Sind Ostdeutsche auch Migranten?

Über den x-ten Neuaufguss einer überflüssigen Debatte

„Alle Menschen sind Ausländer – überall!“ So lautete eine Parole, die kritisch sein wollte, aber irgendwie nur redundant wirkt. Zur Bekämpfung von Rassismus zumindest trägt sie nicht bei, denn dabei handelt es sich eben nicht um Ausländerfeindlichkeit, wie manche noch immer annehmen. An die Parole muss man denken, wenn jetzt erneut diskutiert wird, ob Ostdeutsche und Migranten nicht doch die gleiche Stigmatisierung erleben. Diese These vertritt zumindest die Migrationsforscherin Naika Foroutan und gab dazu der Taz ein längeres Interview.

Frau Foroutan, Sie sind Migrationsforscherin. Warum interessieren Sie sich für Ostdeutschland?

Naika Foroutan: Sehr viele Erfahrungen, die Ostdeutsche machen, ähneln den Erfahrungen von migrantischen Personen in diesem Land. Dazu gehören Heimatverlust, vergangene Sehnsuchtsorte, Fremdheitsgefühle und Abwertungserfahrungen. Mich irritiert, dass darüber bis jetzt nicht gesprochen wird.

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Die Behauptung, dass über Abwertungserfahrungen von DDR-Bürgern nicht gesprochen wurde, stimmt nicht. Seit 1989 hört man immer wieder in regelmäßigen Abständen ein Lamento über die Ostdeutschen, die sich als Deutsche zweiter oder dritter Klasse fühlen. Dann kam oft der Ausruf: Dafür sind wir 1989 nicht auf die Straße gegangen.

Und hier wird schon der Unterschied zu den nichtdeutschen Migranten deutlich. Ostdeutsche berufen sich auf ein Privileg durch ihren deutschen Pass und wollen eben nicht Deutsche zweiter Klasse sein. Oft wehren sie sich daher umso vehementer dagegen, dass womöglich Migranten ohne deutschen Pass in Deutschland Rechte einfordern. Denn wer sich als Deutsche benachteiligt fühlt, agiert im nationalen Kollektiv mit allen Aus- und Abgrenzungen.

„Irgendwie“ sind alle Migranten

Genau diese nationale Ausrichtung blendet Foroutan aus, wenn sie versucht zu erklären, warum Ostdeutsche auch irgendwie Migranten sind:

Woher kommt das Ähnliche in den Erfahrungen?

Naika Foroutan: Ostdeutsche sind irgendwie auch Migranten: Migranten haben ihr Land verlassen, Ostdeutsche wurden von ihrem Land verlassen. Das setzt ähnliche Prozesse in Gang, beispielsweise die Verschönerung der Erinnerung. Dieses Festhalten an einer idealisierten Vergangenheit haben wir auch bei vielen Migranten. Auch die Erfahrung, sich für seine Herkunft zu schämen. Die Ankunft ist auch deswegen erschwert, weil die Anerkennung fehlt.

taz

Es ist frappierend, dass diese Aneinanderreihung von Banalitäten und Floskeln mit wissenschaftlichem Anspruch daher kommt. Am Ende soll dann die Allianz zwischen Ostdeutschen und Migranten stehen: Hier kann man nur noch mal die Frage stellen, wieso sollen sich Menschen, die sich als Deutsche ungerecht behandelt fühlen und auf ihren deutschen Pass pochen, mit Menschen ohne deutschen Pass solidarisieren?

Doch nicht nur Foroutan treibt das Thema Ostdeutsche und ihr Selbstwertgefühl um. Die Taz-Parlamentskorrespondentin Anja Maier verfasste einen sehr persönlichen Artikel über die Diskriminierung von Ostdeutschen:

So sehr hatte ich mich daran gewöhnt, dass über Ostler in ihrer Gesamtheit in so gut wie jeder herablassenden Weise geredet und gelacht werden durfte. Und dass sich Leute wie ich dann einfach mal nicht so haben sollten, sondern lieber laut mitlachen oder zustimmend nicken, etwa wenn in meiner Zeitung „Reisewarnungen“ für Ostdeutschland ausgesprochen werden, weil das Wahlergebnis dort nicht konveniert. Weil diese Ostler, vergleichbar störrischen Kindern, nicht machen, was man nach mehr als einem Vierteljahrhundert politischer und ökonomischer Subventionierung doch wirklich erwarten könnte: sich anzupassen.

