Sieg auf halber Strecke


Nach einem erfolgreichen Volksentscheid müssen die Initiatoren oft weiter für ihr Anliegen kämpfen

Welche Bedeutung haben Volksbegehren für den Kampf gegen Privatisierung und für die Durchsetzung umweltfreundlicher Politik? Die Erfahrungen in Berlin sind zwiespältig.

Der Berliner Energietisch will die Stromnetze der Stadt wieder in kommunale Hand überführen. Aktivisten haben in den vergangenen Wochen über 16 000 Unterschriften gesammelt, um die erste Phase des Volksbegehrens einzuleiten. Zu dem Bündnis aus 39 Organisationen, das das Volksbegehren gestartet hat, gehört die Gruppe »Für eine linke Strömung« (FelS). Sie sieht darin einen Beitrag zum Kampf gegen umweltschädliche Energieformen und für den Zugang für alle zu Energie. Dass diese Frage nicht nur im globalen Süden aktuell ist, macht Susanne Pahnke von FelS am Beispiel der Strom- und Gasabschaltungen deutlich, mit denen einkommensschwache Menschen auch hierzulande konfrontiert sind. »Wenn ich Unterschriften sammle, kommt die Diskussion schnell auf die Frage, wem die Politik der Privatisierung nutzt und wem sie schadet«, sagt sie. Schnell werde man sich dann einig, dass die Güter der Daseinsvorsorge dem Gesetz der Profitmaximierung entzogen werden sollen. Für die FelS-Aktivistin ist das Volksbegehren eine Möglichkeit, Kapitalismuskritik in größeren Kreisen der Bevölkerung zu verankern.

Dorothea Härlin hat mit dem Berliner Wassertisch schon ein erfolgreiches Volksbegehren organisiert. Dadurch mussten die Verträge, die Konzerne wie Veolia mit dem Land Berlin geschlossen haben, veröffentlicht werden. Doch die Konflikte gehen auch danach weiter. Der durch das Volksbegehren installierte Sonderausschuss des Abgeordnetenhauses drohe zur Alibiveranstaltung zu werden, moniert Härlin. Zudem haben Veolia und RWE eine Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz eingereicht, das durch das Volksbegehren beschlossen wurde. Demnach sind Verträge unwirksam, wenn sie innerhalb von einem Jahr nach Inkrafttreten dieses Gesetzes nicht offen gelegt werden. Für die Aktivisten hat die Klage den Verdacht erhärtet, dass noch nicht alle Teile der Wasserverträge offengelegt worden sind. Sie müssen weiterkämpfen.

Die Aktivisten machten noch weitere ernüchternde Erfahrungen nach ihrem Volksentscheid. So blieb der Kreis der Mitstreiter trotz der Aufmerksamkeit für ihr Anliegen begrenzt. Auch die Zusammenarbeit mit anderen Initiativen, die Volksbegehren organisieren, verläuft eher schleppend. »Es geht immer um sehr spezielle Fälle und es ist für alle Initiativen ein großes Problem, die Unterschriften zu sammeln und die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen«, benennt Härlin die Probleme, über den eigenen Tisch hinauszublicken.

Zur Zeit hat besonders der S-Bahn-Tisch Unterstützung nötig. Er sammelt auf seiner Homepage Solidaritätsunterschriften. Denn das Volksbegehren, das sich gegen die Zerschlagung der Berliner S-Bahn wendet, kann zur Zeit nicht weiter verfolgt werden, obwohl die nötigen Unterschriften für die Einleitung des Volksbegehrens beisammen sind. Doch der Berliner Senat spielt auf Zeit und lässt den Inhalt des Volksbegehrens juristisch überprüfen, während er zugleich die Ausschreibung der S-Bahn weiter vorantreibt. Wenn die Ausschreibung bekannt gegeben wird, wollen die Aktivisten protestieren. Dann wird sich auch zeigen, ob die Zusammenarbeit mit der außerparlamentarischen Bewegung der Stadt auch jenseits des Sammelns von Unterschriften funktioniert.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/227556.sieg-auf-halber-strecke.html
Peter Nowak

Und keiner geht hin

Was bringt der politische Streik? Darüber diskutierten Gewerkschafter aus verschiedenen europäischen Ländern am Wochenende in Berlin.

Jahrelang seien die Gewerkschaftsfunktionäre nicht hinter ihren Schreibtischen hervorgekommen. Doch der Generalstreik habe alles verändert. Michael Pieber von der österreichischen Gewerkschaft der Privatangestellten berichtete fast schwärmerisch über den Generalstreik gegen die Rentenreform im Jahr 2003. Schließlich handelte es sich damals um den ersten landesweiten Streik seit 50 Jahren. Zum Vergleich: In Portugal gab es in den vergangenen 30 Jahren acht Generalstreiks. In Griechenland wurde in den vergangenen drei Jahren sogar ein Dutzend Mal der Generalstreik ausgerufen.

Am vergangenen Samstag kamen Gewerkschafter aus verschiedenen europäischen Ländern auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin zu einer Konferenz mit dem Titel »Politische Streiks im Europa der Krise« zusammen. Einen Grund für den Meinungsaustausch deutete Florian Wilde an, der Referent für Gewerkschaftspolitik bei der Stiftung: »Die massive Zunahme politischer Generalstreiks führte bisher leider nicht zu durchgreifenden Erfolgen der Gewerkschaften.«

Olga Karyoti lieferte eine Erklärungen dafür. Sie gehört der griechischen Übersetzergewerkschaft an, einer kleinen Gewerkschaft prekär Beschäftigter, die sich in den vergangenen Jahren jenseits der traditionskommunistisch und sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaftsverbände gegründet hat. Karyoti beschrieb den Generalstreik als ein Gewerkschaftsritual, das von den Vorständen oft ohne Basisbeteiligung beschlossen werde. Die jüngsten beiden Streiks seien zudem erst einen Tag vor Beginn bekannt gemacht worden. Entsprechend schwach sei die Beteiligung gewesen. Auch Deolinda Martin von der portugiesischen Lehrergewerkschaft hatte wenig Ermutigendes über die jüngsten Generalstreiks in ihrem Land zu berichten. Die Beteiligung sei sehr gering gewesen, die Streiks hätten die Gewerkschaften geschwächt. Nun wollen diese enger mit den sozialen Bewegungen kooperieren.

Aus Deutschland konnten keine Erfahrungen beigesteuert werden, weil Generalstreiks hierzulande rechtswidrig sind. Eine Organisation hessischer Gewerkschafter, die sich für das Recht auf einen politischen Streik einsetzt, war mit einem Informationsstand vertreten. Der Verdi-Bezirk Stuttgart plant zudem für nächstes Jahr eine weitere Konferenz, in der es auch um die Bedeutung politischer Streiks in Krisenzeiten gehen soll. Für eine ergiebige Debatte wäre es allerdings wohl sinnvoll, wenn auch Personen zu Wort kämen, die nicht dem DGB angehören.

Anna Leder wäre eine geeignete Referentin. »Selbstermächtigte Arbeitskämpfe tragen Elemente rätedemokratischer und syndikalistischer Konzepte in sich, indem sie Stellvertreterpolitik ablehnen und zum Mittel der direkten Aktion greifen«, schreibt sie im Vorwort des von ihr herausgegebenen Buches »Arbeitskämpfe im Zeichen der Selbstermächtigung«, das vor kurzem im Promedia-Verlag erschienen ist. Darin werden Arbeitskämpfe betrachtet, an denen die großen Gewerkschaften gar nicht oder nur am Rande beteiligt waren.

