Wohlfühlort, Täterort

Acht Jahre lang gab es das besetzte Haus in Erfurt auf dem ehemaligen Gelände der Firma Topf und Söhne, die im Nationalsozialismus Krematoriumsöfen herstellte. Nun widmen sich ehemalige Bewohner einer kritischen Rückschau.

Gleich zwei Jubiläen stehen für die linke Szene in Erfurt an. Am 12. April jährt sich zum 12. Mal die Besetzung des ehemaligen Geländes der Firma Topf und Söhne. Am 15. April 2009 wurde es mit einem großen Polizeieinsatz geräumt. Auch beinahe vier Jahre nach der Räumung sind das Gelände und das ehemals besetzte Haus, das sich dort befindet, noch nicht in Vergessenheit geraten. Das zeigt der ansprechend gestaltete Bildband »Topf & Söhne – Besetzung auf einem Täterort«, der von den ehemaligen Hausbewohnern Karl Meyerbeer und Pascal Späth kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution herausgegeben wurde.

Anders als in vielen anderen Schriften über Haus­projekte handelt es sich keineswegs um eine Publikation, in der sich ehemalige Besetzer wehmütig an die gute, alte Zeit erinnern und die Repression beklagen. Vielmehr ist der Band ein Geschichtsbuch über die radikale Linke der vergangenen 15 Jahre. Denn »das besetzte Haus«, wie es auf Flugblättern immer genannt wurde, war nie nur ein Wohlfühlort für Unangepasste.

Schon im Titel des Buches wird deutlich, dass die Geschichte des Ortes für die Außen- und die Selbstwahrnehmung der Besetzer eine zentrale Rolle spielte. Denn die Erfurter Firma Topf und Söhne stellte auf dem Gelände in der Zeit des Nationalsozialismus Krematoriumsöfen für Konzentrations- und Vernichtungslager her. Die Mehrheit der jungen Menschen, die im Frühjahr 2001 die Besetzung vorbereiteten, sah in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Geländes von Anfang an eine politische Notwendigkeit. Das ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit in der Geschichte der Besetzerbewegung. So thematisierten die Bewohner des als Köpi international bekannten Hausprojekts in Berlin nie öffentlich, dass sich während des Zweiten Weltkriegs auf dem Gelände eine der vielen Unterkünfte für Zwangsarbeiter befunden hat.

In Erfurt wurde hingegen bereits 2002 das Autonome Bildungswerk (ABW) gegründet, das mit Veranstaltungen und historischen Rundgängen über das ehemalige Gelände von Topf und Söhne aufklärte. Marcel Müller, der bis 2003 im ABW mitarbeitete, kommt im Buch zu einem sicher diskussionswürdigen Resümee über das Bildungswerk: »Als ein echtes Stück bürgerschaftlichen Engagements kann es als Teil einer unerzählten Geschichte der Erfurter Zivilgesellschaft gelten. Als revolutionäres Projekt der kollektiven Bildung für eine andere Gesellschaftsordnung ist es Teil linker Geschichte des Scheiterns. Für die Beteiligten kann es als Erfahrungsraum für spätere Lebensabschnitte in seiner Bedeutung möglicherweise nicht hoch genug eingeschätzt werden, war mit ihm doch die Einübung bestimmter Skills wie Selbständigkeit, Geschichtsbewusstsein, Organisationstalent verbunden, die z. B. einer akademischen Karriere nicht eben abträglich sind.« Ein solches Fazit könnten Angehörige der radikalen Linken auch in anderen Bereichen ziehen.

In einem eigenen Kapitel zur geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit dem »Täterort« zeigt sich, wie diese selbst dazu beitrug, dass es mittlerweile auch offiziell einen »Erinnerungsort Topf und Söhne« gibt. Diesen bewirbt die Stadt Erfurt auf ihren Tourismusseiten im Internet, umgeben wird der Verweis auf »die Ofenbauer von Auschwitz« von Slogans wie »erleben und verweilen« und »Rendezvous in der Mitte Deutschlands«. Das passt sehr gut zu jener Erinnerungspolitik, die im besetzten Haus einer radikalen Kritik unterzogen wurde.

Auch in innerlinken Auseinandersetzungen ergriffen die politisch aktiven Bewohner Partei und scheuten dabei nicht die Auseinandersetzung. So sorgte die Demonstration unter dem Motto »Es gibt 1 000 Gründe, Deutschland zu hassen«, die mehrere Jahre in Folge am 3. Oktober in Erfurt mit Unterstützung des besetzten Hauses veranstaltet wurde, vor allem in reformistischen Kreisen für Aufregung. Die Ablehnung von Antiamerikanismus und antiisraelischer Politik, die ein Großteil der Hausbewohner nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vertrat, sorgte auch in der radikalen Linken für Konflikte.

Es ist erfreulich, dass auch diese strittigen Themen im Buch nicht ausgespart werden. So findet sich ein Interview mit einem ehemaligen Mitglied der Gruppe Pro Israel und einem Antizionisten, der bei einer Veranstaltung dieser Gruppe im April 2002 Hausverbot erhielt. Elf Jahre später sind beide in der linken Bildungsarbeit in Thüringen tätig und sehen den damaligen Streit mit großer Distanz. Der ehemalige Pro-Israel-Aktivist stellt nun selbstkritisch fest: »Dass die Auseinandersetzung über linken Antisemitismus geführt wurde, fand ich richtig. Von heute aus gesehen würde ich sagen, dass die Fokussierung auf einen Punkt ein Problem war. Die soziale Frage hat überhaupt keine Rolle gespielt, was – muss man auch mal sagen – daran lag, das die uns kaum betroffen hat.« Der Streit um eine US-Fahne, die ein Hausbewohner an seinem Zimmerfenster angebracht hatte und die andere ­erzürnte, wird von den Beteiligten mittlerweile eher als Punkrock denn als Politik bezeichnet.

