Wider den Zwang

Ein elfjähriges Kind soll in die Psychiatrie eingewiesen werden, weil es nicht als Junge, sondern als Mädchen leben will. Dagegen formiert sich Protest

In Berlin soll ein elfjähriges Kind in eine Psychiatrie eingewiesen werden. Es war als Junge geboren worden, lebt aber seit Jahren als Mädchen und wurde dabei von der Mutter und deren Freundeskreis unterstützt. Der Vater des Kindes war damit nicht einverstanden. Er ist der Meinung, dass die Mutter dem Kind die Transsexualität nur einredet.
Damit traf er bei einer vom Jugendamt bestellten Pflegerin auf offene Ohren. Das Amt ist für die Gesundheitsfürsorge des Kindes verantwortlich, wenn sich beide Elternteile nicht einig sind. Nach dem Willen dieser Pflegerin und des Vaters soll der Mutter das Sorgerecht entzogen werden. Das Kind, das in der Öffentlichkeit als Alex bekannt ist, soll zu Pflegeeltern. Zuvor soll ihm aber in der Psychiatrie sein „biologisches“ Geschlecht nahegebracht und „geschlechtsatypisches Verhalten“ unterbunden werden – so zitiert die Tageszeitung, die den Fall bekannt machte, den Chefarzt Klaus Beier von der Berliner Charité.

Auf dem Taz-Blog fragten viele Leser, ob Beier die in den vergangenen beiden Jahrzehnten geführte Debatte über die Konstruktion von Geschlechtern nicht zur Kenntnis nehmen will. „Die Annahme, es könne gelingen, mit Zwangsmaßnahmen psychische Gender-Repräsentanzen gegen den Willen einer Person quasi ‚anzutrainieren‘, widerspricht dem Stand internationaler Wissenschaft und den vielfältigen gegenteiligen Erfahrungen von Menschen, die dies als falsch zugewiesenes Geschlecht erlebten und sich von sozialen Zwängen in der Richtung nur traumatisiert fühlten“, heißt es auch in einer Stellungnahme der Interessengemeinschaft freiberuflicher Einzelfallhelfer und –helferinnen.

Gegen Zwangspathologisierung

Für das „Aktionsbündnis Alex“, in dem sich in Berlin Gruppen und Einzelpersonen zusammengeschlossen haben, die eine Psychiatrisierung des Mädchens verhindern wollen, sind die Positionen des Arztes nicht nur veraltet sondern auch gefährlich. „Professor Beier vertritt äußerst kontroverse Ansichten, die wissenschaftlich widerlegt wurden“, heißt es dort. „Die erzwungene Anpassung an das Geschlecht des Geburtseintrags funktioniert nicht und quält die Betroffenen.“

Die Konsequenzen seien schlimm, meint Klara Sonntag vom Aktionsbündnis. „In seiner Arbeit als Professor ist Klaus Beier auch an der Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern beteiligt und verbreitet somit falsche wissenschaftliche Theorien, die zweigeschlechtlich/sexistisch pathologisierende Gewalt zur Folge haben.“ Unter dem Motto „Stoppt Zwangspathologisierung!“ mobilisiert seit Jahren ein internationales Bündnis. Mit dem Begriff Zwangspathologisierung beschreiben Aktivisten Versuche, Menschen mit Hilfe von Justiz und Psychiatrie auf ein bestimmtes Geschlecht festlegen zu wollen.

Die zentrale Forderung des Netzwerkes ist die ersatzlose Streichung des Krankheitsbegriffs „Geschlechtsidentitätsstörung“ aus den Krankheitskatalogen, an denen sich weltweit Ärzte orientieren. Im kommenden Jahr sollen diese Kataloge turnusmäßig aktualisiert werden. Viele Aktivisten befürchten dabei sogar eine Verschlechterung für Transmenschen. Denn bisher ist es schwierig gewesen, diese Forderungen über den Kreis der Betroffenen hinaus populär zu machen.

Demonstration in Berlin

Durch das Urteil gegen Alex könnte sich das ändern. Denn plötzlich sind die Folgen sehr konkret geworden. Das zeigte die Teilnahme von über 300 Menschen an einer vom „Aktionskreis Alex“ am vergangenen Montag vor dem Berliner Senat für Bildung, Jugend und Wissenschaft in Berlin-Mitte organisierten Kundgebung. Unterstützt wurde sie unter anderem von der Initiative für einen geschlechtergerechten Haushalt, der AK Psychiatriekritik sowie zahlreichen Frauen- und Lesbengruppen.

Solidaritätserklärungen kamen aus verschiedenen europäischen Ländern, die über das Internet von dem Urteil gegen Alex erfahren hatten. Eine lesbische Mutter aus Frankreich erhoffte sich in ihrer Erklärung, dass es in Berlin gelingen möge, die Verfolgung und Diskriminierung von Transmenschen zu stoppen und damit Signale auch in andere Länder zu senden, in denen die Diskussionen noch am Anfang stehen.

Bei der Kundgebung war die Stimmung kämpferisch. Nachdem der Anwalt von Alex Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Kammergerichts eingelegt hat, ist etwas Zeit gewonnen. Die öffentliche Diskussion nach bekanntwerden des Urteils zumindest scheint Anlass für Optimismus zu liefern. Kaum jemand will die Zwangsmaßnahmen gegen Menschen verteidigen, die nicht nach dem in der Geburtsurkunde festgehaltenen Geschlecht leben wollen. Vielleicht bringt der Fall Alex etwas in Bewegung.
http://www.freitag.de/politik/1212-wider-den-zwang
Peter Nowak

Wegen des falschen Geschlechts in die Psychiatrie?

In Berlin soll ein elfjähriges Transmädchen in eine Psychiatrie eingewiesen werden. Dagegen gibt es Proteste

Das Urteil des Berliner Kammergerichts war möglich geworden, weil sich die getrennt lebenden Eltern des Kindes nicht über die Erziehung einig sind und deshalb die Gesundheitsvorsorge auf das Jugendamt übertragen wurde. Weil eine von der Behörde bestellte Pflegerin der Ansicht ist, die Mutter habe dem Kind die Transsexualität eingeredet, soll es in einer Pflegefamilie untergebracht werden. Zuvor soll ihm aber in der Psychiatrie sein „biologisches“ Geschlecht nahegebracht und „geschlechtsatypisches Verhalten“ unterbunden werden. So zitiert die Tageszeitung den Chefarzt Klaus Beier von der Berliner Charité.

Dagegen regt sich heftiger Widerstand. „Die Annahme, es könne gelingen, mit Zwangsmaßnahmen psychische Gender-Repräsentanzen gegen den Willen einer Person quasi ‚anzutrainieren‘, widerspricht dem Stand internationaler Wissenschaft und den vielfältigen gegenteiligen Erfahrungen von Menschen, die dies als falsch zugewiesenes Geschlecht erlebten und sich von sozialen Zwängen in der Richtung nur traumatisiert fühlten“, heißt es in einer Stellungnahme der Interessengemeinschaft freiberuflicher Einzelfallhelfer und -helferinnen.

