltungen organisiert. An der Gedenkaktion soll mit dem 92-jährigen Frido Seydewitz einer der letzten Überlebenden der stalinistischen Verfolgung teilnehmen.

Nicht alle Angehörigen gaben jedoch ihre Zustimmung zur Verlesung der Namen. „Manche waren sich unsicher, ob ihre betroffenen Verwandten damit einverstanden gewesen wären“, berichtet Coppi. „Andere befürchteten, antisowjetischen Stimmungen Rechnung zu tragen.“ Einige unverbesserliche Stalinfans hätten die VeranstalterInnen telefonisch beschimpft.

Unbeeindruckt davon bereitet der Arbeitskreis eine Ausstellung über die Opfer des Stalinismus vor. Zudem will er vor dem Karl-Liebknecht-Haus, der ehemaligen KPD- und heutigen Linkspartei-Zentrale, am Rosa-Luxemburg-Platz einen Gedenkort für sie schaffen.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2012%2F07%
2F25%2Fa0140&cHash=52d77d4abd

Peter Nowak