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des über acht Jahre lang besetzten Hauses in Erfurt führt so auch zu den damaligen Diskussionen, die die radikale Linke bundesweit beschäftigten. Dass trotz der sicher nicht immer besonders erfreulichen Diskussionen ehemalige Hausbewohner drei Jahre nach der Räumung noch in unterschiedlichen linken Gruppen tätig sind, macht deutlich, dass das Haus bei der Politisierung ­einer Generation junger Menschen in Erfurt und Umgebung eine wichtige Rolle spielte.

http://jungle-world.com/artikel/2013/13/47408.html
Peter Nowak

Boom der Containersiedlungen

In Polen regt sich Widerstand gegen Vermieterwillkür
Wohnungsmangel, steigende Mieten und Verdrängung sind nicht nur in Deutschland bekannt. In vielen Ländern der Welt sind die Probleme ähnlich, regt sich aber auch Widerstand. Eine Veranstaltungsreihe in Berlin wirft einen Blick auf die Situation außerhalb Deutschlands.

In den letzten Monaten ist in Berlin eine Mieterbewegung entstanden, die einige Zwangsräumungen verhindert hat und mit der »Kotti-Hütte« mitten in Kreuzberg ein sichtbares Zeichen setzt. In mehreren Veranstaltungen unter dem Titel „Krise – Neoliberalismus – Kämpfe – Perspektiven“ wollen sich die Aktivisten über Mieterkämpfe in anderen Ländern informieren. Vor einigen Tagen berichteten die Poznaer Mieteraktivisten Katarzyna Czarnota und Magdalena Łuczak über das Anwachsen der Containersiedlungen am Rande von Polens Städten. Dort müssen Menschen leben, die aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. Oft werde von den Hauseigentümern nicht der juristische Weg beschritten, weil er ihnen zu lang erscheint. „Da kommen drei kräftige Männer und fordern die Mieter im Auftrag des Vermieters zum schnellen Verlassen der Wohnungen auf und bieten eine kleine Entschädigung an“, berichtet Czarnota über eine Praxis der Entmietung. Bei vielen Menschen habe dieser Druck erfolgt. Dazu habe auch die allgemeine Entpolitisierung beigetragen. Nach 1989 sei die Marktwirtschaft zum Inbegriff der neuen Freiheit erklärt worden. Solidarität und Widerstand dagegen seien verpönt gewesen. Erst in den letzten Jahren haben die Proteste gegen die Vermieterwillkür zugenommen. Dabei hätten anarchistische Gruppen Unterstützung geleistet und die Mieter ermutigt, sich nicht in die Containerstädte vertreiben zu lassen. Berichte über die dortigen Wohnverhältnisse haben zur Gegenwehr beigetragen. Die Klagen über mangelnde Wärmeisolierung, verschimmelte Teppiche und Räume, die trotz voll aufgedrehter Heizung nicht wärmer als 15 Grad werden, machten die Runde. „Von der Zimmerdecke tropft Wasser. Ich kann hier kein normales Leben gewährleisten“, berichtet eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern über das Leben in der Containersiedlung.
Angesichts solcher Zustände wächst die Zahl der Mieter, die sich trotz Drohungen und Druck von Seiten der Vermieter nicht aus ihren Wohnungen vertreiben lassen. Magdalena Łuczak aus der Stolarska Straße gehört zu ihnen. Die Stolarska, das Haus, in dem sie wohnt, ist mittlerweile über Poznan hinaus zum Symbol des Mieterwiderstands geworden. „Wir lassen uns von den Vermietern und ihren Räumungsspezialisten nicht mehr einschüchtern“, diese Botschaft wird auch in anderen polnischen Städten gerne aufgegriffen. Dass ein solcher Widerstand lebensgefährlich sein kann, zeigt der bis heute unaufgeklärte Tod der Warschauer Mieteraktivistin Jola Brzeska. Sie stellte sich den Entmietungsplänen ihres Hauseigentümers entgegen und wurde am 7. März 2011 verbrannt in einem Wald bei Warschau aufgefunden. Weil die polnische Justiz die Ermittlungen beenden will, haben Warschauer Aktivisten eine Kampagne gestartet. Sie fordern die Aufklärung über die Hintergründe ihrer Ermordung. Jetzt könnte es auch aus Deutschland Unterstützung für diese Forderungen geben. Unter http://www.youtube.com/user/WohneninderKrise sind Filme über den polnischen Mieterwiderstand zu finden. Am 18. April wird es in de Veranstaltungsreihe um Spanien gehen, das mit der Bewegung gegen Zwangsräumungen auch den Aktivisten in Deutschland Impulse gegeben hat.
http://www.bmgev.de/

https://www.neues-deutschland.de/artikel/815628.boom-der-containersiedlungen.html
Peter Nowak

In Bewegung gekommen

Nach Hausbesetzern, Mieterbewegungen und Protesten gegen Gentrifizierung bildet sich in Berlin über den Widerstand gegen Zwangsumzüge und Wohnungsräumungen eine neue soziale Bewegung für das Recht auf Wohnen. Sie feiert erste Erfolge.

