In Polen steht das Ende des Zweiten Weltkriegs für den Beginn einer neuen Besatzungszeit.
Geht es nach dem polnischen Präsidenten Bronislaw Komorowski, soll der 8. Mai in diesem Jahr zu einem geschichtsrevisionistischen Spektakel werden. An diesem Tag will er die Staats- und Regierungschefs aller EU-Staaten auf die Westerplatte bei Gdańsk zu einer Konferenz begrüssen. auf der eine Lesart der Geschichte europäisiert werden soll, die in den letzten Jahren in Polen zum Allgemeingut geworden ist. Ihr zufolge hat die Rote Armee Polen im Frühjahr 1945 besetzt und die Befreiung habe erst 1989 stattgefunden. Es ist verständlich, dass auf einer solchen Konferenz ein Vertreter der russischen Regierung keinen Platz hat.
Auf der Westerplatte, auf der die Deutschen mit einem Schuss ausder Kanone eines Panzerkreuzersd den Zweite Weltkrieg eröffneten, soll am 8. Mai der in Russland weiter gepflegten sowjetischen Geschichtserzählung die Perspektive der Länder entgegenstellen werden, für die 1945 keine volle nationale Freiheit gebracht hat, heißt es in polnischen Medien. Das Gedenken dürfe nicht politisiert werden, entgegnete der polnische Präsident den Kritikern, die an den historischen Fakt erinnern, dass die Rote Armee mit großen Opfern die deutsche Wehrmacht aus Polen vertrieben hat.
Der absichtsvolle Ausschluss Russlands als Rechtsnachfolger der Sowjetunion hat für die Vertreter der aktuellen polnischen Geschichtspolitik allerdings mit Politik nichts zu tun; er zählt zur polnischen Staatsraison. Damit werden allerdings nicht nur die Angehörigen der Roten Armee aus der offiziellen Gedenkpolitik ausgeschlossen. „Die vielfältigen Organisationsformen des antifaschistischen Widerstands in Polen und insbesondere die Bedeutung der 1. und 2. Polnischen Armee, die Seite an Seite mit der Roten Armee kämpfte, werden heute in Polen kaum gewürdigt. Die Befreiung vom Faschismus im Mai 1945 wird in den Schulbüchern nicht als Befreiung, sondern Beginn einer neuen Besatzungsperiode gedeutet. Nicht der Kampf gegen den deutschen Faschismus und Nationalismus wird hervorgehoben, sondern der eigene Nationalismus verklärt“, kritisiert der Jurist und Publizist Kamil Majchrzak die neue polnische Geschichtspolitik. Einen zentralen Grund für das Verschweigen des linken polnischen Beitrags bei der Zerschlagung des NS sieht er darin, dass die Kombattanten nicht nur gegen die deutschen Besatzer kämpften, sondern für eine grundlegende gesellschaftliche Umgestaltung in Polen eintraten.
Nach neueren historischen Forschungen beteiligten sich an den Kämpfen um Berlin insgesamt 170 000 polnische Soldaten .12 000 von ihnen kämpften in der Berliner Innenstadt gegen die letzten Nester von Wehrmacht und Volkssturm. An den verschiedenen Fronten kämpften nach Majchrzaks Recherchen ca. von 600.000 polnischen Kombattanten gegen die Wehrmacht. Ihr Beitrag zur Zerschlagung des NS wird heute in Polen ignoriert, weil sie an der Seite der Roten Armee kämpften.
Selbst die Rolle der Roten Armee bei der Befreiung von Auschwitz ist in der heutigen offiziellen Geschichtspolitik zumindest strittig. Der polnische Präsident Komorowski erklärte in einem Interview mit der Gazeta Wyborcza, den Häftlingen von Auschwitz könne man nicht absprechen, dass sie sich von den sowjetischen Truppen befreit fühlten. Dies habe aber nicht für alle Menschen in Ostmitteleuropa gegolten. Dass die letzten Überlebenden von Auschwitz von der Roten Armee real befreit wurden, kam ihm nicht über die Lippen.
