Da geht ein Mensch

Angelika Wittlichs filmische Hommage an den Schauspieler Alexander Granach

»Granach ist letzte Nacht an einer Blinddarmoperation gestorben.« Mit diesem Telegramm beginnt ein Film über einen der populärsten Schauspieler der Weimarer Republik: Alexander Granach. Gleich seine erste Filmrolle als Hausmeister Knock in Murnaus Nosferatu machte ihn bekannt. Doch der Machtantritt der Nazis beendete die hoffnungsvolle Karriere.
Die Regisseurin Angelika Wittlich hat in ihrer Dokumentation Alexander Granach – Da geht ein Mensch, die diese Woche in die Kinos kommt, das Leben dieses heute weitgehend vergessenen Künstlers nachgezeichnet. Neben Interviews mit Granachs vergangenes Jahr in Israel verstorbenem Sohn Gad stützt sich der Film auf schriftliche Quellen. Noch kurz vor seinem Tod in New York 1945 hatte Granach seine Autobiografie Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens fertiggestellt, die posthum im Stockholmer Neuen Exil-Verlag erschien.

Daneben konnte die Filmemacherin auf die umfangreiche Korrespondenz zurückgreifen, die Granach mit seiner Schauspielkollegin und langjährigen Freundin Lotte Lieven geführt hat. Angelika Wittlich hatte gemeinsam mit Hilde Recher die mehr als 300 Briefe bereits 2008 im Ölbaum Verlag als Buch unter dem Titel Du mein liebes Stück Heimat – Briefe an Lotte Lieven aus dem Exil herausgegeben. Es sind Momentaufnahmen großer Verzweiflung angesichts des sich in Europa ausbreitenden Nazismus. Aber immer wieder taucht in den Zeilen auch die Hoffnung auf, dass der Nazispuk ein Ende haben und Granach doch noch einmal durch das Brandenburger Tor spazieren könnte.
Ausschnitte aus der Biografie und den Briefen werden im Film eingestreut, gelesen von dem Schauspieler Samuel Finzi. Sie sorgen für die Lebendigkeit dieser biografischen Reise, die in dem galizischen Dorf Werbiwzi beginnt, das heute in der Ukraine liegt. Dort kam Jessaja Szajko Gronach 1890 in einer armen Bauernfamilie mit neun Kindern zur Welt. Mit zwölf Jahren riss er von zu Hause aus und wurde in damaligen Lemberg Bäckergeselle.

Im Jüdischen Theater der Stadt entdeckte er seine Liebe zur Schauspielerei. Mit 16 Jahren brannte Granach mit der Kasse der Bäckerei nach Berlin durch und tauchte ein in die kosmopolitische Welt des Scheunenviertels. Bald stand er in der deutschen Hauptstadt auf der Bühne, bereit, für seine Karriere die größten Opfer zu bringen. So ließ sich Granach die Beinknochen brechen, um seine O-Beine zu korrigieren. Im Film spricht ein Orthopäde über die Gefahren einer solchen »Schönheitsoperation«.

kiew 1933 gibt Granach am Berliner Staatstheater den Mephisto in Goethes Faust und muss erleben, wie Künstlerkollegen, etwa Veit Harlan, mit dem Naziwimpel am Auto vorfahren. Er geht zunächst ins polnische Exil. 1935 kommt eine Einladung ans JiddischenTheater in Kiew. Er übersiedelt in die Sowjetunion. Schon in der Weimarer Zeit hatte der parteilose Granach in linken Künstlerkreisen verkehrt und war in einem von Erwin Piscator geleiteten politisch engagierten Theater am Berliner Nollendorfplatz aufgetreten.

Doch seine anfänglichen Hoffnungen, in der Sowjetunion ein antifaschistisches deutsches Exiltheater aufbauen zu können, wurden schnell enttäuscht. Wie so viele Emigranten geriet auch er in die Mühlen der stalinistischen Verfolgung und wurde verhaftet. Auf Fürsprache seines Freundes Lion Feuchtwanger kam er frei, konnte die Sowjetunion verlassen und erreichte nach einem Zwischenstopp in der Schweiz, die ihm den Aufenthalt verweigerte, 1938 in die USA.

Auch dort brillierte Granach auf der Bühne. In der Rolle des Fischers Tomasino in dem Stück Eine Glocke für Adano schaffte er den Durchbruch. Eine wegen vieler Termine lange verzögerte Blinddarmoperation kostete ihn 1945 das Leben. Angelika Wittlichs Film ist nicht nur eine Reise durch ein bewegtes Schauspielerleben. Er führt uns auch in eine Welt, die von den Nazis und ihren Verbündeten vernichtet wurde. Fast die gesamte Verwandtschaft von Alexander Granach wurde Opfer der Schoa.

Jüdische Allgemeine, 2.12.2012
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/14585

Peter Nowak

Was darf Satire?

UNImedien: Hans Martin Schleyer und ein Studentenkalender

»AStA beleidigt RAF-Opfer in Taschenkalender«. titelte unlängst das »Hamburger Abendblatt«. Der stellvertretende Gruppenvorsitzende des Hamburger RCDS, Ramon Weilinger, sprach im »Deutschlandfunk« von »Menschenverachtung«. In einen Brief an die Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung monierte der Hamburger RCDS über »die latent verfassungsfeindliche Gesinnung einzelner Mitglieder des AStA«. Der CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Walter Scheuerl stellte bereits eine Anzeige gegen AStA-Mitglieder.

Was sich wie ein Remake auf den deutschen Herbst vor mehr als drei Jahrzehnten anhört, sind Meldungen vom November 2012. Stein des Anstoßes ist ein kurzer Eintrag in dem gerade veröffentlichten »KalendAStA 2013«, wie der alljährlich vom Hamburger AStA herausgegebene Taschenkalender heißt. Unter dem Datum des 18. Oktober ist dort zu lesen: »Mit seinem Tod schafft Hanns Martin Schleyer die Voraussetzung für die nach ihm benannte Mehrzweckhalle in Stuttgart.« Am 18. Oktober 1977 war Schleyer nach sechswöchiger Entführung von der RAF getötet worden. AStA-Vorstandsmitglied Simon Frerk Stülcken erklärt, dass mit dem Eintrag in satirischer Form darauf hingewiesen werden soll, dass in Stuttgart eine Mehrzweckhalle nach einem Mitglied der Waffen-SS benannt wurde. Dieser Teil der Schleyer-Biographie ist historisch unstrittig. Stülcken sagt, er sei sich bewusst, dass die satirische Darstellung nicht den Geschmack aller Leser treffe. Aber erkenne man eine gelungene Satire nicht gerade daran?

Im »Deutschen Herbst« 1977 wurden zahlreiche Asten wegen des sogenannten Mescalero-Aufrufs durchsucht, der sich ebenfalls satirisch mit RAF-Aktionen auseinandersetzte. Dazu ist es jetzt nicht gekommen. Doch der Ruf nach Sanktionierung und Bestrafung ist auch heute schnell zu hören.
http://www.neues-deutschland.de/rubrik/medienkolumne/
Peter Nowak

Die schöne Republik

In der vorigen Woche debattierte der Bundestag über die Aufarbeitung der NS-­Vergangenheit deutscher Behörden und Ministerien. Viele Akten sind weiterhin nicht zugänglich.