Der Kölner Autor Christian Frings diagnostiziert in seinem Beitrag eine deutliche Zunahme solcher Arbeitskämpfe in Deutschland. »Das Auftreten neuer, autonomer Formen des Arbeiterwiderstands muss auch als Reaktion auf den völligen Ausfall einer gewerkschaftlichen Abwehrpolitik in den Jahren zuvor verstanden werden«, lautet seine Einschätzung. Frings’ Skepsis bezüglich der Rolle des DGB ist gut begründet, allerdings bewertet er die selbstorganisierten Basiskämpfe doch etwas sehr optimistisch.

Dass man sich auf der Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung auf den DGB konzentriert und andere Gewerkschaften ausgespart hat, ist ein Merkmal der Gewerkschaftspolitik der Linkspartei, der die Stiftung nahesteht. Der Parteivorsitzende und ehemalige Gewerkschafter Klaus Ernst verhielt sich denn auch ganz wie ein Funktionär. Nachdem er seinen Eröffnungsbeitrag gehalten hatte, eilte er zu anderen Terminen.

http://jungle-world.com/artikel/2012/19/45415.html
Peter Nowak

EIN FALL FÜRS ARBEITSGERICHT

Gekündigt – wegen Gründung eines Betriebsrats

Als 2007 in Kreuzberg die Pflegeeinrichtung Türk Bakim Evi eröffnet wurde, fand sie bundesweit Beachtung. Das „Haus des Wohlbehagens“, so die Übersetzung des Namens, war das bundesweit erste Seniorenheim für Menschen, die aus der Türkei eingewandert waren. Heute nennt sich die Einrichtung schlicht Pflegehaus Kreuzberg und hat von ihren multikulturellen Zielen Abstand genommen. „Eine Aufrechterhaltung wurde aus kulturellen und ökonomischen Gründen nicht länger verfolgt“, heißt es auf der Website.

Nun macht die Einrichtung wieder Schlagzeilen – allerdings keine positiven. Am heutigen Freitag werden die Verfahren zweier ehemaliger Beschäftigter vor dem Berliner Arbeitsgericht verhandelt. Zwei MitarbeiterInnen des Pflegehauses seien fristlos gekündigt worden, weil sie einen Betriebsrat gründen wollten, so Michael Musall von Ver.di. „Wildwestmethoden“ wirft Ver.di den Betreibern der Einrichtung, der Marseille-Kliniken AG, deshalb vor. Seine Gewerkschaft hat den Kolleginnen Beratung und rechtliche Unterstützung zugesagt. Die Geschäftsführung des Pflegehauses war gegenüber der taz zu keiner Stellungnahme bereit.

Unterdessen beschäftigen sich Solidaritätsgruppen mit der Situation von Beschäftigten im Pflegebereich und unterstützten sie bei der Durchsetzung ihrer Rechte. So organisiert ein Solikomitee am heutigen Freitag ab 21 Uhr im Friedrichshainer Vetomat eine Solidaritätsparty für eine weitere Pflegehelferin. Sie hatte sich für bessere Arbeitsbedingungen bei der Hauskrankenpflege Mitte eingesetzt und war gemobbt worden. Nun droht ihr Erzwingungshaft, weil sie sich weigert, die Kosten aus dem folgenden Arbeitsgerichtsverfahren zu bezahlen (taz berichtete).
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2012%2F05%2F11%2Fa0225&cHash=9779f84bc6
PETER NOWAK

Hartz IV? Mañana!

BEHÖRDENWILLKÜR Jobcenter will in Berlin lebendem Spanier kein Geld zahlen – trotz Gerichtsbeschluss

Seit Ende März erhält Esteban Granero (Name geändert) kein Geld mehr vom Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg. Dabei hat der Anwalt des Spaniers, Michael Wittich, erfolgreich einen Eilantrag beim Sozialgericht gestellt, das die Behörde zur Weiterzahlung verpflichtete.

Der seit einem Jahr in Berlin erwerbslos gemeldete Graneros hatte bis Leistungen nach SGB III bezogen. Ende März informierte ihn das Jobcenter, die Leistungen würden zum 1. April eingestellt. „Der Antragssteller ist spanischer Staatsbürger und hält sich nur zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland auf. Er fällt damit unter die Personengruppe, die nach der Vorbehaltserklärung der Bundesregierung gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EPA) von Hartz-IV-Leistungen ausgeschlossen ist“, so die Behörde. Das Sozialgericht hält dies für unvereinbar mit Europarecht – es gab dem Eilantrag statt.

Gegen den Richterspruch legte das Jobcenter Widerspruch ein. Man wolle erst die Entscheidung des Landessozialgerichts abwarten, so Behörde. Anwalt Wittich hält das für rechtswidrig. „Ein Eilantrag muss sofort umgesetzt werden. Es liegt nicht im Belieben der Behörde, die Umsetzung wochenlang zu verschleppen.“ Der Jurist hat gegen die Verzögerung juristische Schritte eingeleitet und ist optimistisch, dass sein Mandant Erfolg hat.

Doch Graneros ist weiterhin ohne Geld. Seine Wohnung droht er deshalb zu verlieren. Das Jobcenter reize seine Macht auf Kosten des Erwerbslosen aus, moniert Anwalt Wittich. Dabei geht es für die Behörden um ein Nullsummenspiel: Wenn das Gericht gegen Graneros entscheidet, muss der Bezirk einspringen.

Wittichs Mandant ist nicht der einzige EU-Bürger, der Probleme mit dem Jobcenter hat. Weitere Erwerbslose wurden nach Streichung der Hartz-IV-Leistungen nicht zu den Sozialämtern weitergeleitet, andere sind ausgereist (taz berichtete).

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/
?ressort=bl&dig=2012%2F05%2F08%2Fa0157&cHash=5b0c4ee0e3
Peter Nowak

Ausschluss von EU-Bürgern aus deutschen Sozialsystem stößt an Grenzen

Die Bundesregierung gerät mit ihrem Versuch, erwerbslose EU-Bürger in Deutschland von Sozialleistungen auszuschließen, juristisch und politisch in die Defensive

Die Bundesrepublik Deutschland erklärte im Dezember 2011 einen Vorbehalt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen, das die Sozialleistungen der Mitglieder des Europarates regelt. Danach erhielten zahlreiche erwerbslose EU-Bürger keine Hartz-IV-Leistungen mehr. Mit der Maßnahme will die Bundesregierung verhindern, dass Menschen aus der europäischen Peripherie infolge der Wirtschaftskrise in Deutschland ihr Auskommen suchen.

Mittlerweile haben Sozialgerichte in Leipzig und Berlin entschieden, dass EU-Ausländer in Deutschland Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalt haben.

„Die Entscheidung des Sozialgerichtes Leipzig, mit der der Kläger aus Griechenland gegen die Auffassung des Jobcenters Leipzig die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zugesprochen wird, ist ein Erfolg für das akut bedrohte und langsam erodierende Sozialstaatsprinzip in Deutschland und ein Teilerfolg im Kampf gegen staatlichen Rassismus“, kommentierte die Leipziger Stadtverordnete der Linkspartei, Juliane Nagel, das Urteil.

