Das Christkind packt keine Pakete


Damit sich das Weihnachtsgeschäft lohnt, werden bei Amazon auch Hartz-IV-Bezieher eingesetzt. Man nennt das Praktikum.

»Süßer die Kassen nie klingeln als in der Weihnachtszeit.« Diese etwas abgegriffene Persiflage eines Weihnachtsliedes trifft auf den Internetversandhandel Amazon auf jeden Fall zu. In der Weihnachtszeit boomt das Geschäft. Zudem bekommt das Unternehmen einen Teil der Arbeitskräfte noch gratis. Möglich wird dieser zusätzliche Profit durch die Sozialgesetzgebung, die es erlaubt, die Arbeit befristet angestellter Jobber bis zu vier Wochen weiter mit Leistungen durch die Arbeitsagentur statt mit einem branchenüblichen Lohn durch das Unternehmen zu vergüten. Offiziell wird diese Phase Praktikum oder Anlernzeit genannt.

Ein Betroffener hatte sich an das Erwerbslosenforum Deutschland gewandt, dessen Sprecher Martin Behrsing dieses Vorgehen öffentlich skandalisierte. Der Erwerbslose berichtet über die reibungslose Kooperation zwischen der Arbeitsagentur und der Personalabteilung von Amazon in Werne bei Bonn.

Die Erwerbslosen seien in Gruppen von bis zu 90 Personen direkt in das Unternehmen zu einer mehrstündigen Informationsveranstaltung eingeladen worden. Auch Mitarbeiter der Jobcenter und der Arbeitsagentur seien zugegen gewesen. Nach Angaben des Erwerbslosen habe man dann die zukünftigen Amazon-Mitarbeiter zwei Wochen auf Hartz-IV-Basis arbeiten lassen. Bei einer anschließenden Einstellung hätten die Mitarbeiter 38,5 Stunden arbeiten müssen, es seien aber nur 35 Stunden bezahlt worden. Denjenigen, die diese Form der Ausbeutung nicht mitmachen wollten, sei von der Arbeitsagentur mit Sanktionen gedroht worden, weil sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stünden. Ein anderer Erwerbsloser berichtete, er sei in einer »Rechtsfolgenbelehrung« von seinem Jobcenter darauf hingewiesen worden, dass er sanktioniert werden könne, wenn er sich weigern sollte, auf Hartz-IV-Basis bei Amazon zu arbeiten. So wurde die Extraausbeutung eines Großunternehmens durch die Sanktionsmechanismen des Hartz IV-Systems abgesichert. Zugleich werden damit tariflich bezahlte Arbeitsplätze vernichtet. Ein Mitarbeiter der Personalabteilung von Amazon bestätigte einem der Leiharbeiter, dass die Arbeit von der ersten Stunde an normal bezahlt werde, wenn keine Hartz-IV-Empfänger zur Verfügung stünden. Doch die Praxis der Arbeitsagenturen hat bisher für genug Nachschub an Billiglöhnern gesorgt. Warum sollte das Unternehmen dann noch regulär beschäftigte Arbeitskräfte einstellen? Nachdem die Pressemeldungen des Erwerbslosenforums kurzfristig für mediale Empörung sorgten, bezeichneten Sprecher der Arbeitsagentur die Verleihpraxis als einen Fehler, der behoben werden müsse. Dass damit diese Form der staatlich unterstützten Niedriglöhne endgültig abgeschafft ist, darf bezweifelt werden.

Zudem wurde nach einer Recherche des Fernsehmagazins »Report Mainz« schnell klar, dass auch an den Amazon-Standorten Leipzig und Bad Hersfeld Minilöhne an der Tagesordnung waren. Mitarbeiter berichteten dem Sender, dass sie teilweise über Jahre hinweg immer wieder zeitlich befristete Arbeitsverträge bekommen hätten. Die Betroffenen wollten allerdings anonym bleiben. Denn die Furcht gehört bei den Mitarbeitern zum Arbeitsalltag. So berichteten Beschäftigte, dass sie trotz Krankheit zur Arbeit erschienen seien, weil sie Angst gehabt hätten, bei Fehlzeiten nach dem Auslaufen der Verträge nicht weiterbeschäftigt zu werden.

»Der Druck ist groß«, bestätigte eine Mitarbeiterin gegenüber »Report Mainz«. Und die Methode von Amazon wird immer beliebter, wie der Jenaer Arbeitssoziologe Klaus Dörre bestätigt. Er bezeichnet den Abbau von Vollzeitarbeitsplätzen zugunsten befristeter Verträge als Disziplinierungsinstrument. Diese Einschätzung wird indirekt auch von Amazons Personalabteilung bestätigt. Als Gründe für die Ausweitung der befristeten Arbeitsplätze gab diese in »Report Mainz« an, man versuche, die Nachfrageschwankungen innerhalb eines Jahres aufzufangen, und wolle besonders engagierte Mitarbeiter gewinnen. Das Engagement der Beschäftigten im Sinne des Unternehmens steigt aber, wenn wegen unsicherer Arbeitsverträge die Angst vor dem Jobcenter stets präsent ist und als zusätzliches Disziplinierungsinstrument die Druckmittel der Hartz-IV-Regelungen zur Anwendung kommen.

Auch Julian Jaedicke kann täglich beobachten, dass die Amazon-Beschäftigten unter großem Druck stehen. Er arbeitet als Organizer für die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi am Firmen­standort Bad Hersfeld. Von den 5 000 Beschäftigten haben 3 000 befristete Arbeitsverträge. Dort beträgt die Probezeit, in der die Beschäftigten ohne Lohn arbeiten müssen, in der Regel eine Woche. Wenn es viele Arbeitslose gebe, könne die Zeit des Praktikums auch zwei Wochen betragen, berichtet Jaedicke. Mindestens zwei Drittel der Beschäftigten seien befristet beschäftigt. Auch Jaedicke sieht darin ein Instrument zur Disziplinierung. Die Befristung habe dort die Funktion, die in anderen Firmen die Leiharbeit übernehme. »Die Leute arbeiten und arbeiten – in der Hoffnung auf einen festen Job«, so Jaedicke.

Viele Befristete hätten Angst, für ihre Interessen einzutreten. »Wenn wir einen festen Arbeitsvertrag haben, werden wir aktiv«, lautet die Devise. Allerdings versucht Verdi, bei einer Organizing-Kampagne alle Mitarbeiter anzusprechen. Mittlerweile dürften die Organizer die Kantine von Amazon nicht mehr betreten, berichtet Jaedicke. Allerdings habe ihre Arbeit schon Erfolge erzielt. »Mittlerweile verteilen die Mitarbeiter die Gewerkschaftsmaterialen in der Kantine«, sagt er. Bis Ende November musste die Stammbelegschaft im Warenausgang des Logistikzentrums zwei Tage Kurzarbeit machen, Urlaub nehmen oder im entsprechenden Umfang Minusstunden sammeln, weil vor dem Advent 600 Saisonkräfte für den großen Ansturm des Weihnachtsgeschäfts qualifiziert wurden, berichtete Heiner Reimann vom Projekt »Handel und Logistik Bad Hersfeld« von Verdi. Der Betriebsrat des Internetkaufhauses habe der Kurzarbeit widerwillig stattgegeben, weil er befürchtete, dass die Firmenleitung sonst wie schon in der Vergangenheit zum Mittel des Schicht­abbruchs greifen könnte. Mehrere hundert Mitarbeiter der Stammbelegschaft seien bezüglich der Frage, wie sie den Wunsch der Geschäftsleitung erfüllen, auf sich alleine gestellt gewesen, moniert Jaedicke.

Allerdings haben sie in der letzten Zeit Unterstützung von unerwarteter Seite bekommen. Internetnutzer organisierten sich als kritische Kunden und zeigten Solidarität mit den Amazon-Beschäftigten. So kündigten mehrere Kunden ihre Konten bei dem Internetversand aus Protest gegen die Dumpinglohnbedingungen. Einige gesellschaftskritische Blogs wie die »Nachdenkseiten« oder »Der Spiegelfechter« haben ihre Partnerprogramme mit Amazon.de gekündigt. Bei den »Nachdenkseiten« will man weder bei eigenen noch bei auf der Seite empfohlenen Büchern auf Amazon verlinken. »Vor allem im Vorweihnachtsgeschäft sollte Amazon schmerzlich am eigenen Leibe erfahren, dass es auch wirtschaftlich von Nachteil sein kann, wenn man sich durch Gesetzeslücken auf unsoziale Art und Weise Vorteile verschaffen will«, schreibt Spiegelfechter-Blogger Jens Berger.
http://jungle-world.com/artikel/2011/51/44575.html
Peter Nowak

Erfolg im Spätverkauf

Minijobber erstreitet Lohnnachzahlungen und Arbeitszeugnis

Am Dienstag ging vor dem Berliner Arbeitsgericht der Lohnkampf in einen
Spätkauf mit einem Vergleich zu Ende. Ein Angestellter hatte auf Lohnnachzahlungen geklagt, weil er nach eigenen Angaben auf Minijobbasis bis zu 60 Stunden wöchentlich gearbeitet habe. Der am erzielte Vergleich sieht vor, dass der Angestellte eine Abfindung von 4000 Euro und ein Arbeitszeugnis bekommt, das bestätigt, dass er sechs Tage wöchentlich in den Laden gearbeitet hat. Dieser Passus sei ihm besonders wichtig gewesen, betonte der Verkäufer gegenüber »nd«. Für die anarchosyndikalistische Freie Arbeiterinnen- und Arbeiterunion (FAU) und die Berliner Gruppe »Internationale Kommunisten«, die in den
letzten Wochen mehrere Veranstaltungen und Kundgebungen zu dem Fall organisierten betonten, zeigt das Ergebnis, dass selbst in schwer organisierbaren Branchen, wie den Spätverkäufen Erfolge möglich sind.
Bisher war weder der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di noch der FAU ein Fall bekannt, in dem ein Spätverkäufer sich juristisch und politisch gegen seien Arbeitsbedingungen wehrt. »Informelle Beschäftigungsverhältnisse und das hohe Maß an Prekarität, das auch die Ladenbesitzer mit einschließt, machen Widerstand schwer«, erklärt der auf soziale Kämpfe spezialisierte Publizist Holger Marcks. Heinz Steinle von der Nachbarschaftsinitiative, die de Verkäufer unterstützte, sieht das Problem auch im Niedriglohnsektor Einzelhandel, in dem Beschäftigte seit langem über die schlechter werdenden Arbeitsbedingungen klagen. Beispielsweise die Streichung von Abend- und Nachtzuschlägen war Gegenstand eines langen Arbeitskampfes im Jahr 2007.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/214001.erfolg-im-spaetverkauf.html
Peter Nowak