70 000 Mark Abfindung kassierte Carl-Theodor Schütz, nachdem ihm der Bundesnachrichtendienst (BND) 1964 wegen seiner NS-Vergangenheit gekündigt hatte. Schütz erstritt die Summe vor Gericht, wegen der Entlassung von seinem Posten als Abteilungsleiter beim BND war er vorübergehend in Geldnot geraten und musste sein Haus verkaufen. Dabei konnte sich Schütz auf eine exzellente berufliche Beurteilung berufen. Reinhard Gehlen, der während der NS-Zeit als Leiter der Gruppe Ost der Heeresabteilung maßgeblich am Unternehmen Barbarossa beteiligt war, setzte sich besonders für ihn ein. Gehlen, der bis 1968 Präsident des BND war, erläuterte dem vormaligen Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, Adenauers Staatssekretär Hans Globke, in einem Schreiben, warum die NS-Elite auch nach dem Ende des NS-Regimes gebraucht werde: Die ehemaligen Beamten der Gestapo seien die »einzig kriminalistisch geschulten Beamten (…), die die Gewohnheit des Umgangs mit intelligenten Gegnern haben, wie sie im Kreise der Kriminellen regelmäßig nicht anzutreffen sind«. Für Gehlen und seinen Adressaten war klar, wer damit gemeint war. Es ging vor allem um Kommunisten.
Schütz hatte bereits 1924 diesen Gegner fest im Blick, als er als Mitglied des Freikorps Rhein-Ruhr gegen streikende Arbeiter kämpfte. Er trat bereits im Oktober 1931 in die SS ein. 1933, als er schon als angehender Jurist beim Oberlandesgericht Köln beschäftigt war, beteiligte er sich an Überfällen auf Wohnungen von Kommunisten. Im selben Jahr wurde er wegen schwerer Misshandlung von wehrlosen Frauen und Männern von der noch nicht vollständig gleichgeschalteten Justiz zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, aber bald begnadigt. Seine NS-Mordkarriere führte ihn nach Polen, in die Ukraine und nach Italien. Beim Massaker in den Ardeatinischen Höhlen, bei dem 335 Geiseln der SS ermordet wurden, kommandierte Schütz die Erschießungskommandos. Am Massaker beteiligte Täter sagten später aus, Schütz sei einer der Haupttäter gewesen.

Dass ein solcher Mann seine Karriere in der Bundesrepublik fortsetzen und wegen seiner Entlassung gerichtlich eine Abfindung erstreiten konnte, war keine Ausnahme. Die Karriere eines Carl-Theodor Schütz, der 1985 in Köln starb, ohne jemals gerichtlich belangt worden zu sein, beschäftigte in der vorigen Woche noch einmal den Bundestag.

Am 8. November debattierte das Parlament knapp zwei Stunden lang über die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit deutscher Behörden und Ministerien. Dass es sich dabei keineswegs um ein Thema der Vergangenheit handelte, wurde schnell deutlich. Noch heute sind Akten gesperrt, die den Schutz belegen, den bundesdeutsche Behörden und Geheimdienste NS-Verbrechern wie Klaus Barbie, Adolf Eichmann oder Walter Rauff gewährten. Auch die Vita von Carl-Theodor Schütz wurde wegen der Geheimhaltung erst Ende Oktober durch einen Bericht der Süddeutschen Zeitung bekannt. Jan Korte, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, wies auf die Nachkriegskarriere von Schütz in der Debatte ebenso hin wie Wolfgang Thierse (SPD) und die Parteivorsitzende der Grünen, Claudia Roth. Mit dem pflichtschuldigen Entsetzen über den Fall Schütz waren aber die Gemeinsamkeiten schon beendet.

Die Linkspartei möchte in die Erforschung der NS-Verstrickung deutscher Behörden auch die sechziger und siebziger Jahre einbeziehen und fordert die Öffnung sämtlicher Akten. Es dürfe keine Handhabe mehr geben, um Akten über die braunen Kontinuitäten in der Bundesrepublik mit dem Verweis auf das Staatsinteresse zurückzuhalten, betonte Korte. Die SPD hingegen hat sich mit FDP und Union auf einen gemeinsamen Antrag geeinigt, der sich auf die Erforschung der frühen Jahre der Bundesrepublik beschränkt. Vor allem anhand des jeweiligen Forschungsinteresses zeigte sich die völlig unterschiedliche Stoßrichtung der Anträge, über die am Donnerstag vergangener Woche im Bundestag debattiert wurde.

SPD, FDP und Union wollen untersuchen, wa­rum aus der Bundesrepublik trotz der Beschäftigung zahlreicher NS-Funktionäre in ihren Institutionen eine stabile Demokratie wurde. In der Bundestagsdebatte betonten besonders die Redner von Union und FDP, dass es sich nach so langer Zeit erübrige, nachzurechnen, wie viele NS-Täter in den Ministerien und Behörden beschäftigt waren. So waren bei Stefan Ruppert von der FDP zwar einige selbstkritische Töne über die Landesverbände seiner Partei zu hören, die in den fünfziger Jahren in mehreren Bundesländern zu Nachfolgeorganisationen der NSDAP geworden waren, doch kurz darauf stimmte er ein Loblied auf die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik an. Dabei führte Ruppert ausdrücklich das Verbot der KPD an. Dass dieses Verbot von einem Bundesverfassungsgericht verhängt wurde, dessen Personal im NS-Staat für die Jagd auf Kommunisten geschult worden war, war ihm keiner Erwähnung Wert.

Dagegen ging Korte auf die Konsequenzen ein, die die Präsenz der Nazis in den staatlichen Institutionen für die wenigen Antifaschisten in der Bundesrepublik hatte. Sie wurden erneut an den Rand gedrängt, bedroht und nicht selten verfolgt. In ihrem im Oktober mit dem Deutschen Buchpreis 2012 ausgezeichneten Roman »Landgericht« hat die Schriftstellerin Ursula Krechel mit dem Protagonisten Richard Kornitzer, einem aus der Emigration zurückgekehrten Richter, exemplarisch eine solche Biographie bekannt gemacht.

»Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich Feindesland«, sagte der antifaschistische Staatsanwalt Fritz Bauer, der wesentlich dazu beitrug, dass die Frankfurter Auschwitz-Prozesse zustande kamen. Informationen über den Aufenthaltsort von Adolf Eichmann, die er von einem in Argentinien lebenden ehemaligen KZ-Häftling erhalten hatte, leitete er 1960 an die israelischen Behörden weiter, weil er den deutschen Ämtern misstraute.

Korte ging in seiner Rede auch auf Tausende unbekannte Menschen ein, die in den fünfziger Jahren als tatsächliche oder vermeintliche Kommunisten wieder verfolgt und inhaftiert wurden. In dem kürzlich fertiggestellten Film »Verboten – verfolgt – vergessen. Die Verfolgung Andersdenkender in der Adenauerzeit« gibt der Regisseur Daniel Burgholz einen Einblick in das Ausmaß und die Folgen dieser deutschen Verfolgung von Linken. Im Zentrum steht das Ehepaar Ingrid und Herbert Wils aus dem Ruhrgebiet. Als Mitglieder der in Westdeutschland 1951 verbotenen Freien Deutschen Jugend waren beide wegen der Herstellung einer Betriebszeitung und des Singens von als staatsfeindlich eingeschätzten Liedern jahrelang inhaftiert. Der Film verzichtet auf Heroisierung, seine Stärke liegt darin, dass er auch zeigt, wie sich die Verfolgung auf das Umfeld der Betroffenen auswirkte. Manche haben die zweite Verfolgung nicht überlebt.

Herbert Wils berichtet im Zeitzeugengespräch, viele Genossen hätten nicht begreifen können, wieso sie nur wenige Jahre, nachdem sie die Konzentrationslager der Nazis überlebt hatten, erneut im Gefängnis saßen, und nicht nur das Gefängnispersonal, sondern auch die zuständigen Richter sich noch in Positionen befanden, die sie bereits vor 1945 innehatten.

http://jungle-world.com/artikel/2012/46/46592.html
Peter Nowak

Deadline für Indymedia-Deutschland

Die Probleme der aktivistischen Internetplattform sind auch die Krise einer Bewegung, die unter der Parole „Reclaim the Media“ angetreten war

Vor einigen Tagen wurde ein von Umweltaktivisten besetztes Waldstück im Hambacher Forst im äußersten Westen der Republik von der Polizei geräumt. Solche Ereignisse sind immer Höhepunkt des Video- und Medienaktivismus. Zahlreiche Videos über die Besetzung und die Räumung kursieren im Netz. Die Ereignisse können dort fast in Echtzeit beobachtet und mögliche Rechtsverletzungen der Polizei dokumentiert werden. Eigentlich müssten bei solchen Ereignissen die Nutzerzahlen von Indymedia Deutschland in die Höhe schnellen. Schließlich wurde die Internetplattform von globalisierungskritischen Aktivisten genau zu dem Zweck gegründet, Informationen direkt und ungefiltert im Netz zu verbreiten.

