Aufbruch der Flüchtlinge

Asylbewerber aus ganz Deutschland wollen am Wochenende in Würzburg zwei Protestzüge nach Berlin starten
Die Einzelaktionen von Asylbewerbern in den vergangenen Monaten haben der bundesweiten Protestbewegung neue Kraft verliehen. Der nun beginnende Flüchtlingsmarsch ist der Höhepunkt. Kurz vor dem Start wurde in Würzburg ein Aktivist festgenommen. Begründung: Verstoß gegen die Residenzpflicht.

»Würzburg, Bamberg, Augsburg, Düsseldorf, Berlin. Alle Flüchtlingsheime schließen«, heißt es auf einem Transparent, das an einem weißen Zelt am Berliner Heinrichplatz hängt. Dort harren seit mehreren Wochen Flüchtlinge aus Berlin und Brandenburg Tag und Nacht aus, um für die Durchsetzung ihrer Rechte zu demonstrieren. »Wir sind Teil einer Protestbewegung, die sich aus den Lagerunterkünften über ganz Deutschland ausgebreitet hat«, erklärte ein Aktivist gegenüber »nd«. Tatsächlich sorgten einige spektakuläre Aktionen in den letzten Monaten bundesweit für Schlagzeilen, wurden aber nicht als Ausdruck einer neuen bundesweiten Flüchtlingsorganisation wahrgenommen.

Der Streik der Asylbewerber hatte am 18. März in Würzburg begonnen. Seither campieren sie dort in der Innenstadt, mehrmals waren sie seither auch in den Hungerstreik getreten, teilweise mit zugenähten Lippen. Nun wollen Asylbewerber aus ganz Deutschland von Würzburg aus nach Berlin aufbrechen. Am Sonnabend will sich eine Flüchtlingsgruppe zu Fuß auf den Weg in die Bundeshauptstadt begeben. Die zweite Gruppe toure mit einem Bus eine längere Route quer durch Deutschland, teilen die Organisatoren mit. Beide Protestzüge sollen Mitte Oktober an ihrem Ziel ankommen.

Der Fußmarsch führt die Flüchtlinge von Würzburg aus über mehrere Stationen durch Bayern und Thüringen, über Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg nach Berlin. Dabei sollen sich Bewohner von am Weg liegenden Asylbewerberheimen dem Protestmarsch anschließen. Die Busroute führt über Hessen, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg nach Berlin. Auf beiden Touren sind über 20 Stationen geplant, an denen auch demonstriert werden soll.

Die Forderungen der Flüchtlinge richten sich gegen all die Maßnahmen, die ein Protestteilnehmer als »Erniedrigungsmaschinerie« bezeichnet: Essenspakete, Arbeitsverbot, Gutscheine, Lagerunterkünfte, Abschiebungen und Residenzpflicht. Diese Auflage verbietet es Flüchtlingen, den ihnen von den Ausländerbehörden zugewiesenen Landkreis zu verlassen. Die Betroffenen sehen darin nicht nur ihr Recht auf Bewegungsfreiheit, sondern auch die Möglichkeiten eingeschränkt, sich politisch zu engagieren. So waren die öffentlichkeitswirksamen Proteste der letzten Monate nur möglich, weil sich Flüchtlinge über die Residenzpflicht hinwegsetzten und Verhaftungen und Geldstrafen in Kauf nahmen.

In Würzburg nahm die Polizei am Donnerstag mit dieser Begründung den Sprecher der Bewegung Ashkan Khorasani fest. Der Iraner protestierte dort bereits seit dem 19. März und verstieß damit gegen die Residenzpflicht. Die Flüchtlinge werten die Verhaftung kurz vor dem Beginn des Protestmarsches deshalb als »klare Schikane« und Versuch, den Protest zu unterdrücken. Der Marsch soll ein Höhepunkt, aber kein Ende des Flüchtlingsaufbruchs sein. »In den letzten Monaten haben sich in vielen Flüchtlingsheimen Komitees gebildet, in denen sich die Betroffenen selber organisieren«, kündigt ein Aktivist weitere Proteste für ein menschenwürdiges Leben an.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/237965.aufbruch-der-fluechtlinge.html

Peter Nowak

Es kann jederzeit und überall geschehen

AUSSTELLUNG Eine Fotoausstellung dokumentiert Orte antisemitischer und rassistischer Gewalt
Auf dem Foto ist eine beschauliche Wohnanlage in Spandau zu sehen. Kaum jemand würde diesen Ort mit rechter Gewalt in Verbindung bringen. Doch am 19. August wurden in der Seecktstraße fünf dunkelhäutige Männer von einer Gruppe junger Deutscher schwer verletzt.

Insgesamt zehn Schwarz-Weiß-Aufnahmen des Berliner Fotokünstlers Jörg Möller sind im ersten Raum der Ladengalerie „after the butcher“ in Lichtenberg zu sehen. Im hinteren Raum finden sich 30 weitere Ausstellungstafeln von Berliner Tatorten. Die Dokumentation wird von der Berliner Organisation „ReachOut – Opferberatung und Bildung gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“ seit 2003 gemeinsam mit Kooperationspartnern in den Bezirken erstellt und regelmäßig aktualisiert.

Es gehöre zum Konzept, dass auf den Fotos weder Hinweise auf die Angriffe noch andere Spuren rechter Aktivitäten zu finden seien, erklärt ReachOut-Mitarbeiterin Sabine Seyb. „Schließlich können solche Angriffe fast an jedem Ort zu jeder Tageszeit in Berlin geschehen.“

Denn es sind nicht nur Ostberliner Stadtteile, die schon lange als Orte rechter Gewalt gelten. Es finden sich auch Fotos aus Charlottenburg, Schöneberg – und eben Spandau. Die Ausstellung soll auch an diesen unterschiedlichen Orten gezeigt werden. Schließlich sollen sich die Menschen, die an den dokumentierten Orten leben, damit auseinandersetzen. „Was für sie ihr täglicher Lebensraum ist, kann für Andere ein Ort des Schreckens sein“, so Seyb.

Die aktuelle Ort der Ausstellung wird oft an erster Stelle genannt wird, wenn es um rechte Gewalt in Berlin geht. In unmittelbarer Nähe der Galerie befindet sich die Weitlingstraße, in der Neonazis Anfang der 90er-Jahre ein Haus als nationales Zentrum besetzt hatten und wo es seitdem eine Vielzahl von rechten Übergriffen gab. Allerdings sei es bislang nur einmal vorgekommen, dass unorganisierte Rechte zu einer Ausstellungseröffnung kamen, betont Galerist Thomas Kilpper. Der in den 80er-Jahren in außerparlamentarischen Linken Westdeutschlands aktive Künstler hat die weitab vom Berliner Kulturbetrieb beheimatete Galerie „after the butcher“ in den letzten Jahren zum Ort für politisch engagierte Kunst gemacht.

PETER NOWAK

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2010%2F01%2F27%2Fa0153&cHash=422cdabdb7

Die „Berliner Tatorte“ sind bis 20. Februar im Projektraum „after the butcher“ in der Spittastr. 25 zu sehen. Öffnung nach telefonischer Vereinbarung: 0179-947 30 40