Der Jubel unter den knapp 200 Demonstrantinnen und Demonstranten war groß, als bekannt wurde, dass sie in letzter Minute ihr Ziel erreicht hatten. Sie waren am Vormittag des 27. Februar im Berliner Stadtteil Reinickendorf zusammengekommen, um die Zwangsräumung der 67jährigen Rentnerin Rosemarie P. zu verhindern, die im Herbst 2012 vom Amtsgericht Wedding wegen Mietrückständen zur Räumung ihrer Wohnung verurteilt worden war. Aufgerufen hatte das Bündnis »Zwangsräumungen verhindern«, das am 9. Februar vergeblich gegen die Räumung der Familie Gülbol in Kreuzberg protestiert hatte. Die Polizei hatte damals die Gerichtsvollzieherin mit einer Polizeiweste getarnt über ein Nachbargrundstück in die Wohnung geschleust, wo sie die Räumung vollstrecken konnte, während auf der Straße Hunderte Menschen die Zugänge zum Gebäude blockierten.

Zunächst sah es so aus, als wiederhole sich in Reinickendorf das Szenario. Schließlich war dieselbe Gerichtsvollzieherin schon Stunden vor dem Termin vor Ort, beschützt von der Polizei, die mit einem Großaufgebot die Straße abgesperrt hatte. Doch als sie das Schloss in der Wohnungstür gerade austauscht hatte, klingelte ihr Telefon und sie musste ihr Tagwerk schon wieder beenden. Sie erfuhr, dass das Berliner Landgericht zwei Vollstreckungsschutzklagen angenommen und die Räumung vorerst ausgesetzt hatte. Damit sollte die Mieterin »vor einer unbilligen Härte durch die drohende Zwangsvollstreckung« geschützt werden, hieß es in einer Erklärung des Gerichts zu dem Aufschub. Zuvor hatte bereits ein Arzt attestiert, dass der Stress einer Zwangsräumung der gesundheitlich angeschlagenen Rentnerin nicht zuzumuten sei.

Einen solchen Erfolg auf der juristischen Ebene hatten die Demonstranten, die vor dem Haus protestierten, nicht erwartet. Die Mobilisierungszeit für die Kundgebung war sehr kurz gewesen. Zudem stand in Reinickendorf anders als in Kreuzberg kein Stadtteilladen im Haus für die Infrastruktur des Widerstands zur Verfügung. Statt solidarischer Nachbarn kamen in den Berliner ­Lokalmedien Hausbewohner zu Wort, die die Räumung der Rentnerin begrüßten. Anders als in Kreuzberg wurde von dem Bündnis daher auch nicht zu einer Blockade, sondern zu einer Kundgebung gegen die Zwangsräumung aufgerufen. Umso erfreuter waren die Initiatoren des Protests, dass um acht Uhr dennoch rund 200 Menschen zusammengekommen waren, die nach der Aussetzung der Räumung in Feierlaune waren. Dem tat auch das aggressive Auftreten der Polizei keinen Abbruch, die den Rückweg der Aktivisten zur U-Bahn-Station als unangemeldete Demonstration wertete und mit Faustschlägen in die Menge und einigen vorübergehenden Festnahmen reagierte.

Tatsächlich hat sich die noch junge Bewegung gegen Wohnungsräumungen am 27. Februar als handlungsfähig auch über den Stadtteil Kreuzberg/Friedrichshain hinaus erwiesen. Zudem wird die Kampagne auch von Menschen ernst genommen, die weder in linken Organisationen aktiv sind noch in Stadtteilen wohnen, in denen poli­tische und soziale Initiativen allgegenwärtig sind. Rosemarie P. hatte durch eine Bekannte von dem Bündnis »Zwangsräumungen verhindern« erfahren. Anfang Februar nahm sie Kontakt auf. In den folgenden Wochen versuchte das Bündnis zusammen mit Behördenvertretern, unter anderem dem Reinickendorfer Sozialstadtrat Andreas Höhne (SPD), die Räumung zu verhindern. Höhnes Behörde hatte sich gegenüber dem Vermieter schriftlich bereit erklärt, die Mietrückstände von Rosemarie P., die Empfängerin von Grundsicherung ist, zu übernehmen und künftig für die Mietzahlungen aufzukommen. Die Eigentümer wollten sich allerdings auf dieses Angebot nicht einlassen und bestanden auf der Räumung. Auch die Klagen, die schließlich zur Aussetzung der Räumung führten, waren von dem Bündnis initiiert worden.

Der Erfolg macht aber auch deutlich, dass die Ausschöpfung sämtlicher offizieller behördlicher und juristischer Möglichkeiten notwendig war. Eine Blockade hätte bei der Polizeitaktik eben­so wenig zum Erfolg geführt wie in Kreuzberg. Auch in der Vergangenheit wurden bereits durch öffentlichen Protest Wohnungsräumungen verhindert. So hatte die Wohnungsbaugesellschaft Mitte die Kündigung eines Rentnerehepaar zurückgenommen, nachdem sich Mitte Januar im Foyer des kommunalen Immobilienunternehmens 30 Wohnrechtsaktivisten zum Sit-in niedergelassen hatten. Ebenfalls Mitte Januar hatte die Berliner Wohnungsbaugesellschaft GSW die Kündigung einer fünfköpfigen Familie nach Protesten zurückgenommen.