Auf einem Jurablog wurden einige Aspekte der Berichterstattung in der Tageszeitung kritisch beleuchtet. Die Entscheidung des Berliner Kammergerichts wurde demnach im taz-Bericht rechtlich nicht richtig eingeordnet: „Der Beschluss des KG, der Anlass der Pressemeldung der taz war, verhält sich nicht ausdrücklich zu der richtigen Vorgehensweise, sondern nur zur Frage, wem die Gesundheitsfürsorge zustehen soll. Allerdings lässt sich im Beschluss eine Bestätigung der Richtungswahl des Jugendamts herauslesen. Eine Zwangstherapie wird aber vom KG nicht bestätigt oder genehmigt.“ Damit bleibt der Skandal aber bestehen, die Freiheitsentziehung des Kindes:

„Unabhängig von der Frage, ob hier eine schon im Kindesalter manifest werdende Transsexualität vorliegt oder nicht: Eine Freiheitsentziehung ist ein derart gravierender Eingriff für ein Kind, dass er nur als ultima ratio vorgesehen werden kann. Laut dem Bericht fehlt bislang ein unabhängiges psychiatrisches Gutachten. Zu einer ambulanten Untersuchung seien Mutter und Kind bereit.“

Protest gegen Zwangspathologisierung

Zahlreiche Gruppen und Einzelpersonen haben sich zum „Aktionsbündnis Alex“ zusammengeschlossen, um schnell Proteste gegen die Einweisung des Kindes in eine psychiatrische Anstalt und den Entzug des Sorgerechts der Mutter zu initiieren. Da gegen die Entscheidung des Kammergerichts Rechtsmittel eingelegt wurden, wird die Angelegenheit die Gerichte weiter beschäftigten. Auf der Kundgebung verurteilte die AG Psychiatriekritik alle Versuche, mit Hilfe von Justiz und Psychiatrie, Menschen auf ein bestimmtes Geschlecht festlegen zu wollen.

Durch die Aufmerksamkeit, die der Fall von Alex bekommen hat, wurde der Fokus auf eine internationale Koordination gerichtet, die sich für das Recht einsetzt, das eigene Geschlecht zu leben. Die zentrale Forderung ist dabei die Streichung des Krankheitsbegriffs „Geschlechtsidentitätsstörung“ aus den Krankheitskatalogen, an denen sich die Ärzte orientieren. Im kommenden Jahr sollen diese Kataloge aktualisiert werden. Für die Aktivisten ist daher die zentrale Forderung, die Zwangspathologisierung zu beenden, deren Folgen durch das Urteil gegen Alex für viele Menschen sehr konkret geworden sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151693
Peter Nowak

Dürfen sich Soldaten im Ausland wohlfühlen?

Friedenspartei und Linkspartei stritten sich über die Frage, ob man nur den Abzug oder zuvor auch eine Flatrate für Soldaten im Auslandseinsatz fordern soll

Am vergangenen Donnerstag stand die Situation der deutschen Soldaten im Auslandseinsatz auf der Tagesordnung des Bundestages. Eine Allparteienkoalition beklagte deren hohe Belastung und setze sich für eine bessere Kommunikation mit der Heimat ein. Union, FDP, SPD und Grüne hatten einen gemeinsamen Antrag dazu eingebracht.

Die Linkspartei formulierte ihre Forderungen in einen eigenen Antrag und handelte sich heftigen Streit mit ihren Bündnispartnern in der Friedensbewegung ein. Denn die Partei, die immer einen sofortigen Abzug der Soldaten fordert, will ihnen den Aufenthalt bis dahin auch so angenehm wie möglich zu machen und hat die übrigen Parteien dabei sogar noch überboten.

Während das große Parteienbündnis den Soldaten kostenloses Telefonieren in die Heimat ermöglicht und das Verteidigungsministerium zur Vorlage eines Finanzierungsvorschlags für die kostenfreie Nutzung des Internets durch die Soldaten auffordert, ist die Linkspartei ein klein wenig radikaler Sie fordert kostenloses Internet rund um die Uhr für die Soldaten und außerdem ausreichend Steckplätze für Laptops in den Unterkünften.

„Schneller surfen im Kriegseinsatz“, lautete der Kommentar von Frank Brendle von der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner. Er steht mit seiner Kritik nicht allein. Der politische Sprecher der DFG/VK Monty Schädel schrieb in einem offenen Brief an die Linke: „Wer den Afghanistaneinsatz beenden will, sollte nicht bemüht sein, den Soldaten den Einsatz auch noch angenehm zu machen.“ Für Schädel verliert die Linkspartei mit dem Antrag ihren selbstgesetzten Anspruch, die einzige Antikriegspartei im deutschen Parlament zu sein. Für ihn verträgt sich eine „Wohlfühlpolitik für die Soldaten“ nicht mit der Sorge um die Opfer des Krieges. Er sieht es auch nicht als Aufgabe einer Antikriegspartei an, möglichen Traumata der Soldaten durch freies Telefonieren entgegenzuwirken. Für Schädel ist die afghanische Bevölkerung mit und ohne Flatrate der Ansprechpartner für eine Antikriegspolitik.

Durch freies Internet zum Kriegsgegner?

Der Bundestagsabgeordnete der Linken Wolfgang Gehrcke begründet seine Zustimmung zu dem Antrag mit der Hoffnung, dass damit die Soldaten kritikfähiger würden. „Soldaten kann man am besten auf Krieg ausrichten, wenn sie kaserniert sind und möglichst wenig Kontakt zum zivilen Leben haben. Je mehr Luft an die Mumie Bundeswehr herankommt, desto eher zerfällt sie; und das ist zumindest meine Absicht.

Gehrckes Parteifreundin Christine Buchholz formuliert in ihrer Begründung für den Antrag sogar ein „Recht, ungestört über den Krieg reden zu dürfen“. Warum aber Soldaten, die sich freiwillig für einen Job bei der Bundeswehr entscheiden, ausgerechnet durch ausgiebiges Surfen im Internet zu Kriegsgegnern werden sollen, wird nicht erläutert. Können dadurch nicht auch die Einsatzbereitschaft und Motivation der Soldaten erhöht werden, wie es die Antragssteller von Union bis zu den Gründen formulieren und Kriegsgegner wie Schädel, Brendle und andere Akteure der Antikriegsbewegung befürchten?

Auch in der Linkspartei war die Initiative nicht unumstritten. In der Ablehnung sind sich Bundestagsabgeordnete wie die zur Parteilinken zählende Ulla Jelpke mit den als Realopolitiker formierenden Bundestagsabgeordneten Raju Sharma und Halina Wawzyniak einig. In einer gemeinsamen Erklärung schreiben sie: „Vom Grundsatz her würden wir die Gewährleistung kostenloser Telekommunikations-Dienstleistungen als Grundrecht durchaus begrüßen – aber wenn, dann muss man damit bei jenen anfangen, die bereits jetzt eine Existenz unterhalb der Armutsgrenze fristen müssen. Soldaten, die 110 Euro Auslandsverwendungszulage pro Tag erhalten, gehören nicht dazu“, so die Meinung von 12 linken Bundestagsabgeordneten.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151685
Peter Nowak

Mein Fingerabdruck gehört mir

Ein in Bayern lebender Mann klagt gegen die Weitergabe personenbezogener Daten an US-Behörden.
Ein Bayer will mit einer Beschwerde vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gegen das 2008 in Kraft getretene deutsch-amerikanische Abkommen vorgehen, das US-amerikanischen Behörden einen direkten Online-Abgleich von Fingerabdrücken und DNA-Körperproben mit deutschen Datenbanken ermöglicht. Dem Mann waren bei einer Protestdemonstration gegen die NPD sowohl Fingerabdrücke als auch Speichelproben abgenommen worden. Obwohl ein Strafverfahren eingestellt wurde, er davon aus, dass die gesammelten Daten weiter in den Datenbanken gespeichert sind. „Ich bin durch das Abkommen persönlich und unmittelbar in meinen Menschenrechten betroffen“, begründet er seine Initiative. Ein Datenabgleich in den USA könne für ihn eine Einreiseverweigerung zur Folge haben. Daher verletze das Abkommen für den Kläger sein Recht informelle Selbstbestimmung und den Schutz personenbezogener Daten. In der juristischen Begründung der Beschwerde wird Menschenrechtsverletzungen der USA im „Krieg gegen den Terror“ eingegangen. Es sei nicht auszuschließen, dass dabei auch im Rahmen des Abkommens übermittelte Daten Verwendung finden.
„Ein Recht, unabhängige Gerichte anzurufen, um sich gegen irrtümliche oder illegale Maßnahmen der US-Behörden zu wehren, sieht das Abkommen nicht vor“, wird in der Beschwerde ein Punkt angesprochen, der von Menschenrechts- und Datenschutzorganisationen seit Langem bemängelt wird. Selbst der Bundesrat stellte 2009 fest: „In der derzeitigen Fassung genügt das Abkommen nicht den Anforderungen, die an einen grundrechtskonformen Umgang mit personenbezogenen Daten zu stellen sind.“ Aus formalen Gründen nahm das Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde gegen das Abkommen nicht an. Damit stand dem Kläger der europäische Rechtsweg offen.
„Bis zur Entscheidung des Menschenrechtsgerichtshofs warne ich Europa
davor, einer Informationsauslieferung an die USA zuzustimmen“, erklärt der Jurist und Bürgerrechtler Patrick Breyer. Schließlich könnte die Grundlage des Datentransfers für rechtswidrig erklärt werden.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/222345.mein-fingerabdruck-gehoert-mir.html