Polens Außenminister Grzegorz Schetyna versuchte mit der These, Auschwitz sei nicht von „Russen“, sondern von Ukrainern befreit worden, die neue polnische Geschichtsdoktrin auszuweiten. Er begründete seine Auffassung auf den Umstand, dass die 1945 in Südpolen operierenden sowjetischen Einheiten der „1. Ukrainischen Front“ angehörten. Dieser eigenwilligen Geschichtsinterpretation konterte das russische Außenministerium mit einer Erklärung, in der dem Außenminister Wissenslücken attestiert worden. „Es ist allgemein bekannt, dass das KZ Auschwitz von den Truppen der Roten Armee befreit wurde, in der Vertreter vieler Nationalitäten heldenhaft kämpften“, heißt es darin.
Unter den sowjetischen Soldaten der sogeannten Ukrainischen Front, die Auschwitz befreiten, viele Juden. Etwa Anatolij Schapiro; er öffnete als erster Soldat der Roten Armee das Tor von Auschwitz öffnete und wurde von den Überlebenden mit dem Jubelschrei „Die Russen sind da!“ begrüßt. Den Angehörigen der Ukrainischen Front in der Roten Armee stand die nationalistische ukrainische Bewegung gegenüber, die sich im Kampf gegen die Sowjetunion mit Nazideutschland verbündete und schon unmittelbar nach dem Einmarsch der Wehrmacht mit den Massenmorden an den ukrainischen Juden begann. Führende Köpfe dieser Bewegung, zum Beispiel Stephan Bandera, werden in der heutigen Ukraine rehabilitiert und als Freiheitskämpfer gegen Russland gefeiert. Daher ist es eine besonders perfide Geschichtsklitterung, wenn der polnische Außenminister diese Ukraine heute in die Tradition der Auschwitzbefreier stellt.
Nicht nur als Befreier vom NS auch als Opfer der Nazis sind Kommunisten in der neuen polnischen Gedenkpolitik nicht vorgesehen. Die Konsequenzen bekamen Angehörige von NS-Opfern aus verschiedenen europäischen Ländern zu spüren. Sie wollten am 30. Januar 2015 im westpolnischen Slonsk an der Einweihung der neu gestalteten Ausstellung über das Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg teilnehmen. „Sie waren eingeladen aber nicht willkommen. Nur unter großen Schwierigkeiten kamen sie in den Saal, in dem die Eröffnungsveranstaltung stattfand. Dort wurden sie nicht begrüßt. Als die Ausstellung eröffnet wurde, mussten sie vor dem Museum warten bis die Führung für die offiziellen Gäste beendet war“, heißt es in einer Pressemitteilung des Internationalen Arbeitskreises zum Gedenken an die Häftlinge des KZ und Zuchthauses Sonnenburg bei der Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA).
In Sonnenburg wurden bereits im Frühjahr 1933 hunderte Kommunisten und bekannte linke Nazigegner wie Erich Mühsam, Carl von Ossietzky und Johannes Litten inhaftiert und gefoltert. Nach dem 2. Weltkrieg wurden sogenannte Nacht-und Nebel-Gefangene aus ganz Europa nach Sonnenburg verschleppt. 819 Gefangenen wurden in der Nacht vom 31. Januar 1931 von einem SS-Kommando erschossen, kurz bevor die Roten Armee das Lager erreichte? Ob der polnischen Präsidenten den wenigen Gefangenen, die sich vor dem Massaker verstecken konnten, wohl ausnahmsweise zugesteht, dass die von der Roten Armee real und nicht nur gefühlt befreit wurden?
aus: Konkret 5/2015
http://www.konkret-magazin.de/hefte/heftarchiv/id-2015/heft-52015/articles/in-konkret-1488.html
Peter Nowak