Widerstand ist möglich – sogar im Spätkauf

ARBEIT Die Klage gegen einen Ladeninhaber wegen nicht bezahlten Lohns endet mit einem Vergleich

Mit einem Vergleich endete am 20. Dezember vor dem Arbeitsgericht der Lohnkonflikt zwischen dem ehemaligen Mitarbeiter eines Friedrichshainer Spätkaufs und dessen Besitzer. Der Mitarbeiter hatte entgangenen Lohn einklagen wollen, weil er auf Basis eines Minijobvertrags bis zu 60 Stunden wöchentlich im Laden gearbeitet habe (die taz berichtete). Der Inhaber hingegen gab an, der Angestellte sei nur 20 Monatsstunden beschäftigt gewesen. Der Angestellte bekommt nach der Einigung eine Abfindung von 4.000 Euro sowie eine Bescheinigung, dass er sechs Tage in der Woche in dem Spätkauf gearbeitet hat. Beide Parteien verpflichten sich wechselseitig, keine weiteren Forderungen mehr zu stellen und alle Anzeigen zurückzunehmen. Der Spätkaufbesitzer hatte nicht nur den Kläger wegen falscher Angaben, sondern auch mehrere Internetportale verklagt, die über den Fall berichteten.

Der Kläger zeigte sich gegenüber der taz über das Ergebnis erleichtert: „Ich konnte alle meine Forderungen durchsetzen.“ Wichtig sei ihm vor allem der Nachweis gewesen, dass er sechs Tage in der Woche in dem Laden gearbeitet habe. „Der Ausgang zeigt, dass Widerstand auch in schwer organisierbaren Branchen möglich ist“, meinte auch der Sekretär der Berliner Freien ArbeiterInnen-Union (FAU), Florian Wegner. Der Angestellte hatte sich von der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft unterstützen lassen. In den vergangenen Wochen organisierte sie mit einer Friedrichshainer Nachbarschaftsinitiative mehrere Veranstaltungen und Kundgebungen in der Nähe des Spätkaufs. Die letzte fand am vergangenen Freitag statt, dazu schickte auch die als „Emmely“ bekannt gewordene Kaiser’s-Kassiererin eine Grußadresse. Sie war bundesweit bekannt geworden, weil sie sich erfolgreich gegen ihre Entlassung wegen eines angeblich unterschlagenen Flaschenbons im Wert von 1,30 Euro gewehrt hatte.
p://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2011%
2F12%2F21%2Fa0153&cHash=a6871e869f
Peter NOwak

Auf die Tastatur gehauen

Nach über einem halben Jahr Arbeitskampf stehen die streikenden Redakteure beim Schwarzwälder Boten kurz vor dem Erfolg.

Es könnte ein bedeutender Tag für die Redakteure des Schwarzwälder Boten werden, die sich seit Mitte Mai im Arbeitskampf befinden. Vor einigen Tagen setzten sie ihren Streik für Verhandlungen aus. Denn am Dienstag kommt es zur dritten und nach Einschätzung von Gewerkschaftern entscheidenden Tarifverhandlung zwischen Verdi und dem Deutschen Journalisten-Verband einerseits und der Südwestdeutschen Medienholding (SWMH) andererseits. Zu dieser Holding gehören neben dem Schwarzwälder Boten noch die Stuttgarter Zeitung, die Stuttgarter Nachrichten und die Süddeutsche Zeitung, die großen Printmedien aus Südwestdeutschland also. Geschäftsführer sowohl der Holding als auch des Schwarzwälder Boten ist Richard Rebmann, der erklärte Lieblingsfeind der Streikenden.

»Herzlich willkommen im Niedriglohn-Sektor von Dr. Rebmann«, lautet ein Slogan, den man im Streikblog häufiger lesen kann. Rebmann war es, der im März 2011 den Schwarzwälder Boten mit damals noch 430 Beschäftigten in zwei Gesellschaften aufgliederte: eine für die Redaktionen, die andere für die Anzeigenabteilung und die Geschäftsführung. Bereits 2008 war der »Grafikbote« gegründet worden, mit dem die Druckvorstufe ausgegliedert wurde. Deren Betrieb soll jetzt ganz eingestellt werden. Dafür sollen die Beschäftigten von einer konzerneigenen Leiharbeitsfirma mit niedrigeren Löhnen und schlechteren Arbeitszeiten übernommen werden.

Auch im Redaktionsbereich wurde gespart, wie Verdi an einigen Beispielen aufzeigte. So sollen die von der Redaktionsgesellschaft des Schwarzwälder Boten neu eingestellten Volontäre mit abgeschlossenem Studium im ersten Jahr nur noch 1 228,50 Euro statt wie bisher 1 755 Euro verdienen – ein Minus von 30 Prozent. Und davon sind nur 877,50 Euro als reguläres Gehalt deklariert, der Rest wird von der Geschäftsführung als jederzeit widerrufbare »freiwillige Zulage« verstanden. Außerdem wurden die Arbeitszeit auf 40 Stunden erhöht, die Zahl der Urlaubstage von 30 auf 27 im Jahr gesenkt sowie das Urlaubs- und Weihnachtsgeld komplett gestrichen. Daher sprach Verdi von Gehaltsverlusten bis zu 50 Prozent bei jungen Journalisten.

Aufgrund der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen traten am 20. Mai knapp 40 Prozent der Redakteure in den Streik. Die Kampfbereitschaft war für alle Beteiligten überraschend. »Es gab keine Streikkultur in der 175jährigen Geschichte des Schwarzwälder Boten. Das ist auch für die Geschäftsführung eine völlig neue Erfahrung«, sagt ein Betriebsratsmitglied, das namentlich nicht genannt werden will, der Jungle World. Ihm zufolge sei den Redakteuren durch die Umstrukturierungen bei der Druckvorstufe, die drei Jahre zuvor noch widerstandslos über die Bühne gingen, klar geworden, was die Ausgliederung für sie bedeute.

Dass sich der Arbeitskampf so lange hinzog – insgesamt gab es 96 Streiktage –, ist vor allem der Geschäftsführung geschuldet, die sich Verhandlungen lange verweigerte. Rebmann argumentierte, nicht seine Holding, sondern die ausgegliederte Geschäftsführung im Schwarzwälder Oberndorf sei zuständig. Diese Haltung musste er Anfang Dezember aufgeben, nicht nur wegen der Ausdauer der Streikenden, sondern auch wegen der Unterstützung, die der Arbeitskampf in der Zeitungsbranche erfuhr. »Wir fürchten, dass dieses Verhalten in anderen Verlagshäusern Schule machen könnte, wenn die Führung des Schwarzwälder Boten sich mit ihrer Vorgehensweise durchsetzt«, begründeten Redakteure und Volontäre des Mannheimer Morgen und des Südhessen Morgen ihre Solidarität mit den Streikenden. Ähnliche Erklärungen wurden in den vergangenen Wochen zahlreich an den »Streikboten« geschickt. So nennt sich die von den Redakteuren gestaltete Streikzeitung im Internet, die über Aktionen rund um den Arbeitskampf informiert. Von einer möglichen Signalwirkung redet auch das Betriebsratsmitglied: »Die Kollegen befürchten, dass die Aufspaltung des Schwarwälder Boten nur der Auftakt in der Branche ist.« Immerhin sei die SWMH der zweitgrößte Konzern in der Branche und setze Maßstäbe.

Mit verschlechterten Arbeitsbedingungen sehen sich derzeit viele in der Zeitungsbranche Tätige konfrontiert. Am meisten haben die freien Journalisten darunter zu leiden, denen eine Honorarkürzung oftmals nicht einmal angekündigt wird. So schildert ein Musikredakteur der Jungle World seine Erfahrungen mit der Lausitzer Rundschau: »Nach 15 Jahren regelmäßiger und dauerhafter freier Mitarbeit wurde bei mir das Zeilenhonorar um zwei Drittel gekürzt, ohne mich darüber zu informieren. Das konnte ich nur meinen Kontoauszügen entnehmen.« Er sollte für ein Zeilenhonorar von zehn statt wie bisher 31 Cent Artikel liefern. Seine Beschwerden hatten keinen Erfolg. »Die einzige Reaktion des Chefredakteurs bestand darin, in wenigen Zeilen darauf hinzuweisen, dass meine freie Mitarbeit nun beendet sei, und mir ›viel Glück‹ auf meinem weiteren Arbeitsweg zu wünschen.« Jener Chefredakteur hatte im Sommer 2010 seinen Dienst angetreten, um die Zeitung durch Einsparungen, unter anderem bei den Gehältern, zu sanieren. Obwohl dem Musikredakteur zufolge auch unter den festangestellten Redakteuren die Unzufriedenheit darüber groß war, sei es zu keinem Widerstand gegen die Einschnitte gekommen. Zu groß sei bei vielen die Angst gewesen, entlassen zu werden, wenn man sich zu sehr exponiere.