Ost-West-Populismus im NRW-Wahlkampf

Immer zu Wahlkampfzeiten kommt ein alter Dauerbrenner in die politische Debatte: die Zukunft des Solidarpakts Ost

Jetzt haben vier Oberbürgermeister aus dem Ruhrgebiet das Ende des Solidarpakts Ost gefordert. Gelsenkirchens Stadtoberhaupt Frank Baranowski will sich für eine Bundesratsinitiative gegen den Solidaritätsbeitrag einsetzen. Mittlerweile hat die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Kraft die Forderungen mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Solidarpakt vertraglich festgeschrieben sei und nicht einfach aufgekündigt werden könne. Damit vermied es die Politikerin allerdings, sich inhaltlich zu positionieren.

Dafür trumpfen ihre Parteifreunde aus den Oberbürgermeisterämtern um so mehr mit starken Sprüchen auf. So sprach der Dortmunder Bürgermeister Ullrich Sierau in der Süddeutschen Zeitung von einem „perversen System, das keinerlei inhaltliche Rechtfertigung hat“. Es sei nicht mehr zu vermitteln, dass die armen Städte des Ruhrgebietes sich hoch verschulden müssten, um ihren Anteil am Solidarpakt aufzubringen. Der Osten sei mittlerweile so gut aufgestellt, dass die dort doch gar nicht mehr wissen, wohin mit dem Geld.

„Während in seiner Stadt Einrichtungen schließen müssten, sanierten die Kommunen im Osten ihre Etats“, schließt sich Essens SPD-Oberbürgermeister Reinhard Paß dem Lamento an.

Droht jetzt die Solidaritätskeule?

Sein Gelsenkirchener Parteifreund Frank Baranowski hat gar schon die Solidaritätskeule entdeckt, mit der Kritiker des Solidarpakts angeblich bedroht und als Feinde der deutschen Einheit dargestellt würden.

Bisher waren die Reaktionen auf den Ruhrgebietsvorstoß allerdings moderat. Während der SPD-Politiker Wolfgang Thierse zusätzlich zum Solidarpakt Ost noch einen Ruhr-Solidaritätsbeitrag auflegen will, stellte sich der einflussreiche Bund der Steuerzahler hinter die Forderungen der Lega-West. So könnte man die westdeutschen Politiker nach dem Vorbild der italienischen Lega Nord nennen, die in regelmäßigen Abständen und über Parteigrenzen hinweg immer mal wieder, meistens vor wichtigen Wahlen, den Solidarpakt Ost aufkündigen wollen. 2008 ist der CSU-Vorsitzende Seehofer mit ähnlichen Forderungen hervorgetreten. Vor vier Jahren mischten sich noch Vorwürfe in die Debatte, die Ostdeutschen wären undankbar, wenn sie trotz des Solidarpakts noch die Linke stark machen.

Die Ähnlichkeiten dieser Debatte mit den Ressentiments der Lega Nord gegen die italienische Bevölkerung südlich von Rom sind ebenso wenig zufällig, wie die Parallelen zur Diskussion über die „Pleitegriechen, die in den letzten Monaten immer wieder geführt wurde. Bei diesen Debatten sollen Schuldige außerhalb des eigenen Verantwortungsbereich für die offenkundige soziale Misere herhalten. Dass es einen Kultur-und Sozialkahlschlag in vielen Städten nicht nur in NRW gibt, ist auch eine Folge der Schuldenbremse – und die wiederum resultiert aus einer Finanzklemme, welche die Politik mit ihrer Niedrigsteuerpolitik zu verantworten hat.

Was bei Befürwortern wie Kritikern des Solidarpakts Ost übersehen wird, ist die offensichtliche Tatsache, dass sich ausbreitende Alltagsarmut und gut restaurierte Innenstädte gut kombinieren lassen. Dafür ist ein Niedriglohnsektor verantwortlich, der nach 1989 im Osten Deutschland eingeführt wurde und sich längst auch im Westen etabliert hat. Deshalb müssen die dort lebenden Menschen genauso wenig vom Solidarpakt Ost profitieren wie die griechische Bevölkerung von den Rettungspaketen der EU-Troika.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151652
Peter Nowak

Demokratie statt Fiskalpakt

Wissenschaftler rufen zu Protesten gegen europäische Kürzungspolitik auf
Ein von der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung initiierter Aufruf mobilisiert gegen das EU-Krisenprogramm.
Während in den letzten Tagen die Eurokrise in Deutschland nicht im Mittelpunkt des Medieninteresses stand, geht in Griechenland, Spanien und Portugal der Widerstand gehen die sozialen Folgen der EU-Krisenprogramme weiter. Aber auch in Deutschland wächst die Kritik Das zeigt sich an der großen Resonanz, den der von der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG) initiierte Aufruf „Demokratie statt Fiskalpakt“. Mit knapp 120 Erstunterzeichnern, die vor allem aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich kommen, ist der Aufruf vor einigen Tagen gestartet. Mittlerweile wurde von mehr als 1300 auf der Homepage http://www.demokratie-statt-fiskalpakt.org/ unterzeichnet Täglich kommen weitere Namen dazu. Das ist ganz im Sinne der Initiatoren.
Der AkG hat sich im Juni 2004 als Zusammenschluss von Sozialwissenschaftlerinnen und –wissenschaftlern im deutschsprachigen Raum gegründet. „Zielsetzung der gemeinsamen Arbeit ist die Diskussion gesellschaftskritischer Theorieansätze, deren Reproduktion und Weiterentwicklung in Zeiten ihrer zunehmenden Marginalisierung an den Hochschulen gesichert werden soll“, heißt es auf der Homepage der Initiative.
Mit dem aktuellen Aufruf hat das AkG dieses Selbstverständnis in die Praxis umgesetzt. Dabei richteten die Wissenschafter den Fokus ihrer Kritik auf den mit dem Krisenprogramm verbundenen Demokratieabbau.. Sie ziehen eine Linie von der blutigen Durchsetzung der neoliberalen Politik in Chile während der Militärdiktatur unter Pinochet nach dem Putsch gegen die demokratisch gewählte Allende-Regierung 1973, über die mit der Verarmung großer Teile der Bevölkerung verbundenen Transformationsprozesse in vielen osteuropäischen Länder nach 1989 bis zu den aktuellen Sparprogrammen für die europäische Peripherie.
In dem Aufruf wird auch vor dem Erstarken rechter Kräfte im Windschatten der Krisenpolitik gewarnt. Dabei wird auf die Erfolge rassistischer und nationalistischer Gruppierungen in Ungarn, Österreich und Finnland verwiesen. Allerdings wird der Fokus der Kritik auf die deutsche Regierung gerichtet. „Geschichtsvergessen macht die deutsche Regierung mit ihrer kompromisslosen Austeritätspolitik reaktionäre Krisenlösungen immer wahrscheinlicher“, warnen die Wissenschaftler. . „Wir sind diese unsoziale und antidemokratische Politik ebenso leid wie die rassistischen Attacken auf die griechische Bevölkerung. Reden wir stattdessen von den menschenverachtenden Folgen dieser Politik“, so die Verfasser. .
Der Aufruf mobilisiert zu weiteren Protesten. So wird dort zur Beteiligung an der Anti-Krisendemonstration am 31. März in Frankfurt/Main, den Global Day of Action am 12. Mai und der internationalen Mobilisierung nach Frankfurt am Main vom 17. bis 19. Mai aufgerufen.. Die Unterstützung aus der Zivilgesellschaft und dem linken Wissenschaftskreisen könnte auch Ausstrahlung auf andere Kreise haben. So verfassten auch Gewerkschaftler einen Aufruf gegen die Krisenpolitik, der bei einer Rundreise griechischer Gewerkschafter in Berlin einstimmig verabschiedet wurde.
www.demokratie-statt-fiskalpakt.de
https://www.neues-deutschland.de/artikel/221812.demokratie-statt-fiskalpakt.html
Peter Nowak