SOS-Indymedia
Doch seit einigen Wochen sendet die Indymedia-Deutschland SOS-Signale aus. Der geschrumpfte Kreis der Aktivisten, der sich für die Plattform verantwortlich erklär, hatte schon im Sommer auf einem Treffen in Hamburg beschlossen, Indymedia noch eine Frist bis zum Frühjahr 2013 zu geben. „Bis dahin sollen wieder mehr Aktive gefunden und auf ein neues Content-Management-System umgestellt werden … Werden diese beiden Ziele nicht erreicht, so wird de.indymedia.org deaktiviert und archiviert“, heißt es in einer auf Indymedia dokumentierten Erklärung.

Bisher ist noch völlig offen, ob diese Ziele erreicht werden. Gelingt es nicht, könnte es auf der Startseite von Indymedia Deutschland so aussehen, wie aktuell auf den österreichischen Zweig. „Seit Ende Juni 2012 ist at.indymedia.org abgeschaltet“, liest man dort. Damit wird auch deutlich, dass es um eine Krise geht, die nicht nur den deutschen Zweig von Indymedia, sondern das Projekt insgesamt betrifft.

Die Gründe werden in der Erklärung zum Hamburger Treffen auch von allen Seiten auch genannt. So scheint das Projekt das typische Schicksal von Medienpionieren zu ereilen, die von der technischen Entwicklung überholt werden. Als Indymedia 1999 gegründet wurde, brauchte man noch ein gewisses Insiderwissen, um Videos ins Netz zu stellen. Heute ist es fast für alle, die es wollen, möglich. Ähnlich wurde auch das Berliner Medienprojekt ak-kraak von der technischen Entwicklung überholt. Die Aktivisten im Umfeld der Berliner Hausbesetzerbewegung produzierten Anfang der 90er Jahre Videos von der Bewegung für die Bewegung. Damals musste sich jeder rechtfertigen, der bei solchen Aktionen mit einer Kamera hantierte. Heute gibt es auf Demonstrationen oft mehr Kameraleute als Aktivisten und oft ist auch nicht ganz klar, wo die Grenze verläuft.

Doch die Frage der technischen Entwicklung ist nur die eine Seite des Problems, mit dem Projekte wie Indymedia zu kämpfen haben. Auch politische Aktivisten sehen in Indymedia weniger einen eigenen Raum, den sie mit eigenen Inhalten füllen können, sondern eine Dienstleistung oder ein Zweitverwertungsmedium. „Häufig werden Presseerklärungen über Aktionen bis ins kleinste Detail für die Mainstream-Median entworfen, damit sich niemand auf den Schlips getreten fühlt. Für Indymedia, für das eigentlich frei von der Leber formuliert werden könnte, bleibt dann nur noch eine Kopie der Presseerklärung. Viele Initiativen verwechseln Indymedia immer noch mit einem Flugblattständer“, heißt es in der Erklärung der Indymedia-Aktivisten. Zudem gibt es böse Kommentare, wenn ein Text nicht schnell genug auf der Startseite erscheint, oder wenn zu einem Thema gar kein Text auf der Seite zu finden ist .Hier wird die Dienstleistungsfunktion besonders deutlich. Als wäre Indymedia ein Zeitungsprojekt, wird gefragt, wann endlich etwas zu diesem oder jenen Thema kommt. Dabei könnten die Kritiker einfach selber einen Text, einen Mitschnitt oder ein Bild dazu online stellen. Ähnliche Probleme hatten die österreichischen Aktivisten in ihrem Abschiedsstatement benannt:

„Die fehlenden Ressourcen führen uns zum Problem der Betreuung: wir können nicht mehr. Es existiert ein grundsätzliches Problem mit Infrastrukturarbeit, das wir auch in anderen Zusammenhängen beobachten konnten: sobald Infrastruktur existiert, wird diese genutzt, damit aber auch abgenutzt. Was an reproduktiver Arbeit dahintersteckt, wie viel Arbeit es bedeutet, Räume offline sowie online zu betreuen, wird selten gesehen, angesprochen oder sichtbar gemacht. Auch die Arbeitsverteilung selbst wird nicht diskutiert oder hinterfragt, obwohl allzu oft gerade damit strukturelle Diskriminierung manifestiert wird. Das Bestehen von selbstverwalteten und offenen Räumen scheint wie eine Selbstverständlichkeit wahrgenommen zu werden. Dahinter steht aber viel zu oft die Selbstausbeutung von Aktivist_innen, die zum Beispiel einer Lohnarbeit nachgehen um das Einkommen in die Instandhaltung der Räume zu buttern und dann fünf Tage die Woche damit beschäftigt sind Plena und Treffen zu besuchen oder Veranstaltungen vorzubereiten. Doch nicht selten reichen zeitliche und personelle Ressourcen in diesen Räumen für nicht mehr als die Aufrechterhaltung eines Minimalbetriebes.“

Reclaim the Media oder Krise der Selbstverwaltung
So zeigt sich an den Problemen, die das Projekt Indymedia zurzeit hat, auch die Krise von selbstverwalteten Medienprojekten insgesamt. Denn es geht nicht in erster Linie um staatliche Repression, wie sie noch auf dem Höhepunkt der globalisierungskritischen Bewegung durchaus eine Rolle spielte und dem Projekt viel Solidarität eintrug. Heute hat das Projekt mit einem Dienstleistungsdenken vieler Aktivisten zu kämpfen, die eben die vielbeschworenen eigenen Räume gar nicht nutzen wollen.

In den Anfangsjahren von Indymedia war häufig die Parole Reclaim the Media zu hören. Mittlerweile haben finanzkräftige Anbieter wie Twitter und Facebook diesen Spruch gekapert. Ihre Seiten funktionieren natürlich störungsfreier und erreichen viel mehr Menschen als Indymedia. Allerdings akzeptieren die Nutzer dann deren Bedingungen und verzichten auf eine Internetplattform ohne Chefs und Kommerz. So steckt hinter der Frage, ob Indymedia Deutschland noch eine Zukunft hat, mehr als das An- und Abschalten einer Plattform. Hat der Medienaktivismus der späten 90er Jahre nur Twitter und Co. den Weg bereitet oder gibt es noch ein Milieu, das die Ansprüche einer selbstorganisierten Plattform ernst nimmt?
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153205

Peter Nowak

Superviren und die Gefahren von Forschung im Biotechsektor

Gesellschaftliche Debatte zur Biotechnologieforschung gefordert

Am Mittwoch fand im Bundestag ein Fachgespräch zum Umgang mit sicherheitsrelevanten Forschungsergebnissen statt. Das Thema hat in der letzten Zeit im Zusammenhang mit der Forschung an Vogelgrippeviren an Relevanz gewonnen. Wissenschaftlern des niederländischen Erasmus Medical Centers Rotterdam und der Universität von Wisconsin in Madison war es gelungen, eine Variante des Vogelgrippevirus herzustellen, die für Menschen und Tiere vermutlich gefährlicher ist als die bereits bekannten Varianten.

Darauf wies in einem Offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel das in Berlin ansässige gen-ethische Netzwerk und die Organisation Testbiotech hin. Dort wurde die Bundeskanzlerin aufgefordert, sich für einen Stopp der Herstellung von neuen Varianten des Vogelgrippevirus (H5N1) und eine Beschränkung des Zugangs zu den Genom-Daten einzusetzen. Beide Organisationen kritisierten, dass das Bundeskanzleramt eine Stellungnahme ablehnte. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob nicht der Bundestag der richtige Ort für die Debatte war, und ob es immer sinnvoll ist, wenn solche Frage zur Chefsache erklärt werden. Warum die vom gen-ethischen Netzwerk und Testbiotech geforderte gesellschaftliche Diskussion um die Forschung im biotechnischen Bereich befördert werden soll, wenn das Kanzleramt eine Stellungnahme abgibt, ist nicht so recht verständlich.

