Zentrum für Kunst und Medien zeigt Ausstellung über Protestbewegungen in aller Welt
Noch bis Ende März sind im ZKM in Karlsruhe vor allem Videodokumentationen zu sehen, die Protestaktionen aus der ganzen Welt zeigen. Darunter ist auch ein Film über Lampedusa-Flüchtlinge.
Das Foto des Stuttgarter Rentners Dietrich Wagner, der durch einen Wasserwerfereinsatz bei einer Demonstration gegen Stuttgart 21 sein Augenlicht verloren hat, wurde zum Symbol für einen Staat, der bei der Durchsetzung seiner Projekte keine Rücksichten kennt. Im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) bleiben viele Besucher besonders lang vor dem Foto stehen, auf dem Wagner blind mit blutenden Augen zu sehen ist und von zwei Helfern gestützt wird. Vielleicht, weil es eines der wenigen Zeugnisse der deutschen Protestbewegung in der umfangreichen Ausstellung »global activism« ist, die noch bis zum 30. März im Erdgeschoss des ZKM zu sehen ist. Kuratiert wurde sie vom Museumsdirektor Peter Weibel.
Schon zu Beginn überwältigt die Fülle der ausgestellten Materialien: In einem Video spricht der US-Linguist und langjährige Aktivist Noam Chomsky kritisch über die Außenpolitik der USA. Eine Dokumentation informiert über die Proteste gegen Vergewaltigungen von Frauen in Indien. Wer alle in der Ausstellung präsentierten Videoarbeiten sehen will, müsste dort mehrere Tage verbringen. Nicht nur die Fülle an Videos macht die Ausstellung in Karlsruhe zu einem guten Spiegelbild der Protestbewegungen der letzten Jahre, bei denen Handys und Videokameras zu den wichtigsten Requisiten gehörten. In der Ausstellung findet man tatsächlich Szenen von fast allen Protesten der vergangenen Jahre rund um die Welt. Vom ägyptischen Tahrir-Platz über die Occupy-Camps in den USA bis zu den jüngsten Protesten in der Ukraine wird kaum etwas ausgelassen.
Wer Videos von den Gezipark-Protesten ansehen will, muss sich tief bücken. In Zelten sind kleine Laptops aufgestellt, auf denen in einer Endlosschleife Szenen vom Protestalltag laufen. Ist die Dokumentation der Proteste schon allein Kunst? Angesichts der Überfülle des Videomaterials fällt es oft schwer, die künstlerisch bemerkenswerten Positionen zu finden. »Ein Leuchtturm für Lampedusa« des Berliner Künstlers Thomas Kilpper gehört auf jeden Fall dazu: Die Dokumentation zeigt das Leben von Geflüchteten auf der italienischen Mittelmeerinsel. Sie sprechen über ihre Erlebnisse bei der Überfahrt und trauern um die Freunde und Verwandten, die dabei gestorben sind. Mit seinem Leuchtturm will Kilpper ein Kunstwerk symbolisieren, das Leben retten kann. Der britische Künstler Mark Wallinger hat das Protestcamp des verstorbenen Friedensaktivisten Brian Haw ins ZKM geholt. Haw hatte in dem Camp seit Beginn des Irakkrieges bei jedem Wetter mehrere Jahre in der Nähe des britischen Regierungssitzes ausgeharrt. Auch der Zaun, der die Baustelle rund um den Stuttgarter Bahnhof (S21) begrenzte, hat es mit einer Vielzahl von Zetteln und Anmerkungen von Passanten ins Museum geschafft.
Man braucht Zeit für die Ausstellung, und man wird in der Fülle interessante Entdeckungen machen. Auch ein Besuch der ersten Etage des ZKM lohnt sich: Dort hängen Fotos des Berliner Fotografen Julian Röder, der seit vielen Jahren internationale Proteste künstlerisch begleitet.
Eine Ausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand widmet sich dem jüdischen Kommunisten
Die aufrechte Gestalt des Mannes mit der Baskenmütze, die ihren Stock mit festem Griff umfasst, fällt sofort ins Auge, wenn man den Ausstellungsraum betritt. Wie auf diesem Bild blieb Kurt Goldstein, der 2007 im Alter von 92 Jahren starb, vielen in Erinnerung. Im November 2014 wäre er 100 Jahre alt geworden.
Jetzt widmet ihm die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin in Kooperation mit dem Internationalen Auschwitz-Komitee, dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau und der internationalen Jugendbegegnungsstätte Oswiecim eine Ausstellung unter dem Titel »Deutscher, Jude, Kommunist«, die noch bis zum 30. April zu sehen ist. Auf über 40 Tafeln wird das Leben eines Juden in Deutschland nachgezeichnet.
weimar »Als mein Vater starb, war ich fünf Jahre alt und trug einen schwarzen Anzug«, wird Goldstein neben einem Foto zitiert, auf dem er im Kreise der Familie bei der Beerdigung zu sehen ist. Der Vater starb 1919 an den Folgen seiner schweren Verletzungen, die er sich als Soldat im Ersten Weltkrieg zugezogen hatte. Daneben findet sich ein Aufruf des Reichsbundes deutscher Frontsoldaten, der Aufschluss über das antisemitische Klima in der Frühphase der Weimarer Republik gibt: »12.000 Juden fielen im Kampf. Deutsche Frauen, duldet nicht, dass die jüdischen Mütter in ihrem Schmerz verhöhnt werden!«
Der Appell gegen den Antisemitismus blieb wirkungslos, wie Goldstein als Schüler im Gymnasium erfahren musste. »Prolet, Schuft«, schrie ihn 1928 ein Oberstudienrat vor der gesamten Klasse an und weigerte sich, ihn zu unterrichten. Es habe sich bei dem Lehrer um einen der ersten Nazis im Ort gehandelt, erfahren wir auf der Tafel. Solche Erfahrungen haben den jungen Goldstein politisiert. So sind in der Ausstellung auch Informationen über die Lektüre zu finden, die ihn prägte.
Neben Erich Maria Remarque gehörten dazu bald Marx, Engels und Lenin. Noch in der Endphase der Weimarer Republik engagierte sich Goldstein im Kommunistischen Jugendverband und bald auch in der KPD.
Spanienkämpfer Als Jude und Kommunist doppelt gefährdet, gelang Goldstein 1933 die Flucht nach Luxemburg und von dort nach Palästina. 1936 gehörte er zu den vielen Antifaschisten aus aller Welt, die in Spanien mit der Waffe in der Hand den von den Nazis unterstützten Franco-Faschisten entgegentraten. Nach der Niederlage der spanischen Republik suchte Goldstein in Frankreich Zuflucht.
1942 wurde er von der Gestapo nach Auschwitz deportiert. »Wenn ich von Auschwitz spreche, denke ich an die Menschen, die dort gestorben sind«, sagte Goldstein, der seit 1978 bis zu seinem Tod im Internationalen Auschwitz-Komitee aktiv war. Am 25. Januar 2005 hielt Goldstein im Deutschen Theater die zentrale Ansprache zum Auschwitz-Gedenken. Das Foto des Mannes, der mit den Tränen kämpfte, findet sich in Lebensgröße auf einer Wand des Ausstellungsraums.
Nach dem Ende des NS-Regimes widmete sich Goldstein dem Wiederaufbau der KPD. Als die Partei in Westdeutschland verboten wurde, leitete er in der DDR den propagandistischen »Deutschen Freiheitssender«, der wegen seiner modernen Musik in den 60er-Jahren auch im Westen gehört wurde. Nach dem Ende der DDR machte sich Goldstein Vorwürfe, der Parteilinie zu unkritisch gefolgt zu sein und damit seinen Traum vom Sozialismus mitzerstört zu haben. Die sehenswerte Ausstellung liefert nicht nur einen guten Einblick in das Leben Kurt Goldsteins, sondern auch in die Zeit, in die er hineingeboren wurde.