Gauck und die Erinnerungspolitik

Weil Gauck die Prager Erklärung unterschrieben hat, wird Kritik an seinem Geschichtsverständnis laut
Normalerweise wird eine Bundespräsidentenwahl in Israel und den USA nicht besonders zur Kenntnis genommen. Doch ausgerechnet um die Personalie Gauck hat sich dort eine in Deutschland kaum zur Kenntnis genommene Kritik entzündet. Der israelische Historiker Efraim Zuroff hat lange Zeit in den USA gelebt und war der erste Leiter des Simon-Wiesenthal-Centers. Er hat in einem jetzt von der taz nachgedruckten Artikel heftige Kritik an dem neuen Bundespräsidenten geübt und dort die Befürchtung vor einem Rollback in der deutschen Erinnerungspolitik geäußert.

Der Anlass für die heftige Kritik Zuroffs ist Gaucks Unterschrift unter der Prager Erklärung mit dem Untertitel „Europas Gewissen und der Totalitarismus“, die zu einer Entschließung des EU-Parlaments am 2. April 2009 führte. Darin wird die Notwendigkeit formuliert, die „Verbrechen der totalitären Systeme“ des National- und Realsozialismus aufzuarbeiten und zu verurteilen.

Für Zuroff wirft die Unterstützung der Erklärung „mehr als alles andere einen Schatten auf die Kandidatur von Joachim Gauck“ und lässt bei ihm „ernsthafte Zweifel an dessen Eignung für dieses repräsentative Amt aufkommen“.

Dabei unterstützt der Historiker Zuroff ausdrücklich die Intention, auch die Verbrechen im nominalsozialistischen Herrschaftsbereich aufzudecken. Seine Hauptkritik richtet sich gegen die Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus. Die entscheidenden Unterschiede beider Ideologien, so Zuroff, würden ignoriert:

„Die behauptete Austauschbarkeit beider Phänomene übersieht den präzedenzlosen Charakter des Holocaust und erhöht die kommunistischen Verbrechen in ihrer tatsächlichen historischen Bedeutung.“

Zuroff sieht in der in Deutschland weitgehend ausgebliebenen Kritik an der Prager Erklärung ein Indiz für eine „merkliche Holocaust-Ermüdung“ in Deutschland. Obwohl das „Wissen um die Judenvernichtung und die Sensibilität dafür unverkennbar zugenommen“ hätte, würden „die Stimmen derer, die die deutschen Opfer im und nach dem Krieg betonen, (…) kühner und lauter“, diagnostiziert der Historiker. Einige Kommentare scheinen die Befürchtung zu bestätigen.

Auch wenn diese Kritik in Deutschland kaum wahrgenommen wurde, macht sie doch deutlich, dass in manchen Ländern gewisse Zungenschläge zu historischen Themen deutscher Politiker sehr genau analysiert werden und nicht überall die deutsche Geschichte mit dem Mauerfall beginnt.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151636
Peter Nowak

Wissenschaftler warnen vor autoritärer Wende in Europa

Die Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung fürchtet den Abbau der Demokratie durch den Fiskalpakt
Die Kritik an den europäischen Krisenlösungsstrategien nimmt auch in Deutschland zu. Unter dem Motto Demokratie statt Fiskalpakt haben über 120 linke Wissenschaftler aus dem Umfeld der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung einen Aufruf veröffentlicht, der das Sparmodell einer vernichtenden Kritik unterzieht.

Die Autoren warnen vor einer Schockstrategie, die zu einem Abbau der Demokratie und der Verelendung von vielen Menschen in der europäischen Peripherie warnt. In dem Aufruf heißt es:

„Wir sind diese unsoziale und antidemokratische Politik ebenso leid wie die rassistischen Attacken auf die griechische Bevölkerung. Reden wir stattdessen von den menschenverachtenden Folgen dieser Politik.“

Die Verfasser ziehen in diesem Zusammenhang eine große Linie: von der blutigen Durchsetzung der neoliberalen Politik in Chile nach dem Putsch gegen die demokratisch gewählte Allende-Regierung 1973 über die mit der Verarmung großer Teile der Bevölkerung verbundenen Transformationsprozesse in Osteuropa bis zu den aktuellen Sparprogrammen für die europäische Peripherie. Dabei setzen die Wissenschaftler ihren Schwerpunkt auf die Kritik an den mit dem Krisenprogramm verbundenen Abbau der Demokratie. So seien in Griechenland und in Italien nicht-gewählte Technokratenregierungen an die Macht gekommen, die gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung die Krisenprogramme umsetzen würden.

Dieser Befund wird auch von Gewerkschaftern aus verschiedenen europäischen Ländern bestätigt. So werden im Rahmen des Krisenprogramms in Griechenland, Italien und Spanien massiv Gewerkschaftsrechte eingeschränkt.

Herausbildung einer Opposition auch in Deutschland?
Der Aufruf der Wissenschaftler hat nach der Veröffentlichung in der taz schon zu Diskussionen in verschiedenen Spektren der sozialen Bewegung in Deutschland geführt. Der Appell könnte zur Herausbildung einer wahrnehmbaren Opposition auch in Deutschland beitragen. Schließlich wird in dem Aufruf auch zu den Krisenprotesten am 31. März, den Global Day of Action am 12. Mai und der internationalen Mobilisierung in Frankfurt am Main vom 17. bis 19. Mai aufgerufen. Damit kommt erstmals auch aus der Zivilgesellschaft und dem linken Wissenschaftsmilieu Unterstützung für das Anliegen. Jetzt wird sich zeigen, ob auch in Gewerkschaftskreisen ein ähnlicher Aufruf verfasst wird. Schon länger wird auch dort diskutiert, die Kritik an der Sparpolitik öffentlich zu machen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151624
Peter Nowak

Bleibt der Tod von Oury Yalloh ungeklärt?

Der Prozess um die Umstände des Todes des in einer Dessauer Polizeizelle unter ungeklärten Umständen verbrannten Flüchtlings geht weiter

Der Mann aus Sierra Leone war am 7.Januar 2005 von der Polizei festgenommen, durchsucht und in eine Arrestzelle verfrachtet worden. Wenige Stunden später verbrannte er dort. Die Staatsanwaltschaft hat die von der Richterin in die Diskussion gebrachte Einstellung des Verfahrens abgelehnt.

Dazu beigetragen haben dürfte die Empörung, die von Menschenrechtsinitiativen und Flüchtlingsgruppen laut wurde, als der Einstellungsantrag bekannt wurde. Schließlich haben diese über Jahre dafür gekämpft, dass es überhaupt zum Versuch der juristischen Aufarbeitung der Todesumstände gekommen ist. Dabei musste nach Angaben der Menschenrechtler um jedes Detail gerungen werden. So sollte anfangs die Mutter von Oury Yalloh nicht als Nebenklägerin zugelassen werden, weil die Geburtsurkunden in Sierra Leone nicht den bürokratischen Kriterien in Deutschland entsprachen.

Wenn das Verfahren nun eingestellt worden wäre, weil mit einer endgültigen Klärung nicht mehr rechnen ist hätten sich die Befürchtungen der Menschenrechtsgruppen bestätigt, die schon lange den Verdacht äußerten, dass die Bereitschaft, die Hintergründe des Verbrennungstodes aufzuklären, nicht vorhanden ist. Dabei sind die Unklarheiten, die in den letzten Jahren vor allen von zivilgesellschaftlichen Organisationen und engagierten Anwälten bekannt gemacht worden, groß.