Sozialhilfe kann nicht verweigert werden

Das Bundesarbeitsministerium hat nach einer Anfrage der Bundestagsabgeordneten der Linkspartei Katja Kipping zudem erklärt, dass EU-Bürger gleich nach ihrer Ankunft in Deutschland Anspruch auf Sozialhilfe haben.

„Der Vorbehalt wurde nur für die Anwendung des Sozialgesetzbuchs (SGB) II erklärt“, schreibt nun das Ministerium in der Unterrichtung an den Ausschuss. Die Betroffenen könnten aber „stattdessen einen Anspruch auf Hilfen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII“, also der Sozialhilfe, haben“, zitiert die Welt aus dem Schreiben des Ministeriums. Die Verlagerung von Hartz-IV auf Sozialhilfe bedeutet, dass die Kosten auf die Kommunen abgewälzt werden.

Vor allem in Berlin wächst derweil die Kritik an den Jobcentern über den Umgang mit erwerbslosen EU-Bürgern. So moniert der Rechtsanwalt Michael Wittich, dass sein Mandant, ein spanischer Staatsbürger, der seit einem Jahr erwerbslos gemeldet ist, seit März kein Geld bekomme und seine Wohnung nicht mehr bezahlen könne. Dabei hat Wittich vor dem Sozialgericht einen Eilantrag erwirkt, der das Jobcenter Friedrichshain Neukölln zur Zahlung verpflichtet. Weil das Amt aber Widerspruch bei der nächsten Instanz eingereicht hat, will es mit der Zahlung warten. „Ein Eilantrag muss sofort umgesetzt werden. Es liegt nicht im Belieben der Behörde die Umsetzung wochenlang zu verschleppen“, rügt Wittich das Verhalten. Mittlerweile erhalten die Betroffenen Unterstützung von sozialen Initiativen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151934
Peter Nowak

Lehrzeit keine Leerzeit

David Templin erinnert in einem Buch an den »Hamburger Aufstand der Stifte«
Ende der sechziger Jahre standen nicht nur die Studenten auf den Barrikaden, auch junge Auszubildende begannen, sich für ihre Interessen stark zu machen. Auch in Hamburg.

»Braucht Du einen billigen Arbeitsmann, schaff‘ Dir einen Lehrling an«, lautete einer der Slogans, mit denen sich junge Leute vor 40 Jahren gegen die Zustände in der Ausbildung wehrten. Dazu gehörte damals noch das obligatorische Zeitung holen, Fegen und Brötchen schmieren. Selbst Prügel vom Meister war keine Seltenheit.
Doch die Folgen der i Studierendenbewegung wirkten sich vor allem auf jüngere Arbeiter aus. Es entstand h in der ganzen BRD eine Lehrlingsbewegung,, die bisher in der Forschung kaum beachtet wurde. Doch kürzlich hat der an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg arbeitende Historiker David Templin unter dem Titel „Lehrzeit – keine Leerzeit“ im Dölling und Galitz Verlag ein Buch veröffentlicht, dass den Hamburger Aufstand der Stifte“, wie die Bewegung in der Presse häufig genannt wurde, untersucht.. Das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem Hamburger DGB und den Aktivisten der Lehrlingsbewegung nimmt in Templins Untersuchung einen großen Raum ein.
Ebenso wird an die in der Hamburger Akademie für Wirtschaft und Politik aktive gewerkschaftlichen Studentengruppe (GSG) erinnert. Die beiden Aktivisten Reinhard Crusius und Manfred Wilke, die sich selber als Linkssozialisten verstehen, haben eine wichtige Rolle beim Entstehen der Lehrlingsbewegung. Ihnen gelingt der Spagat, die Strukturen des DGB zu nutzen und trotzdem die politische Autonomie zu wahren. So wurde ein vom Hamburger DGB unterstützter Jour Fixe für eine kurze Zeit zum lebendigen Zentrum der Lehrlingsbewegung in der Hansestadt. Die Gründung dieses Gremiums war auch eine Folge von außerparlamentarischen Druck, nachdem die 1.Mai-Kundgebung des DGB 1969 massiv von Gruppen der neuen Linken, darunter vielen Lehrlingen gestört worden war. Mit dem Jour Fixe versuchte der DGB verlorenes Vertrauen der Jugend zurück zugewinnen.
Zu Konflikten kam es in dem Jour Fixe bald mit den unterschiedlichen kommunistischen Gruppen, die Anfang der 70er Jahre in die Lehrlingsbewegung intervenierte. Dabei war die DKP-nahe Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) anfangs am erfolgreichsten. Die Mitgliederzahlen stiegen zunächst und auch im DGB-Jugendapparat konnte die Organisation Posten besetzen.
Heftige Kritik an ihren Positionen kam nicht nur von den diversen maoistisch ausgerichteten Gruppierungen, sondern auch von der linkssozialistischen GSG. Wilke und Crusius warfen der SDAJ sogar vor, gemeinsam mit dem DGB-Apparat die Lehrlingsbewegung in Hamburg abgewürgt zu haben.
Diese Einschätzung teilt Templin nicht. „Mit ihrer auf Organisationshandeln fixierten These tendieren beide dazu, zu übersehen, dass der Welle des politischen Aufbegehrens von Lehrlingen, die 1969 einsetzte, seit 1971 abebbte.“
Dazu hatte die Line vieler maoistischer Gruppierungen beigetragen, dass eine eigene Lehrlingsorganisierung die Klasse spalten. Aber auch Reformen der sozialliberalen Koalition, die den Fokus auf die Ausbildung und nicht mehr auf des Bierholen legten trug zum
Abebben der Bewegung bei. Vierzig Jahre später ist es das Verdient von Templin an die fast vergessene Gesichte angeknüpft zu haben. Es ist zu hoffen, dass auch aus anderen Teilen der Republik über die Lehrlingsbewegung geforscht wird. Schließlich konnten heute Azubis davon etwas lernen. Schließlich ist der Druck auf sie im Zeiten von wachsenden Niedriglohnsektoren sogar noch. gewachsen.

Peter Nowak
https://www.neues-deutschland.de/artikel/225914.lehrzeit-keine-leerzeit.html
David Templin: „Lehrzeit – keine Leerzeit!“ « Die Hamburger Lehrlingsbewegung 1968 – 1972, Dölling und Galitz Verlag, 194 Seiten, 10.00 €, ISBN 9-783862 180189

Deutsche Willkommenskultur

In Deutschland werden EU-Bürgern Hartz-IV-Leistungen gestrichen.

Manuel Paredo ist wütend. Bisher hat der in Deutschland lebende spanische Staatsbürger Leistungen nach Hartz IV erhalten. Sie sollen ihm künftig verweigert werden. Seit Mitte März haben tausende Erwerbslose aus EU-Ländern von den Jobcentern ein Schreiben mit dieser Ankündigung erhalten. Hintergrund ist ein Vorbehalt, den die Bundesregierung gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) erklärt hat (Jungle World 17/­2012). Nach einer Anweisung, die das Bundesarbeitsministerium der Bundesagentur für Arbeit erteilte, wurden bereits bewilligte Hartz-IV-Leistungen für EU-Bürger widerrufen und Neuanträge abgelehnt.