Solche Aktionen mögen nicht so spektakulär wie eine Blockade sein, tragen aber dazu bei, dass der Protest gegen Wohnungsräumungen zumindest in Berlin eine wahrnehmbare soziale Bewegung wird, die es auch schafft, den Zusammenhang zwischen hohen Mieten, niedrigen Einkommen und den Zumutungen des Hartz-IV-Regimes aufzuzeigen. So wurde in einem Redebeitrag auf der Kundgebung in Reinickendorf darauf hingewiesen, dass Mietschulden oft entstehen, weil sich Jobcenter weigern, die volle Miete zu übernehmen. Hier ergeben sich für die Bewegung gegen Räumungen Kooperationsmöglichkeiten mit anderen sozialen Bewegungen. In den vergangenen Jahren wehrten sich in verschiedenen Städten Erwerbslose mit »Zahltagaktionen« und der Kampagne »Keine/r muss allein zum Amt« gegen Sanktionen oder Kürzungen durch Jobcenter.

In Zukunft könnten solche Aktionen von Erwerbslosen- und Mieterinitiativen gemeinsam organisiert werden. So könnte nicht nur verhindert werden, dass sich der Widerstand gegen Zwangsumzüge und Wohnungsräumungen in arbeits- und zeitaufwendiger Sozialarbeit erschöpft. Den Zusammenhang zwischen hohen Mieten einer- und niedrigen Einkommen andererseits darzustellen, könnte auch Vereinnahmungsversuche von Politik und Medien erschweren. Der Berliner Kurier hat bereits eine Plakatserie mit dem Motto »Berliner wehren sich« in der ganzen Stadt kleben lassen. Und ausgerechnet die SPD, die am 14. März in Berlin zusammen mit dem »Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung« eine Feier zum zehnjährigen »Geburtstag« der Agenda 2010 veranstaltet, will sich im Wahlkampf als Mieterpartei profilieren. Daran, dass sie selbst an der prekären Lage Schuld trägt, will sie sich lieber nicht erinnern.
http://jungle-world.com/artikel/2013/10/47269.htm
Peter Nowak

Die Mauer muss bleiben


Die große Koalition der Mauerretter in Berlin formiert sich

Wann sind sich in Berlin schon mal autonome Stadtteilkämpfer und die konservative Boulevardpresse einig? Bei der Forderung: „Die Mauer muss bleiben.“ Was wie ein vorgezogener Aprilscherz klingt, ist die Fortschreibung der gegenwärtigen Berliner Protestgeschichte. Ort der Auseinandersetzung ist die East Side Galery eines Freilichtmuseum an einem Mauerstück, die nun wie so vieles in Berlin Investoreninteressen weichen sollen. Allerdings sollen die Mauerstücke nicht, wie viele Mieter in angesagten Stadteilen gleich an die Peripherie verfrachtet, sondern nur einige Meter umgesetzt werden.

„Das Brandenburger Tor wird ja auch nicht abgerissen“

Doch die Betreiber der East-Side-Galery sehen das nicht ein und liefern dafür in ihrer Erklärung eine originelle Begründung:

„Andere Denkmäler, wie beispielsweise das Brandenburger Tor oder die Gedächtniskirche, werden ja auch nicht abgetragen, teilabgerissen oder beschmiert. Bei der East Side Gallery scheint es anders zu sein.“

In der Erklärung der Künstler wird am Rande auch „die Schaffung von Luxuswohnungen“ kritisiert, aber im Grunde geht es ihnen darum, einen zugkräftigen Tourismusmagneten zu erhalten. Was bei der Kulturruine Tacheles am Ende nicht geklappt hat, scheint der East Side Galery zu gelingen. Die Mauerretter haben es zumindest am 1. März geschafft, die Abbrucharbeiten durch Proteste zu stoppen. Am kommenden Montag sollen allerdings die Abbrucharbeiten fortgesetzt werden.

Nun hat eine große Mobilisierung eingesetzt, die von rechten Boulevardmedien über Künstlerinitiativen bis zur stadteilpolitischen Initiative Mediaspree versenken reicht. Die Berliner Grünen, die im Stadtteil Kreuzberg/Friedrichshain den Bürgermeister stellen, aber im Abgeordnetenhaus in der Opposition sind, fordern den Berliner Senat zum Retten der East Side Galery auf.

Die große Empörung vom Boulevard bis zu Stadtteilinitiativen muss misstrauisch machen. Wenn nun der Berliner Kurier von einer neuen Mauer-Schande spricht, weil ein Stück der Berliner Mauer verlegt werden soll, und selbst ein Sprecher der Stadtteilinitiative Mediaspree nicht wie die Aktivisten noch vor zwei Jahrzehnten ein bekennender Anti-Berliner sein will, sondern sich wegen der Mauerverlegung schämt, ein Berliner zu sein, muss man sich fragen, ob es hier überhaupt noch um stadtpolitische Themen geht.

Neues Mauermuseum?