Dagegen sind die Forderungen der beiden Organisationen sehr begründet. Dazu gehört eine staatliche Überwachung von Laboren, die in der Lage sind, Erbgut künstlich zu synthetisieren. Zudem sollte ein demokratisch legitimierter und transparenter Entscheidungsprozess festgelegt werden, wer über die Durchführung derartiger Forschungsprojekte entscheidet und wer Zugang zu den Daten haben soll.

Eine weitere wichtige Forderung benennt Christof Potthof vom gen-ethischen Netzwerk gegenüber Telepolis. Die Studierenden der biotechnischen Fachbereiche sollten bereits im Grundstudium mit den Missbrauchsmöglichkeiten ihrer Forschung vertraut gemacht werden. Bisher ist es üblich, solche Debatten erst in späteren Semestern zu führen. Potthof befürchtet, dass die Kommilitonen dann schon so tief der naturwissenschaftlichen Logik verhaftet sind, dass sie die Missbrauchsgefahren kaum noch wahrnehmen. Dass drücke sich schon darin aus, dass viele Biologen ihre Forschungen immer damit rechtfertigen, dass sie medizinisch sinnvoll sind. Die Gefahren werden dabei ausgeblendet.

Verfahrensfragen in den Mittelpunkt stellen

Christof Potthof, der auf Einladung der Linke-Bundestagsabgeordnete Petra Sitte an dem Fachgespräch teilnahm, betonte in seiner Stellungnahme, dass es nicht ausreiche, über die Ergebnisse von biotechnologischer Forschung zu reden. Es müsse schon die Formulierung der Forschungsergebnisse in den Focus gerückt werden. Nur dann kann im Vorfeld eine Risikoabwägung zwischen Nutzen und Gefahren von Forschungsergebnissen abgewogen werden.

Solche Forderungen wurden bereits 2006 erhoben, als es um die Forschung zu der Spanischen Grippe ging. In seinen weiteren Ausführungen ging Potthof dann genauer auf die Debatten im Bereich der Grippevirenforschung ein. Gerade auf diesem Gebiet wird auch die Notwendigkeit von mehr Transparenz im Forschungsbereich deutlich. Denn parallel zu einer Forschungsgemeinde, die sich vor öffentlichen Debatten möglichst abschottet, gibt es Gruppen und Netzwerke von Impfgegnern, die mit Halb- und Viertelwissen gemixt mit Spekulationen und Verschwörungstheorien gegen jegliche Impfungen mobil machen.

Eine sich abschottende Wissenschaft bestärkt solche teilweise irrationalen Haltungen sicher noch. Insofern könnte die geforderte gesellschaftliche Debatte über den Nutzen und die Gefahren einer Biotechnologieforschung auch dazu beitragen, eine rationale Debatte über diese Problematik zu fördern. Die Bundestagsdebatte vom 7.11., die in Text und als Video im Internet vorliegt, kann vielleicht einen Beitrag zu dieser geforderten gesellschaftlichen Debatte leisten.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153146
Peter Nowak

Nicht relevant für die »heute«-Nachrichten?

MEDIENkritik: Das ZDF und die Flüchtlinge am Brandenburger Tor

»Vor dem Brandenburger Tor protestieren etwa 20 Asylbewerber. Sie fordern eine andere Asylpolitik in Deutschland. Ist das ein Thema? Sollen wir darüber berichten?« Diese Frage twitterte der Redakteur des ZDF-Hauptstudios Dominik Rzepka vor einigen Tagen. Zuvor hatte es Kritik daran gegeben, dass der Hungerstreik der Flüchtlinge medial kaum ein Thema war, obwohl die Protestierer den Unbilden des Berliner Wetters schutzlos ausgeliefert waren, weil das zuständige Amt, Schlafsäcke, Zelte, Schirme und Isomatten verboten hat.

Doch Rzepka sieht darin keinen Grund für einen ZDF-Bericht. »Relevanz, Betroffenheit, Prominenz – das sind einige der Kriterien, nach der wir Ereignisse abzuklopfen haben. (…) Eine Demonstration von 20 Menschen erfüllt diese Kriterien eigentlich nicht«, twittert der Journalist eines öffentlich-rechtlichen Senders. Von dem hätte man eigentlich erwartet, dass ein Kriterium für die Relevanz einer Berichterstattung auch in der Frage liegt, ob hier gesellschaftliche Missstände angesprochen werden, die in einer größeren Öffentlichkeit thematisiert werden sollten. Im Fall der Hungerstreikenden wären da gleich zwei relevante Themen zu nennen: Die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und eine Versammlungsordnung, die an bestimmten Orten zu bestimmten Jahreszeiten Proteste massiv erschwert oder Aktivisten massiver Gesundheitsprobleme aussetzen könnte.

»Sind Journalisten dazu da, auf Missstände aufmerksam zu machen?«, fragt Rzepka dagegen rhetorisch. Flüchtlingsaktivisten sahen in dieser Haltung ein Armutszeugnis für das ZDF. Erst nachdem via Blogs und Twitter der Flüchtlingshungerstreik breit diskutiert wurde, wurde er auch für Rzepka als genug relevant für einen ZDF-Bericht erachtet. So machen sich die öffentlich-rechtlichen Medien überflüssig.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/803105.nicht-relevant-fuer-die-heute-nachrichten.html
Peter Nowak

Film zu »Occupy«

Vor einen Jahr schien die Occupy-Bewegung ständig zu wachsen. In vielen Ländern hatten Menschen zentrale Plätze besetzt, um gegen die Wirtschaft- und Finanzpolitik zu protestieren. Mittlerweile sind fast alle Plätze geräumt und um Occupy ist es ruhig geworden. Trotzdem ist »Take the Square«, die neueste Arbeit des österreichischen Filmemachers Oliver Ressler, keineswegs inaktuell. Wie schon in seinem früheren Filmen über andere soziale Bewegungen verbindet Ressler in »Take the Square« eine solidarische Bezugnahme mit einem kritischen Blick hinter die Kulissen. In dem 80-minütigen Film kommen Aktivisten aus Spanien, Griechenland und den USA zu Wort. Die Interviewsequenzen werden unterlegt mit Ausschnitten von Demonstrationen und Kundgebungen. Nicht immer passen sie zusammen.

Während die jungen prekären Intellektuellen aus Spanien über ihre Distanz zu Großorganisationen wie den Gewerkschaften reden, sind im Hintergrund Ausschnitte einer Occupy-Demonstrationen mit zahlreichen Gewerkschaftsfahnen zu sehen. Leider wird dieser Widerspruch im Film nicht thematisiert. Interessant wäre es auch gewesen, gewerkschaftliche Aktivisten in die Gespräche einzubeziehen, zumal auch in Spanien die Occupy-Bewegung, nachdem sie von der Polizei von den Plätzen vertrieben wurde, neben der Bewegung gegen Wohnungsräumungen zunehmend gewerkschaftliche Kämpfe unterstützt hat.

Resslers griechischen Gesprächspartner kommen aus linken Zusammenhängen und haben sich mit ihren politischen Erfahrungen in die Athener Bewegung der Empörten eingeklinkt. Sie ziehen eine wesentlich kritischere Bilanz über den politischen Erfolg als die spanischen Aktivisten. Offen werden die Probleme angesprochen, Menschen aus der Nachbarschaft, die sich über die Bewegung politisiert haben, längerfristig zu halten.

Die Ausschnitte aus den USA zeigen den Beginn der Occupy-Bewegung. »Ihr habt die Macht, wenn ihr nur zusammenhaltet«, versucht ein rhetorisch begabter Redner den Menschen Mut zu machen.« Auch hier hätte man sich eine größere Vielfalt in der Wahl der Gesprächspartner gewünscht. Trotz dieser Einwände muss man Ressler bescheinigen, einen guten Einblick in das Innenleben der Occupy-Bewegung gegeben zu haben. Deutschland spielt im Film keine Rolle, weil hier die Occupy-Bewegung nie die Bedeutung wie in den vorgestellten Ländern erreicht hatte.