Nach Informationen von Dilek Kolat (SPD), der Berliner Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen, könnten allein in Berlin 8 660 Erwerbslose aus EU-Ländern davon betroffen sein. Die Senatorin geht allerdings davon aus, dass der tatsächliche Anteil geringer ist, weil viele erwerbslose EU-Bürger in Berlin Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben.

Allerdings haben auch Erwerbslose, die einen solchen Anspruch haben, das Schreiben des Jobcenters erhalten, sagt der auf Sozialrecht spezialisierte Berliner Anwalt Lutz Achenbach. Obwohl die Chancen groß seien, dass die Bescheide für rechtswidrig erklärt werden, seien deswegen schon EU-Bürger ausgereist, sagt Achenbach. Dazu trage auch die von den Berliner Jobcentern praktizierte Umsetzung der Anweisung aus dem Ministerium bei, kritisiert sein Kollege Michael Wittich. So leiteten die Jobcenter die Mitteilung über die Aufhebung von Hartz-IV-Leistungen nicht automatisch an die Sozialämter weiter, kritisiert der Jurist. Eilentscheidungen, die das Jobcenter eigentlich zur sofortigen Zahlung verpflichten, führten nicht immer zum Erfolg, berichtet der Anwalt. Ein von Wittich vertretener spanischer Staatsbürger, der seit 2009 in Berlin lebt und seit 2010 Leistungen nach dem SGB II erhielt, hatte im Eilverfahren gegen die Verweigerung der Hartz-IV-Leistungen Erfolg. Doch der Beschluss sei vom Jobcenter Friedrichshain-Kreuzberg auch zwei Wochen später noch immer nicht umgesetzt worden. Es hat gegen die Eilentscheidung Beschwerde vor dem Landesssozialgericht eingelegt und möchte erst dessen Entscheidung abwarten. Der Betroffene, der schon länger als einen Monat kein Geld mehr erhalten hat, kann seine Miete nicht mehr zahlen, nun droht ihm der Verlust der Wohnung.

Dass Menschen, denen auf diese Weise der Lebensunterhalt entzogen wird, ausreisen oder im Niedriglohnsektor ihr Überleben zu sichern versuchen, ist eine Konsequenz dieser von der Politik gewollten behördlichen Maßnahmen. Auch Kolat übt Kritik an der Streichung der Hartz-IV-Leistungen: »Da Deutschland mehr denn je auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen ist, sollte jede Erschwerung für arbeitssuchende Europäer vermieden werden.« Wie sehr die Senatorin dem deutschen Standortdenken verpflichtet ist, zeigt ihre Begründung: »Gegenwärtig besteht aus Sicht des Senats keine begründete Sorge, dass es zu einer vermehrten Einwanderung in unser Sozialsystem kommen könnte.« Mit dem Argument, dass wegen der Wirtschaftskrise Menschen aus dem Süden Europas nach Deutschland kommen könnten, begründet die Bundesregierung ihren Vorbehalt gegen das EU-Fürsorgeprogramm. Menschen, die durch das vor allem von Deutschland forcierte »Spardiktat« ihrer Lebensperspektive beraubt werden, sollen nicht auf den Gedanken kommen, dass sie in dem Land, das von der EU-Krise am meisten profitiert, ein besseres Leben führen könnten.

Die Berliner Gruppe »Zusammen! Gegen das Jobcenter Neukölln« möchte nun vor Jobcentern, Konsulaten und an anderen Orten Flugblätter verteilen, mit denen Betroffene über die rechtliche Situation und Möglichkeiten zum Widerstand informiert werden. Das Motto »Solidarität statt Ausgrenzung« dürfte auch für Erwerbslosengruppen eine Herausforderung sein. Denn auch bei ihnen besteht nicht immer Einigkeit darüber, dass die soziale Sicherung auch für Menschen ohne deutschen Pass erkämpft werden muss.
http://jungle-world.com/artikel/2012/18/45371.html
Peter Nowak

Fiskalpakt – tickende Zeitbombe für Europa?

Auch in Deutschland wächst der Widerstand gegen den Sparkurs der Regierung

So hat im Vorfeld des 1.Mai der DGB die Kritik an dem Fiskalpakt verschärft, der in vielen europäischen Ländern schon lange für Widerstand sorgte. Soziale Initiativen und Gewerkschaften kritisierten dabei häufig den inaktiven DGB, der sich bisher kaum mit Protest an der EU-Politik profiliert hat. Zumindest verbal haben sich die Gewerkschaften in den letzten Wochen stärker von Merkels Europakurs in der Wirtschaftspolitik distanziert. Unter dem Motto „Den Fiskalpakt stoppen“ mobilisiert die verdi-Jugend nun gegen den Pakt:

„Damit würde nicht nur das Recht, den eigenen Haushalt zu gestalten, massiv eingeschränkt und teilweise auf die EU-Kommission übertragen. Er würde zusätzlich den Druck erhöhen, mehr Sozialabbau durchzusetzen, Löhne im öffentlichen Sektor zu senken und öffentliche Investitionen zurückzufahren.“

Auch der verdi-Vorsitzende Frank Bsirske nennt den Pakt undemokratisch und bezeichnet ihn als „tickende Zeitbombe“ für Europa. Ob den starken Worten, an denen es von DGB-Funktionären um den 1.Mai herum bekanntlich nie mangelt, Taten folgen, wird sich zeigen. Unter dem Titel „Europa neu begründen“ hat Bsirske gemeinsam mit Wissenschaftlern einen Aufruf verfasst. Andere Gewerkschafter wollen es nicht bei papierenen Protest belassen und mobilisieren zu den Blockuppy-Protesten Mitte Mai in Frankfurt/Main.

Soziale Frage auch auf Demo in Kreuzberg im Zentrum

Auch am 1.Mai stand der Widerstand gegen das EU-Spardiktat in Berlin im Zentrum verschiedener Bündnisse. Auch auf der Demonstration, die um 18 Uhr in Kreuzberg startete, stand das Thema sozialer Proteste im Mittelpunkt. Schon rein optisch entsprach sie nicht dem Bild vom autonomen „schwarzen Block“, das in vielen Medien vorherrscht. Der Großteil der über 20.000 Teilnehmenden war eher sommerlich und bunt gekleidet.

Erstmals nahm auch ein Block der verdi-Jugend an der Demonstration teil, die mit ihrer Route in die Mitte Berlins den Ruf loswerden wollte, nur auf den Kreuzberger Kiez fixiert zu sein. Die Veranstalter werteten die große Teilnehmerzahl und die wachsende Beteiligung sozialer Initiativen und gewerkschaftlicher Gruppen als Erfolg einer zunehmenden Abwendung von autonomer Szenepolitik. Auch die schon ritualisierte Debatte um Steinwürfe hat an Bedeutung verloren. Deswegen gibt es auch wenig Verständnis für die Beschädigung einer leeren Polizeikabine vor dem Jüdischen Museum, dem wohl ungeeignetsten Ort, um in Berlin gegen die Polizeipräsenz zu protestieren.