Anja Maier

Hier mischt sich schon ein merkwürdiger Ton in den Text, der bei der sonst sehr sozialdemokratisch argumentierenden Journalistin erstaunt. So wird nicht erwähnt, dass die „Reisewarnungen für Ostdeutschland“ eine Konsequenz von rassistischen Übergriffen in manchen ostdeutschen Gegenden waren. Natürlich gibt es Rassismus auch in anderen Teilen Deutschlands, doch zu bestimmten Zeiten hatten die rassistischen Übergriffe in Ostdeutschland eine Dimension erreicht, dass man potentiell Betroffene nur warnen konnte. Daher erstaunt es schon, wenn Maier jetzt diese Reisewarnungen als Teil der Diskriminierung der Ostdeutschen interpretiert. Aber das ist nicht die einzige Merkwürdigkeit in dem Artikel:

Und als es Brandenburg, wo ich lebe, vor Jahren mit fremdenfeindlichen Exzessen bis in die internationalen Schlagzeilen gebracht hatte, bat die taz ihre Leserschaft um die Schilderung ihrer privaten Thrills. Ich habe noch mal im taz-Archiv nachgeschaut – ein Leser, der den Schutz der Anonymisierung genießen durfte, riet damals, sich „am besten bewaffnet in diese Regionen zu begeben“.

Anja Maier

Letzteres scheint Maier besonders zu empören. Auch hier wird ausgeblendet, dass es eine Diskussion nach einer Serie rassistischer Übergriffe war und da ging es um die Selbstermächtigung der potentiell von Rassismus Betroffenen. Damals hat auch der NS-Überlebende Ralf Giordano zur Wiederstand dieser Menschen aufgerufen.

Heute, wenige Tage nach Solingen, fordere ich d i e Ausländer in Deutschland auf, (ja, d i e – da es jeden und jede von ihnen treffen kann): Wehrt Euch, lasst Euch von deutschen Verbrechern nicht abfackeln, duldet nicht, dass sie Eure Mütter, Eure Väter, Brüder, Schwestern, Söhne und Töchter töten! Seid vorbereitet, wenn sie kommen, erwartet, dass sie kommen könnten – heute Nacht, morgen Nacht und lange noch! Empfangt sie, wie diese Nachtschatten es verdient haben, und entlarvt sie dann durch Eure Gegenwehr als das, was sie sind: laufschnelle Feiglinge, denen nichts wichtiger ist als die Unversehrtheit des eigenen Leibes, Kreaturen einer anonymen Finsternis, der Ihr sie zu entreißen habt. Nehmt sie fest, denn auf die Polizei könnt Ihr nicht warten.

Ausländer in Deutschland, wehrt Euch – endlich!

Ralf Giordano, 1993

Hier wird schon deutlich, dass Rassismus kein ostdeutsches Problem ist, dass von Rassismus Betroffene aber auch nicht die Ostdeutschen sind. Giordano hat nicht sie aufgerufen, sich zu erheben. Wenn Maier am Schluss ihres Artikels schreibt, dass sie bald 30 Jahre nach dem Ende der DDR noch zur Wutbürgerin wird, ist das nur folgerichtig, wenn man sich auf nationale Kollektive bezieht.

Gegen die Ethnisierung des Sozialen

Als in den frühen 1990er Jahren linke DDR-Oppositionelle um die Zeitschrift telegraph, die These von der Kolonisierung der ehemaligen DDR durch die BRD vertraten, gab es viel Kritik. Doch die These bezog sich auf eine linke DDR-Opposition, die sich auf die von DDR-Nomenklatura missbrauchten sozialistischen Ideale beriefen. Sie lamentierten gerade nicht, dass sie Deutsche zweiter Klasse sind, sondern sie lehnten solche Identitäten ab.

Voraussetzung dafür ist, dass man nicht mehr in nationalen Kollektiven denkt. Es gäbe sicherlich Gemeinsamkeiten zwischen DDR-Bürgern und vielen nichtdeutschen Migranten, wenn man die Ethnisierung des Sozialen ablehnt und sich nicht auf Pässe und andere Zufälligkeiten der Herkunft beruft.

Das Gemeinsame von DDR-Bürgern und den meisten nichtdeutschen Migranten besteht darin, dass sei beide zu den Lohnabhängigen gehören und ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, oft besonders billig. Im Kampf um die gemeinsame Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse könnten sich ehemalige DDR-Bürger und andere Lohnabhängige begegnen und zusammen kooperieren

Peter Nowak

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[2] http://www.taz.de/!5501987/
[3] http://www.taz.de/!5501994/
[4] http://www.taz.de/!1613928/
[5] http://telegraph.cc/