»Take The Square«, 80 Minuten: Oliver Ressler, Di. 30.10. um 17:30 und Mi. 31.10. um 19 Uhr im Lichtblickkino, Kastanienallee 77

http://www.neues-deutschland.de/artikel/802777.film-zu-occupy.html
Peter Nowak

Breivik als Theaterstoff?

Die Lesung einer Erklärung Breiviks im Rahmen eines Kulturfestivals führt erwartungsgemäß zu einem Kunstskandal. Dabei wird die Frage ignoriert, was an dessen Erklärung überhaupt diskutiert werden soll

Im Schatten des Roten Rathauses in unmittelbarer Nähe des Berliner Alexanderplatzes hat man den Eindruck, am Stadtrand zu sein. Wer sich am Abend in die Klosterstraße verirrt, muss schon ein bestimmtes Ziel haben. Zur Zeit wird es vielleicht häufiger das Monologfestival sein, das noch bis zum kommenden Sonntag im Theaterdiscounter in der Klosterstraße stattfindet.

Insgesamt 11 Künstler und Kunstkollektive sind eingeladen, ihre Vorstellungen von dem Thema „Jenseits von Gut und Böse“ darzustellen. Das Festival ist durch eine Veranstaltung auch bundesweit in die Diskussion geraten. Am Samstag hat Milo Rau die Erklärung, die der norwegische Rechtsterrorist Breivik bei seinem Prozess vortrug, von einer Künstlerin verlesen lassen.

„Der 77fache Mörder erläutert seine Taten, bekundet seine Verbundenheit zu Al Qaida, zum schweizerischen Minarettverbot und zur deutschen NSU und skizziert seine Theorie des Untergangs Europas durch Einwanderung und Multikulturalismus. Die Aussagen wurden nicht im Fernsehen übertragen und für die Öffentlichkeit gesperrt. Als Anders B. Breivik spricht Sascha Ö. Soydan“, wird die schon lange vorher ausverkaufte Veranstaltung angekündigt.

Zu der großen Aufmerksamkeit für das Stück kam es, nachdem sich in der letzten Woche das Nationaltheater Weimar kurzfristig von der dort im Rahmen eines Kulturfestivals geplanten Lesung der Breivik-Erklärung distanzierte, die daraufhin in ein Kino verlegt werden musste.

Fertig war der Kunstskandal – manche Medien sprachen gleich von Zensur. Nun ist das Vorgehen der Weimarer Theaterleitung tatsächlich merkwürdig. Schließlich wird das Programm Wochen im Voraus fertiggestellt und sollte nicht nach einigen Schlagzeilen in den Boulevardmedien wieder umgeworfen werden.

Was soll an Breiviks Text diskutiert werden?

Allerdings ist die Debatte eigentlich völlig überflüssig. Weder macht sich eine Kunsteinrichtung, die einen solchen Text verlesen lässt, mit dem Verfasser gemein, noch ist es eine Deckelung oder gar Zensur, wenn eine Kulturinstitution oder auch ein einzelner Künstler sich an einer solchen Lesung nicht beteiligen will. Breiviks Text, der von der norwegischen Justiz unbegreiflicherweise gesperrt wurde und daher erst recht Aufmerksamkeit bekam, ist schon längst weltweit im Netz zu lesen.

Daher stellt sich auch die Frage, ob er im Theater noch einmal verlesen werden muss. Bestünde nicht gerade eine gute künstlerische Intervention darin, den Text zur Grundlage einer eigenen Arbeit zu nehmen. Zudem stellt sich die Frage, welche Debatte durch das Verlesen angeregt werden soll? Wird da nicht gerade in Zeiten des Internet die Rolle eines Theaters maßlos überschätzt?

Und selbst vor den Internetzeiten dürfte es sich um eine Überschätzung handeln, wenn es um den Einfluss solcher Darbietungen geht. Oder wäre die Geschichte wirklich anders verlaufen, wenn Hitlers „Mein Kampf“ in den 1920er Jahren in deutschen Theatersälen verlesen worden wäre? Zudem ist der Begriff Diskussion im Zusammenhang mit Breiviks Text fragwürdig. Glaubt ernsthaft jemand, dort finden sich Argumente, die abgewogen werden sollen?

Kann es bei seiner Lesung nicht eigentlich nur darum gehen, die Mechanismen und Strukturen zu erkennen, die zwischen Breiviks Ideologie und Denkformen bestehen, die in der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt sind? Einen sinnvollen Effekt hatte die Diskussion um Breiviks Text immerhin, das Monologfestival hat verdientermaßen mehr Publicity bekommen. Das hätte es allerdings auch durch die vielen anderen dort vorgestellten künstlerischen Positionen verdient, die nicht mit Breiviks Namen verbunden werden können.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153073
Peter Nowak

Rückkehr zur ethnischen Berichterstattung in den Medien?

Wie wichtig ist, dass der Täter „südländisch aussieht“? Ein Kommentar in der Taz löst eine Kontroverse aus

Ein Todesfall hat in den letzten Tagen in Berlin für ein großes mediales Interesse gesorgt. Ein junger Mann war in alkoholisierten Zustand in der Nähe des Roten Rathauses von einer Gruppe junger Partygänger so schwer geprügelt worden, dass er kurz darauf starb. Was diesen Fall so besonders ins Blickfeld rückte, war wohl der Tatort mitten in der Berliner Innenstadt.

Dieser Todesfall gäbe sicher genügend Anlass, nach der Ursachen der Zunahme von Gewaltdelikten zu fragen, bei denen es nicht um Geld, das Handy oder Eifersucht geht, sondern um den puren Spaß am Quälen von in der konkreten Situation Wehrlosen. Erst vor wenigen Tagen war ein Rollstuhlfahrer nach einem Fußballspiel zusammengeschlagen und mit seinen Schal fast erdrosselt worden. Auch hier war es eine Gewalttat aus reinem Spaß. Ist das ein Indiz für eine Gesellschaft, in der der Mitmensch generell nur noch als Gegner oder sogar Feind wahrgenommen wird und sich dieses Verhältnis in die Eventkultur ausweitet?

In Gruppen und nach einem entsprechenden Drogenkonsum werden die im Alltag noch unterdrückten Gewaltphantasien gegen Mitmenschen hemmungslos ausgelebt. Hier könnte eine Erklärung für diese Gewalt in der Eventkultur liegen. Doch die Diskussionen drehten sich schnell um die ethnischen und religiösen Hintergründe der Täter.

Antirassismus auf Knigge-Niveau?

Der Tagesspiegel vermeldete in seinem Bericht über die Gewalttat, dass die Täter nach Polizeiangaben „südländisch aussehen“. Die Taz verzichtete in ihrer Berichterstattung auf solche Zuschreibungen, was Taz-Redakteur Deniz Yücel in einer Kolumne als „Du-darfst-nicht-Antirassismus“ kritisierte.

In seiner Polemik bezog er auch die Richtlinien des Deutschen Presserats ein, nach denen die nationalen, ethnischen und religiösen Hintergründe von mutmaßlichen Tätern nur dann in Zeitungsberichten erwähnt werden sollten, „wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht“. Yücel hält diese Regelung für überholt; er moniert:

„Was einst eine vernünftige Reaktion darauf war, dass Eduard Zimmermann in ‚Aktenzeichen XY‘ vorzugsweise nach jugoslawischen und türkischen Staatsbürgern fahndete (‚Der Täter spricht gebrochen Deutsch und ist bewaffnet‘) und deutsche Lokalzeitungen und Boulevardblätter über keinen Ladendiebstahl berichten konnten, ohne auf die Herkunft der Täter zu verweisen (‚Ausländer beim Klauen erwischt‘), hat sich zu einem Verschleierungsinstrument verselbstständigt; zu einer Ansammlung von ‚Du-darfst-nicht‘-Sätzen, die die Glaubwürdigkeit von Medien erschüttern, aber jede Erkenntnis verhindern.“

Jahrelang haben Menschenrechtsorganisationen dafür gestritten, dass die Nennung der vermeintlichen Herkunft von angeblichen Straftätern in Zeitungsberichten verschwindet, gerade um solche Diskriminierungen zu verhindern. Es gibt auch keinen Grund von diesem Grundsatz abzuweichen. Das wurde nicht zuletzt durch Yücels Kommentar deutlich.