Eine solche Stimmung ist in der Zeitungsbranche weit verbreitet und erschwert die Solidarität. So sicherten auch beim Schwarzwälder Boten 15 freie Journalisten das Erscheinen einzelner Lokalausgaben während des Ausstands. Die Gewerkschaften sprechen von Streikbruch. Sollte es nächste Woche zu einem für die Beschäftigten akzeptablen Ergebnis kommen, dürften nicht nur bei den Kollegen des Schwarzwälder Boten die Sektkorken knallen. Sie hätten damit gezeigt, dass Arbeitskämpfe in der Zeitungsbranche möglich sind und sogar erfolgreich sein können.
http://jungle-world.com/artikel/2011/50/44520.html
Peter Nowak

Vom Leben als Nummer


STUDIE Eine linke Initiative hat fast 18 Monate lang untersucht, wie Erwerbslose vom Jobcenter Neukölln behandelt werden. Jetzt wurden die Ergebnisse vorgestellt

„Man ist ’ne Nummer.“ – „Wenn man krank ist, behandeln die einen wie einen Viertelmensch.“ – „Bei Migranten machen die einen auf Ausländerdeutsch.“ Das sind drei Zitate von Neuköllner Erwerbslosen. Gesammelt wurden sie von der sozialpolitischen Initiative Die aus dem Umfeld der linken Gruppe „Für eine linke Strömung“ (fels) stammenden AktivistInnen haben knapp 18 Monate rund um das Jobcenter Neukölln geforscht. Sie haben Interviewbögen verteilt und mehrere hundert Direktbefragungen durchgeführt. Am Dienstagabend stellten sie die Ergebnisse erstmals öffentlich vor.

In der Studie wird auch auf die soziale Struktur von Neukölln und die lange Geschichte der Untersuchungsmethode eingegangen. Schon Karl Marx hatte im Jahr 1880 „Fragebögen an Arbeiter“ verfasst. In den späten 1960er Jahren machten junge Linke die „militante Untersuchung“ genannten Befragungen auch in Deutschland populär. Daran will die Neuköllner Initiative anknüpfen.

Es sei mit den Befragungen darum gegangen, die Erwerbslosen zu Kritik und Widerstand zu ermutigen, betont Benjamin Müller von der Initiative. Den entscheidenden Hebel gegen das Hartz-IV-Regime haben die AktivistInnen allerdings nicht gefunden. Dafür waren die Kritikpunkte, die die Erwerbslosen am Jobcenter äußerten, zu unterschiedlich.

Mangelnder Respekt sei ein zentraler Kritikpunkt der verschiedenen Betroffengruppen gewesen, berichtet Müller. Erwerbslose mit migrantischen Hintergrund hätten sich über die „Ausländersprache“ beschwert, in die manche SachbearbeiterInnen fallen, obwohl ihre „Kunden“ perfekt deutsch gesprochen hätten. Häufig sei kritisiert worden, dass der Regelsatz zu spät überwiesen werde. Auch übernehme das Jobcenter oft nur einen Teil der Miete und spare dann beispielsweise die Stromkosten aus. So entstünden bei Betroffenen deutliche Mietschulden, die dann im schlimmsten Fall zu Obdachlosigkeit führen könnten. Das sei eine sehr häufig geäußerte Sorge gewesen, betont Müller.

Er führt einen Teil der Probleme auf eine Überarbeitung der Jobcenter-MitarbeiterInnen zurück, die sich in häufigen Krankmeldungen ausdrücke. Es sei der Initiative bekannt geworden, dass mehrere MitarbeiterInnen ihren Vorgesetzten gemeldet hätten, wegen zu vieler Fälle ihre Arbeit nicht mit der nötigen Gründlichkeit erledigen zu könne. Angeblich sei es wohl auch vorgekommen, dass SachbearbeiterInnen bis zu 300 statt der empfohlenen 170 Fälle bearbeiten mussten.

Beim Jobcenter Neukölln wollte sich niemand zu der Untersuchung äußern, da diese dort noch nicht bekannt sei.

Die Broschüre mit dem Untersuchungsergebnissen steht unter zusammendagegen.blogsport.de/images/fels_jcn_br_web_01.pdf

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/
?ressort=bl&dig=2011%2F12%2F14%2Fa0144&cHash=1986115109

Peter Nowak

Streit in Zeiten des Outsourcing

Seit zwölf Wochen streiken die Mitarbeiter eines Tochterunternehmens der Berliner Charité. Mit Erfolg, denn zumindest zeichnet sich nun ein Kompromiss ab.
Spendenaufrufe sind in der Vorweihnachtszeit nichts Ungewöhnliches. Doch der Appell des Solidaritätskomitees für die CFM-Beschäftigten fällt auf. »Wir möchten Euch dringend um Spenden für die Streikkasse der Kolleginnen und Kollegen beim Charité Facility Management (CFM) in Berlin bitten«, heißt es dort.

Es erinnert an die Frühzeit der Arbeiterbewegung, als vor mehr als hundert Jahren Gewerkschaften für streikende Kumpels aus den Zechen des Ruhrgebiets oder für Hafenarbeiter in Hamburg sammelten. Auch sonst erinnert manches am Arbeitskampf der Charité-Beschäftigten an längst vergangene Zeiten. Schließlich ist eine ihrer wichtigsten Forderungen der Abschluss eines Tarifvertrags. Bis Anfang voriger Woche beharrte die CFM darauf, dass es mit ihr einen Tarifvertrag nicht geben wird. »Da bewies man schon vor 140 Jahren mehr Sinn für sozialen Frieden, als die Buchdrucker 1871 den ersten Tarifvertrag erstritten«, kommentiert die Gewerkschaftszeitung Verdi-Publik diese Haltung.

In Zeiten des Outsourcing hat sich das geändert. Nicht nur in der Charité, auch in vielen anderen Bereichen der Arbeitswelt verfolgen Unternehmer mittlerweile die Strategie, tarifvertragsfreie Zonen zu schaffen. Beschäftigte in völlig unterschiedlichen Einrichtungen wie dem Berliner Ensemble, der Pflegefirma Alpenland und der Charité sind davon betroffen.

2006 wurde die Servicegesellschaft gegründet, in die das nichtmedizinische Personal des Klinikums verschoben wurde. Dazu gehören vor allem die Reinigungskräfte und das Wachpersonal. Sie wurden niedriger entlohnt. Seitdem verzeichneten Kollegen, die in der gleichen Schicht die gleiche Arbeit verrichten, Lohndifferenzen von mehreren Hundert Euro, berichtet Sascha Stanicic vom Solidaritätskomitee für die CFM-Beschäftigten. Das Komitee hatte in den vergangenen Wochen viel zu tun. Neben zwei Demonstrationen, die vor allem unter Gewerkschaftern Unterstützung fanden, gab es mehrere Aktionen und Flashmobs vor dem »Kulturkaufhaus Dussmann« im Berliner Bezirk Mitte. Das Unternehmen betreibt gemeinsam mit der Charité und den Unternehmen Hellmann und Vamed die Charité Facility Management GmbH. Vor einigen Tagen haben sich auch bekannte Künstler mit den Forderungen der Streikenden solidarisiert. Sie begründen ihre Einmischung damit, dass eine Teilhabe am kulturellen Leben ohne angemessene Löhne nicht möglich sei. Auch bei ihnen steht, wie bei den Streikenden, sowohl der alte rot-rote Berliner Senat als auch sein von der neuen Großen Koalition gebildeter Nachfolger in der Kritik. »Als Mehrheitseigentümer der CFM ist er für die Billiglöhne mitverantwortlich«, heißt es im Aufruf der Künstler. Tatsächlich wurde die CFM auf Druck des rot-roten-Senats gegründet, der die Charité zu Einsparungen aufgefordert hatte. Auf besondere Kritik der Gewerkschafter stößt der Umgang des Unternehmens mit dem Streik. So beklagt die Verdi-Streikverantwortliche Silvi Krisch, dass die Streikenden durch die Mitarbeiter des externen Wachschutzunternehmens Flash Security auf Schritt und Tritt überwacht würden. »Die haben den Auftrag, uns an den Hacken zu kleben«, moniert Krisch.

Während die Solidarität mit den Streikenden außerhalb der Charité wächst, macht den Streikenden ein Konflikt zwischen den in der Klinik vertretenen DGB-Gewerkschaften zu schaffen. Die IG Bau beteiligt sich nicht am Arbeitskampf und hat sogar in der Anfangsphase dagegen mobilisiert. Sie will die Putzkräfte in einen bundesweiten Reinigungstarif eingliedern. Zahlreiche Beschäftigte haben deshalb die IG Bau verlassen und sich Verdi oder dem Deutschen Beamtenbund (DBB) angeschlossen.

Der Druck scheint Wirkung zu zeigen. Am Montag einigte sich die CFM mit Verdi und DBB darauf, ab kommenden Mai einen Mindestlohn von 8,50 die Stunde und eine Einmalzahlung von 300 Euro im Januar 2012 zu zahlen. Am heutigen Donnerstag sollen die Streikenden über diesen Kompromiss abstimmen.

http://jungle-world.com/artikel/2011/49/44474.html

Peter Nowak

Sind Arbeitslose empfänglicher für den rechten Rand?


Die Studie „Parteien und ihre Anhänger“ und eine Pressemitteilung, die sauer aufstößt

„Rechtsextreme Wähler sind männlich, arm und arbeitslos“, titelte die konservative „Welt“ am vergangenen Dienstag. Das Blatt beruft sich dabei auf die Studie „Parteien und ihre Anhänger“, die von Wissenschaftlern der Leipziger und Giessener Universität erstellt worden ist. Dabei hat die Zeitung die Wortwahl übernommen, die vor allem in der Pressemeldung verwendet wurde, mit der sie in der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde.

Für die Studie wurden in diesem Sommer 2.300 Ost- und Westdeutsche im Alter zwischen 18 und 97 Jahren im Auftrag der Universitäten Gießen und Leipzig befragt. Die Ergebnisse waren durchaus differenziert. So wird dort festgestellt, dass die Sorge um den Arbeitsplatz mehr Wähler der Linken als der FDP oder der Grünen umtreibt und dass der Anteil der Nichtwähler unter den Erwerbslosen groß ist (Neigen die gesellschaftlichen Loser zu den Rechtsextremen oder den Nichtwählern?).

