Arm, aber durchleuchtet

Sozialhilfeempfänger im Schweizer Kanton Bern müssen einer Offenlegung ihrer persönlichen Verhältnisse zustimmen.

Die Schweiz ist berühmt für ihr Bankgeheimnis, und viele Schweizer wollen auch, dass das so bleibt. Für alle Bürger gilt es jedoch nicht. Das stellte kürzlich das Schweizer Bundesgericht in einem Urteil klar, als es die Verfassungsmäßigkeit des zu Beginn dieses Jahres in Kraft getretenen Sozialhilfegesetzes des Kantons Bern überprüfte. Geklagt hatten zahlreiche Organisationen, darunter die Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (DJB), die Partei der Arbeit, die Alternative Linke und das Komitee der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen Kabba.

Ihrer Ansicht nach verstößt das Gesetz nicht nur gegen die Verfassungsgrundsätze des Datenschutzes, sondern verletzt außerdem das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Hilfe in Notlagen. Ihr Hauptkritikpunkt ist der Zwang zur Datenabgabe, die im Berner Sozialhilfegesetz festgeschrieben ist. So müssen Bewerber um Sozialhilfe bereits beim Einreichen ihres Antrags eine Vollmacht ausstellen, die den Sozialbehörden Einblick in sensible persönliche Informationen wie Krankenakten oder Bankdaten ermöglichen soll.

Kritiker sprechen von einem Zwang zur Denunziation und von »Spitzeldiensten gegen Hilfsbedürftige«. Schließlich werde nicht nur der Informationsaustausch zwischen Behörden erleichtert. Das Gesetz verpflichtet auch Vermieter, Firmen, Familienangehörige oder WG-Mitbewohner »zur Erteilung mündlicher und schriftlicher Auskünfte, die für den Vollzug erforderlich sind«. Die Behörden können solche Informationen ohne Zustimmung und Wissen der betroffenen Person einholen.

»Die hysterisch geführte Sozialhilfemissbrauchsdebatte führt im Kanton Bern zur systematischen Entrechtung Hilfsbedürftiger«, schreibt die Schweizer Wochenzeitung. Doch die Mehrheit der Richter beim Schweizer Bundesgericht erklärte den Passus für verfassungsgemäß. In der Anfang Oktober veröffentlichten schriftlichen Urteilsbegründung wird allerdings festgestellt, dass die Vollmacht nur als letztes Mittel zur Anwendung kommen solle. Überdies dürfe bei einer Weigerung, sie zu unterzeichnen, die Sozialhilfe nicht unter das Existenzminimum gekürzt werden. Für den Gerichtspräsidenten Rudolf Ursprung sind die Zweifel daran, dass die buchstabengetreue Lesart des Gesetzes verfassungskonform ist, nicht beseitigt. Die Sozialdienste hätten aber kein Interesse an einer verfassungswidrigen Auslegung, begründete das Mitglied der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP) seine Zustimmung zum Gesetz.

Die SVP sorgt mit Kampagnen gegen Migranten und Muslime, aber auch gegen Sozialhilfeempfänger immer wieder für Schlagzeilen. Die Kläger äußerten sich trotz ihrer Niederlage in einer Erklärung zufrieden, weil das Gericht erkannt habe, dass die Vollmacht aus politischen Gründen in das Gesetz geschrieben worden sei. Außerdem hoffen sie, dass mit dem Urteil einer extensiven Auslegung der Vollmacht Grenzen gesetzt worden sind.

Besonders zufrieden zeigt sich allerdings neben der SVP die wirtschaftsliberale FDP. Beide Parteien haben in Bern die Regelung gegen den Widerstand von Sozialdemokraten und Grünen im Parlament durchgesetzt. Nachdem die Verschärfung im Kanton Bern vor Gericht Bestand hatte, gibt es auch in anderen Kantonen Überlegungen, ähnliche Regelungen einzuführen. Die von manchen Demokratietheoretikern auch hierzulande gelobten Volksabstimmungen sind kaum ein Hindernis, weil Initiativen, die die Interessen von Erwerbslosen und Sozialhilfeempfängern stärken wollen, dabei in der Regel keine Mehrheit bekommen.

Diese Erfahrung mussten auch die Gegner des Berner Sozialhilfegesetzes machen. Unter dem Motto »Datenschutz für alle« hatten verschiedene soziale Initiativen und Erwerbslosengruppen im vorigen Jahr Unterschriften für ein Referendum gesammelt. Dies wurde abgebrochen, weil nur knapp die Hälfte der erforderlichen Unterschriften zusammengekommen war. Erst dann versuchte man, den Schnüffelparagraphen auf juristischem Weg zu stoppen.
http://jungle-world.com/artikel/2012/41/46380.html
Peter Nowak

Kanton Bern darf weiter schnüffeln

Auskunftspflichten in Sozialhilfegesetz bestätigt

Die Schweiz gilt als Eldorado für Millionäre, die vehement auf ihr Bankgeheimnis bestehen. Für Sozialhilfebezieher gelten solche Privilegien nicht. Dass stellte kürzlich das Bundesgericht in einem Urteil klar, in dem es die Verfassungsmäßigkeit des seit Beginn dieses Jahres in Kraft befindliche Sozialhilfegesetzes des Kantons Bern überprüfen sollte. Geklagt hatten die Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (DJB) und das Komitee der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen Kabba. Ihr Hauptstreitpunkt in war der Zwang zur Datenabgabe, die in dem Berner Sozialhilfegesetz festgeschrieben ist. So müssen: Bewerber um Sozialhilfe bereits Einreichen ihres Antrags eine Vollmacht ausstellen, welche den Sozialbehörden Einblick in sensible persönliche Informationen wie Krankenakten oder Bankdaten ermöglichen soll.Zudem sollen Vermieter, Firmen, Familienangehörige oder WG-Mitbewohner bei Nachfragen der Sozialbehörden zur Datenabgabe verpflichtet werden. Kritiker sprechen von einem Zwang zur Denunziation.
Eine Mehrheit der Richter erklärte den Passus für verfassungsgemäß, eine Minderheit betonte in einem Sondervotum, dass in dem Sozialhilfegesetz festgelegt wird, dass die Vollmacht nur als letztes Mittel zur Anwendung kommen solle.
Für den Gerichtspräsidenten Rudolf Ursprung sind die er Zweifel, ob die buchstabengetreue Lesart des Gesetzes verfassungskonform ist, nicht beseitigt Die Sozialdienste hätten aber kein Interesse an einer verfassungswidrigen Auslegung, begründete das Mitglied der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP),warum er das Gesetz trotz Zweifel für verfassungskonform hält
.. Die SVP war in den letzten Jahren unter ihrem Vorsitzenden, dem Chemiefabrikanten Blocher, weit nach rechts gerückt und sorgt mit Kampagnen gegen Migranten, Moslems aber auch gegen Sozialhilfeempfänger für Schlagzeilen. Die Kläger zeigten sich trotz ihrer Niederlage in einer Erklärung zufrieden, dass das Gericht erkannt habe, dass die Vollmacht aus rein politischen Gründen in das Gesetz geschrieben wurde. Außerdem hoffen sie, dass mit dem Urteil einer extensiven Auslegung der Vollmacht Grenzen gesetzt sind. Besonders zufrieden zeigen sich allerdings neben der SVP die wirtschaftsliberale FDP. Nachdem die Verschärfung im Kanton Bern vor Gericht bestand hatte, gibt es auch in anderen Kantonen Überlegungen ähnliche Regelungen einzuführen. Die von manchen Demokratietheoretiker hochgelobten Volksabstimmungen sind dagegen kaum ein Hindernis, weil Interessen von Erwerbslosen und Sozialhilfeempfängern dort in der Regel keine Mehrheit bekommen.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/238491.
kanton-bern-darf-weiter-schnueffeln.html

Peter Nowak

Kein Datenschutz bei Sozialhilfe?