Seine Polemik veranlasste eine Schar von Kommentatoren die multikulturelle Gesellschaft noch einmal rhetorisch zu beerdigen. Zuvor hatten schon rechte Gruppen die Gewalttat aufgegriffen und zu Mahnwachen aufgerufen. Die Taz hatte berichtet, dass im Kondolenzbuch rassistische Parolen auftauchten.

Über soziale Realitäten statt über ethnische Zuschreibungen berichten

Diese Reaktion macht noch einmal deutlich, dass Yücel wohl eine zu positive Einschätzung über die Zivilisiertheit der Gesellschaft in Deutschland hat. Während Menschenrechts- und Flüchtlingsgruppen gegen ethnische Ermittlungen kämpfen, wird hier dafür plädiert, dass ethnische Berichterstattung, die in den meisten, vor allem den auflagenstärksten, Zeitungen immer Praxis war, auch auf Medien wie die Taz wieder ausgeweitet wird.

Yücel kann auch nicht erklären, was mit der ethnischen Duftmarke erreicht würde, außer der Zunahme von Ressentiments. Denn weder kann er spezifizieren, was ein südländisches Aussehen ist, noch was es aussagen soll. Was mit dieser Diskussion aber verdrängt wird, ist die Frage, warum in Berlin lebende junge Menschen andere aus reinem Fun quälen und sogar töten. Um das zu klären, wäre nicht das Aussehen der Täter relevant, sondern die Lebensverhältnisse, denen sie in ihrem Alltag ausgesetzt sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153058
Peter Nowak

Jenseits von Google und Facebook

Eine Berliner Konferenz machte deutlich, dass es längst Alternativen zu den Internetgiganten gibt. Die Frage ist, ob es für die Internetuser attraktiv ist, sie zu nutzen

Gibt es Alternativen zu einer zentralisierten Internet-Landschaft im Zeichen von Google und Facebook? 50 Experten aus über 15 Ländern haben sich am 18. und 19. Oktober in Berlin auf der Digital Backyards-Konferenz dieser Frage gewidmet. Auf einem Workshop zum Thema "Alternative Social Networking" stellten Netzaktivisten aus Europa verschiedene Projekte vor. Ob sie allerdings konkrete Alternativen zu Google und Facebook sein könnten, muss offen bleiben. Dazu gehört das Berliner Projekt Secushare. Erklärte Absicht ist es, durch einfache Anwendungsmöglichkeiten die Sensibilität für Datenschutz und Internetsicherheit bei den Usern zu erhöhen. Allerdings hält Carlo von Loesch, der Secushare auf der Konferenz vorstellte, den Aufbau einer eigenen Infrastruktur für nicht mehr durchsetzbar, weil immer mehr Gruppen und Unternehmen sich bei den kommerziellen Angeboten von Google oder Amazon bedienen. Solche Befunde zeigen, wie schwer es ist, Alternativen zu den etablierten Giganten aufzubauen, die auch von der großen Masse der Internetnutzer akzeptiert werden.

Sind Suchmaschinen eine Gefahr für die Demokratie?

Dazu muss das Bewusstsein wachsen, dass die großen Suchmaschinen nicht nur eine Gefahr für die Datensicherheit, sondern für die Demokratie insgesamt sind, meint der Websiteentwickler Alexander van Eesteren aus Holland. Mit ix quick hat er eine Suchmaschine vorgestellt, die damit wirbt, „die diskreteste Suchmaschine der Welt“ zu sein. Mittlerweile gibt es täglich über 1, 5 Millionen Suchprozesse, Tendenz steigend.

Noch ziemlich am Anfang steht die Debatte über die Internetsicherheit in Italien. Darüber berichtete Vito Campanelli von der italienischen Piratenpartei, die demnächst erstmals bei Wahlen in dem Land antreten will. Sie muss sich auch gegen die Grillo-Bewegung behaupten, die rhetorisch durchaus ähnliche Ziele zu verfolgen vorgibt, aber nach Angaben von Campanelli sehr stark auf die Person des Gründers und Namensgebers fixiert ist.

Die italienische Piratenpartei will in ihrem Land eine Debatte über Datensicherheit anstoßen, wie sie in Deutschland und anderen europäischen Staaten in den letzten Jahren in einer wahrnehmbaren Öffentlichkeit geführt wurde. Doch obwohl die „Freiheit statt Angst“-Demonstrationen zeitweise auch die Medien auf das Thema Datensicherheit lenkten, müssen die Internetexperten auch konstatieren, dass ein Großteil der jungen Menschen, die von Kindesbeinen mit Google und Facebook aufgewachsen sind, keine großes Problembewusstsein dafür entwickelt haben, wie mit ihren Daten im Internet umgegangen wird. Erst wenn es gelingt, diese Menschen anzusprechen, bekommt die Frage einer Alternative zu den Internetgiganten einen realen Boden. Natürlich ist es immer interessant zu erfahren, wo findige Menschen an mehr oder weniger neuen Projekten arbeiten, die Google und Facebook überflüssig machen könnten.

Coolnessfaktor der alternativen Suchmaschinen

Doch solange der Großteil der User diese Projekte nicht zur Kenntnis nimmt, hört sich das so an wie die jahrzehntealten Versuche, die Bild-Zeitung zu ersetzen. Zu allen Zeiten gab es zahlreiche Zeitungsprojekte, die den Anspruch verfolgten, das Boulevardblatt tatsächlich ersetzen zu können. Dass es bisher nicht gelungen ist, lag nicht daran, dass es keine Alternativen gegeben hätte, sondern dass diese die Herzen und Hirne der Massen nicht erreichen konnten. Genau so ist es heute mit der Diskussion um Alternativen für Google und Facebook.

Hier kommt der Coolnessfaktor ins Spiel, den Krystian Woznicki von der Berliner Gazette und einer der Kongressorganisatoren, im Gespräch mit Telepolis erwähnte. Erst wenn es in Kreisen der jungen Internetnutzer uncool ist, Google und Facebook zu nutzen, kann davon gesprochen werden, dass diese Giganten an Grenzen stoßen. Der Digital Backyards-Konferenz, die wegen angeblicher Europazentriertheit kritisiert wurd, muss man zu Gute halten, dass sie einen Versuch gemacht hat, das Umfeld der Computerfreaks und Nerds zu verlassen. Der letzte Konferenztag war für Public Talks reserviert. Dort hatten die Internetuser die Gelegenheit, sich vom Coolnessfaktor der alternativen Suchmaschine überzeugen zu lassen.
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Peter Nowak

Zwei Tage Festival: den Kotti rocken

TANZ, THEATER, GRAFFITI, MUSIK

Für zwei Tage soll der Block zwischen Mariannen-, Oranien-, Adalbert- und Skalitzer Straße im Zentrum von Kreuzberg 36 zur sozialen Skulptur werden. Das ist zumindest der Anspruch des Kunstfestivals „Rock the Block“, das von der Initiative „Backjumps“ organisiert wird und am heutigen Dienstag um 19 Uhr beginnt.