Doch diese Differenzierung geht verloren, wenn die Soziologen Elmar Kruse und Johannes Kruse die Ergebnisse der Studie so zusammenfassen: „Rechtsextreme Anhänger oft arbeitslos – meiste Arbeitslose sind Nichtwähler.“

Diese Diktion wird vom Arbeitskreis Marginalisierte, der sich seit 2007 mit der Ausgrenzung und Verfolgung von einkommensschwachen Menschen befasst, scharf kritisiert. Er sieht darin „eine direkte Diskriminierung und weitere Ausgrenzung ohnehin sozial Benachteiligter, die einzig dazu zu dienen scheint, Aufmerksamkeit zu erregen oder über die Anbiederung an Mainstreamdebatten über ‚Unnütze‘ und ‚Unfähige‘ an Forschungsmittel zu gelangen“.

Gefahr aus der Mitte?

Dabei werde davon abgelenkt, dass laut der Studie „Die Mitte in der Krise“ die eigentliche Gefahr für die Gesellschaft von latent vorhandenen und zunehmend rechten und rassistischen Einstellungsmustern in der so genannten Mitte ausgeht. Allerdings muss man sich fragen, ob nicht in allen Schichten der Bevölkerung rechte Einstellungen zu finden sind. Denn von rassistischen und rechtspopulistischen Welterklärungsmodellen sind auch die Marginalisierten nicht ausgenommen.

So gibt es viele Beispiele, dass Erwerbslose besonders auf ihren Status als deutsche Staatsbürger beharren und Menschen ohne deutschen Pass die mageren Hartz IV-Sätze nicht gönnen. Diese als Sozialchauvinismus bezeichneten Effekte der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft machen eine gemeinsame Gegenwehr oft besonders schwer.

Trotzdem ist dem AK Marginalisierte zuzustimmen, dass die Diktion vor allem der Pressemeldungen zur Studie auf Klischees beruht und einkommensschwache Menschen diskriminiert. Die Verwendung von Kollektivbegriffen wie „die Arbeitslosen“ sollte eigentlich in einer wissenschaftlichen Arbeit keine Verwendung finden. Zudem ist sicher der Verdacht nicht falsch, dass die Aufmerksamkeit für die Studie dadurch gesteigert werden sollte, dass in den Überschriften der Zusammenfassung eine Verbindung von Erwerbslosigkeit und der Bereitschaft, rechte Parteien zu wählen, in einer Eindeutigkeit hergestellt wird, die sich in den Ergebnissen der Studie nicht wiederfinden lassen.

Außerdem macht der AK Marginalisierte zu Recht darauf aufmerksam, dass auch der Verweis auf den Bildungsstand diskriminierende Züge trägt. Denn dabei wird lediglich auf den Schulabschluss rekurriert. So fragwürdig es ist, Aussagen über den Bildungsstand von Menschen am Schulabschluss festzumachen, so falsch ist es, rechte Welterklärungsmodelle auf Erwerbslose und Menschen mit „niedrigen Bildungsabschlüssen“ abzuschieben.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151005

Peter Nowak

Deutschland als Modell einer ungleichen Gesellschaft

Die Entstehung einer größeren sozialen Bewegung in Deutschland könnte mehr zur Lösung der Euro-Krise beitragen als all die hektischen Projekte des Duos Merkel/Sarkozy

Dass die Reichen immer reicher und die Armen in Deutschland immer ärmer werden, wird gerne als linke Propaganda abgetan. Doch jetzt wurde dieser schlichte Befund von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD bestätigt und statisch untermauert.

Danach ist die Einkommensungleichheit in Deutschland seit 1990 stärker als in den meisten vergleichbaren Industrieländern gestiegen. Die obersten zehn Prozent verdienen etwa achtmal soviel wie die untersten zehn Prozent. Im Jahr 2008 hätten demnach die obersten 10 Prozent in Deutschland durchschnittlich 57.300 Euro verdient, die untersten zehn Prozent kamen auf 7.400 Euro. Noch in den neunziger Jahren hätten die Bestverdiener nur sechsmal so viel verdient wie die Unterklassen. Dieser Trend dürfte sich in den letzten Jahren sogar noch verschärft haben.

Die Studie benannte auch die Ursachen für die zunehmende Ungleichheit. Die Etablierung von tarifvertragsfreien Zonen mit Dumpinglöhnen, die Ausweitung des Niedriglohnsektors auf immer mehr Arbeitsverhältnisse ist auch seit Jahren in der deutschen Innenpolitik ein Thema. Stichworte wie „Arm trotz Arbeit“ haben längst die Mainstream-Medien erreicht. Einige Zeit lang wird in Talkshows über die Gerechtigkeitslücke geredet werden, bis das Thema wieder aus dem Blickfeld verschwindet. Auch die Ergebnisse der OECD-Studie werden schnell zu den Akten gelegt, wenn nicht gesellschaftliche Bewegungen das Thema aufgreifen.

Das zeigte sich bei der erfolgreichen Emmely-Kampagne, über die jetzt ein Buch erschienen ist. Dort resümiert Kampagnenmitbegründer Gregor Zattler, dass das Schicksal der wegen eines angeblich unterschlagenen Kassenbons gekündigten Kaiser’s-Kassiererin auch deshalb die Republik wochenlang beschäftigte, weil dort gerade über hohe Managerabfindungen gestritten wurde und der Umgang mit Emmely als ungerecht empfunden wurde.

Auch der Anfang der Woche erzielte Durchbruch beim Tarifkonflikt der seit Mitte September streikenden Beschäftigen des nichtmedizinischen Personals der Berliner Charité, ist ein Beispiel dafür, wie die Gerechtigkeitsdebatte von Teilen der gewerkschaftlichen Bewegung aufgegriffen wurde. Nach einer wochenlangen Weigerung des CFM-Managements, über die Forderungen der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften auch nur zu verhandeln, haben diese nun eine beachtliche Lohnerhöhung erkämpft. In den letzten Wochen wurde der Arbeitskampf von den Unterstützern zunehmend als gesellschaftliche Auseinandersetzung gegen Billiglöhne interpretiert.

Offensive Lohnpolitik in Deutschland Beitrag zur Eurorettung?

Die Entstehung einer größeren sozialen Bewegung in Deutschland könnte mehr zur Lösung der Euro-Krise beitragen als all die hektischen Projekte des Duos Merkozy. Denn es ist gerade die von der OECD beschriebene Gesellschaft der Ungleichheit, die jetzt als europäisches Modell empfohlen und vielleicht bald sogar oktroyiert wird. Der Soziologe Oliver Nachtwey hat beschrieben, wie das Dogma der Spardiktate die Demokratie immer mehr aushöhlt. Die Sparkommissare verweisen dabei immer auf Deutschland, wo es gelungen sei, den Arbeitsmarkt so weit zu deregulieren, dass die Wirtschaft in der Lage andere EU-Länder nieder zu konkurrieren.

Daher werden die Stimmen lauter, die den Kampf gegen dieses deutsche Niedriglohnsystem als wichtigen Beitrag zur Minimierung der Eurokrise betrachten. Die OECD-Studie hat dafür Argumente geliefert und könnte die Frage auf die Tagesordnung setzen, ob die Gesellschaft der Ungleichheit nicht eher ein Auslaufmodell als ein EU-Exportprodukt sein sollte.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/150982
Peter Nowak

Nach oben ducken, nach unten knüppeln

Sozialchauvinistische Reflexe nehmen in Deutschland zu, auch in den unteren Bereichen der Gesellschaft. Sie sind Ausdruck einer autoritären Form der Krisenbewältigung.

In den letzten Monaten haben sich in verschiedenen Städten Bündnisse gegen Sozialchauvinismus gegründet. Sie haben damit einen bisher in der linken Debatte weniger bekannten Begriff in die Öffentlichkeit gebracht. Auf einem von dem Berliner Bündnis erstellten Plakat wird Sozialchauvinismus als „eine Krisenideologie“ bezeichnet, „die mit Feindseligkeit gegen alle verbunden ist, die nicht ins Idealbild einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft passen“. Oft versuchen Träger dieser Ideologie, damit die eigene Nützlichkeit in der Gesellschaft aufzuwerten. Fast jeder wird im Alltag schon auf sozialchauvinistische Phänomene gestoßen sein.

Ein Beispiel aus dem Nahverkehr
Bevor der Zeitungsverkäufer überhaupt begonnen hat, in der Berliner U-Bahn seinen Spruch aufzusagen, wird er von einem Fahrgast aus dem Waggon mit einer Schimpfkanonade bedacht: Ob man in der Bahn, als zahlender Kunde, denn immer mit diesen Versagern belästigt werden müsse. Dafür erntet der Mann mittleren Alters, Typ Vertreter, bei anderen Fahrgästen Zustimmung. Da nützt es nichts, dass der Verkäufer mittels eines Ausweises am Revers die Rechtmäßigkeit seiner Arbeit dokumentieren will. Auch seine Distanzierung von denen, die seinen Berufsstand in ein schlechtes Licht rückten, weil sie nicht berechtigt seien, Zeitungen zu verkaufen und den verständlichen Zorn des Publikums auf sich zögen, haben wenig Erfolg.
So bekommt man in einer Alltagsszene illustrativ vorgeführt, wie der Sozialchauvinismus funktioniert. Menschen, die Probleme haben, in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft vom Rand wegzukommen, bekommen den Zorn derer ab, die selbst nur ein Rad im Getriebe sind. Ihre Angepasstheit demonstrieren sie durch freche Sprüche in Richtung derer, die in der sozialen Hackordnung noch weiter unten stehen. An ihnen wird die Aggression ausgelassen, die sich beim tagtäglichen Katzbuckeln vor dem Chef oder Vorarbeiter oder auch nur vor dem Kollegen, der eine Stufe höher gerückt ist, angesammelt hat. Auch der Gescholtene traut sich nicht, einer solchen Behandlung zu widersprechen. Stattdessen versucht er sich als produktives Mitglied der kapitalistischen Leistungsgesellschaft zu präsentieren, indem er auf die „schwarzen Schafe“ verweist, die nicht so gut funktionieren würden.
Was hier beispielhaft dargestellt wurde, findet sich in allen Poren der Gesellschaft. Oft genug sind die Akteure Menschen, die selbst am Rand der kapitalistischen Leistungsgesellschaft leben, also allen Grund hätten, dagegen aufzubegehren. Doch mit Sozialchauvinismus grenzen sie sich von anderen ab. Das kann die erwerbslose Nachbarin sein, die sich zu ihrem ALG II noch etwas dazu verdient und beim Jobcenter denunziert wird. Das kann der nichtdeutsche Leiharbeiter sein, der von Kollegen im selben Betrieb geschnitten und diskriminiert wird.