Wie nach einer gründlichen Durchsuchung das Feuerzeug in die Zelle gelangen konnte, gehört ebenso dazu, wie die Frage, wie ein gefesselter Mann eine feuerfeste Matratze selber entzündet haben kann. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen wollen in dem Verfahren auch das Umfeld der Dessauer Polizeiwache ausleuchten, wo vor Oury Yalloh ein Obdachloser unter ähnlich ungeklärten Umständen ums Leben gekommen ist. Wie im Fortgang des Verfahrens allerdings die offenen Fragen noch geklärt werden können, wenn die Richterin eigentlich mit ihren Einstellungsbegehren schon eingestand, dass die Grenzen der rechtsstaatlichen Ermittlungen erreicht seien, bleibt offen.

Ein Film weist schlampige Ermittlungen nach

Zurück bleibt vor allem bei Flüchtlingsorganisationen der Verdacht, dass in Deutschland die Justiz zurückhaltender ermittelt, wenn die Opfer einen Migrantenhintergrund haben. Dieser Verdacht wird nicht nur im Todesfall Oury Yalloh laut. So wurde kürzlich auch das Verfahren zum Tod der im letzten Sommer in einen Jobcenter in Frankfurt/Main von einer Polizeikugel getroffene Christy Schwundeck eingestellt. Auch bei ihr ist es Freunden und Unterstützern mit einem juristischen Verfahren weniger um eine Bestrafung gegangen, sondern um eine Aufklärung über die Hintergründe ihres Todes.

In der nächsten Zeit dürfte die mangelhafte juristische Aufarbeitung des Todes der rumänischen Arbeitsmigranten Grigore Velcu und Eudache Caldera für Diskussionen sorgen. Die beiden wurden am 29.Juni 1992 angeblich von Jägern auf einem Feld in Mecklenburg Vorpommern erschossen, als sie nach dem Grenzübertritt auf einen Transfer nach Deutschland warteten. Die beiden Jäger, die für die Schüsse verantwortlich waren, wurden freigesprochen. Augenzeugen der Tat wurden nicht gehört, zahlreiche offensichtliche Widersprüche blieben ungeklärt und selbst die den Angehörigen der Getöteten bei einem Jagdunfall zustehende Entschädigung wurde nicht ausgezahlt.

Dass dieser Fall nach fast 20 Jahren wieder diskutiert wird, ist dem Filmemacher Philip Scheffner zu verdanken, der den ungeklärten Fragen dieses Todes im Getreidefeld in dem schon auf der Berlinale vielbeachteten Film Revision nach recherchierte. Er hat damit die Arbeit gemacht, die die Justizbehörden versäumten. Er besuchte die Angehörigen der Toten in Rumänien und spürte auch einen Augenzeugen auf, der mit Velcu und Caldera im Kornfeld wartete, als die tödlichen Schüsse fielen. Als der Prozess begann, war er schon längst wieder abgeschoben worden.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151588
Peter Nowak

Mit einem Volksbegehren gegen Privatisierungen

Ein Bündnis will in Berlin die Rekommunalisierung der Energieversorgung und die Gründung von berlineigenen Stadtwerken erreichen

„Neue Energie für Berlin – demokratisch – ökologisch sozial“. Das Transparent erinnert unangenehm an die Wahlwerbung politischer Parteien. Damit soll allerdings für ein Volksbegehren geworben werden, das am vergangenen Dienstag begonnen hat. Der Berliner Energietisch, ein Bündnis von Umweltgruppen, Nichtregierungsorganisationen und linken Organisationen will die Rekommunalisierung der Energieversorgung und die Gründung von berlineigenen Stadtwerken erreichen.

Den Hebel, um die Stromversorgung von Berlin auf eine neue Grundlage zu stellen, sieht Stefan Taschner , der Sprecher des Energiertisches, im Auslaufen der Verträge des Landes Berlin mit dem schwedischen Energiekonzern Vattenfall Ende 2014.

In den nächsten Monaten kommt allerdings auf die Aktivisten erst einmal viel Arbeit zu. Bis zur Sommerpause will das Bündnis ca. 20.000 Unterschriften wahlberechtigter Berliner sammeln, um das Volksbegehren einleiten zu können. In der zweiten Phase müssen bis Mitte nächsten Jahres ca. 170.000 Unterschriften zusammen kommen, damit über den vom Energietisch ausgearbeiteten Gesetzesentwurf abgestimmt werden kann. Läuft alles nach Plan, könnte diese Abstimmung mit der Bundestagswahl im Herbst 2013 zusammengelegt werden, so die Vertreter des Energietisches.

Die Aussichten für die Aktivisten sind eigentlich gut. Schließlich hat der Berliner Wassertisch vor einem Jahr erfolgreich ein Volksbegehren zur Offenlegung der Wasserverträge durchgeführt. Während damals die Berliner Linkspartei als Teil der Berliner Regierungskoalition das Volksbegehren mehrheitlich nicht unterstützte, will sie als Oppositionspartei jetzt aktiv zum Gelingen der Rekommunalisierung der Energieversorgung beitragen.

Die Diskussionen beim Berliner Wassertisch machen allerdings auch die Schwierigkeiten deutlich, mittels Volksbegehren grundlegende politische Veränderungen durchzusetzen. Denn die zur Abstimmung gestellten Gesetzesentwürfe müssen von Juristen bis auf das Komma formuliert werden, damit sie zugelassen werden können. Jetzt fordert ein Teil der Aktivisten die Einleitung eines Organstreitverfahrens, das die Nichtigkeit der Wasserverträge wegen zahlreicher Verstöße gegen die Berliner Verfassung und das Budgetrecht des Abgeordnetenhauses zur Folge haben könnte. Dieses Verfahren muss allerdings von Mitgliedern des Abgeordnetenhauses eingeleitet werden. Ein weiteres Volksbegehren mit diesen Forderungen ist rechtlich nicht möglich. Noch hat keine der drei Oppositionsfraktionen im Berliner Abgeordnetenhaus die Initiative für das Verfahren ergriffen.

Direkte Demokratie mit Hindernissen

Wie schwierig es ist, mittels Volksbegehren grundlegende politische Änderungen einzuleiten, zeigt sich auch an dem Volksbegehren des Berliner S-Bahntisches, für das in der ersten Phase ca. 30.000 Berliner Wahlberechtigte unterschrieben haben. Jetzt liegt es allerdings auf Eis, weil der Senat an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzesentwurfes zweifelt und eine Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof angeordnet hat.

Weil die Neuausschreibung der Berliner S-Bahnlinien in diesem Sommer beginnen sollen, fürchten die Aktivisten, dass durch die Verzögerungstaktik vollendete politische Tatsachen geschaffen werden. Jedenfalls schützen diese Probleme vor der Illusion, man könnte mittels Volksbegehren einfach die Privatisierungspolitik umkehren. Deshalb sehen auch Gruppen wie fels, die Teil des Energietisches sind, den Hauptzweck der Initiative in der Herstellung eines politischen Klimas, das die Politik der großen Energiekonzerne wie Vattenfall insgesamt infrage stellen soll. „Die Erzeugung, der Vertrieb und der Zugang von Energie sind Teil der sozialen Infrastruktur der Berliner und diese sollen daher nicht als Ware ge- und verhandelt werden“, erklärt ein Sprecher von fels.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151567
Peter Nowak

Linkspartei nominierte Klarsfeld einstimmig zur Präsidentschaftskandidatin


Die beiden anderen Kandidaten, die ins Spiel gebracht wurden, hatten verzichtet

Die Linkspartei hat am Montag Beate Klarsfeld zur Präsidentschaftskandidatin nominiert. Damit ist ihr eigentlich ein politischer Coup gelungen. Denn Klarsfeld ist dadurch bekannt geworden, dass sie 1968 den damaligen CDU-Bundeskanzler Georg Kiesinger wegen dessen NS-Vergangenheit öffentlich geohrfeigt hat.