Während Graffiti-KünstlerInnen eine Lichtshow auf die Außenwand der Bibliothek in der Adalbertstraße 4 projizieren, starten an der Brandmauer der Adalbertstraße Videos. Wen es angesichts des herbstlichen Wetters in geschlossene Räume zieht, der bekommt im Theaterraum in der ersten Etage der Adalberstraße 4 ein Programm präsentiert. Am 3. Oktober wird das Kulturprogramm zwischen 12 und 19 Uhr mit zahlreichen Installationen und Ausstellungen fortgesetzt. An beiden Tagen werden in vielen Kultureinrichtungen rund um das Kotti – SO 36, Monarch, Westgermany – außerdem Konzerte gespielt.

Nicht alle Einrichtungen im Kiez sind jedoch vertreten: „Wir haben von den OrganisatorInnen keine Anfrage bekommen“, sagte eine Betreiberin vom Südblock, das am Kottbusser Tor seit rund zwei Jahren kulturelle und politische Veranstaltungen organisiert. Mehr zum Programm unter www.backjumps.info.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort
=ba&dig=2012%2F10%2F02%2Fa0132&cHash=66fd5f85b74e3587d6e85f878fff24cf
Peter Nowak

Proeuropäische Marktnische

EUROPAmedien: Internetmagazin »The European« jetzt auch als Printzeitung

»Warum gibt’s eigentlich keine europäische Tageszeitung?« Mit dieser Frage begann 2007 in einem Pariser Park die Idee einer Zeitung, die nicht mehr aus nationaler, sondern aus europäischer Perspektive berichtet.« So zumindest schildert der Journalist Tobias Sauer die Entstehungsgeschichte eines Medienprojekts, das seit drei Jahren als Internetmagazin firmiert und seit wenigen Tagen auch am Kiosk als Printausgabe erworben werden kann. Auf der Titelseite der ersten Ausgabe des »European« weist die Überschrift »Utopia – Unsere Welt in 100 Jahren« weit in die Zukunft. Die Themen der Ausgabe orientieren sich hingegen auf die nähere Zukunft. Da wird eine Vorausschau auf die USA im Jahr 2016 gewagt und für eine mögliche Koalition zwischen Union und Piraten mit der »Halloween-Koalition« schon ein neuer Begriff kreiert.

Die Zeitungsmacher betonen ihre parteipolitische Unabhängigkeit. »Von Sahra Wagenknecht, Gregor Gysi über Cem Özdemir, Christian Wulff und Erika Steinbach sind Vertreter aller im Bundestag vertretenen Parteien in dem Debattenmagazin zu finden«, heißt es in einer Redaktionsnotiz. »Den argumentativen Diskurs gewinnt der, der wahrhaftig und wohlbegründet seinen Standpunkt vertritt. Diese Diskursivität ist ein wichtiges Kennzeichen der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte«, begründet dies die Redaktion.

Doch bei aller Diskursfreudigkeit hat das Projekt klare politische Grundsätze vor allem auf sozialpolitischem Gebiet. So hat der »European«-Chefredakteur Alexander Görlach in einem Positionspapier klargestellt, dass in der Zeitung nicht über die Höhe der Hartz-IV-Sätze, wohl aber über den Wert der Arbeit diskutiert werde. Dort bekannt er sich auch zu einem europäischen Elitenprojekt. »Bei The European sollen Entscheider zu Wort kommen, deren Stimmen wirklich wichtig sind«, skizzierte er die Zielgruppe.

Dass sich die Zeitung nicht an Europas Prekäre und Erwerbslose wendet, wird auch im Preis deutlich. Die Printausgabe kostet acht Euro. Geplant ist eine viermonatige Erscheinungswiese in einer Auflage von 50 000 Exemplaren. »Wir glauben, dass das Projekt kommerziell überlebensfähig sein muss. Leute müssen bereit sein, dafür Geld zu bezahlen«, begründet Daniel Freund den hohen Preis.

Ob es die zahlkräftigen Leser für das europäische Elitenprojekt findet, ist offen. Davon aber wird abhängen, ob Görlachs Wunsch in Erfüllung geht, der »The European« zwischen den Magazinen »Cicero« und »Brand Eins« verorten möchte.

http://www.neues-deutschland.de/rubrik/medienkolumne/

Peter Nowak

Klassiker der Anti-AKW-Bewegung verfilmt

»Friedlich in die Katastrophe« bietet auch Gelegenheit zu kritischer Rückschau

Mit 1360 Seiten ist das Buch »Friedlich in die Katastrophe« von Holger Strohm ziemlich monumental. Wer vor der Lektüre des dicken Wälzers zurückschreckt, kann sich ab 27. September im Kino ein filmisches Update des Klassikers der Anti-AKW-Bewegung ansehen.

In einem neuen, zweistündigen Film des Regisseurs Marcin El bringt der Publizist Holger Strohm mit jungen Filmemachern seine Kritik an der AKW-Technologie auf die Leinwand und gibt gleichzeitig Einblick in die Geschichte einer Bewegung. Wir begegnen wichtigen Exponenten der Anti-AKW-Bewegung wie dem Zukunftsforscher Robert Jungk, dem Fotochronisten Günter Zimt, der langjährigen Wendland-Aktivistin Marianne Fritzen, aber auch Hanna Poddig, die in den letzten Jahren durch Aktionen zivilen Ungehorsams bekannt geworden ist.
Antibiotika

Holger Strohms Buch brachte »einen erheblichen Niveausprung in der bundesdeutschen Kernkraft-Kritik«, so der Historiker Joachim Radkau. Dabei sprach zunächst nichts dafür, dass das Buch einmal ein solches Echo bekommen sollte. Es ist schon 1971 entstanden, als sich die Kritik an der Atomtechnologie auch in der Linken in der Hauptsache gegen die Kernwaffen richtete. Die friedliche Nutzung der Atomkraft dagegen hatte damals auch noch in Robert Jungk einen begeisterten Fürsprecher, der später jedoch mit seinen Buch »Atomstaat« die Gegenbewegung ebenso prägen sollte wie Strohm. Der hatte anfangs Schwierigkeiten, überhaupt einen Verlag zu finden. Als das Buch 1981 beim Verlag Zweitausendeins herauskam, wurde es zu einem Bestseller. Denn mittlerweile hatte der Atomunfall von Harrisburg weltweit zum Anwachsen der Anti-AKW-Bewegung beigetragen.

Besonders in Deutschland legten viele Aktivisten ihre Marx- und Leninbände beiseite und widmeten sich fortan dem Widerstand gegen die Atomkraftwerke. Dabei konnten sie Strohm nicht nur im theoretischen Disput erleben. Das langjährige SPD-Mitglied war wegen seiner AKW-Kritik 1978 aus der Partei ausgeschlossen worden und kandidierte als Spitzenkandidat der »Bunten Liste – Wehrt Euch«, die später zur Grün-Alternativen Liste werden sollte, für die Hamburger Bürgerschaft.

Linke Teile der Anti-AKW-Bewegung übten zunehmend Kritik an Strohms katastrophischem Weltbild, das auch den Film prägt. Die Endzeitstimmung der späten 80er und frühen 90er Jahre hat auch dazu geführt, dass Gesellschaftskritik oft zugunsten von spirituellen Welterklärungsmustern aufgegeben wurde. Auch dafür ist Strohm ein Beispiel. Der Film bietet so nicht nur die Chance, ein wichtiges Werk der Anti-AKW-Bewegung kennen zu lernen, sondern zugleich auch Anregungen, sich kritisch mit der Geschichte und den Argumenten der AKW-Bewegung zu beschäftigen.