Geteilte Solidarität
Die Soziologen Hajo Holst und Ingo Matuschek von der Universität Jena zeigen anhand eines Betriebs mit ca. 6.000 Beschäftigten und starker IG-Metall-Verankerung auf, wie ein betriebswirtschaftliches Denken, das sich vor allem um die Rettung des Standorts dreht, zur Entsolidarisierung gegenüber Erwerbslosen und LeiharbeiterInnen führt. Diese werden von einer Mehrheit der Befragten nur unter dem Aspekt des Nutzens für den Betrieb gesehen. Holst und Matuschek erklären dieses Verhalten vor dem Hintergrund verstärkter Fragmentierungen in der Arbeitswelt und der Identifikation mit dem eigenen Betriebsstandort.
„Allerdings ist das normativ ‚Gute‘ des eigenen Betriebs permanent bedroht. Insbesondere die langjährig Beschäftigten sind sich bewusst, dass die das hohe Maß an Identifikation und Loyalität befördernden positiven Merkmale des Standorts auf eigenen, immer wieder neu zu erbringenden Flexibilitätsleistungen beruhen“, schreiben die Soziologen in einem kürzlich erschienenen Buch. [1] Und weiter: „Auf dieser Basis hat sich in der Belegschaft eine ‚kompetitive‘ Solidarität herausgebildet, die zwar einer solidarischen Gleichbehandlung aller Beschäftigten das Wort redet, die aber von jeden einzelnen entsprechende Leistungen einfordert“.
Zur positiven Identifikation mit dem Betrieb gehört auch die Bereitschaft, sich mehr als nötig zu engagieren, um zum Erfolg des Unternehmens beizutragen. In dieser Sichtweise gehören Leiharbeiter nicht zur Betriebsfamilie. Deswegen hat ein Großteil der Belegschaft auch keine Probleme damit, dass diese weniger verdienen und weniger Rechte haben. Sogar die Forderung nach mehr Druck auf Erwerbslose, damit diese jede Arbeit annehmen, ist aus der Belegschaft häufiger zu hören. Auch hier spielt der Leistungsbegriff eine wichtige Rolle. Wer bereit ist, zum Wohl des Bosses zu buckeln, der verlangt das auch für die Allgemeinheit. So rücken Erwerbslose, die für ihre Rechte kämpfen und nicht bereit sind, ihre Arbeitskraft um jeden Preis zu verkaufen, schnell in die Nähe von Leistungsverweigerern. Und für solche, das ist das Fazit von Holst und Matuschek, „wird die Luft unter den Kollegen dünner“.

Ein neues Feindbild
Die Diskussion um den Sozialchauvinismus hat durch die mittlerweile mehr als ein Jahr alte Debatte um Thilo Sarrazin (SPD) an Bedeutung gewonnen. Der ehemalige Berliner Senator und Deutsche-Bank-Manager hatte mit seinen Äußerungen nicht in erster Linie muslimische MigrantInnen im Visier, wie es in großen Teilen der linksliberalen Medien nahegelegt wird. Zu seinem Feindbild zählen vielmehr alle, die dem Standort Deutschland aus seiner Sicht nicht nützen, wie in einem von Sebastian Friedrich herausgegebenen Sammelband herausgearbeitet wird. [2] Betroffen davon sind ALG-II-EmpfängerInnen ebenso wie migrantische Jugendliche. Das hat Sarrazin bereits in seiner Zeit als Berliner Senator immer wieder deutlich gemacht. Seine Person ist dabei nur der „Lautsprecher“ eines Sozialchauvinismus, der Teile der Elite mit „Bild-Lesern“ zusammenschweißt.
So hat der sich selbst als „Neo-Aristokrat“ bezeichnende Philosoph Peter Sloterdijk die sozialchauvinistische Grundannahme in einem FAZ-Aufsatz in Reinform dargeboten. Während im ökonomischen Altertum die Reichen auf Kosten der Armen gelebt hätten, würden in der „ökonomischen Moderne die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven“ leben. Die Leistungsträger und die Unproduktiven sind zentrale Kategorien im sozialchauvinistischen Diskurs. Letztere werden auch gerne als „Transferbezieher“ abgewertet. Damit können Erwerbslose genau so gemeint sein wie Aufstocker, aber auch ganze Staaten wie Griechenland im EU-Diskurs. So wurde der „Transferbezieher“, der angeblich nicht von eigener Arbeit lebe, zum neuen Feindbild.

Hetze gegen die Chavs
Sozialchauvinistisches Denken kann sich mit Unterdrückung auf „ethnischer“ Grundlage verknüpfen. Das zeigt sich in den vielerorts um sich greifenden Angriffen gegen Roma und Sinti. Den Angegriffenen wird vorgeworfen, nicht leistungsbereit genug zu sein. Wie sich solche rassistische Stereotypen wiederum mit dem Hass auf das Proletariat verbinden kann, wenn dieses nicht angepasst und eingehegt in die bürgerliche Gesellschaft ist, zeigt sich in Großbritannien am Siegeszug des Begriffs „Chavs“, der wahrscheinlich von „Chaavi“, dem Roma-Wort für „Kind“, abgeleitet wurde. Er tauchte vor knapp zehn Jahren in der Öffentlichkeit auf und wurde immer populärer.
„Er kam zuerst in der Bedeutung von ‚junger Angehöriger der Arbeiterklasse in legerer Freizeitkleidung‘ in den Wortschatz. Aber es schwangen immer auch hasserfüllte, klassenbezogene Bedeutungen mit, ein Chav war gleichbedeutend mit ‚antisozialem Verhalten‘, Geschmacklosigkeit und Nutzlosigkeit“, schreibt der Historiker Owen Jones. Er hat kürzlich ein Buch über die Dämonisierung der Arbeiterklasse geschrieben. [3] Nun hat die Kampagne gegen die Chavs ein neues Beispiel geschaffen: Als im Spätsommer in britischen Städten Riots ausgebrochen waren, erreichte die Hetze ihren Höhepunkt. „Plünderer sind Abschaum“, diese Parole, die bei den Aufräumarbeiten des patriotischen Mittelstands zu sehen war, wurde im öffentlichen Diskurs weitgehend Konsens. Für viele waren diese Plünderer mit den Chavs identisch.
Jones zeigt auch auf, wie die Kampagne gegen die Unterklasse und die Ideologie vom Ende der Arbeiterklasse verschmelzen. Das Klischee vom Chav tauchte zu einer Zeit auf, als Journalistinnen und Politiker aller Couleur behaupteten, wir alle – auch die vermeintlich aufstrebende Arbeiterklasse – seien nun Mittelschicht. Mit einer großen Ausnahme: All das, was von der alten Arbeiterklasse übrig war, wurde zum problematischen Rest degradiert. So schrieb der rechtsstehende Journalist Simon Heffer: „Was früher einmal die ehrbare Arbeiterklasse genannt wurde, ist fast ausgestorben. Was Soziologen als Arbeiterklasse zu bezeichnen pflegten, arbeitet dieser Tage normalerweise überhaupt nicht, sondern wird vom Sozialstaat unterhalten.“ Sie habe sich stattdessen zu einer „verkommenen Unterschicht“, dem Prekariat, entwickelt. „Wer außerhalb von Mittelschichtbritannien bleibt, ist selbst schuld daran“, fasst Jones diese Propaganda zusammen, die keineswegs Großbritannien vorbehalten ist.

Der normale Wahnsinn
Dass ganze Menschengruppen als faule, unproduktive „Schmarotzer“ beschimpft werden, ist in Deutschland seit Langem bekannt. Diese Hetze erlebt immer wieder Konjunkturen, etwa wenn diese durch das Zusammenspiel von Boulevard und Politik die Form einer Kampagne annimmt. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Interview des ehemaligen FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle, in dem er gegen die „spätrömische Dekadenz“ in unserer Gesellschaft wetterte. Es war nur der Startschuss für eine neue Kampagne gegen Erwerbslose, eine der vielen, die zur Verfestigung des Hartz-Regimes beitragen.
Mit der Kategorie des Sozialchauvinismus werden diese Unterdrückungsmechanismen sozial verortet. So kann verhindert werden, dass daraus ein rein moralisierender Diskurs entsteht, wie es beim Rassismus oft der Fall ist. Der Kampf gegen Sozialchauvinismus und Rassismus ist aber vor allem ein Eingriff in soziale Praxen und kann völlig unterschiedliche Formen annehmen. Dass man auch gegen sozialchauvinistische Spaltungen streiken kann, machten finnische Stahlkocher in diesem Sommer deutlich. Sie traten in den Ausstand, um polnische Leiharbeiter bei ihrem Kampf für gleiche Löhne und Arbeitsbedingungen gegen den deutschen Konzern Beroa zu unterstützen. Der mehrtägige Solidaritätsstreik setzte die Bosse schnell unter Druck. Ein Beroa-Vertreter sagte daraufhin zu, dass das Unternehmen sich zukünftig an die finnischen Gesetze und die vertraglich vereinbarten Bestimmungen halten werde. Der Umgang mit den Leiharbeitern, der in Finnland für Empörung sorge, sei in mitteleuropäischen Ländern üblich, rechtfertigte er sich noch.
Damit hat der Beroa-Vertreter ein wahres und vernichtendes Urteil über die solidarische Kampffähigkeit und -bereitschaft auch der DGB-Gewerkschaften ausgesprochen. Eine Auseinandersetzung mit sozialchauvinistischen Ideologien und Tendenzen, die sich auch unter Lohnabhängigen und Erwerbslosen verbreitet sind, ist unbedingt notwendig. Dagegen hilft nur die Entwicklung von kollektiver Solidaritätsarbeit und Gegenwehr im Alltag. So wird bei Begleitaktionen von Erwerbslosen im Jobcenter eben nicht nach „guten“ und „schlechten“ Erwerbslosen unterschieden und die gesellschaftliche Spaltung reproduziert. Dadurch kann ein politisches Bewusstsein entstehen, das Sozialchauvinismus zurückdrängt. Ganz verschwinden wird er so schnell nicht, aber zumindest könnte ein Klima erzeugt werden, indem die Mehrausbeutung von Leiharbeitern nicht mehr zum mitteleuropäischen Standard gerechnet wird.