Denn die sind es nicht, die die Wogen in Berlin so hoch schlagen lassen. Vielmehr soll die East Side Galery neben der offiziellen Gedenkstätte zu einem zweiten Mauermuseum in Berlin werden. „Nur ein zusammenhängendes Mauerstück verdeutlicht authentisch, wie brutal der Todesstreifen Berlin einst zerschnitten hat“, erklärt der Berliner CDU-Generalsekretär Kai Wegner. „Mediaspree versenken“ liegt da in der Argumentation nicht weit daneben, wenn die Forderung aufgestellt wird: „Keine Luxuswohnungen auf dem ehemaligen Todesstreifen.“

Auch der Taz-Kommentator Klaus Hillenbrand nennt die Verschiebung der Mauerstücke einen barbarischen Umgang mit der Geschichte und giftet mit antiamerikanischem Einschlag über „Geschichte à la Disneyland“. Bei soviel sinnfreier Empörung muss man sich fragen, ob da die alte Parole „Die Mauer muss weg“ nicht auch in diesem Fall emanzipatorischer wäre.
http://www.heise.de/tp/blogs/6/153846
Peter Nowak

Keine offenen Türen für Mietervertreter

WOHNEN Mieterbeiräte wollen am Mietspiegel mitwirken – und stoßen auf wenig Gegenliebe

In knapp drei Monaten wird der neue Mietspiegel veröffentlicht, der für jede Berliner Adresse die „ortsübliche Vergleichsmiete“ angibt. ExpertInnen rechnen mit einem Mietanstieg im zweistelligen Prozentbereich gegenüber dem letzten, 2011 erschienenen Mietspiegel. Schon dieser hatte mit einer durchschnittlichen Steigerung um 8 Prozent die Mietpreis-Diskussion vorangetrieben. Nun fordern Lichtenberger Mieterbeiräte mehr Mitspracherechte bei der Erstellung des Mietspiegels.

In der dafür zuständigen „Arbeitsgruppe Mietspiegel“ sind derzeit neben Verbänden der WohnungseigentümerInnen der Mieterverein, die MieterGemeinschaft und der Mieterschutzbund vertreten. Doch die Mieterbeiräte wollen sich nicht repräsentieren lassen. „Wir kennen uns im Wohngebiet am besten aus und wollen gehört werden“, begründet Horst Baer den Vorstoß. Der Vorsitzende des Mieterbeirats im Wohngebiet Frankfurter Allee Süd verweist darauf, dass es in Berlin eine solche Beteiligung gab, die Mitte der 90er Jahre abgeschafft wurde. In München und anderen Städten werde dies bis heute praktiziert.

Auf ein Schreiben, in dem die Mieterbeiräte ihre Vorschläge darlegten, antwortete die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, eine Beteiligung einzelner Mieterbeiräte oder -vertreter sei in Berlin nicht vorgesehen. „Bei den als Interessenvertreter der Vermieter bzw. Mieter anerkannten Berliner Verbänden, die in der Arbeitsgruppe Mietspiegel mitarbeiten, wird davon ausgegangen, dass diese nicht nur ihre Klientel bestmöglich vertreten, sondern auch über langjährigen Sachverstand verfügen, der die erforderliche Gesamt-Berliner Sichtweise einschließt“, heißt es in dem Schreiben.

Zwei Preise in einem Haus

Die Beiräte überzeugt das nicht. Baers Kollege Frank Mißbach begründet die Initiative mit konkreten Erfahrungen aus dem Wohngebiet: „Wir wurden stutzig, als der Mietspiegel von 2009 die ersten drei Aufgänge in einem langen Neubaublock als einfache Wohnlage einstufte, die nächsten als bessere Wohnlage und die letzten wieder als einfache. Das hatte unterschiedliche Mietpreise im selben Haus zur Folge.“

Die Pressesprecherin der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Petra Rohland, sagte der taz, Berlin gehe zur Erarbeitung des Mietspiegels einen anderen Weg als München: „Der Interessenausgleich zwischen Mietern und Vermietern hat sich seit 20 Jahren bewährt.“ Im Grundsatz ausschließen will sie die Vorschläge der Mieterbeiräte allerdings nicht. Prinzipiell sei eine Mitarbeit möglich, rechtliche Hürden gebe es dafür nicht, so Rohland.

Bei den in der Arbeitsgruppe Mietspiegel vertretenen MieterInnenverbänden ist das Echo auf den Vorschlag der Beiräte geteilt. „Eine Ausweitung des Gremiums halten wir nicht für sinnvoll“, betonte der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Reiner Wildt, gegenüber der taz. Die Interessen der MieterInnen seien durch die drei vertretenen Verbände „ausreichend abgedeckt“. Wildt befürchtet, dass bei einer Ausweitung des Gremiums auch Vermieter eine weitere Präsenz fordern könnten.

Unterstützung finden die Mieterbeiräte dagegen bei Joachim Oellerich von der Berliner MieterGemeinschaft: „Wir begrüßen es sehr, wenn MieterInnen direkte Beteiligung einfordern“, so Oellerich. „Eine Konkurrenz zu den Verbänden sehen wir darin nicht.“
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F02%2F28%2Fa0167&cHash=3ecb294569c898f22bb1c72db49316a7
Peter Nowak

Tarsap – der sanfte Sanierer?