Die Polizei nutzte die Beschädigungen, um die Demonstrationen aufzulösen. Es ist auch dem besonnenen Verhalten der Demonstrationsorganisatoren und nicht nur der von Innensenator Frank Henkel gelobten Polizeitaktik geschuldet, dass es im Anschluss nicht zu großen Straßenschlachten gekommen ist. Ein Großteil der 138 Festgenommen dürfte, wie in den Vorjahren, eher durch das vom Bezirk gesponserste Kreuzberger Maifest alkoholisiert, als durch die Demonstration politisiert worden sein.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151912
Peter Nowak

Hartz IV beschäftigt weiter die Gerichte

Was von Teilen der Erwerbslosenbewegung begrüßt wird, ist auch Ausdruck ihrer Schwäche

Die Frage der Hartz-IV-Sätze wird wieder das Bundesverfassungsgericht beschäftigen. Die 55. Kammer des Berliner Sozialgerichts hat zwei Klagen von Erwerbslosen zum Anlass genommen, um die Frage zu klären, ob die aktuellen Leistungen verfassungswidrig niedrig sind. Im Februar 2010 hatte das Karlsruher Gericht bereits mit einer Entscheidung für eine Neuregelung gesorgt. Damals hatten die Richter eine „transparente, realitätsgerechte und nachvollziehbare Neukalkulation“ gefordert.

Für den Richter am Berliner Sozialgericht Gunter Rudnik hat die Bundesregierung bei der Neuregelung der Hartz-IV-Sätze diese Grundsätze verletzt. Er monierte besonders den Modus, nach dem die neuen Sätze, aktuell 374 Euro für einen Erwachsenen, ermittelt wurden. So seien als Vergleichsmaßstab statt vorher 20 nur 15 % der Bevölkerung mit niedrigem Einkommen herangezogen worden. Für den Richter ist die Einschränkung der Vergleichspersonen willkürlich und nicht nachvollziehbar.

Zudem seien in dieser Gruppe auch Menschen im Niedriglohnsektor vertreten gewesen, denen eigentlich Leistungen nach Hartz IV zustehen, die aber diese Leistungen nicht beantragen. Auf diese Weise wurde der Satz künstlich niedriger berechnet. Zudem hält es der Richter nicht für plausibel, dass ein Essen im Restaurant oder Geld für Schnittblumen oder alkoholische Getränke nach dem Willen der Bundesregierung nicht mehr zu den Posten gehören sollen, die aus dem Regelsatz für Hartz-IV-Bezieher bezahlt werden. Damit werde der Grundsatz verletzt, dass das Existenzminimum auch die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen ermöglichen müsse.

Erneute Blamage der Bundesregierung?

Nach den Berechnungen der Berliner Sozialrichter ist Hartz-IV-Regelsatz um 36 Euro zu niedrig. Bei einer mehrköpfigen Familie kann dann schnell ein dreistelliger Fehlbetrag zusammenkommen, der gerade für einkommensschwache Menschen existentiell sein kann.

Daher sehen viele Erwerbsloseninitiativen in dem bundesweit ersten Urteil, das die geltenden Regelsätze für verfassungswidrig hält, einen Erfolg und erwarten eine erneute Blamage der Bundesregierung in Karlsruhe. Diese Einschätzung ist allerdings fraglich, selbst wenn die Karlsruher Richter sich der Lesart der Berliner Sozialrichter anschließen sollten. Das ist allerdings keineswegs sicher. Haben doch andere Sozialgerichte die Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze bestätigt. .

Ziel dieser Bundesregierung ist genau wie das ihrer Vorgänger, den Preis der Ware Arbeitskraft zu senken. Der Hartz-IV-Satz soll so niedrig und mit so vielen Sanktionen verbunden sein, dass viele Menschen Erwerbsarbeit zu fast jeden Preis annehmen. Viele verzichten ganz auf Leistungen auf Hartz IV, weil sie nicht bereit sind, den vielfältigen damit verbundenen Einschränkungen zuzustimmen. Das würde sich auch nicht ändern, wenn der Regelsatz um 36 Euro erhöht würde. Anders wäre es, wenn höchstrichterlich die Verfassungswidrigkeit der Sanktionen entschieden würde. Ein solches Knacken eines Kernelements der Hartz-IV-Gesetzgebung ist allerdings nicht von der Justiz zu erwarten. Es sind gerade die Sanktionsmaßnahmen, die viele Betroffenen bei einer Befragung vor dem Jobcenter Neukölln als Entwürdigung bezeichnen. Das würde sich auch bei einer Erhöhung des Regelsatzes nicht ändern. Mit dem neuen Gang nach Karlsruhe droht eher ein Wiederaufleben der Debatte, ob Hartz-IV-Bezieher sich von dem Regelsatz auch mal ein Bier oder einen Kinobesuch leisten können müssen und dürfen.

Schlagen Erwerbslose wieder Krach?

Allerdings hatte die Debatte im Jahr 2010 den Nebeneffekt, dass sich verschiedene Erwerbslosengruppen zum Bündnis „Krach schlagen statt Kohldampf schieben“ zusammengeschlossen haben und nach vielen Jahren wieder eine bundesweite Demonstration der Erwerbslosenbewegung organisierten. Sie forderten eine Erhöhung des Regelsatzes um 80 Euro.

Auch wenn es um die Initiative danach ruhiger geworden ist, ist sie weiterhin aktiv. Schon vor der jüngsten Entscheidung der Berliner Sozialrichter hat sie eine Aktion im Rahmen von bundesweiten Krisenprotesten Mitte Mai in Frankfurt/Main geplant. Es könnte sein, dass der erneute Gang nach Karlsruhe solchen Initiativen wie 2010 wieder neuen Rückenwind gibt.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151885
Peter Nowak

Knapp bei Kasse

SOZIALES Fast 9.000 erwerbslose EU-Bürger, die in Berlin leben, bekommen kein Hartz IV mehr

Manuel Paredo ist wütend. Bisher hat der in Berlin lebende spanische Staatsbürger Hartz IV bekommen. Doch vor einigen Wochen teilte ihm das Jobcenter Neukölln mit, dass er künftig kein Geld mehr beziehen wird.

Der Grund dafür ist ein juristischer Einwand, den die Bundesregierung Anfang März gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA) erhoben hat, das die Fürsorgeleistungen auf EU-Ebene regelt. In den vergangenen Wochen wurde infolgedessen zahlreichen in Deutschland lebenden EU-BürgerInnen schriftlich mitgeteilt, dass schon bewilligte Hartz-IV-Leistungen widerrufen und Neuanträge abgelehnt werden.

Kräfte aus dem Ausland

In Berlin können rund 8.660 Erwerbslose aus EU-Ländern davon betroffen sein, erklärte nun die Senatorin für Arbeit und Integration, Dilek Kolat (SPD), als Antwort auf eine mündliche Anfrage des Piratenabgeordneten Alexander Spieß. Allerdings geht die Senatorin davon aus, dass der Anteil derjenigen, die vom Entzug der Leistungen betroffen sind, wesentlich geringer ist – weil viele erwerbslose EU-BürgerInnen Anspruch auf Leistungen nach dem SBG II haben. Kolat kritisierte den Kurs der Bundesregierung: „Da Deutschland mehr denn je auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen ist, sollte jede Erschwerung für arbeitsuchende Europäer vermieden werden. Gegenwärtig besteht aus Sicht des Senats keine begründete Sorge, dass es zu einer vermehrten Einwanderung in unser Sozialsystem kommen könnte.“

Die Maßnahme wurde mit dem Argument begründet, dass durch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise verstärkt Menschen aus anderen europäischen Ländern nach Deutschland kommen und sich hier arbeitslos melden könnten. Die Initiative „Zusammen! Gegen das Jobcenter Neukölln“ spricht jedoch von „sozialrassistischen Maßnahmen der Bundesregierung, mit der EU-Staatsangehörige ihrer Existenzsicherung beraubt werden“.

Der auf Sozialrecht spezialisierte Berliner Rechtsanwalt Lutz Achenbach erklärte gegenüber der taz: „Es sind schon Leute in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Dies liegt wohl auch daran, dass sie nicht ausreichendes Wissen über ihre Rechte und Klagemöglichkeiten haben“.

Andere wehren sich mit Eilverfahren vor dem Sozialgericht gegen den Stopp von Hartz IV. Nach Ansicht von Achenbach sind ihre Chancen gut. Der Einwand der Bundesregierung könnte gegen das in der Europäischen Verordnung enthaltene Diskriminierungsverbot verstoßen und daher rechtswidrig sein.

Widerspruch einlegen

Anwalt Lutz Achenbach rät allen Betroffenen, so schnell wie möglich Widerspruch einzulegen. Die Sozialberatung am Heinrichplatz will mehrsprachige Informationen erarbeiten. Die Initiative „Zusammen!

Gegen das Jobcenter Neukölln“ lädt am morgigen Mittwoch um 19 Uhr zu einem Vernetzungstreffen in die Meuterei in die Reichenberger Straße 58 ein. Neben Informationen für die Betroffenen soll dort auch über politische Protestmaßnahmen gegen den Vorgang beraten werden.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2012%2F04%
2F24%2Fa0165&cHash=92fc807a2a
Peter Nowak

Kein Hartz IV für bestimmte EU-Bürger?

Die Bundesregierung, die soviel vom vereinigten Europa redet, treibt die Spaltung bei der Gewährung von Sozialleistungen weiter voran

Manuel P. ist wütend. Bisher hat der in Deutschland lebende spanische Staatsbürger Leistungen nach Hartz IV bekommen. Doch jetzt teile ihm das Jobcenter mit, dass er künftig keine Leistungen mehr erhalten soll.

Er steht damit nicht allen. Nach einer Geschäftsanweisung des Bundesarbeitsministeriums an die Bundesagentur für Arbeit haben zahlreiche erwerbslose EU-Bürger ähnliche Schreiben bekommen.

Hintergrund sind die unterschiedlichen Auswirkungen der Wirtschaftskrise in der EU-Zone. Vor allem wegen der nicht zuletzt auf Druck der deutschen Regirung veranlassten Krisenprogramme wächst in Ländern der europäischen Peripherie wie Griechenland, Spanien und Portugal die Verarmung. Manche Menschen suchen einen Ausweg, in dem sie sich in Deutschland auf Arbeitssuche machen. Die Bundesregierung will verhindern, dass die Menschen auch die in Deutschland üblichen Sozialleistungen bekommen.

Die Nachricht zog Anfang März erste Kreise Die Angst von der Leyens vor spanischen und griechischen Zuwanderern ohne Arbeit?; seither hat sich einiges getan.

Erster Widerstand regt sich

In Berlin wurden im März zahlreiche dieser Schreiben verschickt. „Es laufen einige Eilverfahren beim Berliner Sozialgericht. Es sind aber schon Leute in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Dies liegt wohl auch daran, dass sie nicht ausreichendes Wissen über ihre Rechte und Klagemöglichkeiten haben“, erklärt der auf Sozialrecht spezialisierte Berliner Rechtsanwalt Lutz Achenbach gegenüber Telepolis.

Mittlerweile wollen soziale Initiativen den Betroffenen politische und rechtliche Unterstützung zukommen lassen.


Rechtliche Grauzone

Ihre Chancen sich erfolgreich rechtlich zu wehren, stehen nicht schlecht. Schließlich regelt das 1956 unterzeichnete Europäische Fürsorgeabkommen den Bezug von Fürsorgeleistungen auf EU-Ebene. Das Bundessozialgericht hat in mehreren Fällen entschieden, dass trotz verschiedener Ausschlussregelungen in Deutschland lebende französische Staatsangehörige Hartz-IV-berechtigt sind.

2009 hat sich bereits der Europäische Gerichtshof mit den Kriterien für Hartz IV-Bezug von EU-Bürgern in Deutschland befasst. Damals hatten griechische Staatsbürger, die in Deutschland in Minijobs beschäftigt waren und keine Leistungen bekommen sollten, geklagt.

Mit dem im März 2012 von der Bundesregierung eingelegten Vorbehalt gegen das Fürsorgeabkommen soll die vom Sozialgereicht für unwirksam erklärte Ausschlusspraxis fortgesetzt werden. Die Bundesagentur für Arbeit zieht danach auch die Rücknahme bereits bewilligter Leistungen in Erwägung. Rechtsanwalt Achenbach bezweifelt die rechtliche Tragfähigkeit aus mehreren Gründen:

„Erstens ist ein Vorbehalt wegen eines Urteils laut Vertragstext nicht vorgesehen. Zweitens steht die Frage im Raum, ob die gesetzliche Regelung im Sozialgesetzbuch II nicht auch gegen andere höherrangige Regelungen verstößt. So ist in der europäischen Verordnung (EG) Nr. 883/2004 auch ein Diskriminierungsverbot enthalten.“

Viele Gerichte hätten Zweifel, ob sich der gesetzliche Leistungsausschluss in § 7 SGB II mit dieser Verordnung in Einklang bringen lässt. Weil eine höchstrichterliche Entscheidung bisher aussteht, haben viele Kammern des Berliner Sozialgerichts den Betroffenen deshalb Leistungen nach Hartz IV zugesprochen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151849
Peter Nowak

Schienenwerker protestieren

Österreichischer Konzern Voestalpine will Duisburger Werk schließen
2011 sorgte ein Kartell von Schienenherstellern für Schlagzeilen. Jetzt droht in Duisburg Hunderten Schienenwerker der Verlust ihrer Jobs.

Mehrere Hundert Mitarbeiter der TSTG Schienen Technik GmbH & Co. KG haben in der vergangenen Woche in Duisburg die Arbeit niedergelegt und sich gemeinsam mit Unterstützern zu einem Protestzug versammelt. Sie demonstrierten gegen die durch den österreichischen Mutterkonzern Voestalpine beschlossene Werkschließung. Davon sind knapp 500 Beschäftigte betroffen, denen die Erwerbslosigkeit droht.
Auf einer Infoveranstaltung des Betriebsrats wandten sich auch Politiker von SPD und Linken gegen die Schließung. Dabei können sie sich auf ökonomische Fakten stützen. „Die Auftragsbücher sind voll, 270.000 Tonnen sind geordert“, kritisierte nicht nur der Betriebsratsvorsitzende Heinz-Georg Mesaros die Konzernleitung. Zu den Kunden gehörte auch die Deutsche Bahn. Der Bundestagsabgeordnete der Linken hat sich in einen Brief an Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer für den Erhalt des letzten Schienenwerkes in Deutschland eingesetzt. „Die TSTG fertigt seit Jahren nicht nur hochqualifizierte Schienen für die Deutsche Bahn AG und andere europäische Eisenbahnunternehmen, das Duisburger Werk ist zudem als einziges Unternehmen in der Lage ohne Probleme just it time zur Baustelle zu liefern“, so Ernst.
Die Beschäftigten sollen für Fehler des Managements die Zeche zahlen, darin sind die Belegschaften und ihre Unterstützer einig. Dabei kommen immer wieder die Schienenfreunde in die Diskussion. Dabei handelte es sich ein im letzten Jahr bekannt gewordenes Kartell von Stahlunternehmen, das jahrelang die Preise auf dem deutschen Stahlmarkt festgelegt hat. An dem Kartell war neben Voestalpine auch Thyssen Krupp führend beteiligt. Die Schließung des TSTG-Schienentechnik liege wohl daran, dass jetzt Geld gebraucht werde, um die von den Kartellbehörden verhängten Geldstrafen wegen der illegalen Preisabsprachen zu bezahlen, vermuten viele Beschäftigte. Sie sind auch wütend, dass sie über die Schließungspläne aus der Presse erfahren haben. Für Klaus Ernst wird damit das Betriebsverfassungsgesetzt verletzt, dass eine Information der Belegschaft und des Betriebsrates vorsieht. Er war als langjähriger Gewerkschafter und Bundestagsabgeordneter zur Betriebsversammlung gekommen. Die Geschäftsführung wollte seine Teilnahme verhindern. Deswegen sollen die künftigen Informationsveranstaltungen des Betriebsrates außerhalb des Werkgeländes stattfinden. Das ist durchaus im Sinne des kämpferischen Teils der Belegschaft, die den Kampf um die Rettung der Arbeitsplätze auf die Straße tragen wollen. Die verbale Zustimmung aller lokaler Parteipolitiker ist ihnen gewiss. Im laufenden Landtagswahlkampf in NRW buhlen sämtliche Parteien um die Sympathie der Belegschaft.
Allerdings will sich die Belegschaft nicht für Wahlkampfzwecke missbrauchen lassen. Wichtiger sind ihr Solidaritätserklärungen des ThyssenKrupp-Konzern-Betriebsrates, der ver.di-Jugend NRW-Süd und der Jugendorganisation Young Struggle.
Auf der Internetplattform http://www.netzwerkit.de/projekte/tstg beginne Beschäftigte und Unterstützer ihren Widerstand zu koordinieren. Zu den dort diskutierten Vorschlägen gehören neben weiteren Aktionen auch die Organisierung einer Demonstration zur Jahreshauptversammlung von Voestalpine am 4. Juli in Linz.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/223730.
schienenwerker-protestieren.html
Peter Nowak
Infos im Internet unter: www.netzwerkit.de/projekte/tstg

Rekord bei der Sanktionierung von Erwerbslosen

Gerade weil es der Wirtschaft in Deutschland gut geht, wächst der Druck auf Hartz-V-Empfänger ganz im Sinne der Erfinder der Agenda 2010

Noch nie haben Arbeitsagenturen so viele Sanktionen gegen Hartz IV-Empfängerverhängt wie im letzten Jahr. Die Zahl ist nach Angaben eines Sprechers der Bundesagentur für Arbeit im letzten Jahr gegenüber 2010 um 10 Prozent auf 912.000 Fälle gestiegen. Die Hauptgründe waren Nichteinhalten von Terminen beim Amt sowie der Abbruch oder das Nichtantreten einer Arbeitsplatzmaßnahme.

Obwohl gleichzeitig vermeldet wurde, dass die sogenannten Betrugsfälle zurückgegangen sind, bemühte ausgerechnet die sozialdemokratische Frankfurter Rundschau sofort das Klischee vom Sozialmissbrauch, in dem sie die von den Sanktionen Betroffenen zu Arbeitsunwilligen erklärte.

Differenzierter äußerte sich eine Sprecherin der Bundesanstalt für Arbeit zu den Gründen für den Sanktionsrekord: „Je mehr offene Stellen es gibt, desto mehr Angebote können unsere Vermittler den Arbeitslosen machen und umso häufiger kommt es zu Verstößen.“ So nimmt ausgerechnet in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs der Druck auf die Erwerbslosen zu. Nicht nur in der öffentlichen Meinung wird ihnen noch mehr als sonst die Verantwortung für den Hartz-IV-Bezug gegeben. Auch auf den Jobcentern bedeuten mehr offene Stellen, dass es für Hartz-IV-Empfänger immer schwerer wird, eine Stelle abzulehnen. Einen Job zu fast jeden Preis annehmen zu müssen, war aber genau die Intention der Agenda 2010.

Insofern zeigt das Sanktionshoch deswegen kein Versagen, sondern das Funktionieren des Hartz-IV-Systems. Zudem werden die Arbeitsagenturen immer professioneller beim Verstopfen der letzten Schlupflöcher, mit denen vielleicht manche Erwerbslose in den letzten Jahren noch ein Stück weit selber entscheiden wollten, welchen Job sie zu welchem Preis und zu welchen Bedingungen annehmen wollen. Das ist der zweite Grund für den Anstieg der Sanktionen.

Ratlosigkeit der Jobcenter oder der aktiven Erwerbslosen?

Für viele aktive Erwerbslose sind die neuesten Zahlen ein Grund mehr, ihre Forderungen nach einem Stopp der Sanktionen zu erneuern. Obwohl ein Moratorium mittlerweile von Gewerkschaftern, Wissenschaftlern und Politikern unterstützt wird, wird es nicht umgesetzt. Denn damit würde der Kern der Hartz-IV-Reformen, Lohnarbeit zu fast jedem Preis annehmen zu müssen, entfallen.

Die von einer Berliner Sozialinitiative gestarteten Befragungen von Hartz-IV-Beziehern vor dem Jobcenter Neukölln haben deutlich gemacht, dass viele Betroffene neben der Behandlung am Amt, Sanktionen und Druck als ein zentrales Problem ansehen. Mit der zunehmenden Sanktionierung von Hartz-IV-Empfängern ist die Etablierung eines Niedriglohnsektors verbunden, der wiederum Auswirkungen auf die Lohnquote insgesamt hat. Wenn die Überzeugung wächst, dass alles getan werden muss, um nicht unter das Hartz-IV-Regime zu fallen, dann sind eben viele Beschäftigte zu Lohnverzicht und Mehrarbeit bereit. Auch dieser Effekt war den Verantwortlichen der Hartz-IV-Gesetze bewusst. Daher ist auch die in einer Pressemitteilung des Erwerbslosenforums Deutschland vertretene Einschätzung, dass es sich bei dem Sanktionsrekord um einen „Ausdruck der Hilf- und Konzeptlosigkeit der Jobcenter“ handelt, in Frage zu stellen. Sind nicht die Sanktionen eher ein Ausdruck der Funktion des Hartz-IV-Systems und der Hilflosigkeit der wenigen aktiven Erwerbslosengruppen?
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151780
Peter Nowak

Marktwirtschaft menschlich gestalten?

Einige Ökonomen wollen mit mehr Ethik die Krise überwinden

In Zeiten der Krise melden sich Ökonomen der unterschiedlichen Couleur mit ihren Anliegen zu Wort. Jetzt hat eine Gruppe von Wirtschaftsethikern das Memorandum „Für eine Erneuerung der Ökonomie“ veröffentlicht und fordern eine grundlegende Wende in der ökonomischen Wissenschaft. Ulrich Thielemann, einer der Mitverfasser des Memorandums, geht mit seinen Kollegen hart ins Gericht: „Über Jahrzehnte haben sich die Wirtschaftswissenschaften eingekapselt und so die Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse vorangetrieben“, moniert er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Ökonomen aller Lager hätten das Kapital stets hofiert, so Thielmanns Einschätzung, die hier fast Ansätze von linker Wirtschaftskritik enthält. Doch der Eindruck täuscht. Thielemann rekurriert mit seiner Kritik unter anderem auf den wirtschaftsliberalen Ökonomen Thomas Straubhaar und seine Abrechnung mit dem Wirtschaftsimperialismus.

Abkehr vom homo oeconomicus?

Wie Straubhaar rügt auch Thielemann das Modell des homo oeconomicus, das lange Zeit in der klassischen Ökonomie vorherrschte. „Es gibt seit Jahren neuere Forschungszweige wie die Verhaltensökonomie, die nicht von einem abstrakten Homo oeconomicus ausgeht, sondern vom realen Menschen. Das Problem ist, dass diese Erkenntnisse bisher zu wenig in wirtschaftspolitisch relevante makroökonomische Modelle eingebaut worden sind. Da ist noch viel zu tun“, so Straubhaar.

Das Me’M, das sich als „Denkfabrik für eine menschliche Marktwirtschaft“ begreift, widmet sich dieser Aufgabe schon länger. Bereits 2009 forderte Thielemann, die Marktwirtschaft weniger kapitalistisch zu gestalten. Diese Intention teilt auch das Baseler Manifest für mehr Wirtschaftsethiker, das ebenfalls zu den Referenzpunkten des neuen Memorandums gehört. Dort werden zahlreiche mehr oder weniger bekannte Ökonomen aus aller Welt genannt, die ebenfalls das Ziel einer menschlichen Marktwirtschaft teilen sollen.

Spätestens seit der Wirtschaftskrise wird viel von einer Erneuerung der Wirtschaft geredet und da sind Ethiker immer sehr gefragt. „Bei guter Witterung findet die Religion im Wort zum Sonntag und auf der Lohnsteuerkarte statt. Zieht aber ein Gewitter auf, fliegen die Pfaffen tief“, diese Erkenntnis des Konkret-Herausgebers Hermann Gremliza gilt auch in der Ökonomie. Hier nehmen die Wirtschaftsethiker die Rolle der Geistlichen ein. Sie reden viel von den Fehlern, die gemacht wurden, fordern eine Umkehr, wollen aber andererseits auch, dass sich möglichst wenig am System ändert. Das ist ihnen freilich nicht anzulasten. Schließlich richten sich der Markt und die Börse eben nicht nach Moral und Ethik, sondern suchen sich die besten Möglichkeiten zur Kapitalverwertung. Daher werden wir auch in den nächsten Jahren noch viele Aufrufe und Memoranden für eine moralische Ökonomie lesen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151755
Peter Nowak

Ausgeschleckert!

Die Drogeriekette Schlecker ist pleite. Zur Diskussion steht auch die Umwandlung in eine Genossenschaft.

Die Schlecker-Pleite ist ein Medienthema. In der Regel geht es dabei um das Vermögen, das die Familie Schlecker verloren habe. Die Beschäftigten kommen in der Berichterstattung kaum vor. Sie aber haben das Vermögen der Familie Schlecker jahrzehntelang durch ihre Arbeitskraft vermehrt. Und diese mussten sie bei dem Discounter besonders billig verkaufen. Denn zum System Schlecker gehörten Niedriglohn, Bespitzelung und Mobbing der Beschäftigten, meistens Frauen, und der Versuch, die Läden gewerkschaftsfrei zu halten. Mit der Schlecker-Kampagne wurde das System Schlecker bundesweit zu einem Inbegriff für Niedriglohn und Ausbeutung.
Dennoch versuchte das Management bis in die Gegenwart, ihre Mitarbeiterinnen möglichst billig auszubeuten. So wurden noch 2010 viele Schlecker-Läden geschlossen und die Mitarbeiterinnen entlassen. Sie sollten bei den neu zu errichtenden „XXL-Läden“ zu wesentlich schlechteren Arbeitsbedingungen wieder angestellt werden. Aber zu Schlecker gehört auch der jahrzehntelange Widerstand der Verkäuferinnen, die die Schlecker-Kampagne ebenso getragen habe, wie die erfolgreiche Abwehr der XXL-Niedriglohnssphäre.
Von dem Selbstbewusstsein der Mitarbeiterinnen zeugt auch die Erklärung vieler Kolleginnen: „Wir sind nicht Schlecker – wir arbeiten nur dort“. Damit setzen sie sich von einer Identifikation mit der Firma ab, die bei MitarbeiterInnen in Krisenzeiten oft zu vernehmen ist. Dieses Selbstbewusstein zeigt sich auch in der gegenwärtigen Diskussion, Schlecker als Genossenschaft der Belegschaft weiterzuführen. „Wir können es besser, denn wir wissen, was die KundInnen in den Läden wirklich nachfragen“, ist etwa als Argument zu hören. Soviel Selbstbewusstsein ist der Hauptverwaltung von ver.di aber nicht genehm. „Die Diskussion über eine Genossenschaft spielt bei uns keine Rolle“, erklärte eine Pressesprecherin. Damit ignoriert sie die Debatten, die es durchaus auch in Unterbereichen der Gewerkschaft, etwa bei ver.di-Stuttgart, gibt, wo die Diskussionsanregung der Verkäuferinnen nicht komplett ignoriert wird.
Allerdings kann eine Umwandlung in eine Genossenschaft nicht unproblematisch sein. Der Berliner Arbeitsrechtler Benedikt Hopmann macht zu Recht darauf aufmerksam, dass den Verkäuferinnen nicht zuzumuten ist, aus ihren Löhnen Angespartes in die Genossenschaft zu legen, um ihre Arbeitsplätze zu retten. Die Verkäuferinnen haben deshalb einen anderen Vorschlag. Sie fordern einen „Wulff-Kredit“. Ihre Begründung: Wenn der Spitzenpolitiker für seinen Hausbau zinsgünstige Kredite erhalten hat, warum dann nicht auch die Genossenschaft? Dass man ohne Druck nichts erreich wird, wissen die Kolleginnen aber auch.
Eine Genossenschaft der Beschäftigten kann auch nicht in das deutsche Vereinsrecht gepresst werden. Sie muss aus der Belegschaft und solidarischen UnterstützerInnen aus dem Bereich den KundInnen und den BewohnerInnen der Nachbarschaften entstehen. Das Projekt Strike-Bike – zumindest am Beginn – könnte hierfür ein kleines Vorbild sein. Auch dabei standen von Anfang an UnterstützerInnen mit Rat und Tat zur Seite. Auch die KollegInnen von Schlecker sollten nicht der Kapitallogik unterworfen werden, nach der sie bei einer Insolvenz möglichst widerspruchsfrei weiterarbeiten sollen, damit ein Kapitalist an der Vernutzung ihrer Arbeitskraft Interesse findet.
http://www.direkteaktion.org/210/ausgeschleckert
Peter Nowak
aus Direkte Aktion 210, März/April 2012