Peter Nowak


Literatur zum Thema
[1] Sebastian Friedrich (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der Sarrazindebatte, Münster 2011.
[2] Thomas Haipeter & Klaus Dörre (Hg.): Gewerkschaftliche Modernisierung, Frankfurt a.M. 2011, u.a. mit dem Beitrag von Hajo Holst & Ingo Matuschek.
[3] Owen Jones: Chavs. The Demonization of the Working Class, London
2011.
http://www.direkteaktion.org/208/nach-oben-ducken-nach-unten-knueppeln/

Arbeitskonflikt bei Spielgerätehersteller

FAU Gewerkschaft prangert Änderungskündigung beim Neuköllner Unternehmen Bally Wulff an

„Ich werde gegen die Verschlechterung meiner Arbeitsbedingungen kämpfen“, sagt Klaus Schreiber*. Schon seit 23 Jahren arbeitet der Siebdrucker im Stammwerk des Spielautomatenherstellers Bally Wulff am Neuköllner Maybachufer. Im vergangenen September erhielt er eine Änderungskündigung. „Die neue Stelle wäre mit Lohnminderungen von bis zu 30 Prozent verbunden gewesen, außerdem mit Abstrichen beim Urlaubsanspruch“, berichtet Schreiber der taz.

Er beauftragte den Berliner Arbeitsrechtler Klaus Stähle mit einer Klage gegen die Änderungskündigung. Nachdem ein Gütetermin vor dem Berliner Arbeitsgericht in der vergangenen Woche keine Annäherung brachte, ist nun auch ein letzter Einigungsversuch am Montag gescheitert. „Das Management wollte mit uns über die ökonomische Situation des Unternehmens reden, nicht aber über die von uns geforderte Umschulung des Mitarbeiters“, berichtet Andreas Förster, der in der Sektion Bau und Technik der Freien Arbeiter Union (FAU) für die Solidaritätskampagne zuständig ist.

Schreiber hatte sich an die anarchosyndikalistische Gewerkschaft gewandt, weil die ihm nicht nur eine juristische Unterstützung gewährleistet, sondern die Kampagne politisch begleitet. Im Rahmen eines Aktionstags unter dem Motto „Abgezockt, Bally Wulff“ am 18. November organisierte die FAU an zwölf Unternehmensniederlassungen in ganz Deutschland Kundgebungen, auf denen über den Konflikt informiert wurde.

Angst, sich zu exponieren

„Wir haben in der Belegschaft von Bally Wulff signalisiert, dass wir sie unterstützen. Aber es hat sich niemand an uns gewandt“, sagt dagegen Petra Jänsch von der Verwaltungsstelle der Berliner IG Metall gegenüber der taz. Einen Grund dafür sieht sie auch in dem unternehmensnahen Betriebsrat, der keiner Gewerkschaft angehöre. Klaus Schreiber berichtet, es gebe unter seinen KollegInnen viel Angst, sich zu exponieren. Gleichzeitig erhalte er aber aus der Belegschaft auch Anerkennung für seine Bereitschaft, sich zu wehren. In den kommenden beiden Wochen wird das Arbeitsgericht entscheiden, ob die Änderungskündigung rechtens ist. Die Geschäftsführer der Bally-Wulff-Entertainment GmbH erklärte sich grundsätzlich zu einer Stellungnahme bereit, die aber bis Redaktionsschluss nicht einging.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2011%2F11%2F30%2Fa0141&cHash=3fb1af3807

PETER NOWAK

Die gedrittelte Belegschaft


Es ist der längste Streik von Pflegekräften in der Bundesrepublik. Nun wurde der Ausstand bei Alpenland in Berlin bis auf weiteres ausgesetzt.

Bereits Mitte August war ein Teil der Beschäftigten in der Ostberliner Filiale des Pflegekonzerns Alpenland in den Streik getreten. Am Mittwoch vergangener Woche wurde dieser längste Ausstand von Pflegekräften in der bundesdeutschen Geschichte vorläufig beendet. Drei Monate lang hatten die Beschäftigten für die Angleichung der Löhne an das Westniveau gekämpft. Denn nach wie vor verdienen sie bis zu 170 Euro im Monat weniger. Zudem wollten sie eine weitere Flexibilisierung ihrer Arbeitszeiten verhindern.

Der harte Kern der Streikenden umfasste etwa 40 der rund 120 Beschäftigten. Während man bei der Streikwache gegenüber der Filiale im Stadtteil Marzahn Freundschaften schloss, war das Verhältnis zum Rest der Belegschaft angespannt. Denn ein weiteres Drittel der Beschäftigten hatte individuelle Verträge mit Alpenland abgeschlossen, ließ sich aber in einer Klausel zusichern, dass auch für sie, sollten sich die Streikenden durchsetzen, die dann verbesserten Verträge gelten. Daneben gab es eine Art schweigendes Drittel von Beschäftigten, das sich weder am Streik beteiligte noch individuelle Verträge unterschrieb. »Da wurde die Solidarität der aktiven Kolleginnen schon stark strapaziert«, beschreibt Meike Jäger von Verdi die Stimmung.

Die Verdi-Sekretärin hatte wochenlang Hausverbot bei Alpenland. Die Firma hatte damit auf eine lautstarke, von Verdi initiierte Solidaritätsaktion reagiert. Während die Alpenland-Geschäftsführung die Gewerkschaft beschuldigt, mit dem Lärm die alten Menschen verschreckt zu haben, berichten die Streikenden von anderen Erfahrungen. »Einige der Senioren haben sich sogar mit uns gemeinsam fotografieren lassen«, erzählt Jäger. Ihres Erachtens sei es schließlich auch in deren Interesse, wenn die Pflegekräfte einigermaßen erträgliche Arbeitsbedingungen haben. Enttäuscht äußern sich die Streikenden über die geringe öffentliche Resonanz des Arbeitskampfs. Nicht nur die Medien, auch linke Initiativen, die sich in den vergangenen Jahren mit eigenen Solidaritätsaktionen für Streikende, etwa beim Einzelhandelsstreik 2008, eingebracht hatten, ignorierten den Streik in Marzahn weitgehend. Dabei war zuletzt auf Kongressen und Veranstaltungen des feministischen und autonomen Spektrums verstärkt über die Arbeitsbedingungen im Pflegebereich diskutiert worden. Immer wieder wurde dort darauf hingewiesen, wie schwierig es für die Beschäftigten in diesem Bereich ist, wirkungsvolle Druckmittel zu entwickeln. Der Arbeitskampf bei Alpenland, der überwiegend von Frauen getragen wurde, zeigte dies noch einmal deutlich.

Für Norbert Paas, Verdi-Sekretär aus Frankfurt an der Oder, hat der Streik eine grundsätzliche Bedeutung. In seiner Stadt könne er eindrucksvoll sowohl bei karitativen wie auch städtischen Pflegeeinrichtungen beobachten, dass der Pflegesektor immer stärker an kommerziellen Interessen ausgerichtet wird. Die von den Pflegefirmen forcierte Aufspaltung der Belegschaften erschwere ein gemeinsames Vorgehen, berichtet Paas: »Wenn Neuangestellte 500 Euro mehr verdienen als Beschäftigte, die länger arbeiten, ist eine gemeinsame Solidarität schwer herzustellen.« Dabei gönne er den Neueingestellten die höheren Löhne, frage sich aber, warum diese nicht allen Beschäftigten zustehen sollen.

Kernthema in den Tarifverhandlungen wird jedoch die Angleichung der Löhne an das Westniveau bleiben. Nach Angaben von Jäger gab es bei den Gesprächen in der vergangenen Woche bereits eine Annäherung. Demnach solle die Angleichung zeitlich gestaffelt werden. Auf der anderen Seite würde jedoch die von Paas monierte Fragmentierung der Belegschaft durch die ungleiche Behandlung von Alt- und Neueinstellungen festgeschrieben. Ob das Bekenntnis der Beschäftigten, den Arbeitskampf jederzeit fortzusetzen, um einen schlechten Kompromiss zu vermeiden, realistisch ist, wird sich in den kommenden Tagen zeigen.

http://jungle-world.com/artikel/2011/47/44384.html
Peter Nowak

Peter Nowak

Klage gegen Änderungskündigung

Solidaritätsaktionen mit Mitarbeitern von Bally Wulff

Bei der Bally Wulff Entertainment GmbH, einem führenden Hersteller von Spielautomaten, sind seit mehr als drei Jahren Umstrukturierungsmaßnahmen im Gang. Die Belegschaft im Stammwerk Berlin-Neukölln ist in dieser Zeit von über 300 auf knapp 220 Beschäftigte geschrumpft. Bis Juni 2012 soll die Siebdruckerei geschlossen werden. Die Abteilung könne »nicht mehr gewinnbringend betrieben werden«, so das Management.

Ein hier seit 23 Jahren beschäftigter Siebdrucker wehrt sich gegen die mit der Änderungskündigung verbundene berufliche Herabstufung. »Für mich wären Verschlechterungen von bis zu 30 Prozent beim Lohn sowie Abstriche beim Urlaubsanspruch damit verbunden«, erklärt der Mann, der namentlich nicht genannt werden möchte. Er klagt mit juristischem Beistand des Berliner Arbeitsrechtlers Klaus Stähle gegen die Änderungskündigung.

Unterstützung kommt auch von der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiterunion (FAU). Diese hat in den letzten Wochen mit mehreren Solidaritätsaktionen auf den Konflikt aufmerksam gemacht. Höhepunkt war ein bundesweiter Aktionstag am 18. November. Unter dem Motto »Abgezockt Bally Wulff« wurde an den zwölf Unternehmensstandorten über den Konflikt informiert. »Das Interesse, aber auch die Angst ist bei vielen Beschäftigten groß«, beschreibt der Sekretär der FAU-Sektion Bau und Technik, Andreas Förster, die Stimmung im Neuköllner Werk. Der Betriebsrat, der Wert auf seine Gewerkschaftsferne und seine guten Kontakte zum Management lege, habe die Änderungskündigung akzeptiert.