Während linke und liberale Kreise Klarsfeld für ihr Engagement lobten, wurde sie in konservativen Kreisen zur Buhfrau. Zumal sie auch in den folgenden Jahrzehnten mit ihrer Arbeit dafür sorgte, dass berüchtigte NS-Täter, die unbehelligt in Deutschland lebten, gerichtlich belangt werden konnten. In Deutschland wurde dieses Engagement zur privaten Angelegenheit von Klarsfeld erklärt, wo sie auch mit dem Begriff Nazijägerin belegt wurde. Bei diesen Formulierungen schwingen auch offen Ressentiments gegen eine Frau mit, für die die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit keine Angelegenheit von Sonntagsreden ist. In Frankreich hingegen genießt Klarsfeld quer durch alle politischen Lager Ansehen und wurde mit zahlreichen Ehrungen bedacht.

Bis in die jüngste Vergangenheit engagierte sich Klarsfeld gegen den Rassismus in Deutschland und beispielsweise für die Ehrung von jüdischen Kindern, die mit der deutschen Bahn in die Vernichtungslager transportiert wurden.

Streit um die Israelsolidarität

Mit ihrer Nominierung hat die Linkspartei gerade noch einmal eine Zerreißprobe vermieden. Denn am vergangenen Freitag war es gar nicht mehr so sicher, ob Klarsfeld, die von der Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch ins Gespräch gebracht worden war und sich zur Kandidatur bereit erklärt hatte, in der Partei akzeptiert wird. Dass antizionistische Flaggschiff junge Welt bezeichnete die Kandidatin als eine Fehlbesetzung, weil sich Klarsfeld für das Existenzrecht Israel ausgesprochen und auch den Aufruf Stop the Bomb unterzeichnet hat, in dem die europäischen Staaten zur Kappung der Wirtschaftsbeziehungen mit dem iranischen Mullah-Regime aufgefordert werden. Damit könne, so hoffen die Organisatoren aus allen politischen Lagern, eine atomare Bewaffnung des Irans ohne kriegerisches Eingreifen verhindert werden.

Schnell wurde kolportiert, dass der immer noch einflussreiche Oskar Lafontaine mit dem linkssozialdemokratischen Kölner Politologen Christoph Butterwegge, der sich als Kritiker der neoliberalen Wirtschaftspolitik und vor allem der Hartz-IV-Gesetze einen Namen gemacht hatte, einen weiteren Kandidaten für die symbolische Präsidentschaftskandidatur ins Gespräch brachte. Als der am Sonntag aber erklärte, er stehe für innerlinke Machtspiele nicht bereit, und seine Bereitschaft zur Kandidatur zurückzog, war der Weg für Klarsfeld frei. Denn die Bundestagsabgeordnete der Linken Luc Joachimsen, die bei der letzten Präsidentenwahl für ihre Partei kandidiert hatte, machte schon vor Tagen deutlich, dass sie eigentlich eher für einen Boykott der Wahlen eingetreten ist.

Zwischenzeitlich hatten Teile der Linkspartei mit der Kandidatur des von der Piratenpartei ins Gespräch gebrachten Kabarettisten Georg Schramm geliebäugelt, der allerdings bald auf eine Kandidatur verzichtete. Auch gegen ihn waren Vorwürfe laut geworden, dass seine Reden nicht von antisemitischen Konnotationen frei gewesen seien.

Mit Beate Klarsfeld hat die Linke nun eine Kandidatin, der diese Vorwürfe niemand machen kann. Es muss sich zeigen, ob sie von allen Wahlmännern und -frauen der Linkspartei und vielleicht, wie sie hofft, auch noch von einigen Delegierten aus anderen politischen Spektren gewählt wird.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151514
Peter Nowak

Gauck – kein Freund der Erwerbslosen?

Nach seiner Nominierung melden sich auch die ersten Kritiker des Rostocker Theologen zu Wort, die ein „blaues Wunder“ mit Gauck befürchten

Die Bild-Zeitung hatte mal wieder das Ohr anscheinend ganz nah am Volke. „Gebt uns Gauck“, leitartikelte das Blatt vor zwei Tagen. Nachdem die um ihr Überleben kämpfende FDP erkannt hatte, dass sie sich in dieser Frage gut profilieren konnte und sogar ein Koalitionsbruch drohte, hatte auch die Union die Zeichen der Zeit erkannt. Ist mit der Nominierung des von den Medien zum „Präsidenten der Herzen“ ernannten Pastors nun die Gauckomanie ausgebrochen? Fast scheint es so, wenn selbst der eher nüchterne Publizist Heribert Prantl von „einem Wunder namens Gauck“ schreibt.

Manche befürchten allerdings, mit Gauck eher ein „blaues Wunder“ zu erleben. Kaum wurde seine Nominierung bekannt, meldeten sich auch die Kritiker des Rostocker Theologen zu Wort. Für das Erwerbslosen Forum ist Gauck „eine unglückliche Entscheidung für Menschen in Armut“. Der Forumssprecher Martin Behrsing erinnerte an Kommentare von Gauck zu aktuellen Protestbewegungen.

„Wer Menschen, die bereits 2004 gegen die geplante Hartz-IV-Gesetzgebung demonstrierten, als töricht und geschichtsvergessen bezeichnet und die Occupy-Bewegung mit seiner Kapitalismuskritik für unsäglich albern hält, muss sich fragen lassen, ob er wirklich ein Bundespräsident für alle werden kann.“

Gauck kritisierte die Kritiker der Hartz-IV-Gesetze vor allem, weil sie sich in die Tradition der Montagsdemonstrationen in der Endphase der DDR stellen. Das sei „töricht und geschichtsvergessen“, monierte Gauck. Während es bei den Demonstrationen 1989 um fundamentalen Widerstand gegen das DDR-Regime gegangen sei, handele es sich bei den Erwerbslosenprotesten um „eine Opposition in einem demokratischen System“. Eine ähnliche Kritik an den Erwerbslosenprotesten äußerte damals auch die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, die heute zum rechten Flügel der Union zählt und schon seit Wochen für eine zweite Chance für Gauck geworben hat.

Aber auch der frühere SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, der wesentlich für die Etablierung der Hartz-IV-Gesetze verantwortlich war, schloss sich Gaucks Schelte der Erwerbslosenproteste an. Dass es ihm dabei nicht nur um den Bezug auf die Montagsdemonstrationen ging, machte er mit seiner Aufforderung an „die Anführer solcher Proteste“ deutlich, Alternativen zu formulieren und zu sagen, wofür sie einträten. Darin sahen viele Aktivisten der Bewegung, die sich gerade nicht auf Anführer stützte und die die Angst vor der Verarmung auf die Straße trieb, eine Parteinahme für die Agenda 2010.

Mut zur Kürzung von Sozialleistungen?

Schließlich hatte Gauck Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder ausdrücklich für seinen Mut bei der Hartz-IV-Reform gelobt:

„Als Gerhard Schröder einst die Frage aufwarf, wie viel Fürsorge sich das Land noch leisten kann, da ist er ein Risiko eingegangen. Solche Versuche mit Mut brauchen wir heute wieder.“

So ist es durchaus verständlich, wenn soziale Interessenverbände hellhörig werden. Auf Foren von Erwerbslosen wird Gauck daher noch heute als „Theologe der Herzlosigkeit“ bezeichnet. Die Publizistin Jutta Ditfurth nannte Gauck in einem Kommentar als „Prediger der verrohenden Mittelschicht“.
Tatsächlich könnte Gauck anders als Wulff als Präsident ein Wir-Gefühl erzeugen, das keine sozialen Interessen mehr zu kennen scheint und „aus Liebe zu Deutschland“ zu noch mehr Opfer und Verzicht mobilisiert. Wenn man einige Pressereaktionen nach seiner Nominierung liest, zeigt sich, dass solche Befürchtungen so grundlos nicht sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151465
Peter Nowak

Am 31.März und im Mai: auf nach Frankfurt/Main


Am 21. und 22.Januar fanden in Frankfurt am Main zwei Vorbereitungstreffen statt, um die Krisenproteste für dieses Jahr zu planen.