Während die Kritik an der Neuköllner Immobilienfirma nicht abreißt, betont das Unternehmen seine soziale Ader

„Liebe potenzielle Käufer, wenn ihr schon die Möglichkeit habt, euch eine Eigentumswohnung zu leisten, seid doch so fair und anständig, eine leere zu kaufen. Hier wohnen bereits Menschen. Bitte nehmt ihnen nicht ihr Zuhause.“ Diese Zeilen waren mehrere Tage im Eingangsbereich der Allerstraße 37 in Neukölln zu lesen. Adressiert waren sie an die zahlreichen Interessenten von Eigentumswohnungen, die in letzter Zeit häufig im Gebäude anzutreffen sind.
„Der Ausverkauf hat begonnen“, kommentiert die Mieterin Katharina Achenbach* die Situation im Haus. Sie hat sich mit anderen Mieter/innen zusammengeschlossen, um mit Unterstützung durch eine Stadtteilinitiative an die Öffentlichkeit zu gehen. Auch einen Blog haben die Mieter/innen eingerichtet, der über das im Nord-Neuköllner Schillerkiez gelegene Miethaus informiert. Nach dem Tod des früheren Eigentümers kaufte die Immobilienfirma Tarsap GmbH im letzten Jahr das Haus und machte Termine mit den Mieter/innen. Im Nachhinein habe sich herausgestellt, dass es bereits bei diesen sogenannten „Kennenlerngesprächen“ um die Vorbereitung von Wohnungsverkäufen gegangen sei, so die Mieterin gegenüber dem MieterEcho. Einige der Wohnungsbesuche seien erfolgt, bevor der neue Eigentümer im Grundbuch eingetragen war. Die Mieter/innen stellten bei einem Besuch beim Grundbuchamt fest, dass die Wohnungen bereits 1998 in Wohneigentum umgewandelt worden waren. Für Altmieter/innen ist eine Wohnungsumwandlung mit drei Jahren Kündigungsschutz ab dem ersten Verkauf verbunden. Allerdings sind die meisten Mieter/innen erst nach der Umwandlung eingezogen und können aufgrund von Eigenbedarf mit der vertraglich vereinbarten, meist dreimonatigen Kündigungsfrist gekündigt werden. Auch die Ergotherapiepraxis im Erdgeschoss musste nach 15 Jahren Mietdauer ihre Räume aufgeben.

Streit um Videokamera

Ein Konflikt zwischen Eigentümer und Mieter/innen entwickelte sich um die anfangs zitierte Ansprache an potenzielle Wohnungskäufer im Eingangsbereich des Hauses. Für den Vertretungsbevollmächtigten der Tarsap, Uwe Andreas Piehler, handelt es sich dabei um einen klaren Fall von Sachbeschädigung. Gegen eine Mieterin sei Anzeige erstattet worden. Die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen. Im Mieterblog heißt es dagegen, die Bewohnerin werde beschuldigt, die Urheberin des Graffitos zu sein, weil ein Plakat mit einem ähnlichen Text in ihrer Wohnung hänge. Zudem sei ihr fristlos gekündigt worden und sie habe eine Rechnung von 425 Euro für die Entfernung des Textes bekommen. Ein weiterer Streitpunkt zwischen den Mieter/innen und der Tarsap war die Installation einer Videokamera im Hauseingang. Sie sei ohne Vorankündigung und ohne die Erlaubnis aller betroffenen Mieter/innen angebracht worden, so die Bewohner/innen. Dagegen behauptet eine Mitarbeiterin der Tarsap, es habe sich um eine Kameraattrappe gehandelt, die nach dem Anbringen der Parolen zur Abschreckung montiert und mit einem Aushang angekündigt worden sei. Piehler betont, dass sein Unternehmen eine soziale Ader habe und verweist auf die Unterstützung von Sportvereinen in Neukölln. Doch nicht alle Bewohner/innen im Kiez sehen die Tarsap in einem solch positiven Licht (siehe auch MieterEcho Nr. 344 / Dezember 2010). In letzter Zeit tauchten in der Nähe des Tarsap-Büros in Neukölln Parolen gegen die Vertreibung von Mieter/innen auf. „Wir müssen damit leben, als die bösen Spekulanten hingestellt zu werden, die wir definitiv nicht sind“, kommentierte Piehler gegenüber MieterEcho solche Aktionen. Er verweist auf Verträge, die denjenigen Mieter/innen, die seit Jahrzehnten in der Allerstraße 37 wohnen und teilweise dort geboren sind, garantieren sollen, dass sie bleiben können. Was Piehler allerdings dabei nicht erwähnt, ist der gesetzlich geregelte Mieterschutz für diese Minderheit der Bewohner/innen, die bereits vor der Umwandlung der Wohnungen im Haus lebten. Auch für die anderen fühle sich seine Firma verantwortlich, meint Piehler. So habe man einem Mieter bei der Wohnungssuche geholfen, ihn zu Ämtern begleitet und sogar bei der Begleichung der Kaution für die neue Wohnung geholfen.
Weitere Infos:
http://allerstr37.wordpress.com
www.nk44.blogsport.com
Peter Nowak

aus: Mieterecho 358
http://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2013/me-single/article/tarsap-der-sanfte-sanierer.html

»Migranten sind besonders betroffen«

Mit der Kampagne gegen Zwangsräumungen hat die Mieterbewegung in Berlin neuen Schwung bekommen. Von den steigenden Mieten in den innenstädtischen Bezirken sind Migranten und Migrantinnen besonders häufig betroffen, und auch an den Protesten haben sie einen bedeutenden Anteil. Die Jungle World sprach mit der in Berlin lebenden Soziologin Ceren Türkmen über den Zusammenhang von Armut, Gentrifizierung und Migration.