Auch der Kläger bestätigt die Verunsicherung in der Belegschaft. Er habe vor Jahren als einziger Beschäftigter mit Hilfe der IG Metall erfolgreich gegen die Verschlechterung seiner Arbeitsbedingungen geklagt. Deshalb profitiert er noch immer von der 35-Stunden-Regelung. Weil die DGB-Gewerkschaft juristische Unterstützung leistete, zu einer öffentlichen Kampagne aber nicht bereit war, habe er sich an die FAU gewandt. Die plant weitere Solidaritätsaktionen, sollte es im nächsten Jahr zu einem Arbeitsgerichtsprozess kommen. Das wird sich vielleicht heute entscheiden. Dann soll es noch einmal zu einem Kontakt mit dem Management kommen, nachdem es bei einer Güteverhandlung vor dem Berliner Arbeitsgericht vor einigen Tagen zu keiner Einigung kam. Der Arbeitsrichter hat dort durchblicken lassen, dass er die Abstufung als willkürlich empfinde.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/212108.klage-gegen-aenderungskuendigung.html
Peter Nowak

Selbstorganisierte Belegschaften

Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung diskutierte Möglichkeiten und Fallstricke von Betriebsübernahmen
Betriebsübernahmen durch die Belegschaft sind nicht immer besonders kämpferisch, sondern oft letzte Möglichkeit. Das wurde auf der Konferenz »Den Betrieb übernehmen. Einstieg in Transformation?« der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin deutlich.

»Du brauchst keinen Chef, der Chef braucht Dich.« So lautete das Motto der Belegschaft der französischen Uhrenfabrik Lip, die in den 1970er Jahren ihren Betrieb besetzte und in eigener Regie weiterführte. Diese kämpferische Haltung ist bei Betriebsübernahmen aber längst nicht die Regel.

Dabei nehmen Betriebsübernahmen und Produktionsgenossenschaften zu, vielerorts sind als Reaktion auf Neoliberalismus und Wirtschaftskrise Betriebe besetzt. Kerstin Sack und Herbert Klemisch vom Klaus-Novy-Institut haben mehrere Betriebsübernahmen untersucht. Laut ihrem Fazit ist dieser Schritt oft letztes Mittel, um Arbeitsplätze zu retten, wenn sich kein Investor gefunden habe. Die Folge bedeute oft: mehr Arbeit und weniger Lohn. Und nicht selten finde sich ein Investor, nachdem die Belegschaft den Betrieb fit für den Markt gemacht habe. Genau diese Verschlechterung der Arbeitsbedingungen sind nach Ansicht von Walter Vogt von der IG Metall problematisch. Innerhalb der DGB-Gewerkschaften werde der Verlust, aber auch das Unterlaufen von Tarifverträgen befürchtet. Inzwischen unterstütze die Metallgewerkschaft allerdings solche Betriebsinitiativen bei Verhandlungen.

Auch international sind Betriebsübernahmen ein politisches Mittel der Beschäftigten. Der US-Politologe Immanuel Ness zieht eine Linie von den Ursprüngen der Genossenschaftsbewegung »im Kampf der Lohnabhängigen gegen die brutalen Formen des Kapitalismus« zu den aktuellen Betriebsübernahmen in den USA, bei denen die gleiche Verteilung des Gewinns und die Selbstverwaltung im Vordergrund stünden. Aktuell haben sich Genossenschaften in den USA im Bereich der Reinigungsunternehmen und der Kinderbetreuung gegründet.

Welche Rolle der Staat in dieser Auseinandersetzung einnimmt, das ist in den selbstverwalteten Betrieben in Venezuela Thema, über die der Politologe Dario Azzellini berichtete. Mitverwaltung, Selbstverwaltung und Arbeiterkontrolle existieren in Venezuela als unterschiedliche Formen der Partizipation nebeneinander. Konflikte mit Politik und Verwaltung sind alltäglich. »Entweder wir machen den Sozialismus selbst oder es wird ihn nicht geben«, ist der aus Erfahrungen gewonnene Leitspruch der Betriebsaktivisten.

Vielleicht können sie aus dem gescheiterten jugoslawischen Modell der Arbeiterselbstverwaltung lernen, das Goran Music von der Universität von Bologna vorstellte. Dort seien zwar viele Elemente der Selbstverwaltung eingeführt worden, doch das Desinteresse großer Teile der Belegschaft führte schnell zu einer neuen Bürokratisierung.

Der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler berichtete über Selbstverwaltungsmodelle in der Endphase der DDR. Während sich selbst CDU-Wähler in Thüringen hierfür einsetzten, sorgten auch die ab Sommer 1990 einsetzenden Massenentlassungen für ein schnelles Ende solcher Bewegungen von unten. Allerdings fanden in den vergangenen 20 Jahren von den Betriebsbesetzungen 1992 im Kalibergwerk Bischofferode bis zum Projekt »Strike Bike« in Nordhausen immer wieder mit Betriebsbesetzungen verbundene Abwehrkämpfe statt.

Leider kamen die Protagonisten selbst auf der Konferenz kaum zu Wort. Aus der Praxis berichteten drei Beschäftigte des Pharmaherstellers Jugoremedija in Nordserbien. Die Belegschaft des Unternehmens kämpft seit Jahren um ihre Arbeitsplätze. Erfolgreich konnte sie den Verkauf des Betriebes an einen Investor abwehren, der den Betrieb zerschlagen und meistbietend verkaufen wollte. Die Beschäftigten sind zum großen Teil auch Kleinaktionäre und konnten ihren Betrieb teilweise übernehmen. Wie es weitergeht, ist aber unklar.

Seit Anfang November finden sich im Internet auf der Website www.workerscontrol.net Dokumente zur Arbeiterkontrolle und Selbstverwaltung früher und heute.

Konferenzbeiträge können hier nachgelesen werden: Luxemburg, 3/211, Den Betrieb übernehmen, 10 Euro, ISBN: 978-3-89965-8583.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/210636.selbstorganisierte-belegschaften.html

Peter Nowak

Korpsgeist im Späti

In den Spätverkäufen sind nicht nur die Arbeitsverhältnisse prekär, auch die Läden selbst kämpfen häufig ums Überleben. Wie schwer es dadurch ist, die Situation der Beschäftigten zu verbessern, zeigt der Fall eines ehemaligen Verkäufers aus Berlin.
Welcher Hauptstadtbewohner hat sich noch nicht zu später Stunde etwas in einem sogenannten Spätkauf besorgt. Doch wer macht sich dabei Gedanken über die Arbeitsbedingungen des Verkäufers? Diese Frage richtete ein Redner Mitte Oktober bei einer Aktion im Berliner Stadtteil Friedrichshain an die Passanten. Dort hatte die Freie ArbeiterInnen-Union (FAU) zusammen mit Stadtteilaktivisten eine Kundgebung organisiert, die der Unterstützung eines ehemaligen Spätkauf-Beschäftigen galt, der sich im Konflikt mit seinem alten Arbeitgeber befindet.

Daniel Reilig* hatte mehrere Jahre im Spätkauf »Mumbai Corner« im Samariterkiez gearbeitet. Als Minijobber, der sein ALG II ein wenig »aufstocken« wollte, sollte er laut Vertrag 20 Stunden monatlich arbeiten, wie er der Jungle World berichtet. Doch in Wirklichkeit, beklagt Reilig, habe seine Arbeitszeit bis zu 60 Stunden in der Woche betragen. Dadurch habe er faktisch für weniger als zwei Euro die Stunde gearbeitet. Zudem habe er seine Mahlzeiten meistens an der Ladentheke verzehren müssen. Da dem Laden überdies ein Internet-Café und ein Hermes-Versandhandel angegliedert sind, waren die Pausen selten, erklärt der ausgebildete Industriekaufmann.
Prekärer Kreislauf: Als billiger Kneipenersatz ziehen Spätis, Trinkhallen und »Wasserhäuschen« – so die regionalen Bezeichnungen – auch eine Kundschaft mit schmalem Geldbeutel an
Prekärer Kreislauf: Als billiger Kneipenersatz ziehen Spätis, Trinkhallen und »Wasserhäuschen« – so die regionalen Bezeichnungen – auch eine Kundschaft mit schmalem Geldbeutel an (Foto: PA/Julian Stratenschulte)

Unter solchen Bedingungen soll Reilig drei Jahre lang gearbeitet haben. Erst als ein Streit mit dem Besitzer über eine auf die Kasse gerichtete Kamera eskalierte, war »das Maß des Erträglichen überschritten«, so der ehemalige Verkäufer. Nachdem das Arbeitsverhältnis aufgelöst worden war, wandte sich Reilig an die FAU Berlin, die ihm gewerkschaftliche Unterstützung zusicherte. Mit Hilfe des Berliner Arbeitsrechtlers Klaus Stähle versucht Reilig nun, seinen entgangenen Arbeitslohn rückwirkend einzuklagen. Der Anwalt sieht grundsätzlich gute Chancen. »Wichtig dabei ist, dass sich durch Zeugenaussagen oder andere Belege die tatsächliche Arbeitszeit nachweisen lässt«, betont der Jurist gegenüber der Jungle World. Und in diesem Fall würden einige Stammkunden bezeugen können, dass sie Reilig sehr häufig hinter der Ladentheke gesehen haben. Der Spätkaufbesitzer ließ dagegen über seinen Anwalt erklären, Reilig sei, wie vertraglich vereinbart, nur 20 Stunden im Monat beschäftigt gewesen und habe sich in dieser Zeit vor allem um die Warenbestellung gekümmert.