Bereits im letzten Jahr hatte das Ums-Ganze-Bündnis von Gruppen aus der BRD und Österreich die Initiative zu einem europäischen antikapitalistischen Aktionstag ergriffen. Mittlerweile hat sich ein internationales Netzwerk gebildet, dem weitere Gruppen aus der BRD, u.a. die anarchosyndikalistische Gewerkschaft FAU sowie lokale Zusammenhänge, und Gruppen aus Griechenland, Polen, Italien und Belgien angehören.
Nach anfänglichen Gesprächen auch mit der Interventionistischen Linken (IL) über die Durchführung eines gemeinsamen Aktionstags in der BRD, hatte sich die IL schließlich entschlossen, (zusätzlich) eine eigene Demo mit Aktionstagen Mitte Mai anzustreben, und für den 22.Januar zu einem Ratschlag eingeladen.
Das globalisierungskritische Netzwerk Attac schlägt dagegen vor, aus Anlass der Aktionärsversammlung der Deutschen Bank am 31.5., Ende Mai als Termin für Demonstration und Aktionstage zu nehmen.
In Bezug auf den europäischen Aktionstag, der in die Warnstreikphase der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst fällt, steht fest, dass dieser am 31.März in verschiedenen europäischen Ländern stattfinden soll. Zusätzlich zu den oben genannten Ländern werden u.a. noch Gespräch mit der Gewerkschaft SUD in Frankreich sowie mit den spanischen Gewerkschaften CNT, CGT und Solidaridad Obrera geführt. Auch erste Kontakte zu Mitgliedern von DGB-Gewerkschaften in der BRD wurden hergestellt; bei Labournet wurde eine Internet-Seite zu M31 (31.März) erstellt: www.labournet.de/diskussion/arbeit/aktionen/2011/
occupy.html.
In der BRD soll es am 31.März eine zentrale Demonstration in Frankfurt/Main und anschließende kreative Aktionen zur effektiven Beeinträchtigung der Arbeiten auf der Baustelle für ein neues Gebäude der Europäischen Zentralbank geben.
Für die Mai-Aktionen sind die Vorbereitungen noch nicht soweit gediehen – was allerdings nicht tragisch ist, da bis dahin ja auch noch mindestens sechs Wochen mehr Zeit sind. Der nächste Schritt dafür wird eine Aktionskonferenz vom 24. bis 26.Februar, wiederum in Frankfurt, sein, die gemeinsam mit Gruppen aus dem M31-Netzwerk vorbereitet wird. Auf dieser Aktionskonferenz soll der endgültige Termin für die Aktionen im Mai festgelegt und über die politischen Inhalte der Protest Mitte bzw. Ende Mai gesprochen werden.
In den nächsten Wochen wird es jetzt darum gehen, den 31.März als Auftakt der diesjährigen Protestagenda zu einem Erfolg zu machen. In verschiedenen Städten bilden sich Aktionsgruppen, die sich nicht nur um die Organisierung von Mitfahrgelegenheiten nach Frankfurt kümmern, sondern auch Veranstaltungen in verschiedenen Städten organisieren. Die Stärke dieses Aktionstags ist die europaweite Vorbereitung und die klar antikapitalistische Stoßrichtung. Ein Erfolg könnte auch positive Auswirkungen auf alle weiteren Aktionen haben.

Detlef Georgia Schulze, Peter Nowak
aus Sozialistische Zeitung, SoZ, 2/2012
http://www.sozonline.de

Vor neuer Rüstungsspirale in Europa?

Die Kommandozentrale des US-Raketenabwehrsystems soll im Luftwaffenstützpunkt Ramstein eingerichtet werden

Der US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein war in den 1980er Jahren ein zentraler Fokus der Proteste der deutschen Friedensbewegung gegen die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen. Zahlreiche Blockaden und Aktionen des zivilen Ungehorsams haben damals rund um das Gelände stattgefunden. Dann war es still geworden um Ramstein und viele anderen Protestorte der damaligen Zeit. Die Meldung, dass die US-Militär die nuklearen Sprengköpfe aus Rammstein entfernt hätten, interessierte nur wenige.

Doch seit einigen Tagen ist Ramstein wieder in den Medien aufgetaucht. Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) sagte Ende letzter Woche, dass die Kommandozentrale für das europäische Raketenschild in Ramstein eingerichtet werden soll. Darauf hätten sich die USA und die Nato bereits geeinigt. Zudem sollen die auf den Stützpunkt Ramstein gelagerten Patriot-Raketen Teil des Nato-Raketenschilds werden soll, das bis 2020 aufgebaut werden soll.

Die Reaktionen der Oppositionspolitiker waren sehr unterschiedlich. Der SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold bezeichnete das Raketenschild in einem Interview mit dem Deutschlandfunk als richtige und sinnvolle Einrichtung.
Für die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen Agnieszka Brugger kam diese Entscheidung überraschend. Sie war bisher davon ausgegangen, dass sich Deutschland nicht mit Hardware an dem Raketenschild beteiligt und warnt vor unübersehbaren politischen und finanziellen Folgen. Vor allem aber befürchtet Brugger, dass damit mögliche Abrüstungsziele konterkariert werden. Auch der verteidigungspolitische Sprecher der Linken Paul Schäfer sieht mit der Entscheidung für den Raketenschild in Ramstein das „Pulverfass geöffnet“.

Gegen wen soll das Raketenschild schützen?

Die Warnungen der Kritiker, dass das Raketenschild auch international die Spannungen eher erhöhen dürfte, haben sich bei der Nato-Sicherheitskonferenz in München bestätigt. Während die Nato-Politiker bekräftigen, dass das Raketenabwehrsystem vor den Angriffen unberechenbarer Staaten wie dem Iran schützen soll, haben russische Politiker noch einmal ihre ablehnende Haltung bekräftigt. Sie befürchten, dass das System gegen die eigenen Raketen gerichtet werden könnte. Dieses Misstrauen erhält dadurch neue Nahrung, dass die Nato russische Forderungen nach einer Mitentscheidung beim Einsatz des Raketenschildes ablehnt.

Auch der auf Rüstungsfragen spezialisierte Publizist Jerry Sommer hat in einer für die Linkspartei erarbeiteten Studie nachgewiesen, dass die USA das Raketenschild nicht nur als Schutz gegen den Iran aufbauen. Vielmehr arbeite die US-Regierung an einer Ausweitung der „Bedrohungsperzeption“, nach der die Raketen von bis zu 30 Staaten als Bedrohung angesehen werden, schreibt Sommer in der Studie. Er hat schon 2010 in einem NDR-Beitrag in der Reihe „Streitkräfte und Strategien“ die jahrelange Diskussion um das Raketenschild nachgezeichnet. Nato-Generalsekretär Rasmussen hatte bereits 2010 erklärt: „Die Zeit ist gekommen, mit der Raketenabwehr voranzuschreiten. Wir müssen beim Nato-Gipfel im November beschließen, dass Raketenabwehr für unsere Bevölkerung und unser Territorium eine Aufgabe der Allianz ist.“

Sommer weist auf die erheblichen Zweifel vieler Wissenschaftler hin, dass das Raketensystem tatsächlich den versprochenen Schutz bietet. So kommt der US-Physiker Theodore Postol vom Massachusetts Institute of Technology nach der Analyse von vom Pentagon veröffentlichten Videoaufnahmen zu einem ernüchternden Fazit:

Wir haben die Aufnahmen von den auf den Abfangraketen montierten Infrarotkameras analysiert. Wir stellten fest, dass niemals der Sprengkopf, sondern immer nur der Raketenkörper dahinter getroffen wurde. Aber jeder weiß, dass man den Sprengkopf treffen muss.