»Friedlich in die Katastrophe« hat am 24.9. um 20 Uhr im Hamburger Kino Abaton und am 29.9. um 17.15 und 19.45 Uhr im Berliner Lichtblick-Kino (www.lichtblick-kino.org ) Premiere. Strohm und der Regisseur sind anwesend.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/
239543.klassiker-der-anti-akw-bewegung-verfilmt.html
Peter Nowak

Verhaftet Henry Kissinger

Menschenrechtsvereine machen Druck

Anlässlich des 39. Jahrestags des Militärputsches in Chile wurden diese Woche in verschiedenen Tageszeitungen in Deutschland und dem Ausland Anzeigen mit dem Titel »Verhaftet Kissinger« geschaltet. Verantwortlich für die Aktion waren der in Chile geborene Künstler Alfredo Jaar und das Europäische Menschenrechtszentrum (ECCHR), das in Berlin seinen Sitz hat. Für Jaar ist es das Finale dreier Ausstellungen in Berliner Museen, in denen er sich auch mit dem Militärputsch gegen Chiles linkssozialistischen Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973 auseinandersetzte. Das Vorgehen der Generäle, die in den ersten Tagen nach dem Putsch Tausende Anhänger der gewählten Regierung verhaften, foltern und ermorden und auf öffentlichen Plätzen linke Literatur verbrennen ließen, weckte weltweit Assoziationen an den Faschismus. Jaar arbeitete in seinen Installationen mit Originaldokumenten, die nachweisen, dass die damalige US-Regierung und besonders ihr Außenminister Henry Kissinger seit der Wahl von Allende den Sturz der demokratisch legitimierten Regierung betrieben hat.

Das Ziel des ECCHR ist, Politiker und nichtstaatliche Akteure wegen von ihnen begangener Menschenrechtsverbrechen vor Gericht zu bringen. Ein Sprecher der Menschenrechtsorganisation bezeichnet Kissinger, der 1923 in Deutschland geboren wurde, als einen der »Hauptverantwortlichen, der von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten begangenen Kriegsverbrechen«. Weder sei seine Verstrickung jemals untersucht, noch sei er für seine Verbrechen angeklagt worden. Im Gegenteil: Bis heute sei Kissinger sowohl in Deutschland als auch international herzlich willkommen und respektiert.

Die Forderung, den US-Politiker juristisch zu belangen, ist alt und wird nicht nur wegen seiner Rolle beim Putsch in Chile erhoben. Kissinger hatte zwischen 1969 und 1977 verschiedene Funktionen innerhalb der US-Regierung inne. Während seiner Zeit als Außenminister eskalierte der Vietnamkrieg und wurde von den USA unter Bruch des Völkerrechts auf die Nachbarländer Kambodscha und Laos ausgeweitet. Jaar und der ECCHR haben deshalb die Anzeigen nicht nur in »taz«, »Tagesspiegel« und »Berliner Zeitung«, sondern auch in Medien von Laos, Kambodscha und Vietnam geschaltet. Dort versuchen Menschenrechtsorganisationen und Opferverbände ebenfalls, Kissinger vor Gericht zu bringen.

Heute Abend wird der Jurist und ECCHR-Mitbegründer Wolfgang Kaleck in Berlin mit Alfredo Jaar über die Kooperation von Menschenrechtsorganisationen und Kunst diskutieren.

18 Uhr, ECCHR-Büro, Zossener Str. 55-58
http://www.neues-deutschland.de/artikel/238538.verhaftet-henry-kissinger.html
Peter Nowak

Gesucht – Henry Kissinger

Ein Künstler erinnert gemeinsam mit Menschenrechtlern daran, dass die Verantwortlichen des Militärputsches in Chile noch immer straffrei geblieben sind

Am 14.September wurden in verschiedenen Tageszeitungen Anzeigen mit dem Titel „Verhaftet Kissinger“ geschaltet. Dabei handelt es sich um eine Kooperation zwischen Politik und Kunst. Der in Chile geborene Künstler Alfredo Jaar arbeitet für dieses Kissinger-Projekt mit dem Europäischen Menschenrechtszentrum zusammen. Für Jaar ist das Projekt das Finale dreier Ausstellungen in Berlin, die im besten Sinne engagierte Kunst zeigten. Dabei hinterfragt Jaar auch die Position des Künstlers immer wieder. Das beeindruckendste Beispiel in Berlin war eine Installation über den südafrikanischen Fotografen Kevin Carter, der für das Foto eines hungernden Kindes im Sudan den Pulitzer-Preis bekam und wenig später Selbstmord beging, nachdem Kritik laut geworden war, dass er mit dem Foto eines hungerndes Kindes berühmt werden wollte.

In den Berliner Ausstellungen werden auch verschiedene Arbeiten von Jaar gezeigt, in denen er sich mit dem Militärputsch gegen den linkssozialistischen Präsidenten chilenischen Salvador Allende am 11. September 1973 befasst. Das Vorgehen der Generäle, die gleich in den ersten Tagen nach dem Putsch Tausende Anhänger der gewählten Regierung verhaften, foltern und nicht selten ermorden und auf öffentlichen Plätzen linke Literatur verbrennen ließen, weckte weltweit Assoziationen an den Faschismus. Jaar zitiert Originaldokumente, die nachweisen, dass die damalige US-Regierung und besonders ihr Außenminister Henry Kissinger seit der Wahl von Allende den Sturz der Regierung betrieben haben und dass die Tatsache, dass die Linksregierung demokratisch legitimiert war, dabei kein Hindernis war.

Die Anzeigenkampagne zur Verhaftung Kissingers stellt Jaar bewusst in den Kontext des 39 Jahrestages des Militärputsches. Dieses Datum war in dem letzten Jahrzehnt durch die islamistischen Anschläge vom 11.September 2001 in den Hintergrund des Interesses geraten. Die Forderung, Henry Kissinger vor Gericht zu stellen, ist alt und wird nicht nur wegen seiner Rolle beim Putsch in Chile erhoben. Jaar und die Menschenrechtsorganisation werden deshalb die Anzeigen nicht nur in mehreren deutschsprachigen Zeitungen wie der taz, dem Tagesspiegel und der Berliner Zeitung, sondern auch in Medien von Laos, Kambodscha und Vietnam schalten, wo Menschen auch durch die von Kissinger repräsentierte Politik zu Schaden kamen.

Gefahr der Personifizierung?

Die Aktion erinnert an eine andere Kunstaktion: „Waffenhändler in den Knast“, mit der Künstler (http://www.politicalbeauty.de/center/News.html) gegen die Kraus-Maffei-Eigentümer intervenierten. Wie bei dieser Aktion stellt sich natürlich auch beim Kissinger-Projekt die Frage, ob damit nicht einer Personifizierung von Politik Vorschub geleistet und der Eindruck erweckt wird, Politik sei eine Kette von Verschwörungen. Allerdings ist gerade der Militärputsch tatsächlich eines der wenigen Beispiele für eine reale Verschwörung gegen unliebsame Regierungen.

Zudem sind Politiker wie Kissinger nicht nur Rädchen im Getriebe, sondern agieren in einen gewissen Rahmen durchaus eigenständig und können daher auch zur Verantwortung gezogen werden. Jaars Forderungen hat eine neue Aktualität bekommen, nachdem auch in Chile nach Jahrzehnten der Straflosigkeit, die sich die Militärs selber verordnet hatten, mittlerweile Klagen gegen einige für Morde und Kindesentführungen Verantwortliche begonnen haben.

FAZ-Artikel will US-Politiker wegen Irakkrieg vor Gericht sehen

Wenn aber ein Feuilletonredakteur der FAZ in einem Artikel, der am vergangenen Wochenende erschien, auch führende US-Politiker wegen des Irakkrieges vor Gericht sehen will, fragt man sich schon, ob das konservative Blatt jetzt zur Speerspitze der Anti-Irak-Kriegs-Bewegung geworden ist. Hat die Zeitung im Politikteil diesen Krieg damals nicht nach Kräften publizistisch unterstützt? Wäre da nicht eine redaktionsinterne Tagung über die Rolle des eingebetteten Journalisten im Krieg angebracht?

Ein solch greifbare Forderung fehlt in dem FAZ-Artikel ebenso wie der Name des deutschen Oberst Klein. Der kürzlich beförderte Militär ist für den Tod von fast 100 Toten von Kunduz verantwortlich. Wer ihn in einer deutschen Zeitung vergisst, wenn es um Politiker geht, die wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden sollen, muss sich schon den Vorwurf gefallen lassen, dass die Bereitschaft zur Aufklärung von Verbrechen dann nachlässt, wenn auch deutsche Militärs betroffen sind.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152766
Peter Nowak