In Berlin haben die Mieterproteste in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen. Wie lässt sich das erklären?

Wenn wir uns die Zahlen angucken, sehen wir, dass zum Beispiel im Berliner Stadtteil Neukölln die Mieten innerhalb der letzten vier Jahre um 34,5 Prozent gestiegen sind. Die Löhne und die Einkommen in Arbeiterhaushalten oder bei prekär Beschäftigten dagegen sinken. Von diesem Widerspruch sind verschiedene soziale Gruppen betroffen, nicht zuletzt Migrantinnen und Migranten mit geringen Einkommen. Durch den Widerstand gegen Zwangsräumungen wird der daraus resultierende Verdrängungsprozess jetzt einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Unbekannt dagegen bleiben die vielen Räumungen, die freiwillig verlaufen. Manche Menschen ziehen einfach aus, andere versuchen sich zu arrangieren, indem sie versuchen, mit dem Geld, das nach Abzug der Miete übrig bleibt, irgendwie klarzukommen oder noch mehr zu lohnarbeiten.

Unter den Mieteraktivisten finden sich auffallend viele Menschen, die vor Jahrzehnten als Arbeitsmigranten nach Berlin gekommen sind. Ist diese Gruppe von den Mieterhöhungen besonders betroffen?

In Kreuzberg und Neukölln sind migrantische Menschen in einer besonderen Form von Gentrifizierung und Neuordnungen im Kiez betroffen, weil der Stadterneuerungsprozess nicht nur ein ökonomischer Vorgang ist. Häuser werden nicht nur verkauft, saniert und teurer vermietet, um mit Hilfe neuer Gesetze vermögenden Menschen zu mehr Rendite zu verhelfen. Es kommen bei diesem Prozess der Gentrifizierung auch soziale, kulturelle und ideologische Verhältnisse zur Geltung. Migrantische Familien, die sich dagegen wehren, in die Randbezirke verdrängt zu werden, wissen aus langer Erfahrung, dass sich ihre Situation in Deutschland auch in der Schule, der Stadt und am Arbeitsplatz verschlechtert. Die liberale Illusion der Chancengleichheit und Gerechtigkeit wirkt bei ihnen schon lange nicht mehr. Zudem verfestigt sich in Zeiten von Niedriglohn- und Leiharbeit eine ethnisierte Arbeitsteilung. Hier fallen Klassenunterdrückung und Rassismus zusammen.

Was bedeutet das in der Praxis – mal abgesehen von Mieterhöhungen?

Ich persönlich kenne viele Rentner, die freiwillig in die Türkei zurückkehren, weil sie sich das ­Leben in Deutschland nicht mehr leisten können, obwohl sie lange in den Fabriken geschuftet haben. Das ist eine Art spurenlose Rückkehrpolitik.

Es ist auffällig, dass der Mieterwiderstand vor allem im Stadtteil Kreuzberg gewachsen ist. Ist das rebellische Kreuzberg vielleicht doch kein Mythos?

Das rebellische Kreuzberg als Mythos ist eine Erfindung der Angst und der Begierde des Bürgertums. Heute hat die linke Subkultur diesen Mythos wahrscheinlich selbst verinnerlicht. Pier Paolo Pasolini sagte einmal, die Bourgeoisie liebe es, sich mit ihren eigenen Händen zu strafen.

Die autonome Geschichte des Stadtteils spielt bei dem derzeitigen Widerstand doch aber ­sicher auch eine Rolle, oder?

Ich denke, die autonome Geschichte des Stadtteils muss neu geschrieben werden. Die Mieter­bewegung, die Mietstreiks und der Aufbau der Kieze wären ohne die Bewegung, das Wissen, die Kampfbereitschaft, die Selbstorganisation und die Kämpfe der Migrantinnen und Migranten nicht möglich gewesen. An diese heterogene Geschichte knüpfen die derzeitigen Kämpfe doch an, indem sie auf die positiven Erfahrungen und Gefühle sowie auf das produzierte Wissen zurückgreifen. Es ist allerdings wichtig, nicht nur an die kleinen Erfolge anzuknüpfen, auch die Niederlagen müssen kollektiv verarbeitet werden. Dazu gehört für mich auch die kommunitaristische Identitätspolitik im Kiez – auf allen Seiten.

Sie haben in einem ihrer Texte Kritik an einer Linken geübt, die sich von Klassenverhältnissen und der Welt der Arbeit zugunsten einer Politik der Lebensstile verabschiedet habe. Ist die aktuelle Mieterbewegung nicht ein Indiz dafür, dass das Soziale wieder eine stärkere Rolle in der Linken spielt?

Bei dem Text handelte es sich um eine kritische Auseinandersetzung mit der Identitätspolitik von autonomen und postautonomen Gruppen. Es ging um die Frage, was linke außerparlamen­tarische Gesellschaftspolitik heute eigentlich noch bedeutet.

Zur Organisierung von Mieterprotesten bedarf es notwendigerweise eines Kontaktes zur Nachbarschaft. Neue mythische Subjekte der Revolution lassen sich dort nicht finden, dafür aber die Akteure der aktuellen Mieterbewegung. Ich sehe genau hier Chancen und Möglichkeiten, die soziale Frage neu zu formulieren und für migrantische Menschen, Frauen, Queers und Lohnabhänge wieder zum Thema zu machen.