Auch der Physiker Götz Neuneck vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik hält einen absoluten Raketenschutz weder für die USA noch für Europa technisch für möglich. Daher sei es auch unwahrscheinlich, dass sich die Nato-Politiker auf den Raketenschild verlassen würden. Sollte ein Angriff akut sein, würde man wie bisher eher versuchen, die gegnerischen Raketen am Boden zu zerstören. Dann bräuchte man aber auch kein teures Raketenschild, das die Spannungen noch erhöht, ist auch die Meinung von Sommer. Schließlich könnte auch die Gefahr darin bestehen, dass der Raketenschild eine Sicherheit suggeriert, die es nicht gibt, womit sich auch die Spannungen erhöhen könnten. Daher würde sich wahrscheinlich Israel, das anders als Deutschland von möglichen iranischen Raketen bedroht wäre, nicht allein durch den Aufbau eines Raketenschilds im eigenen Land beruhigen lassen.

Die Diskussionen zeigen zumindest, dass der sicherste Schutz vor Raketen eine globale Abrüstung ist. Auch diese Erkenntnis, die in den 80er Jahren immerhin durch die Friedensbewegung zentral in die Öffentlichkeit diskutiert wurde, könnte damit verloren gehen Ob die Pläne zum Aufbau einer Raketenabwehr durch die zentrale Rolle von Rammstein auch in der deutschen Innenpolitik wieder kritischer diskutiert werden, könnte sich schon an der Resonanz bei den diesjährigen Ostermärschen (http://www.dfg-vk-mainz.de/aktuell/ ) zeigen . Ob die Organisatoren so flexibel sind, die Aufwertung von Ramstein mit in der Protestagenda zu berücksichtigen ist keinesfalls sicher. Dabei dürften sich manche der Organisatoren noch an die Protestaktionen in den 80er Jahren in Rammstein erinnern.

Allerdings könnte sich bis 2020 auch europaweit noch eine größere Bewegung gegen den Raketenschild entwickeln. In Polen und der Tschechischen Republik, wo das Raketenabwehrschild zunächst errichtet werden sollte, kam es zu Protesten, so dass diese unter Bush gefassten Pläne schließlich nicht weiter verfolgt wurden (Katzenjammer in Warschau und Prag).
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36374/1.html
Peter Nowak

Merkels Weg zum Bonapartismus

Mehr Bürgerbeteiligung ist eine Forderung, die auch von rechts geäußert wird
Bürgerbeteiligung ist nicht nur eine Forderung, die von Links kommt. Das jedenfalls meint der Soziologe Thomas Wagner. Auch rechte Parteien versuchen damit zu punkten.
»Ihre Ideen und Vorschläge sind mir wichtig. Ich freue mich auf Ihre Ideen.« Dieses Zitat von Kanzlerin Angela Merkel kann man auf der Homepage https://www.dialog-ueber-deutschland.de nachlesen. Drei Fragen sollen im Mittelpunk stehen: Wie wollen wir zusammen leben? Wovon wollen wir leben? Wie wollen wir lernen? Merkel: „Jeder kann seine Ideen vorschlagen oder auf gute Praxisbeispiele hinweisen. Diese Vorschläge können dann wiederum kommentiert und bewertet werden,“ so Merkel.
Für den Publizisten Thomas Wagner ist dieser Bürgerdialog im Internet eine Form das Beispiel eines „demokratisch verkleideten autoritären Regierungsstils“. „Ein zentrales Kennzeichen dieser seit den Tagen von Napoleon III vor mehr als 150 Jahren wird diese Form des direkten Dialogs zwischen Regierenden und der Bevölkerung auch Bonapartismus genannt“, erklärte Wagner am Mittwochabend auf einer Veranstaltung in Berlin. „Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus“ lautet auch der Titel des Buches, das Wagner2011 im Papyrossa-Verlag veröffentlicht hat. Dort hat er sich kritisch mit verschiedenen Modellen der Bürgerbeteiligung auseinandergesetzt, die sich parteiübergreifend großer Beliebtheit erfreuen. So gratulierten dem Verein „Mehr Demokratie e.V.“, der sich für mehr Volksentscheide einsetzt nicht nur Politiker der Linken und der Grünen, sondern auch führende Vertreter der FDP und der Union zu ihrem 20ten Jubiläum.
Für eine Direktwahl des Bundespräsidenten gibt es Unterstützung plädiert der konservative Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim. Er fordert zudem einen deutlichen Machtzuwachs des Staatsoberhauptes. Diese Forderung wird seit Jahren von verschiedenen Rechtsaußenparteien wie der NPD erhoben. „Unserer Ansicht nach sollte der Bundespräsident auch nehr als nur eine repräsentative Form Funktion habe
Pn, um ein Gegengewicht gegen den von zahlreichen Sonderinteressen beherrschten Parteienstaat bilden zu können“, erklärte der parlamentarische Geschäftsführer der sächsische NPD-Fraktion Johannes Müller im Jahr 2007.
Diese Polemik wird von vielen konservativen Parteienkritiker immer wieder erhoben. Einer der bekanntesten Stimmen ist dort der ehemalige Wirtschaftslobbyist Olaf Henkel. Wagner nennt eine solche Form der Parlamentskritik eine „plebiszitär abgesicherte Elitenherrschaft“.. Dabei gehe es vor allem darum, den Einfluss organisierter Intereressenvertretung von Lohnabhängigen oder Erwerbslosen zu minimieren, betont Wagner. Bürgerbeteiligung als Vehikel für eine Verfestigung von Elitenherrschaft, mag auf den ersten Blick paradox klingen. Doch Wagner zeigte an verschiedenen Beispielen auf, wie in rechtskonservativen Kreisen mit dem Verweis auf die schweigende Mehrheit der Bürger soziale Regelungen, Forderungen von Gewerkschaften, aber auch von sozialen Initiativen und Umweltverbänden ausgehebelt werden sollen. Der Parteienstaat, der unterschiedliche Interessen austarieren müsse,, hindert am kraftvollen Durchregieren, lamentieren schon rechtskonservative Parlamentskritiker in der Weimarer Republik.
Ein fragwürdiges Plädoyer für mehr Bürgerbeteiligung kam 2008 vom damaligen Vorsitzenden des CDU-nahen Studierendenverbands RCDS Gottfried Ludewig. Er schlug 2ein doppeltes Wahl- und Stimmrecht für sogenannte Leistungsträger vor. Damit sollte auch der Einfluss der neu ins Parlament eingezogenen Linkspartei begrenzt werden, so Wagner. Bejubelt wurde der Vorschlag von der Rechtsaußenpostille Blaue Narzisse mit den deutlichen Worten. Ludewigs Vorschlag, sei in sich schlüssig, denn er richte sich gegen den „systemimmanenten Fehler der Demokratie, die parasitäre Existenzen bevorzuge“. Gottfried Ludewig hat sich nicht nur theoretisch mit der Einschränkung der Demokratie befasst. Als kurzzeitiger Vorsitzender einer rechten Stupa-Mehrheit im AStA der Technischen Universität Berlin (TU-Berlin) sorgte er für die Zerschlagung einer über lange Jahre aufgebauten linken Infrastruktur. So wurde die AStA-Druckerei verkauft. Nach knapp einem Jahr wurde der rechte AStA wieder abgewählt. Aber Ludewig und Col. Dachte nicht daran, den Posten zu räumen. Schließlich hatte er die Zerstörung der Infrastruktur noch nicht beendet. Mit allen juristischen Tricks versuchte der abgewählte AStA kommissarisch im Amt zu bleiben: http://astawatch.wordpress.com/2008/01/13/asta-der-tu-weiterhin-lahmgelegt/
Thomas Wagner: Direkte Demokratie als Mogelpackung. Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Köln 2011, Papyrossa-Verlag, 142 Seiten, 11,90 Euro, ISBN: 978-3-89438-470-8

https://www.neues-deutschland.de/artikel/217557.
merkels-weg-zum-bonapartismus.html
Peter Nowak