Für Stähle ist die Klage juristisches Neuland. Bisher habe sich noch nie ein Spätkaufbeschäftigter an ihn gewandt. Als einen Grund für die Zurückhaltung führt der Anwalt an, dass viele Betroffene nicht wüssten, dass sie mit Prozesskostenhilfe rechnen können. Auch die für die Berliner Einzelhandelsbranche zuständige Verdi-Sekretärin Erika Ritter kann sich nicht daran erinnern, dass sich je ein Beschäftigter aus jenem Bereich an ihre Gewerkschaft gewandt habe. Selbst für die FAU, die bereits Erfahrung mit Organisierungsprozessen in prekären Sektoren gesammelt hat, ist es der erste Fall im Bereich der Spätverkäufe.

Die Gründe für die geringe Gegenwehr in Spätverkäufen sieht man bei der FAU Berlin nicht nur in dem unzureichenden Kenntnisstand, den viele Beschäftigte über ihre Rechte hätten. Schließlich habe man es »nicht nur mit prekären Arbeitsverhältnissen zu tun, sondern mit einer regelrechten prekären Ökonomie«, sagt Florian Wegner, Sekretär der FAU Berlin. Tatsächlich ist nach der Einführung von Hartz IV die Zahl der Selbstständigen vor allem im Einzelhandel und der Gastronomie angewachsen, wo der Brancheneinstieg relativ einfach erscheint. Jedoch erweist sich der Traum vom eigenen Laden, mit dem man aus der Arbeitslosigkeit flüchten möchte, meist als Illu­sion. Für die Selbständigen setzt sich dort häufig die Prekarität fort. Denn »die hohe Wettbewerbs­intensität«, so Wegner, »kann meist nur durch schonungslose Selbstausbeutung oder die Ausnutzung billigster Arbeitskräfte kompensiert werden«. Dabei wird häufig auch auf mithelfende Familienangehörige zurückgriffen, aber auch auf Freunde und Bekannte. »Flache Hierarchien« und lockere Umgangsformen scheinen dazu beizutragen, dass beim Lohn häufig nicht so genau nachgerechnet wird.

Auch Reilig sah zunächst kein größeres Problem darin, gewissermaßen als Filialleiter auf Minijob-Basis zu fungieren. Zuvor hatte er Erfahrungen mit unbezahlter Arbeit gemacht. Vier Wochen lang habe er als Praktikant in einem Discounter Regale eingeräumt, erzählt er. Während dieser als Probezeit deklarierten Beschäftigungsphase habe er ständig unter der Beobachtung der Filialleiterin gestanden und kaum Pausen gehabt. Obwohl er keinen Lohn bekam, wollte er diesen »Null-Euro-Job« nicht kündigen, weil er als ALG-II-Empfänger Sanktionen vom Jobcenter befürchtete. Danach sei Reilig erst einmal froh gewesen, den Job im Spätkauf gefunden zu haben.

Die lockere Atmosphäre im Spätkauf, wo scheinbar alle gleich prekär arbeiten, war es auch bei Reilig, die ihn zunächst über den niedrigen Lohn hinwegsehen ließ. In einem Arbeitspapier der FAU Berlin ist in diesem Zusammenhang von »einer Art Mini-Korporatismus« die Rede, der sich in prekären Ökonomien häufig zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten herausbilde: »Alle Beteiligten haben im Hinterkopf, dass höhere Löhne den Laden ruinieren könnten.« Das bekam auch Reilig zu spüren. Nachdem er sich zu wehren begonnen hatte, blieb die Unterstützung durch die anderen Angestellten des Inhabers, der zwei Läden betreibt, aus, obwohl diese unter den gleichen Bedingungen gearbeitet und sich im kleinen Kreis häufiger beklagt haben sollen.

»Wo sich Belegschaften nur schwer wehren können, müssen andere Wege der Unterstützung gefunden werden«, hieß es in einem Redebeitrag auf der Kundgebung. So könnten Kunden, die meist in der Nähe des Ladens wohnen, Einfluss auf die Situation nehmen. In den USA ist dieser Ansatz unter dem Begriff »Community Organizing« bekannt. Dort wird schon länger versucht, Arbeitskämpfe in schwer organisierbaren Bereichen durch Initiativen von Nachbarn und Kunden zu unterstützen. Selbst Verdi hat beim letzten großen Einzelhandelsstreik 2008 auf das Konzept der »kritischen Kunden« zurückgegriffen. So wurde während eines Aktionstags die Filiale einer bestreikten Ladenkette von solidarischen Kunden blockiert.

Dass solche Aktionen durchaus etwas bewirken können, machte zuletzt die Kampagne für »Emmely« deutlich. Von der Kündigung der Kassiererin bei Kaiser’s erfuhren damals einige Kunden im Rahmen eines solchen Aktionstags. Sie gründeten daraufhin ein Solidaritätskomitee und ini­tiierten eine bundesweite Kampagne, die nicht nur dafür sorgte, dass die Frau wieder eingestellt werden musste. Ihr Fall wurde auch zu einem Symbol für Gegenwehr und Solidarität in schwer organisierbaren Bereichen. Die Soziologin Ingrid Artus wies in diesem Zusammenhang darauf hin, wie wichtig die Unterstützung in solchen »Einzelfällen« ist. Auch im Fall von Reilig scheint die Unterstützung durch ein solidarisches Umfeld Wirkung zu zeigen. So beklagte die Arbeitgeberseite in der ersten Güteverhandlung Ende Oktober, dass deren Umsatz um die Hälfte eingebrochen sei. Außerdem wurde inzwischen die Klage des Ladenbesitzers gegen das Onlinemagazin »Trend« abgewiesen, mit der anscheinend die Berichterstattung über den Fall unterbunden werden sollte. Auch damit hatte sich der Besitzer keine Freunde im Kiez gemacht.

http://jungle-world.com/artikel/2011/44/44248.html

Peter Nowak 

Weihnachten bei Amazon

Erwerbslosenforum und Beschäftigte erheben neue Vorwürfe gegen Internetversandhandel
Kostenlose Arbeitskräfte für das Weihnachtsgeschäft? Neue Vorwürfe gegen die Arbeitsbedingungen beim Online-Versandriesen Amazon werden laut.

Nach Angaben des Erwerbslosenforums lässt Amazon sich für das Weihnachtsgeschäft ALG-II-Berechtigte als Praktikanten vom Jobcenter vermitteln. Ein Erwerbsloser hatte sich an das Forum gewandt, nachdem er vom Jobcenter an den Internetversandhandel vermittelt wurde.

Nach seinen Schilderungen lässt sich das Unternahmen die Aushilfsarbeitskräfte zum Verpacken der Waren für das Weihnachtsgeschäft vom Jobcenter subventionieren. Er sei in einer Gruppe mit 90 Erwerbslosen zu einer mehrstündigen Informationsveranstaltung in Werne (Nordrhein-Westfalen) eingeladen worden. Dort seien neben Amazon-Verantwortlichen auch Mitarbeiter des Jobcenters anwesend gewesen. Die Erwerbslosen sollten für zwei Wochen als »Praktikanten« ihre Arbeitskraft kostenlos zur Verfügung stellen. Sie bekommen in dieser Anlernzeit weiterhin ALG II und zusätzlich die Fahrtkosten erstattet. Bei einer zukünftigen Einstellung sollen die Aushilfskräfte wöchentlich 38,5 Stunden arbeiten, bekommen aber nur 35 Stunden bezahlt. Wenn sich ein Erwerbsloser weigert, unter diesen Bedingungen bei Amazon zu arbeiten, drohen ihm nach den Beschreibungen Sanktionen durch das Jobcenter.

Der Sprecher des Erwerbslosenforums Martin Behrsing bezeichnete das Vorgehen als »schier unerträglich« und forderte die Bundesagentur für Arbeit auf, »schleunigst dafür zu sorgen, dass diese Praxis des Abzockens auf allen Ebenen sofort gestoppt wird«. Hier werde ein international agierender Konzern auf Kosten von Erwerbslosen subventioniert.

Die Druckmittel gegen Amazon sind allerdings begrenzt. Daher ist es eher unwahrscheinlich, dass die Beschäftigten die Aufforderung »Occupy Amazon«, mit der die Presseerklärung des Erwerbslosenforums endet, umsetzen.

Denn die Angst unter den Mitarbeitern ist groß, wie Report Mainz bei Recherchen herausfand. Amazon-Mitarbeiter der Standorte Leipzig und Bad Hersfeld berichteten dem Sender, dass sie teilweise über mehrere Jahre immer wieder befristete Arbeitsverträge bekommen. Die Furcht, nach dem Auslaufen des Vertrags nicht übernommen zu werden, führte dazu, dass die Beschäftigten trotz Krankheit zur Arbeit erschienen. »Der Druck ist groß«, bestätigte eine Mitarbeiterin. Immer mehr Firmen würden Vollzeitarbeitsplätze abbauen und durch befristete Verträge ersetzen, meint der Arbeitssoziologe Klaus Dörre. Er bezeichnet diese Maßnahme als Disziplinierungsinstrument.

Diese Einschätzung bestätigt Amazon indirekt. Sie gibt als Gründe für die Ausweitung der Befristungen an, dass damit die Nachfrageschwankungen innerhalb eines Jahres aufgefangen und besonders engagierte Mitarbeiter gewonnen werden sollen. Sprich: Sind die Arbeitsplätze unsicher, steigt das Engagement.

Allerdings wächst in der letzten Zeit auch die Bereitschaft von Amazon-Mitarbeitern, sich gewerkschaftlich zu engagieren. Das berichtet Julian Jaedicke gegenüber »nd«. Er ist Organizer für die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in Bad Hersfeld. Dort beträgt die Probezeit, in der die Beschäftigten ohne Lohn arbeiten müssen, eine Woche. Von den 5000 Mitarbeitern der Hersfelder Filiale haben 3000 befristete Arbeitsverträge.

Viele Beschäftigte hätten Angst sich zu positionieren. »Wenn wir einen festen Arbeitsvertrag haben, werden wir aktiv«, lautet die Devise. Mittlerweile wachse der Druck des Unternehmens auf die Organizer, die die Kantine von Amazon nicht mehr betreten dürfen. Allerdings habe ihre Arbeit Früchte getragen. »Mittlerweile verteilen die Mitarbeiter die Materialen in der Kantine«, erzählt Jaedicke.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/210419.weihnachten-bei-amazon.html

Peter Nowak