Die Krise der Klassenanalyse ist nicht überwunden, wir verdrängen sie nur kollektiv, weil sie zu schwierig ist. Wir wissen nicht so recht, wie wir über Klassen nachdenken sollen, ohne in die Haupt- und Nebenwiderspruchsthematik zu verfallen. Doch ohne Klassenanalyse verstehen wir Rassismus oder Gentrifizierung nur partiell, und umgekehrt ist es genauso.

Die hohen Mieten sind ja nur ein Thema, und sie sind auch wegen des boomenden Niedriglohnsektors zu einem Problem geworden. Sehen Sie Ansätze, den Widerstand gegen hohe Mieten mit Kämpfen am Arbeitsplatz oder im Jobcenter zu verbinden?

Ja,immerhin haben bereits in den siebziger Jahren die Kämpfe von Migranten, kritische Linksgewerkschafter und antirassistische Bündnisse zu einer Neuorganisierung der sozialen Bewegungen beigetragen und Themen wie Arbeit und Leben verknüpft. Für eine ähnliche Bewegung heute müssten eine Verbindung von Kämpfen gedacht, neue Konflikte artikuliert und neue Sprachen gefunden werden. In den USA etwa werden Kämpfe gegen Abschiebungen in einen engen Zusammenhang mit Kämpfen für Arbeitsrechte gestellt. So etwas ist ja prinzipiell auch hier denkbar. Der Niedriglohnsektor hierzulande betrifft vor allem Migrantinnen und Migranten, Frauen sowie geringqualifizierte Männer, und steigende Mieten treffen wiederum vor allem arme Menschen. Da erscheint eine Verbindung dieser Themen sehr dringlich. Ali Gülbol hat es selbst nach der Zwangsräumung gesagt: »Der Kampf beginnt erst jetzt.«

http://jungle-world.com/artikel/2013/08/47181.html
Interview: Peter Nowak

Widerstand gegen Legalisierung der Videoüberwachung in Berlin wächst

Kritiker fürchten, dass mit der Videoüberwachung von Demonstrationen die Versammlungsfreiheit in Gefahr gerät

Da in Berlin fast täglich Demonstrationen stattfinden, kann es auf den ersten Blick erstaunen, dass sich ausgerechnet dort kürzlich ein „Berliner Bündnis für Versammlungsfreiheit“ gegründet hat.

Neben Einzelpersonen arbeiten dort Vertreter der drei Oppositionsparteien Linke, Piraten und Grüne im Abgeordnetenhaus, die Dienstleistungsgewerkschaft verdi und zahlreiche zivilgesellschaftliche Gruppen vor allem aus dem Datenschutzbereich mit. Den Initiatoren geht es um Datenschutz auch auf Demonstrationen.

Der Protest des Bündnisses richtet sich gegen eine Gesetzesvorlage der in Berlin regierenden Koalition aus SPD und CDU, die den Titel trägt: „Gesetz zu Übersichtaufnahmen zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes bei Demonstrationen und Aufzügen. Hintergrund dieser Gesetzesvorlage, über die demnächst entschieden werden soll, ist ein Urteil des Berliner Verwaltungsgerichtes von 2010. Danach erfolgt die Verwendung von Videoaufnahmen der Polizei ohne Rechtsgrundlage und ist daher rechtswidrig. Mit der Gesetzesvorlage wollen nun die Regierungsparteien eine solche Rechtsgrundlage schaffen und die Praxis der Videoaufnahmen legalisieren. Der Verzicht auf diese Maßnahme sei „wegen der Bedeutung des Instrumentariums für eine erfolgreiche Einsatzbewältigung nicht hinnehmbar“, heißt es zur Begründung.

Werden Demonstranten abgeschreckt?

Die Kritiker monieren hingegen, dass es dem Senat bei dem Gesetz weniger um Übersichtsaufnahmen als um die konkrete Bespitzelung von Versammlungsteilnehmern geht. Schließlich werde in der Gesetzesvorlage von einem Kamera-Wagen gesprochen, aus dem keine Übersichtsaufnahmen angefertigt können. Die Berliner Polizei habe solche Aufnahmen bereits in der Vergangenheit ohne gesetzliche Grundlage angefertigt.

Das Bündnis verweist auf den Abschreckungswirkung für potentielle Versammlungsteilnehmer durch die Videoüberwachung und beruft sich dabei auf das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts:

„Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten.“

Daher sieht das Bündnis die Versammlungsfreiheit in Gefahr, sollten die Pläne der Berliner Regierungskoalition in Kraft treten. Die will eine schnelle Entscheidung herbeiführen, sodass bereits in wenigen Monaten in Berlin Versammlungen wieder mit einer Rechtsgrundlage von der Polizei gefilmt werden könnten. Ob die aber Bestand hat, dürfte wieder eine Frage der Justiz sein. Das Bündnis hat schon weitere Klagen angekündigt, sollte die Landesregierung nicht doch noch der erstarken Protestbewegung nachgeben und ihre Pläne auf Eis legen.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/153757
Peter Nowak

BP-Konzern sponsort Protestforscher

Das Institut für Demokratieforschung an der Göttinger Universität ist eine wichtige Institution, wenn es um die wissenschaftliche Protestforschung in Deutschland geht. