100 Jahre Staatskapitalismus

Neue Literatur zum hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution

Charles Bettelheim: Klassenkämpfe in der UdSSR. Die Buchmacherei, Berlin 2016, 666 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-00-052633-6

Anté Ciliga: Im Land der verwirrenden Lüge. Die Buchmacherei, Berlin 2016, 304 Seiten, 15 Euro, ISBN 9783000314681

Rabinowitch Alexander: Die Revolution der Bolschewiki 1917. Mehring-Verlag, Essen 2016, 602 Seiten, 34,90 Euro, ISBN 978-3-88634-097-2

Rabinowitch Alexander: Das erste Jahr. Mehring Verlag, Essen 2016, 677 Seiten, 34,90 Euro, ISBN 978-3-88634-090-3

Zum hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution wird uns eine Flut von Büchern erwarten, deren AutorInnen uns erklären werden, dass deren Scheitern nur beweist, dass es jenseits von Kapitalismus und Marktwirtschaft keine Alternativen gibt.

Alle Versuche, aus der Kapitallogik auszubrechen, würden nur in Despotie und letztlich im Stalinismus enden. So wird mit dem autoritären Staatssozialismus jede anarchistische, räte- und linkskommunistische Kritik gleich mit beerdigt. Daher ist dem kleinen Berliner Verlag „Die Buchmacherei“ zu danken, dass sie ein zentrales Buch des französischen Soziologen Charles Bettelheim ins Deutsche übersetzt haben.

Der 1913 in Paris geborene und dort 2006 verstorbene Intellektuelle hatte sich in den 1970er Jahren als linker Kritiker der Sowjetunion einen Namen gemacht. Lange Zeit hat er sich auch deutlich gegen den Nominalsozialismus und Kapitalismus gewandt. Dabei bewegte er sich aber, um gleich auch den zentralen Kritikpunkt anzusprechen, im Gedankengebäude des autoritären Sozialismus. So kritisiert Bettelheim in den 1970er Jahren die Sowjetgesellschaft vom maoistischen Standpunkt aus, unterstützte einige Jahre die Kulturrevolution in China, bevor er in den 1980er Jahren mit den sogenannten Neuen Philosophen in China die autoritären Sozialismusvorstellungen selber einer kritischen Prüfung unterzog. Die aber suchten dann den Ausweg ebenfalls nicht in anarchistischen oder dissidenten kommunistischen Vorstellungen, sondern wurden oft zu VerteidigerInnen der Totalitarismustheorie und zu ApologetInnen des Kapitalismus. Diese kritische Entwicklung kann man in den von Andreas Förster ins Deutsche übersetzten Bänden 3 und 4 von Bettelheims Monumentalwerk „Die Klassenkämpfe in der UdSSR“ gut nachverfolgen.

Bettelheims besondere Stärke waren seine profunden Kenntnisse der ökonomischen Verhältnisse in der Sowjetunion und den nominalsozialistischen Staaten. Er argumentierte nicht moralisch, sah den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität in der nominalsozialistischen Ökonomie. Wer heute das nur noch antiquarisch erhältliche, 1970 erschienene Buch „Ökonomisches Kalkül und Eigentumsformen“ liest, bekommt eine gute Einführung in die präzise Argumentationsweise von Bettelheim. Dort weist er überzeugend nach, dass es falsch ist, Sozialismus mit Planwirtschaft und Verstaatlichung und Kapitalismus mit Markt gleichzusetzen. Bettelheim erklärt, dass die formaljuristische Ebene noch keinen Aufschluss über die realen Produktionsverhältnisse gibt und Staatseigentum keine wirkliche Vergesellschaftung bedeute. Es können auch in einer verstaatlichen Ökonomie kapitalistische Produktionsverhältnisse vorherrschen, so Bettelheims Argumente, die sich auf Texte von Marx und Engels stützten.

graswurzelrevolution


417 märz 2017

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Peter Nowak

Eine besondere Form von Staatskapitalismus

In den nun in der Buchmacherei herausgegebenen Bänden 3 und 4 der „Klassenkämpfe in der UDSSR“ spitzt Bettelheim seine Kritik am sowjetischen Modell zu. Er bezeichnet es als einen Staatskapitalismus, der weiterhin auf Ausbeutung von Arbeitskraft basiert. Dabei kann sich der Soziologe nicht nur auf Marx berufen, sondern auch auf Lenin. Der hat mehrmals erklärt, dass die Bolschewiki in der Sowjetunion nicht den Sozialismus aufbauen, sondern den Kapitalismus entwickeln. Dabei argumentierte er rein ökonomisch. Nachdem alle anderen Räterepubliken, die in den Jahren 1918 bis 1920 entstanden waren, von den alten Mächten blutig zerschlagen worden waren, war es natürlich absurd zu glauben, dass ausgerechnet das kapitalistisch noch kaum entwickelte Russland das Modell für den Aufbau des Sozialismus werden konnte. Wie weit die zentralistischen Revolutionsvorstellungen der Bolschewiki diesen Versuch von Anfang an verunmöglichten, ist eine Streitfrage, die unter den linken KritikerInnen der Entwicklung in der Sowjetunion (SU) seit 100 Jahren diskutiert wird. Für die Diskussion dieser Frage empfiehlt sich die Lektüre der beiden im Mehring-Verlag auf deutsch erschienenen Bände „Die Revolution der Bolschewiki 1917“ und „Das erste Jahr“, in denen die Entwicklung akribisch und mit viel Quellenmaterial nachgezeichnet wird.

Bettelheim analysiert, wie mit der Etablierung eines besonderen Typs von Staatskapitalismus in der UdSSR die ArbeiterInnen mehr und mehr entmachtete. Dabei macht er aber auch deutlich, dass dieser Prozess keineswegs reibungslos verlief und sich große Teile der bolschewistischen Basis gegen diesen Kurs wehrten. Darin sieht Bettelheim auch einen Grund für die Schauprozesse und den Terror gegen KommunistInnen der ersten Stunde, die sich bald mit anderen KritikerInnen in den Gefängnissen wiederfanden. Bettelheim zeigt in dem Buch auf, dass nach der Revolution die Macht der ArbeiterInnen enorm ausgeweitet worden war. Er sieht im Stalinismus den großen Rollback am Werk, mit dem die ArbeiterInnen wieder zu Rädchen in der nun staatskapitalistischen Maschine gemacht worden sind.

Seine Kenntnisse der sowjetischen Verhältnisse und besonders der Ökonomie zeigen sich da, wo Bettelheim die Debatte über die BetriebsleiterInnen nachzeichnet. Die hatten nach der Revolution massiv an Autorität eingebüßt. Stattdessen haben die Arbeiterkomitees viel Einfluss gehabt. Der wurde immer mehr beschnitten, doch auch dieser Prozess war keineswegs linear. Es gab noch in den 1930er Jahren Widerstand gegen die Einschränkung der ArbeiterInnenrechte, auch in den Reihen der Bolschewiki.

Klassengesellschaft neuen Typs

Differenziert betrachtet Bettelheim auch die Stachanow-Bewegung. Dabei habe es sich zunächst um eine Initiative gehandelt, die bei Segmenten der FacharbeiterInnen entstanden ist, die die Möglichkeiten der ArbeiterInnenmacht nutzten, die es nach der Oktoberrevolution gegeben hat. Doch bald wurde diese Initiative von der Staatspartei vereinnahmt und verfälscht. Auf einmal wurden überall Stachanow-Wettbewerbe ausgerufen, die meist keinerlei Erfolge brachten.

So wurde eine Initiative von Unten abgewürgt. Teile des Proletariats reagierten darauf allergisch, weil damit die Arbeitsnormen erhöht wurden. Bettelheim kommt zu dem Schluss, dass die bolschewistische Basis durchaus aus einem Teil der FacharbeiterInnen bestand. Es gab erfolgreiche Kampagnen, um mehr ArbeiterInnen in die Partei aufzunehmen. Allerdings sei ein Teil der Neumitglieder gleich in Funktionärsposten aufgerückt und habe sich so von der proletarischen Herkunft entfernt. Bettelheim zeigt auch auf, dass das Nomenklaturasystem hierarchisch gegliedert war und es unterschiedliche Zugänge zu Vergünstigungen aller Art gab. So bildete sich eine Klassengesellschaft neuen Typs heraus. Ein Teil der alten FacharbeiterInnen wurde zur Nomenklatura und beutete andere ArbeiterInnen aus, die oft erst aus der Landwirtschaft mehr oder weniger freilich abwanderten. Die rigide Politik gegen die Bäuerinnen und Bauern erinnert auch an die ursprüngliche Akkumulation im Kapitalismus, wo das Bauernleben ein wichtiger Bestandteil war. Diese Aspekte werden von Bettelheim in klarer Diktion benannt. Sie werden für eine hoffentlich kontroverse Debatte sorgen.

Propaganda und Realität der Zwangsarbeit in der Sowjetunion

Eindringlich schildert Bettelheim den Prozess der Herausbildung des Fabrikdespotismus der Zwangsarbeit in der SU. Die massenhafte Verwendung von ZwangsarbeiterInnen setzte in den Jahren 1930 und 1931 beim Bau des Kanals zwischen der Ostsee und dem Weißen Meer ein. „Seinerseits wird die Erfüllung dieser Arbeit von gewissen sowjetischen Schriftstellern als Epos dargestellt, aber sie schwiegen über die viele Toten, die es auf dieser und auf so vielen anderen Baustellen gegeben hat“, kritisiert Bettelheim Schriftsteller wie Gorki. Die offizielle Parteigeschichte zitiert Bettelheim mit dieser Apologie der Zwangsarbeit: „Der grandiose Sieg des Sozialismus an allen Fronten macht die breite Beschäftigung der Arbeitskraft von Kriminellen in der Hauptstraße des sozialistischen Aufbaus möglich. Mit dem Eintritt der UdSSR in die Periode des Sozialismus ist die Möglichkeit der Anwendung von Strafmaßnahmen durch Zwangsarbeit unendlich angewachsen.“ Kein erklärter Antikommunist hätte die Idee des Sozialismus mehr pervertieren können, als die VerfasserInnen dieser Zeilen.

Von den neuen Philosophen kontaminiert

Das Erschrecken über die Erkenntnis, einen Sozialismusmodell angehangen zu haben, das sich selber damit preist, die Möglichkeiten der Zwangsarbeit unendlich ausgeweitet zu haben, hat wohl dazu beigetragen, dass in den 1980er Jahren manche der ex-stalinistischen und exmaoistischen Intellektuellen zu ApologetInnen des Kapitalismus geworden sind. Leider ist auch das Buch vor allem im letzten Teil von diesen sogenannten Neuen PhilosophInnen kontaminiert, die ein Loblied auf den freien Westen und die Segnungen des Kapitalismus singen. Warum soll das Buch trotz dieser Kritik zur Lektüre empfohlen werden?

Zunächst dominiert Bettelheims Kritik am Nominalsozialismus und der ökonomische Nachweis, dass der mit Marx nichts zu tun hatte, den Hauptteil des Buches. Er tritt überall dort in die Fallen des Totalitarismus, wo er statt dieser kritischen Analyse einen allgemeinen Rundumschlag in die Weltpolitik wagt. Zudem kann man am Beispiel von Bettelheim sehen, wie kurz der Weg vom autoritären Sozialismus zur Apologie der freien Welt ist, wenn man rätekommunistische und anarchistische Ansätze ausblendet.

Bei Bettelheim wird das Adjektiv „anarchistisch“ selten verwendet, wenn doch, dann im bürgerlichen, falschen Sinn als chaotische Situation. Dabei werden von Bettelheim mit Victor Serge und Ante Ciliga auch zwei Zeitzeugen des Übergangs der Oktoberrevolution zum Zwangssystem als Quellen zitiert, die sich zumindest zeitweise als Anarchisten verstanden haben. Wobei allerdings bei Ciliga nicht unerwähnt bleiben soll, dass er ab Ende der 1930er mit dem faschistischen Ustascha-Regime kollaborierte und noch in den letzten Monaten des NS-Regimes nach Deutschland reiste.

Das entwertet nicht seine Kritik am Stalinismus, die er in seinem 1936 veröffentlichten Buch „Im Land der verwirrenden Lüge“ veröffentlichte. Es wurde 2010 ebenfalls im Verlag „Die Buchmacherei“ wieder aufgelegt. Die Biographie Ciligas zeigt auch, wie notwendig eine schonungslose Kritik nicht nur gegenüber den ApologetInnen des autoritären Sozialismus ist. Auch dessen KritikerInnen können auf unterschiedlichen rechten Abwegen landen.

Peter Nowak

Sammelrezension Kommunismus

In den letzten Jahren haben zwei kleine Münsteraner Verlage Bücher herausgeben, die eine Debatte über einen Kommunismus jenseits von Stalin und Staat anregen wollen und die in der nominalsozialistischen Geschichtsschreibung getilgten dissidenten Strömungen in der kommunistischen Geschichte wieder zugänglich machen. Der von der Gruppe INEX herausgegebene Sammelband Nie wieder Kommunismus? und Hendrik Wallats Buch Staat oder Revolution wurden in dieser Zeitschrift bereits vorgestellt. Vor einigen Monaten hat nun die Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK) den Sammelband Was tun mit Kommunismus?! im herausgegeben. Soll ein Zusammenhang, der sich als Selbsthilfegruppe ausgibt und offensichtlich mit der holprigen Überschrift eine unkonventionelle Auslegung der Grammatikregeln demonstrieren will, wirklich Substantielles zur Kommunismusdebatte beizutragen haben? Doch bei Überschrift und Name handelt es sich eher um eine Mischung aus Ironie und Understatement, die nicht von der Lektüre abhalten sollte. Die Selbsthilfegruppe besteht aus einem kleinen Kreis außerparlamentarischer Linker, der im Herbst 2011 in Berlin drei gut besuchte Veranstaltungen unter dem Obertitel Was tun mit Kommunismus!? organisiert hat. Ihnen ging es darum, die vor dem Hintergrund der in der Wirtschafts- und Finanzkrise gewachsene Offenheit für antikapitalistische Kritik für eine Debatte um die Aktualität des Kommunismus zu nutzen. Dabei positionieren sich die Herausgeber in der Einleitung in klarer Abgrenzung zu staatskapitalistischen und nominalsozialistischen Kommunismusvorstellungen.
»Anlass für uns, einen kleinen Diskussionskreis von emanzipatorischen Linken zu gründen, aus dem die Initiative zu diesem Buch hervorgehen sollte, war jedoch nicht nur das neuerliche und in der Linken weitgehend geduldete Auftreten solch neostalinistischer Positionen. Es war auch die Beobachtung, dass angesichts der skandalösen sozialen und politischen Realitäten des Gegenwartskapitalismus und der Verlogenheit der bürgerlich-antikommunistischen Propaganda gerade bei jungen Leuten die Reinwaschung der Polizeistaaten des früheren Ostblocks auf fruchtbaren Boden fiel.«
Diese doppelte Frontstellung gegen Nominalsozialismus und Gegenwartskapitalismus bestimmte auch die Auswahl der ReferentInnen. Dem SEK ist es gelungen, einen Kreis von ReferentInnen, die selten gemeinsam auf Veranstaltungen diskutieren, zu finden. Die Liste reicht von der Autorin verschiedener Bücher zum Kommunismus Bini Adamczak über die Aktivisten der autonomen Bewegung Hauke Benner und Detlef Hartmann, Anarchisten wie Michael Wilk und Ralf Landmesser und den linken DDR-Oppositionellen Renate Hürtgen, Anne Seeck, Bernd Gehrke, Thomas Klein und Sebastian Gehrhardt. Aus dem Nahumfeld der Linkspartei und ihren verschiedenen Flügeln kommen Monika Runge, Lucy Redler und Helmut Bock. Aus dem linken akademischen Milieu haben Elfi Müller, Frank Engster und Christof Jünke Beiträge verfasst, aus operaistischer und linksgewerkschaftlicher Perspektive haben sich Christian Frings und Will Hajek geäußert. Die ReferentInnen sollten drei Fragestellungen beantworten. Wie stand die Linke in Westdeutschland zum real existierenden Sozialismus? Wie sozialistisch war der überhaupt? Die dritte Diskussionsrunde sollte sich dann konkreten Utopien jenseits des Kapitalismus zuwenden.
Durch die große Anzahl der ReferentInnen blieb es nicht aus, dass einige PublikumsteilnehmerInnen die Kontroverse vermissten und die Veranstaltungen vorzeitig verließen. Das Buch bietet nun die Chance, die Positionen nachzulesen und die eingeforderte Debatte nachzuholen. Streitpunkte gibt es in Hülle und Fülle. Nur einige Beispiele. Während die sächsische Landtagsabgeordnete der Linkspartei Monika Runge ein Plädoyer für linke Realpolitik verfasst, setzt Landmesser auf die Bildung dezentraler Kollektive außerhalb der staatlichen Institutionen. Christian Frings und Detlef Hartmann sehen die Träger revolutionärer Veränderungen im globalen Rahmen eher in der Landbevölkerung Afrikas oder Asiens als in Europa. Für Sebastian Gerhardt hingegen kann eine revolutionäre Veränderung mit Aussicht auf Erfolg nur »in den Zentren des modernen Kapitalismus angegangen werden«.
Gerhardt widmet sich in seinem Beitrag den Modernen Sozialisten, einer Gruppe von WissenschaftlerInnen, die in der Spätphase der DDR bereits jene sozialdemokratische Realpolitik konzipierten, die nach dem Ende der DDR zum Programm der Reformfraktion in der PDS wurde. Dass da kein Platz für eine grundsätzliche Kritik an Herrschaft und Ausbeutung sondern allerhöchstens für deren Abmilderung war, versteht sich von selbst.
Anne Seck beschreibt in ihrem Beitrag den Alltag der bürokratisierten DDR-Gesellschaft der späten 80er Jahre aus der Perspektive eines Mitglieds der DDR-Subkultur und einer Ausreisewilligen. Sie habe die DDR »als militarisierte Gesellschaft und eine Arbeitsgesellschaft mit Sozialpaternalismus« wahrgenommen. Doch in ihren »zwiespältigen Erinnerungen« bezeichnet Seeck die Enteignung der Großgrundbesitzer, den fehlenden Druck den Arbeitsplatz oder die Wohnung zu verlieren und die geringe Einkommensspreizung als sozialistische Elemente in der DDR und kommt zu dem Schluss: »Dass ich in die Subkultur Freiräume erobern konnte, war aber nur möglich, weil es in der DDR keinen existentiellen Druck gab.« Damit meint sie das Fehlen des stummen Zwangs der Marktgesetze, der heute auf einen viel größeren Teil der Bevölkerung im Gegenwartskapitalismus Druck ausübt als die staatliche Repression.
Symbol einer verratenen Revolution
Für die Historikerin Elfriede Müller war der Realsozialismus »nicht nur die hinter der Mauer versteckte DDR, sondern auch das Symbol einer verratenen Revolution«. Dieser Topos habe sich nie auf die DDR bezogen, in der keine Revolution stattgefunden hat, »sondern vor allem auf die frühe Sowjetunion, auf die Zeit, als es noch verschiedene politische Strömungen gab, sie sich auseinandersetzen, die Räte noch nicht zum Begriff erstarrt und nur formal existent waren und die Weltrevolution noch Programm war«, erinnert Müller an die Frühphase der Sowjetunion. Damit hebt sie sich wohltuend von Vorstellungen ab, die die Oktoberrevolution als autoritäres Projekt von Anfang an oder gar als Putsch einer kleinen Clique bolschewistischer Funktionäre abqualifizieren. Dabei wird oft vergessen, dass die Bolschewiki als linker Flügel der Vorkriegssozialdemokratie natürlich nicht von deren Fehlern und Halbheiten  frei war. Doch ihre strikte Ablehnung der Politik der Vaterlandsverteidigung hatte ihr die Sympathie linker Kräfte der damaligen Zeit eingebracht. Diese Zusammenhänge sind heute in linken Kreisen ebenso wenig bekannt, wie die innenpolitische Situation des zaristischen Russlands im Jahr 1917. Daher ist es umso erfreulicher, dass der Mehring Verlag die umfangreiche Studie »Die Sowjetmacht – die Revolution und die Bolschewiki« von Alexander Rabinowitch in deutscher Sprache herausgegeben hat. Der US-Historiker hat dort die wenigen Wochen zwischen dem Juni und dem November 1917 so anschaulich beschrieben, dass sie auch Menschen anspricht, zu deren Lieblingslektüre historische Werke nicht zählen. Rabinowitch grundlegende Studie kann gut neben der Geschichte der Oktoberrevolution von Leo Trotzki stehen. Allerdings gibt es einen gravierenden Unterschied. Trotzki nahm als entscheidender Protagonist der Oktoberrevolution und der ersten zehn Jahre der jungen Sowjetunion von Anfang an Partei in der Auseinandersetzung. Das wird vor allem in den letzten Teilen seines Buches deutlich wird, wo er sich gegenüber den innerparteilichen Gegnern um Stalin rechtfertigt. Rabinowitch hingegen hatte sich als Anhänger menschewistischer Positionen mit der Geschichte der Oktoberrevolution befasst und revidierte nach Sichtung der Quellen und Dokumente seine gegenüber den Bolschewiki sehr kritischen Positionen. In der Einleitung beschreibt er, wie er durch seine wissenschaftlichen Forschungen mit der im Westen vorherrschenden antibolschewistischen Ansichten gebrochen hat. Diese Korrekturen des Geschichtsbildes beziehen sich bereits auf den Juliaufstand 1917, der gerne als gescheiterter Putsch Lenins bezeichnet wird und mit der Oktoberrevolution vollendet worden sei. Die Stärke von Rabinowitchs Studie ist, dass er sein Augenmerk nicht nur auf die bolschewistischen Funktionäre richtet, sondern auf die Bauern und Arbeiter, auf die Soldaten und Matrosen. Auch bei seinen Studien innerhalb der bolschewistischen Partei interessiert ihn nicht in erster Linie das Zentralkomitee sondern das Agieren der regionalen Gruppen. Dabei stellt er fest, dass diese sehr auf ihre Autonomie achteten und die auch im Vorfeld der Revolution durchsetzen konnten. Auch das Bild einer einheitlich handelnden monolithischen bolschewistischen Partei verweist Rabinowitch in das Reich stalinistischer Geschichtsmythen, die bis heute von dessen entschiedenen Kritikern oft unhinterfragt übernommen werden. In dem Buch wird nachgewiesen, wie zerstritten die Bolschewiki in den entscheidenden Monaten des Jahres 1917 oft waren und wie sich die Partei in demokratischen Prozessen ein Aktionsprogramm gab. Damit erreichte sie eine wachsende Zustimmung, die allerdings auch schnell schwinden konnte, wie Rabinowitch an der Reaktion auf die Diffamierung Lenins als deutschen Spion nach dem Juli-Aufstand aufzeigt. Ihr schneller Wiederaufstieg lag nicht an autoritärer Machtpolitik, sondern daran, dass sie als einzige Partei die so disparaten Kämpfe auf dem Land, in den Fabriken und Garnisonen mit ihrem Programm verbinden konnten. Gerade, wenn man mit Rabinowitch feststellt, dass die Bolschewik im Jahr 1917 eine linke sozialistische Partei mit einer relativ entwickelten innerparteilichen Demokratie war, stellt sich umso dringlicher die Frage, wie sie sich kaum zehn Jahre später zur Kaderpartei Stalin`schen Typus transformieren lassen konnte. Debatten, wie sie die SEK mit ihren Buch anregen will, können von dem Grundlagenwissen, das Rabinowitch bietet, gut profitieren.
Peter Nowak
aus Phase 2
Selbsthilfegruppe Ei des Kommunismus (SEK), Was tun mit Kommunismus?! Kapitalismus, real existierender Sozialismus, konkrete Utopien heute, Münster 2013, Unrast Verlag, 388 S.,   18.


Rabinowitch Alexander, Die Sowjetmacht, Die Revolution der Bolschewiki 1917, Essen 2012, Mehring Verlag, 542 S.,   34,90.