Kampagne macht gegen Gesetzvorhaben im Schweizer Kanton Bern mobil / Rolf Zbinden engagiert sich gegen die Gesetzespläne. Er ist Mitglied der Partei der Arbeit (PdA) im Berner Stadtrat

ND: Sie sind in der Berner Kampagne für ein Referendum gegen die Revision des Sozialhilfegesetzes aktiv. Worum genau geht es dabei?
Zbinden: Im Kanton Bern wurde Ende Januar ein Sozialhilfegesetz verabschiedet, das eine Klausel enthält, nach der Sozialhilfeempfänger eine Generalvollmacht für die Offenlegung all ihrer Daten unterschreiben müssen, wenn sie Leistungen erhalten wollen. Das betrifft nicht nur ihre Bankdaten – auch Ärzte und Vermieter können nach dieser Bestimmung befragt werden.

Wir sehen darin ganz eindeutig eine Diskriminierung von Sozialhilfeempfängern. Die Stigmatisierung beginnt schon, wenn durch die Befragung bekannt wird, dass jemand Sozialhilfe beantragt hat. Von den 160 Abgeordneten im Berner Kantonsparlament haben nur vier Grüne die Vorlage abgelehnt.

 Wie begründen die Befürworter des Gesetzes ihre Zustimmung?
Es gibt in der Schweiz seit Jahren eine Polemik gegen Sozialhilfeempfänger. Da werden publizistisch einige wenige Fälle aufgegriffen, wo Sozialhilfeempfänger einen BMW gefahren sind. Mittlerweile gibt es in Bern eine Regelung, dass jedem Sozialhilfeempfänger ein Testarbeitsplatz in der City-Reinigung angeboten wird. Wer ihn ablehnt, bekommt keine Sozialhilfe. Zudem wurden zum 1. April dieses Jahres, als das neue Arbeitslosenversicherungsgesetz in Kraft getreten ist, zahlreiche Menschen aus der Arbeitslosenkasse in die Sozialhilfe gedrängt. Das ist der sozialpolitische Hintergrund für den Angriff auf den Datenschutz für diese Menschen.

 Wie unterstützen die anderen Parteien und die Gewerkschaften das Referendum?
Die Sozialdemokraten und die Grünen unterstützen das Referendum verbal, beteiligen sich aber kaum am Unterschriftensammeln. Bei den Sozialdemokraten liegt es auch daran, dass deren Abgeordnete das Gesetz mehrheitlich mitgetragen haben. Die Gewerkschaften mobilisieren zeitgleich für eine Initiative zur Einführung eines Mindestlohns. Daher sind es neben der PdA nur weitere kleinere Gruppen, die das Referendum für den Datenschutz unterstützen.

Eine wesentliche Rolle bei der Mobilisierung nimmt das Komitee der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen ein.

 Gibt es Kontakte zu Gruppen, die sich bisher vor allem für Datenschutz im Internet einsetzen?
Auch in dieser Frage ist die Debatte in der Schweiz nicht weit entwickelt. Nachdem dort vor 20 Jahren der Fichenskandal* – ein Schnüffelstaatssystem aus der Zeit des Kalten Krieges – aufgedeckt wurde, gibt es zurzeit raffinierte Versuche, solche Methoden wieder einzuführen, ohne dass daran viel Kritik geübt wird. Diejenigen aber, die sich für den Erhalt des Schweizer Bankgeheimnisses einsetzen, etwa die Liberalen, sind an vorderster Front für den Abbau des Datenschutzes für Sozialhilfeempfänger.

 Mit welchem Ausgang des Referendums rechnen Sie?
Wir sind noch optimistisch, dass wir bis zum Monatsende die nötigen 10 000 Unterschriften zusammen bekommen. Allerdings ist die Hürde sehr hoch, wenn man bedenkt, dass wir vom Großteil der Medien totgeschwiegen werden. Sollten wir es schaffen, kommt es zur eigentlichen Volksabstimmung.

Dann würden die Karten ganz neu gemischt, denn Sozialdemokraten und Gewerkschaften müssten sich eindeutig positionieren und könnten dem vollständigen Verlust des Datenschutzes für Sozialhilfeempfangende nicht gut zustimmen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/197357.kein-datenschutz-bei-sozialhilfe.html

Fragen: Peter Nowak

* Fiche ist die französische Bezeichnung für Karteikarte