Ein Film stellt sich am Beispiel der deutschen Einsatzgruppen im Zweiten Weltkrieg die Frage, wie normale Männer Massenmörder wurden, blendet aber die deutschen Spezifika aus
„Männer, Frauen, Kinder, alle umgebracht. Liebe Heidi. Mach Dir keine Sorgen. Alles wird gut.“ Diese Zeilen hat ein Mitglied jener deutschen Einsatzgruppen, die während des Zweiten Weltkriegs in den von der Wehrmacht besetzten osteuropäischen Ländern Juden, Kommunisten, Sinti und Roma ermordeten, an seine Familie nach Hause geschrieben.
Das Zitat findet sich in dem Film „Das radikal Böse“ des österreichischen Regisseurs Stefan Ruzowitzky, der am 16. Januar in die deutschen Kinos kommt. Er setzt sich mit den Verbrechen in der NS-Zeit auf eine Weise auseinander, dass die abgedroschene Floskel, dass hier Maßstäbe gesetzt würden, ausnahmsweise einmal passend ist.
Einsatzgruppen – die Speerspitze des NS-Massenmordes
Zunächst ist es bemerkenswert, dass Ruzowitzkys Filmessay nicht die Opfer, sondern die Täter in den Mittelpunkt des Films stellt. Schon das ist eine Ausnahme. Zudem handelt es sich um eine Tätergruppe, die in der öffentlichen Debatte weitgehend ausgespart wird. Wenn überhaupt deutsche Täter in den Blick geraten, dann sind es KZ-Kommandanten oder deren engste Mitarbeiter. Dass aber ein Großteil der Massenmorde nicht in den Konzentrationslagern verübt wurde, sondern in Osteuropa oft auf freien Feldern außerhalb von Dörfern und Städten, wo die Opfer ihre Gräber oft noch selber schaufeln müssten, wird dabei oft vergessen. Diese historische Tatsache ist im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland auch kaum präsent.
Daher sind die Details dieser Mordaktionen auch noch wenig bekannt. So hat Jens Hoffmann mit seinen im Konkret-Verlag erschienenen Buch „Das kann man nicht erzählen – Aktion 1005“ in einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht, wie Gestapo und SS im Rahmen der Aktion 1005 die Leichen der Ermordeten ausgraben ließ, als die Rote Armee näher rückte. Im Berliner Metropolverlag haben Stephan Lehnstaedt und Jochen Böhler erstmals eine vollständige Edition der Einsatzgruppen-Berichte aus Polen aus dem Jahr 1939 herausgegeben (Die Berichte der Einsatzgruppen aus Polen 1939).
Die historischen Details dieser deutschen Speerspitze des Massenmordes stehen allerdings nicht im Fokus des Films „Das radikal Böse“. Im Film steht die anthropologische Komponente im Mittelpunkt. Seine Fragestellung lautet, wie ganz normale Männer in bestimmten historischen Situationen zu Mordmaschinen werden können, die Fußballspielen oder ihre Kinder grüßen, nachdem sie Männer, Frauen und Kinder niedergemäht haben.
Der Massenmord als Job, der erledigt werden muss, begegnet uns im Film immer wieder in den eingesprochenen Zitaten. Sie sind Feldpostbriefen, Gerichtsaktionen, Kommissionsberichten entnommen, in denen die Täter sich äußerten. Darunter befanden sich auch Männer, die am Anfang durchaus mit ihrem blutigen Job nicht einverstanden waren. Die darüber klagten, dass sie als ehrbare deutsche Soldaten noch wehrlose Frauen und Kinder erschießen mussten. Manche trugen sich sogar mit Suizid-Gedanken. Andere schrieben aber, dass der Blutjob für sie bald Routine wird. Es ist eine Aufgabe, die erledigt werden muss, um in der Freizeit das normale Leben möglichst unbelastet davon führen zu können.
Warum verweigerten so wenige die Beteiligung am Massenmord?
Nur ganz wenige allerdings zogen die Konsequenz und verweigerten den Massenmord. Im Film wird auch ästhetisch sehr gelungen gezeigt, dass die Betroffenen degradiert und von ihren Vorgesetzen und Kumpanen als Memmen und Schwächlinge bezeichnet wurden, dass aber eine solche Verweigerung keine Strafen, schon gar nicht die Hinrichtung zu Folge hatte.
Auf die Frage, warum auch die Männer, die in ihren Briefen die persönliche Abscheu vor dem Blutjob ausdrückten, in der Regel den Mordauftrag nicht verweigerten, gaben Historiker und Psychologen im Film sehr unterschiedliche Erklärungen. So verweist der Historiker Christopher Browning auf die spezifische Situation der Mörder, die in ihren Einheiten natürlich keine Beratungen für Verweigerungen bekamen. Browning gehört mit seiner Fallstudie über das Hamburger Polizeibataillon 101 zu den Pionieren der Forscher über die Einsatzgruppen. Das Buch trug den bezeichnenden Titel „Ganz normale Männer“.
Wie deutsch waren die normalen Männer?
Diese These war ein Fortschritt gegenüber der lange verbreiteten Vorstellung, die Menschen, die sich aktiv an der Verfolgung an der Ermordung von Juden und NS-Gegnern beteiligt hatten, hätten vielleicht im deutschen Namen gehandelt, aber die deutsche Bevölkerung sei davon nicht tangiert. Nun kann man allerdings die Normalitätsthese, wie übrigens auch Hannah Arendts auf Adolf Eichmann bezogene Diktum von der Banalität des Bösen, auch überziehen.
Genau das passiert im Film, wenn die Mitglieder der Einsatzgruppen nicht als ganz normale Männer im NS-Deutschland, sondern als ganz normale Männer der Spezies Homo sapiens dargestellt werden. So werden Darstellungen verschiedener bekannter Versuchsanordnungen beispielsweise von dem dem Milgram-Experiment eingespielt, in denen die Probanden den vermeintlichen Versuchspersonen mit Stromschäden große Schmerzen und lebensgefährliche Verletzungen beibringen, zur Illustration dieser anthropologischen Argumentation im Film eingeblendet. Am Ende verweisen Interviewpartner auf aktuelle Konflikte von Ruanda bis Dafur. Man solle sich dabei nicht auf den Menschen verlassen, nur stabile Institutionen könnten im Zweifel die Morde verhindern, heißt es da.
Damit werden dann die Spezifika, die aus ganz normalen deutschen Männern Massenmörder machten, zu einen Problem zwischen Menschen und Institutionen umgedeutet. Nur so kann auch so positiv auf Institutionen verweisen, die die Morde verhindern könnten. Unerwähnt bleibt, dass es in Deutschland schon lange vor dem Aufstieg des NS völkische und antisemitische Institutionen gab, die erst diese normalen deutschen Männer so konditionierten, dass die Massenmörder wurden. Auch die Frühphase der Weimarer Republik, als widerständige Arbeiter zu Tausenden in ganz Deutschland von Freikorps ermordet wurden, lieferten eine wichtige Vorbereitung für den Massenmord.
In Klaus Theweleits „Männerphantasien“kann man einiges dazu nachlesen. Er gehörte aber nicht zu den Interviewpartnern des Filmes. So bleibt ein zwiespältiges Fazit. Der Filmessay ist ästhetisch gut gelungen und kann ein Beispiel dafür sein, wie Filme über die NS-Verbrechen in einer Zeit aussehen könnten, in denen es keine Zeitzeugen mehr gibt. Inhaltlich allerdings trägt auch er dazu bei, die spezifischen deutschen Bedingungen der NS-Verbrechen auszublenden und sie in die menschliche Spezies zu verlagern.
Eine Berliner Diskussionsrunde mit dem „gefährlichsten Philosophen Mitteleuropas“
„Wir sitzen im Theaterbild von Frontex“, erklärte die Leiterin des Berliner Theaters Hebbel mit Blick auf die eine blau-weiß straffierte Weltkarte an der Bühnenwand. Sie ist Teil der Requisiten für die Theateraufführung des Stücks Frontex Security des Regisseurs Hans-Werner Kroesinger. Im Zentrum steht dort das Frontex-System, das die Festung Europas gegen die Armen diese Welt schützt.
Am Dienstagabend warf der französische Philosoph Alain Badiou im Rahmen der Passagengespräche einen anderen Blick auf Welt. Er gehört zu einer kleinen Gruppe von politisch engagierten Philosophen, die vehementen Einspruch gegen den aktuellen Zustand der Welt äußern.
Nach 1989 schien es so, als würde eine politisch engagierte Philosophie und Wissenschaft der Vergangenheit angehören. Aber spätestens mit den Interventionen von den Theorien Bourdieus und dem Aufstand der Zapatistas war die TINA-Phase („There is no Alternative“) beendet. Mit Stephan Hessel wurde Gesellschaftskritik sogar wieder mehrheitsfähig. Doch Alain Badiou unterscheidet sich von den Genannten an einem entscheidenden Punkt. Er kritisiert nicht nur die aktuellen Verhältnisse. Zu ihrer Überwindung hält er am Kommunismus als Ziel fest.
Kein Bannerträger des Antitotalitarismus
An diesem Abend konnte man gut beobachten, wie schnell eine meist moralisch imprägnierte diffuse Kritik an den Finanzmärkten und der Globalisierung beliebig und zahnlos wird. Der Leiter des Passagen-Verlags, Peter Engelmann, der seit Jahren Schriften linker französischer Autoren und somit auch Badiou verlegt, versicherte immer wieder, wie er nahe er in der Kritik am aktuellen Zustand der Welt seinem Diskussionspartner stehe. Mit dem Kommunismus als Zielvorstellung könne er sich aber nicht anfreunden, solange nicht geklärt sei, warum die bisherigen Versuche, ihn einzuführen, gescheitert sind.
Gescheitert ist aber auch das beharrliche Insistieren des Moderators René Aguigah, den ehemaligen DDR-Gefangenen Engelmann, der von der BRD freigekauft wurde, als Bannerträger des Antitotalitarismus gegen Badiou in Stellung zu bringen. Engelmann ist dafür zu intelligent; gelegentlichen Versuche, die Gestapo und die Stasi in einen Zusammenhang zu bringen, wurden vom zahlreich erschienenen Publikum eher als Peinlichkeit, denn als Provokation wahrgenommen.
Die drei Etappen des Kommunismus nach Badiou
Badiou hingegen, der vom Feuilleton der Berliner Zeitung schon mal zum „gefährlichsten Philosophen Mitteleuropas“ geadelt wurde, konnte sicher nicht alle im Publikum mit seinem Plädoyer für den Kommunismus überzeugen. Aber auch und gerade für seine Kritiker war er in keiner Minute beliebig und langweilig.
Zunächst teilte er die Geschichte des Kommunismus in drei Etappen ein. Im 19. Jahrhundert sei der Kommunismus die Utopie einer klassenlosen Gesellschaft gewesen, wie sie von Marx, Proudhon und vielen anderen Theoretikern formuliert wurde. Die wichtigsten Ziele seien die Aufhebung der Klassengesellschaft und der Arbeitsteilung sowie ein Absterben des Staates gewesen.
Die zweite Etappe sei durch die Oktoberrevolution geprägt gewesen, die Badiou als die erste gelungene Revolution nach den vielen gescheiterten und blutig niedergeschlagenen Arbeiteraufständen des 19.Jahrhunderts klassifizierte. Er benennt aber auch das Dilemma, das in der siegreichen Revolution schon ihr Scheitern eingeschrieben hat. Lenin habe aus der Niederlage der Pariser Kommune die Konsequenz gezogen, dass eine zentralistische Organisation nötig sei.
Damit konnte die Revolution erfolgreich sein, doch es sei nicht möglich gewesen, eine demokratische Zivilgesellschaft aufzubauen. Weder sei die Arbeitsteilung noch der Staat abgeschafft werden, wie es die Kommunisten der ersten Phase anstrebten.
Die dritte Phase des Kommunismus hat für Badiou nach 1989 begonnen. Damit müsse man sich von der Macht emanzipieren und wieder an die Basis gehen. So dementierte Badiou auch alle Versuche, ihn in die Schublade des Stalinismus oder der Marx-Orthodoxie zu stecken. Die von ihm vorgeschlagene Bewegung von unten, die sich in Streiks, in Besetzungen und Asambleas materialisiert, ist durchaus kompatibel mit Politikformen, wie sie in der außerparlamentarischen Bewegung seit Jahrzehnten praktiziert wird, mögen sich die Akteure nun Kommunisten nennen oder nicht.
Demokratie als Herrschaftsform
Den größten Widerspruch erntete Badiou für seine Demokratiekritik. Dabei betonte er, dass er damit nicht die Vollversammlungen und Assambleas, sondern die bürgerliche Gesellschaft meinte. Als er dann Demokratie als Form der staatlichen Organisierung des entwickelten kapitalistischen Staats klassifizierte, erntete er spontane Zustimmung, aber auch Widerspruch.
Engelmann konnte nicht verstehen, wie man die Fundamentalkritik an der Demokratie mit Applaus belohnen könne. Wenn Engelmann dann aber selber die Demokratie als die beste Form, einen Bürgerkrieg bzw. einen sozialen Aufstand zu verhindern, bezeichnete, war er zumindest theoretisch gar nicht so weit von Badiou entfernt. Als dann in der Fragerunde aus dem Publikum Badiou-Kritiker darauf verwiesen, dass momentan in der Ukraine gerade für die bürgerliche Demokratie gekämpft werde, zeigte sich, wie recht der Philosoph mit seiner Demokratiekritik hat.
Schließlich kämpfen in der Ukraine zwei Machtblöcke um die außenpolitische Orientierung des Landes, ob sie näher an der EU oder an Russland sein soll. Doch auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie stehen beide. Auch die staatliche Repression gegen die Proteste ist nicht ein Dementi, sondern Teil der bürgerlichen Demokratie. Dabei war der Einsatz der Polizei gegen die Blockupy-Proteste in Frankfurt/Main Anfang Juni allerdings wesentlich härter als momentan gegen die Protestler in Kiew.
Wäre nach dem Ende der Passagen-Gespräche einer der zahlreichen Zuhörer aus dem linken Milieu auf den Gedanken gekommen, Badiou in die Praxis umzusetzen und die SPD-Bundeszentrale gegenüber dem Hebbel-Theater zu blockieren, hätte man die Demokratie in ihrer repressiven Form sofort beobachten können. Das wäre ein passendes Ende einer Diskussion mit „dem gefährlichsten Philosophen Mitteleuropas“ gewesen.
„Es ist nicht so, dass du die Probleme löst, indem du auf einen Kran steigst. Du musst wissen, worauf du hinaus willst…“ (Massimo, Arbeiter bei INNSE Mailand)
„Hände weg von der INNSE“, diese Parole findet sich noch an vielen Hauswänden in norditalienischen Städten. Sie zeugt von einem der wenigen erfolgreichen Arbeitskämpfe gegen die Schließung einer Fabrik in den letzten Jahren. Dabei sah es auch in der Mailänder Metallfabrik INNSE lange Zeit so aus, als hätten die Beschäftigten keine Chance: Ende Mai 2008 erhalten sie die Nachricht, dass der neue Besitzer die Fabrik schließen wolle. Noch am gleichen Tag beschließen sie, die Fabrik zu besetzen. In Eigenregie versuchen sie, während der nächsten Monate weiterzuproduzieren. Nach mehrmaligen Räumungen gehen sie schließlich zu einem „Streik“ vor den Werkstoren über. Es nützt alles nichts. Am Sonntag, den 2. August 2009, beginnen unter Polizeischutz die Demontagearbeiten in der INNSE. Mehrere hundert Ordnungskräfte umzingeln die Fabrik und sollen für den sicheren Abtransport des Materials sorgen. Doch zwei Tage später gelingt es vier Arbeitern, die Polizeisperren zu überlisten und in der Werkshalle auf einen Kran zu klettern. Damit wendet sich das Blatt, und der Arbeitskampf tritt in eine neue, spektakuläre Phase mit hoher Medienresonanz.
Die Demontagearbeiten werden gestoppt, und es beginnen lange, zähe Verhandlungen zwischen den Arbeitern und der Gewerkschaft FIOM auf der einen Seite, dem Fabrikbesitzer Genta, der Immobilienfirma, der das Gelände gehört, dem Kaufinteressenten Camozzi, der den Betrieb samt Grundstück übernehmen will, sowie dem Präfekten von Mailand auf der andern Seite. Nach acht Tagen und sieben Nächten steigen Enzo, Fabio, Luigi und Massimo unter dem Beifall der Beschäftigten vom Kran herunter. Am Ende des Sommers werden die Werktore wieder geöffnet, und alle Arbeiter kehren in die Fabrik zurück.
In dem Dokumentarfilm „Dell‘ Arte della Guerra“ (Von der Kunst des Krieges), der nun auch deutsch untertitelt zu sehen ist, stellen die vier Arbeiter ihre nüchterne und höchst aktuelle Analyse dieser neuen Form von Arbeitskampf vor, die der „Politik des kleineren Übels“ eine Absage erteilt und sich mit aller Kraft und Entschlossenheit den Angriffen der herrschenden Klasse entgegenstellt.
Der Film hat die Form eines Essays über Politik und Guerillakrieg. In vier Akten und fast wie in einem Handbuch werden genaue und für jede Kampfform gültige Regeln entwickelt.
Dabei werden auch einige Grundsätze formuliert, die bei Vorführungen in Deutschland sicher für heftige Diskussionen sorgen werden. So erklären die Arbeiter offen, dass sie die gegenwärtigen sozialen Bewegungen für erfolglos halten. Dagegen setzen sie auf klare Strukturen und strategische Orientierungen. Bevor man einen solchen Kampf beginne, müsse man ein „Heer mit einem Mindestmaß an Disziplin aufbauen“, so einer der Kranbesetzer. Die militärischen Metaphern sind bewusst gewählt und wiederholen sich häufiger. Für die Arbeiter ist klar, dass sie sich in einem Klassenkrieg mit den Kapitalisten befinden und die Besetzung der Kräne als eine Etappe in diesem Kampf begreifen. Für die Gewerkschaft FIOM , die sie während der Auseinandersetzung unterstützt hat, haben sie nur Spott übrig. „Wenn es nach ihnen ginge, wäre die Fabrik längst geschlossen, denn die wollen immer nur verhandeln“, meint einer der Aktivisten und stellt die berechtigte Frage: „Wenn die eine Seite die Fabrik schließen will, die andere Seite das aber ablehnt, was gibt es dann zu verhandeln?“ Die Arbeiter stellen auch klar, dass es ihnen mit ihrer Aktion nicht darum gegangen sei, um Arbeitsplätze zu kämpfen, sondern der Macht des Kapitals Grenzen aufzuzeigen. Das zumindest ist ihnen gelungen. Nach der Besetzung fand sich ein neuer Investor, und die Verhandlungen über den Weiterbetrieb begannen. Man sieht in dem Film mehrere Kundgebungen, bei denen die Parole ausgegeben wurde, dem neuen Investor keine zu hohen Forderungen zu stellen, damit er nicht wieder abspringt. Am Ende kommt es zu einer Einigung, nach der die Beschäftigten unter den gleichen Arbeitsbedingungen wie vorher weiterarbeiten können.
Der Film endet mit dem Satz, dass INNSE heute wieder ein rentabler Betrieb ist. Dieses Ende enttäuscht etwas. Denn das war sicher nicht das primäre Ziel des Kampfes der vier Kranbesetzer und ihrer Unterstützer, zumindest wenn man deren radikale Klassenkampfrhetorik zum Maßstab nimmt. Da wäre es doch interessant gewesen zu erfahren, wie die Arbeitsbedingungen unter dem neuen Investor sind und ob durch den Kampf ein Organisierungsprozess unter den Beschäftigten eingesetzt hat, der auch dem neuen Investor Grenzen setzt.
Dennoch ist es erfreulich, dass mit dem Film nun einer der erfolgreichsten Arbeitskämpfe der letzten Jahre dokumentiert ist und dass man etwas mehr über die Bedingungen dieses Erfolgs erfährt. Bisher gibt es keinen Verleih in Deutschland für den Film. Eindrücke vermitteln jedoch Ausschnitte, die unter Labour-TV zu sehen:
Was man als eine Posse aus der Ostberliner Provinz interpretieren könnte, ist in Wirklichkeit Futter für rechte Moslemhasser
Die Berliner Künstlerin Susanne Schüffel ist in den letzten Tagen gegen ihren Willen in islamkritischen Foren als Beispiel für eine Einschränkung der Kunstfreiheit im Interesse von Moslems angeführt worden. Unter den Titel „Fantasievolle & farbreiche Malerei und Zeichnungen“ sollte ein Teil ihrer Arbeiten in einer Volkshochschule ausgestellt werden.
Nach dem Onlinekatalog der Künstlerin zu urteilen, hätten die Arbeiten geboten, was der Titel verspricht: Gefällige Gebrauchskunst ohne kritische Implikationen. Was aber den Stellvertretenden Leiter der Volkshochschule veranlasst hat, Schüffel aufzufordern, einen Teil ihrer Akte nicht zu zeigen, und das damit zu begründen, dass sich Moslems beim Betrachten der Bilder unangenehm berührt zeigen könnten, muss ein Geheimnis bleiben. Sollte ein antirassistisches Motiv hinter der Entscheidung stehen, ist es gründlich misslungen.
Wer soll aufeinander zugehen?
In unmittelbarer Nähe der Volkshochschule ist in der Carola Neher Schule seit August eine Flüchtlingsunterkunft eingerichtet worden, gegen die eine rechtslastige Bürgerinitiative wochenlang massiv mobil gemacht hatte.
Ein Teil der Geflüchteten, die dort leben, besucht in der Volkshochschule Deutschkurse. Keiner von ihnen hat sich über die Ausstellung beschwert, die schließlich auch – außer der Künstlerin und den Verantwortlichen der Volkshochschule – noch niemand kannte. Die Vernissage sollte am letzten Wochenende stattfinden. Nachdem sie einen Teil der Arbeiten nicht ausstellen durfte, sagte Schüffel die gesamte Ausstellung ab und sprach zu Recht von Zensur.
Mittlerweile bemühen sich die Behörden nach Protesten um Schadensbegrenzung. Nach Informationen der Berliner Zeitung will man eine einvernehmliche Lösung mit der Künstlerin suchen.
Aber selbst jetzt werden von den Behörden noch die Moslems vorgeschoben, um vom eigenen Versagen abzulenken. So wird die Kulturstadträtin des Bezirks in der Berliner Zeitung mit den Worten zitiert:
„Dieser Schritt, der einerseits die Gefühle der muslimischen Frauen nicht verletzten wollte, hat nun zu Recht das Bild der künstlerischen Freiheit verletzt.“
Von beiden Seiten sei nun „ein Aufeinanderzugehen“ nötig. Unklar bleibt, wer da aufeinander zu gehen soll. Die immer wieder angeführten Moslems können damit nicht gemeint sein. Sie kennen Schüffels Kunst nicht und haben sich auch nicht darüber beschwert.
Unterschiedliche Motive für Kritik an Nacktmotiven
Der Gemeindevorsitzende der Sehitlik-Moschee in Neukölln, Ender Cetin, hat denn auch kritisiert, dass die Volkshochschule nicht einmal die Reaktionen der soviel zitierten Moslems abgewartet hat.
„Muslime werden in der Stadt ständig mit Nacktheit konfrontiert, etwa in der Werbung. Dem kann ich mich entziehen, wenn ich nicht hinschaue.“
Diese abgewogene Erklärung verhinderte nicht, dass auch die rechte Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf die Provinzposse sofort auf ihrer Seite verlinkte.
Dabei sind es nicht nur die hier vorgeschobenen Moslems, die sich vielleicht an den Bildern stören könnten. Auch konservative Christen oder Anhänger andere Religionen könnten sich daran stören. Auch in der feministischen Diskussion gab es zeitweise eine sehr rigide Kritik an nackten Frauendarstellungen. Doch heute wird dort sehr differenziert argumentiert. Der Unterschied zwischen sexistischen Frauendarstellungen und künstlerischen Akten wird durchaus erkannt.
Auch außerhalb Deutschlands sorgten künstlerische Darstellungen von nackten Frauen für Kontroversen. So wird im albanischen Nationalmuseum in Tirana zurzeit in einer Ausstellung die Kulturdebatte in der Zeit des Enver-Hodscha-Sozialismus dargestellt. Auch mehrere Aktzeichnungen sowie figürliche Darstellungen sind dort ausgestellt.
Auf einer Begleittafel wird darüber informiert, dass in den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts sämtliche künstlerische Darstellungen nackter Frauenkörper aus Museen und dem öffentlichen Stadtbild entfernt wurden. Es war die Zeit der albanischen Variante der Kulturrevolution, an der sich zahlreiche Frauen beteiligten, die von der kommunistischen Partei bei ihren Bemühungen unterstützt wurden, alte Familienwerte und Kulturbegriffe zu hinterfragen.
Die außergewöhnliche Filmtrilogie zeichnet die Geschichte des Widerstands griechischer Frauen nach.
Auf dem Globale-Filmfestival in Berlin konnten die Zuschauer erstmals in Deutschland die Filmtrilogie der Ende Juli verstorbenen Regisseurin Alida Dimitriou sehen – sie zog sie sofort in ihren Bann. Die Trilogie ist eine einzigartige Dokumentation griechischer Frauen aus dem linken Widerstand in Griechenland in den letzten 60 Jahren. Es ist das Lebensprojekt der 1933 geborenen Filmemacherin Alida Dimitriou, die über 50 Dokumentarfilme gedreht hat. Jahrzehntelang hat sie daran gearbeitet, 2011 hat sie sie schließlich vollendet. Die drei Filme lassen die Vergangenheit durch die Augen und Stimmen der an den Kämpfen beteiligten Frauen aufleben.
„Bilds in the Mire“ erzählt die Geschichte von 32 Frauen, die im Widerstand gegen die Nazibesatzung (1941–1944) aktiv waren und dabei verhaftet, gefoltert und vergewaltigt wurden. Nach der Befreiung von der NS-Besatzung ging ihre Verfolgung weiter. Schon Ende 1944 drängte die britische Armee den Einfluss der starken linken Bewegung in Griechenland zurück, offene Nazikollaborateure aus der griechischen Rechten wurden hingegen unterstützt. Diese Politik der Alliierten führte in den Jahren 1946–1949 zum Ausbruch des Bürgerkriegs. Alle, die auch nur im Verdacht standen, zur linken Bewegung zu gehören und gegen die NS-Besatzung Widerstand geleistet zu haben, wurden erneut verfolgt und terrorisiert. Die Täter waren fast ausnahmslos die gleichen wie unter der NS-Besatzung. Doch jetzt waren sie die Protegés der ehemaligen Alliierten der Antihitlerkoalition. Die widerständigen Frauen waren besonderem Terror ausgesetzt, weil sie gegen das reaktionäre Frauenbild der griechischen Rechten verstießen, wonach sich Frauen als Hüterinnen der Familie aus der Politik herauszuhalten hatten. Über die besondere sexuelle Gewalt, der die Frauen in dieser Zeit ausgesetzt waren, berichten die Zeitzeuginnen in „Amok the Rocks“. Der Titel erinnert an den großen Treck linker Aktivistinnen und Aktivisten, die versuchten, während des Bürgerkriegs aus den von den Rechten kontrollierten Städten in die Berge zu gelangen, wo die Linke ihre Hochburgen hatte. Die Frauen erzählen von den schier unbeschreiblichen Strapazen, denen sie bei winterlichen Temperaturen, bedrängt von der hochgerüsteten rechten Soldateska ausgesetzt waren. Nicht alle haben die Tortur überlebt, manche brachten sich um oder wurden verrückt. Die Überlebenden halten in ihren Erzählungen immer wieder inne, suchen nach Worten und wischen sich mit den Händen über das Gesicht, als wollten sie die Erinnerungen an diese Zeit verscheuchen. Der letzte Film, „Rain Girls“, behandelt die Zeit des Militärputsches von 1967 und die Jahre danach. Abermals greift die äußerste Rechte nach der Macht in Griechenland und wieder sind viele Nazikollaborateure aktiv dabei. Die in den ersten Stunden des Putsches inhaftierten Frauen kennen viele ihrer Peiniger noch aus den Folterkellern während der deutschen Besatzung und der dunklen Jahre des Bürgerkriegs. In mehreren Fällen wurde im Lauf der Jahrzehnte eine Familie über mehrere Generationen verfolgt. So sitzt die über 80-jährige Frau, die eine wichtige Rolle im Widerstand gegen die deutsche Besatzung gespielt hat, neben ihrer etwa 50-jährigen Tochter, die als studentische Aktivistin von der Militärjunta verfolgt wurde. «Der Tod war unser Begleiter», dies sagen Frauen aus allen drei Kampfphasen immer wieder. Dieser Film ist wichtig, weil er den widerständigen Frauen ein Gesicht und eine Stimme gibt. Aber er ist auch sehr aktuell in einer Zeit, in der in Griechenland wegen der Wirtschaftskrise erneut eine faschistische Bewegung im Aufschwung ist, die sich in die Tradition der Nazikollaborateure und Putschisten stellt. Es wäre zu wünschen, dass die Filme auch in Zukunft in Deutschland gezeigt werden, da die Bundesregierung sich weigert, die Schulden aus der Nazizeit an Griechenland zurückzuzahlen und dem Land stattdessen ein Sparprogramm aufdrückt, das große Teile der griechischen Bevölkerung verarmen lässt.
Filmtrilogie: Birds in the Mire (I), Among the Rocks (II), Rain Girls (III). Griechenland 2008–2011.
Regie: Alida Dimitriou. Griechisch mit engl. Untertiteln
Rom: Wie mit Baumaßnahmen ohne Genehmigung umgehen?
Von Rom sind den meisten nur die Tourismusattraktionen bekannt. Einen völlig anderen Blick auf die italienische Hauptstadt liefert die Ausstellung Self Made Urbanismus, die in der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst in Berlin-Kreuzberg zu sehen ist. Zahlreiche Videos, Hörspiele und Informationstafeln widmen sich den informellen Siedlungen, die auf etwa einen Drittel der Fläche Roms ohne staatliche Genehmigung und ohne Anbindung an die städtische Infrastruktur errichtet wurden.
In den nach 1970 informell errichteten Stadtteil Valle Borghesiana bildeten die Bewohner eine starke Selbstorganisation, um den Anschluss an das Wasser- und Stromnetz und das Recht auf ein menschenwürdiges Leben durchzusetzen. 1985 wurde eine Bauamnestie beschlossen, die ungenehmigte Bauten legalisierte.
Davon waren die Bewohner von Villa Borghesiana ebenso betroffen wie die nicht genehmigten Luxusvillen und – hotels der italienischen Oberschicht. Auch in der Berlusconi-Ära gab es solche Amnestien. Das macht auch deutlich, dass die Begeisterung für Baumaßnahmen ohne Genehmigung schnell eine neoliberale Schlagseite bekommen kann, wenn die Reichen jegliche Regelung umgehen können und ihre Domizile dort bauen, wo eigentlich ausgewiesene Umweltschutzgebiete sind. Die informellen Siedlungen der Armen befinden sich natürlich in der Regel in abgelegenen Territorien.
Selbstorganisation neoliberal gewendet
Die Bewohner von Valle Borghesiana haben sich durch ihre Selbstorganisierung wesentliche Mitbestimmungsrechte erkämpft. Allerdings wird auch erwähnt, dass eine Gesamtplanung für die Stadt fehlt. So bleiben die selbstorganisierten Stadtteilprojekte Inseln in Rom, wenn die Anbindung fehlt. Im Katalog schreibt Carlo Cellamare:
„Viele denken, dass Selbstorganisation eine Lösung für die Probleme der Stadtregierung und des Stadtgebiets darstellt. Wenn das wahr wäre, könnte es auf der anderen Seite eine Möglichkeit für die Mitwirkung der Bewohner bei der Mitwirkung der Gestaltung des Gemeinwesens sein, eine Öffnung hin zu Selbstbestimmung und Demokratisierung von Entscheidungsprozessen. Auf der anderen Seite entspringt Selbstorganisation häufig der Unfähigkeit der öffentlichen Verwaltung, Probleme anzugehen.“
Der Autor sieht auch Schnittstellen zwischen Selbstorganisierung und einem neoliberalen Regime: „Ist eine Gesellschaft neoliberal ausgerichtet, so neigen die ‚Städter‘ des Selbsthilfekontextes hingegen oft dazu, sich an der Eigentümerlogik bzw. privaten Logik zu orientieren und das private Interesse vor dem der Allgemeinheit zu verteidigen.“
Ein Beispiel für eine Besetzung, die sich gegen den Neoliberalismus richtet, ist das Teatro Valle im Zentrum Roms, das internationale Aufmerksamkeit nicht nur der Kunstwelt erhält.
Die Vertreibung der Roma aus der Innenstadt von Rom
Die migrantischen Besetzer der ehemaligen Teigwarenfabrik Pantanelli hatten nie die Chance, in solche neoliberale Praktiken einbezogen zu werden. Sie wurden nach 8 Monaten geräumt. Mehrere Installationen drehen sich um die Räumung von Romalager, die auf internationale Kritik gestoßen sind.
Das Romalager Casinolino wurde mit der Begründung geräumt, dass ein öffentlicher Park mit angelegt werden soll, die die dortigen archäologischen Funde einschließen sollte. Heute ist der Platz kahl und verödet. Die Roma wurden in völlig überwachte Lager außerhalb der Stadt gebracht. Dafür gibt es mittlerweile rund um das neue Lager ein Netzwerk von Sozialdiensten, die viel Geld verschlingen, von dem die Roma nicht profitieren.
Einen Blick auf Rom jenseits von Tourismusattraktionen liefert die von Jochen Becker kuratierte Ausstellung in der Galerie »Neue Gesellschaft für bildende Kunst« (ngbk) in Berlin-Kreuzberg. Mit zahlreichen Videos, Hörspielen und Informationstafeln widmet sie sich den informellen Siedlungen, die auf etwa einem Drittel der bebauten Fläche Roms ohne staatliche Genehmigung und ohne Anbindung an die städtische Infrastruktur errichtet wurden.
In dem nach 1970 informell errichteten Stadtteil Valle Borghesiana organisierten sich die Bewohner, um den Anschluss an das Wasser- und Stromnetz und das Recht auf ein menschenwürdiges Leben durchzusetzen. Auf den Ausstellungstafeln erfahren die Besucher, dass sich die Menschen Mitentscheidungsrechte erkämpft haben.
Ganz anders wurde mit den migrantischen Besetzern der ehemaligen Teigwarenfabrik Pantanella umgegangen, die nach acht Monaten geräumt wurde. Mehrere Installationen thematisieren den Umgang mit den Roma, die aus der römischen Innenstadt in schwer bewachte Lager am Stadtrand vertrieben werden. Besonders gelungen ist der Teil der Ausstellung, in dem aktuelle urbane Kämpfe mittels der italienischen Kunstgeschichte dargestellt werden.
So wird auch die Entwicklung der Stadtpolitik anhand von Filmbeispielen von Pier Paolo Pasolini gezeigt. Der Regisseur vergleicht Siedlungsstrukturen in Italien beispielsweise mit solchen im Jemen. In einer Filmcollage werden in der Ausstellung die von Erwerbslosen errichteten Dörfer in den römischen Sümpfen unter anderem Kolonialbauten in Lybien und Äthiopien gegenüber gestellt.
SPEAKERS‘ CORNER Am Rosa-Luxemburg-Platz hat der Künstler Thomas Kilpper ein Megafon aufgebaut. Passanten ergreifen das Wort
Auf der Wiese vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz sitzt am Samstagnachmittag eine Gruppe von Menschen und lauscht einem Redner. Er spricht durch ein trichterförmiges Megafon, das dortauf einem Holzpodest aufgebaut ist und mit seinen bunten Farben sofort auffällt. Immer wieder steigen Neugierige auf das Podest und sprechen in den Trichter. „Willkommen in Berlin“, sagt eine Frau erst so leise, dass es kaum zu verstehen ist. Unterstützt von ihren FreundInnen wiederholt sie den Satz zweimal. Jetzt ist er auf dem gesamten Platz zu hören. Menschen bleiben stehen und zücken ihre Handykamera, andere wollen selber in den großen Trichter sprechen.
Das ist ganz im Sinne des Künstlers Thomas Kilpper, der in der vergangenen Woche mit seinem MEGAphone-Projekt einen Speakers‘ Corner auf dem Rosa-Luxemburg-Platz eingerichtet hat. Kilpper, der in der kleinen Lichtenberger Galerie „after the butcher“ seit Jahren gesellschaftskritische Kunst ausstellt, hat den Ort bewusst gewählt. Der Künstler erinnert daran, dass der heutige Rosa-Luxemburg-Platz in der Weimarer Republik als Sitz der KPD-Zentrale Ausgangspunkt großer linker Protestdemonstrationen war. Im Jahr 1913 richtete sich die Volksbühne unter dem Motto: „Die Kunst dem Volke“ mit ihrem Programm an all jene Menschen, die bisher aus dem Theater ausgeschlossen blieben.
Unverständliche Laute
100 Jahre später will Kilpper mit seinem Kunstprojekt die aktuellen Machtverhältnisse hinterfragen. „Wer kommt in unserer Gesellschaft zu Wort? Wer verschafft sich Gehör? Wer ergreift die Initiative im Sinne gesellschaftlicher Veränderung?“, erklärt er sein Anliegen.
Nicht nur Passanten nutzen den Trichter. An manchen Tagen tragen auch KünstlerInnen Texte vor. Am vergangenen Mittwoch las etwa Katja von Helldorff Ausschnitte aus wenig bekannten Briefen Rosa Luxemburgs vor, in denen sie sich an dem kleinen Ausschnitt Natur vor den vergitterten Fenstern ihrer Gefängniszelle freut.
An diesem Samstag lässt sich Achim Lengerer auf dem Podest nieder. Er liest aus historischen Dokumenten. Die zeigen, wie die ostdeutsche Stasi und westdeutsche Apo-Studierende aus unterschiedlichen Gründen 1970 die Aufführung des von dem Dramatiker Peter Weiss geschriebenen Stücks „Trotzki im Exil“ verhindern wollten.
Solche anspruchsvollen Texte sind auf dem Platz aber die Ausnahme. Die Stimme des Volkes klingt ansonsten auch mal schlicht: Die Mehrheit der Menschen schickt Grüße, Hallo-Rufe und manchmal auch einfach nur unverständliche Laute über das Megafon. Das ist noch bis Ende August möglich, dann wird der Trichter voraussichtlich wieder abgebaut.
taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F08%2F19%2Fa0112&cHash=3f7699273f12504c7daa038630fdda0b
Moussa Tourés Film »Die Piroge« erzählt vom Hoffen und vom Schrecken auf einem afrikanischen Flüchtlingsboot
»Bring mir ein T-Shirt von einem britischen Fußballklub mit«, bittet der kleine Junge im Senegal seinen Vater, der sich wie viele Menschen in Afrika auf der Suche nach einem besseren Leben zur Flucht nach Europa entschlossen hat. Einige Wochen später wird er wieder in Dakar sein. Dazwischen liegen Tage des Hoffens und des Schreckens, die in dem preisgekrönten Film »Die Piroge« des senegalesischen Autors Moussa Touré auf faszinierende Weise dargestellt werden.
Zunächst ist die Stimmung auf dem kleinen Boot noch gelöst und die Menschen sind voller Hoffnung auf ein neues Leben in Europa. Ein junger Mann träumt von einer Karriere als Fußballspieler, ein anderer will als Musiker irgendwo in Europa sein Glück versuchen. Andere haben bescheidenere Ziele. Sie wollen auf den andalusischen Feldern arbeiten und ihren Familien und Angehörigen in der Heimat das Geld zum Leben schicken.
Auch die kleinen und größeren Streitereien zwischen den Passagieren an Bord werden gezeigt. So stören die ständigen Gebete einen anderen beim Schlafen. Das Huhn eines älteren Mannes sorgt ebenfalls für Zank. Als eine blinde Passagierin an Bord entdeckt wird, die die Transfergebühren nicht bezahlt hat, droht die Stimmung zu kippen. Doch die Wut des Kapitäns legt sich, als er die Kochkünste der Frau schätzten lernt.
Die hoffnungsvolle Stimmung an Bord hält nicht lange an. Ein schwerer Sturm zieht auf und die hohen Wellen machen das Boot manövrierunfähig. Nach dem Ende der Schreckensnacht ist ein Drittel der Passagiere über Bord gespült worden. Unter den Toten ist auch der einarmige Mann, der sich am Beginn der Reise geweigert hatte, mit den anderen Passagieren zusammen seine Dokumente auf der Überfahrt zu vernichten, um eine Identifikation zu erschweren. Er wollte wenigstens noch die Hoffnung behalten, im Todesfall in der Heimat beerdigt zu werden. Dieser letzte Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen.
Die meisten Männer, die den Sturm überlebt haben, sterben nun einen langsamen, qualvollen Tod. Viele verdursten auf dem manövrierunfähigen Boot mitten im salzigen Ozean. Ihr Sterben wird im Film in langen Einstellungen gezeigt. Als eine spanische Küstenwache die Piroge entdeckt, sind nur noch Wenige am Leben. Nachdem sie sich einige Tage von dem Horror erholen konnten, werden sie umgehend mit dem Flugzeug in ihre Heimat abgeschoben. Vorher haben sie ein kleines Taschengeld bekommen. Damit kann der Vater seinem Sohn doch noch seine Bitte nach einem Fußball-T-Shirt erfüllen. Allerdings kauft er es nicht in Europa, sondern am Flughafen der senegalesischen Hauptstadt Dakar.
»Die Geschichte, die Moussa Touré erzählt, ist beides: schmerzhaft individuell – über die einzelnen Männer auf dem Boot – und gleichzeitig unermesslich, da die Erfahrung, die sie schildert, von Millionen von Menschen auf der Welt geteilt wird«, schrieb ein Kommentator der »New York Times«, als der Film in den USA lief. Am Sonntag hat »Die Piroge« (»La Pirogue«) im Kino in den Hackeschen Höfen in Anwesenheit des Regisseurs seine hiesige Premiere. Im Anschluss wird Moussa Touré für ein Publikumsgespräch zur Verfügung stehen.
Previews am 2.6., 17 Uhr und am 3.6., 20 Uhr im Hackesche Höfe Kino, Rosenthaler Str. 40/41, Mitte. Ab 6.6. läuft der Film im regulären Programm dieses Kinos.
Die »Bild«-Zeitung will im Vorfeld der Bundestagswahlen am 21. September unaufgefordert eine Sonderausgabe an mehr als 40 Millionen Menschen in Deutschland verschicken. Damit wolle man der Wahlmüdigkeit entgegentreten, begründet Springer die Werbeaktion. Bereits im vergangenen Jahr hat eine Aktion in ähnlicher Größenordnung für zahlreiche Proteste gesorgt. Jetzt haben sich die Kritiker erneut zu Wort gemeldet. Unter den diesjährigen Protestierern ist auch die Online-Druckerei INnUP. Sie verschickt auf Wunsch zehn kleine und drei große Aufkleber mit dem Motto »Bitte keine ›Bild‹ einwerfen« – ebenfalls kostenlos. Damit will die Online-Druckerei nicht nur »eine demonstrative Ablehnung der ›Bild‹-Zeitung auf dem eigenen Postkasten, sondern auch eine persönliche Stellungnahme für eine freie und anspruchsvolle Berichterstattung, fernab dem Boulevard-Journalismus« ermöglichen, wie es auf der Kampagnenseite heißt.
KUNST Die Berliner Fotografin Laura Melin setzt sich in einer Ausstellung mit dem kurzen Hype des Kunststandorts Heidestraße zwischen Hamburger Bahnhof und Hauptbahnhof auseinander
Noch vor fünf Jahren galt die Heidestraße in der Kunstszene als unverbrauchter Geheimtipp. Im Niemandsland zwischen Hauptbahnhof und dem Kunststandort Hamburger Bahnhof standen damals vor allem Autoreparaturwerkstätten und Lagerhallen – und der Club Tape.
Für kurze Zeit wurde das Areal in der Heidestraße 46-52 ein Magnet für die Kunstszene und ihre Galerien, der sich aber beim Publikum nicht durchsetzte. Diesem Ausbruch der Szene aus den ausgetretenen Galeriepfaden hat die Fotografin Lara Melin, die sich in ihren Arbeiten kritisch mit Stadtentwicklung auseinandersetzt, ihre Ausstellung „Ode an einen Schandfleck“ gewidmet. Die Ausstellung ist auf ihrer Webseite und noch bis Donnerstag im Berliner Salon für Fotokunst zu sehen.
Neben den Fotos hat Melin Zitate aus Presseartikeln, Erklärungen von PolitikerInnen und Statements von GaleristInnen platziert, die den kurzen Hype des Kunststandorts Heidestraße und das schnelle Ende mancher hochfliegenden Pläne dokumentieren. Noch im Herbst 2006 schwärmte Anne Haun Elfremides auf Artnet vom „zukünftigen Galeriezentrum wie Phönix aus dem Märkischen Sand“.
Sieben Jahre später überwiegt die Tristesse: „Es regnet, die Gegend ist ohnehin schrecklich trostlos“, schreibt Gabriele Walde in der Morgenpost im November 2012. Da waren schon mehrere der angesagten Galerien wieder weggezogen. Die Zeiten der Heidestraße seien „vorbei“, resümiert der Designer Werner Aisslinger im Februar 2013 schließlich.
Während die Kunst verschwindet, sorgen nun die seit Jahren dort ansässigen Handwerksbetriebe und Logistikfirmen, aber auch das neu hinzugezogene Modelabel Darkland für Leben. Diesen Firmen widmet Melin in ihren Fotoarbeiten viel Aufmerksamkeit. Wenn es nach dem Masterplan des Senats geht, sollen auch sie bald vom Heideareal verschwinden, nur die alten Fabrikgebäude sollen erhalten bleiben.
Lara Melin versteht ihre Arbeit auch als stadtpolitische Intervention, wenn sie den mit der städtebaulichen Aufwertung einhergehenden Verlust der Nischen bedauert. „Wo in den neu gebauten Quartieren wird in Zukunft noch Platz dafür sein“, lautet eine der Fragen, die die BesucherInnen aus der Ausstellung mitnehmen.
www.lara-melin.de
Lara Melin: »Heidestraße 46-52 – Ode an einen Schandfleck«
bis 25. Mai 2013
Berliner Salon für Fotokunst, Kulturhaus Schöneberg
Kyffhäuserstraße 23, 10781 Berlin
Mi 14 – 19 Uhr, Do 12 – 17 Uhr
Sie hat keinen Internetauftritt und keine Hochglanzfotos, manchmal sind die Seiten falsch zusammengeheftet – bei der »Interim« zählt eben noch Handarbeit. Und der Name ist Programm: Seit einem Vierteljahrhundert ist die Zeitschrift für die autonome Szene eine Zwischenlösung. Dabei ist es aber bis heute geblieben. Die Hoffnung der Gründer, sie durch eine bundesweite autonome Publikation zu ersetzen, erfüllte sich nicht.
Die erste Ausgabe erschien am 1. Mai 1988. »Ende der 80er Jahre standen die Menschen jeden Donnerstagabend Schlange und warteten auf die Auslieferung der neue Interim«, erinnert sich Hans Georg Lindenau, der den Laden für Revolutionsbedarf M99 in Berlin-Kreuzberg betreibt. Obwohl nach 25 Jahren nicht wenige Autonome der späten 80er Jahre den Marsch durch die Institutionen erfolgreich zurückgelegt haben, findet die »Interim« immer wieder neue Leser – wenn auch mit veränderten Erwartungen. Damals war sie wichtige Informationsquelle mit aktuellen Politterminen und den neuesten Diskussionspapieren. Heute finden sich Informationen wesentlich schneller im Internet, und in der »Interim« werden vor allem Schreiben der radikalen Linken abgedruckt, die ihre politischen Aktionen am Rande oder jenseits der Legalität vorstellen und begründen. So finden sich in der aktuellen Ausgabe Erklärungen zu antirassistischen Farbanschlägen ebenso wie der Abdruck eines Zeitungsartikels zur Farbbeutelattacke auf die Hamburger Villa des Schauspielers Til Schweiger, in dem dessen Engagement für den NATO-Einsatz in Afghanistan als Grund für den Anschlag genannt wird. Auch Aktionen gegen die Bekleidungsfirma KiK, der die Verantwortung für besonders ausbeuterische Arbeitsbedingungen in asiatischen Fabriken vorgeworfen wird, werden in der aktuellen Interim bekannt gemacht.
Das zieht nicht nur Leser aus der radikalen Linken an. Im Verfassungsschutzbericht hat die Interim alljährlich eine feste Rubrik in dem Bereich der »gewaltbereiten Linksextremisten«. Doch die Dienste blieben nicht in einer Beobachterposition. So stellte sich im Gerichtsverfahren gegen angebliche Mitglieder der Militanten Gruppe (MG) heraus, dass sich 2005 und 2006 BKA-Beamte unter dem Pseudonym »Die zwei aus der Muppetshow« an der Militanzdebatte in der Interim beteiligt hatten. Leser der Zeitschrift sollten auf die Website des BKA geführt werden, um Erkenntnisse über die Militante Gruppe zu gewinnen. Dort wurden 417 IP-Adressen der Besucher gespeichert und daraus 120 Nutzerdaten ermittelt, die bis 2009 zu keinen relevanten Ermittlungsergebnissen führten.
Für junge und alte Interim-Leser sind solche Vorkommnisse ein Grund mehr, nicht auf das Internet zu vertrauen. Daher hat die Zeitschrift auch nach 25 Jahren noch Leser, die die Publikation beim Szeneladen ihres Vertrauens abholen. Ob die Zwischenlösung auch weitere 25 Jahre anhält, wird auch von der Spendenbereitschaft der Leser abhängen. Vor allem die bundesweite Verschickung könne künftig nur aufrecht erhalten werden, wenn mehr Spenden fließen, heißt es in einem mit »letzte Mahnung« überschriebenen Aufruf in der aktuellen Ausgabe.
Die Ausstellung „The Whole World“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt hinterlässt viele Fragen
Das zentrale Objekt liegt angekettet auf einem kleinen Tischchen aus. Es handelt sich um einen engbedruckten, schlecht lesbaren Katalog mit vielen kurzen Artikeln, Fotos und allerlei undefinierbaren Zeichen, die wohl zur besseren Lesbarkeit eingebaut wurden. Dieser Katalog, der an ein frühes Punkfunzine erinnert, wurde zwischen 1968 und 1972 jährlich später unregelmäßig von Stewart Brand unter dem Titel The whole World-Catalog.
Dieser Katalog sollte die sich Ende der 60er Jahren in den USA entwickelten Landkommunen über Produkte abseits des Mainstreams der Konsumgesellschaft informieren. Bald entwickelte er sich zu einem Almanach der Gegenkultur. In diesem Katalog gab es die ersten Hinweise auf alternative Energieerzeugung ebenso wie auf Synthesizer. Steve Jobs bezeichnete den „Catalog“ später als die erste Suchmaschine im Vorinternetzeitalter. Jetzt dient dieser Katalog als Namens- und Stichwortgeber für eine von Diederich Diederichsen und Anselm Franke kuratierte Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt.
Wer die Ausstellung gründlich erkunden will, muss viel Zeit mit bringen. Denn die Kuratoren haben in der großen Ausstellungshalle eine Fülle von Dokumenten ausgestellt, die die US-Gegenkultur der 60er Jahre und der dort integrierten Kommunebewegung noch einmal lebendig machen. Kaum noch bekannte Bücher sind dort ebenso aufgelistet, wie Musikstücke legendärer Bands dieser Gegenkultur, die auch heute noch den Spirit jener Jahre vermitteln. Hier sei nur exemplarisch an Crown of Creation von Jefferson Airplane erinnert.
Wie in dieser Zeit kulturelle gesellschaftliche und politische Emanzipation für einen kurzen geschichtlichen Moment zusammenfielen, wird auch in vielen der ausgestellten Exponate deutlich. So werden Ausschnitte des Filmes „The whole World watching“ von Raimund Pettybon gezeigt, der sich auf satirische Weise mit der linken Bewegung der Weathermen beschäftigte, die in den späten 60er Jahre den Krieg aus Vietnam in die USA zurückbringen wollten und den Aufbau einer Stadtguerilla propagierten. Schon die kurzen Ausschnitte machen deutlich, dass ein solcher Film Welten von den filmischen Erzeugnissen entfernt ist, die in den letzten Jahrzehnten zum RAF-Komplex in der BRD entstanden sind. Als eine Fundgrube einer weithin vergessenen Gegenkultur mit dem „The World Catalog“ als Guide wäre diese Ausstellung schon einzigartig und empfehlenswert.
Große und kleine Erzählungen?
Doch die Kuratoren lassen es damit nicht bewenden, sondern verbreiten um die Exposition noch mehrere große und kleine Erzählungen. Da steht an erster Linie die Erzählung vom blauen Planeten Erde. Aus dem Weltraum aufgenommen bewirkte er angeblich einen Paradigmenwechsel in großen Teilen der Wissenschaften und soll das Bild vom Atompilz der Bomben, die auf Hiroshima und Nagasaki fielen, verdrängt haben. So richtig es ist, an die heute weitgehend vergessene Bedeutung der Weltraumprogramme der NASA zu erinnern, so fraglich ist die These vom grundlegenden Paradigmenwechsel. Schließlich wurde das NASA-Weltraumprogramm schnell reduziert und die Mondlandungen bald eingestellt.
Das Bild vom Atompilz aber war auch noch die gesamten 80er Jahre über eine zentrale Symbolik der Gegen- und zunehmend auch der Mainstreamkultur. Zudem waren die Bilder von mit Napalm verbrannten Kindern in Vietnam und erschossenen Studenten an der Universität von Kent für große Teile der damaligen Gegenkultur sicher prägender als das offizielle NASA-Programm. Aber die Kuratoren wollen mit ihrer These schließlich einen Link herstellen zwischen diesen Inseln der US-Gegenkultur in den späten 60er Jahren und den sich entwickelnden Internetgemeinden bis zum Neoliberalismus unserer Tage.
In der Biographie des The Whole World-Catalog-Erfinders Stewart Brand finden die Kuraten Anhaltspunkte für ihre These. Er arbeitete für die NASA ebenso wie später für Internetkonzerne. Nur war er eben nie Teil der Gegenkultur und hat es auch nie behauptet. Er hat mit seinem Katalog diese Gegenkultur aber passgenau als Zielgruppe für Produkte ausgemacht, die damals noch keine große Käuferschicht in den USA hatten. Biographien wie die von Stewart Brand waren nicht selten, wie sich in der Ausstellung zeigte. Es gab auch Personen, die Ende der 60er Jahre tatsächlich Teil dieser Gegenkultur waren und dann zu Pionieren der sich entwickelten Internetbranche geworden sind.
Verschwörungstheoretische Anklänge
Im von Michael Rothschild verfassten Buch „Bionomics: The Inevitability of Capitalism“ werden Schlüsselwörter gefunden, die für die Durchsetzung des wirtschaftsliberalen Denkens zentral waren. Nun ist die These von der Geburt des neoliberalen Denkens in den Zentren der Gegenkultur nicht neu und weist auf wichtige Verbindungen hin.
Doch wie schnell solche Verbindungen in Verschwörungstheorien münden können, wird an der Ausstellung am Beispiel der Installation Hexen 2.0 von Suzanne Treister gut deutlich. Auf eine ihrer Zeichnungen wird eine gerade Linie von Kybernetikern organisierten Macy-Konferenzen bis zum Neototalitarismus gezogen. So bekommen diese Treffen, die zwischen 1946 und 1953 stattfanden, eine Bedeutung, die heute manche den Bilderbergkonferenzen geben wollen. Die Ausstellung „The whole World“ macht noch einmal deutlich, wie nötig der Gebrauch des eigenen Verstandes ist, um in der Fülle des ausgestellten Materials auch krude Verschwörungstheorien und diverse esoterische Einschläge erkennen zu können.
Die Ausstellung „The Whole World“ ist bis um 1. Juli im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen. Am 21. und 22. Juni findet ein Symposium zur Ausstellung statt.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/154245
Peter Nowak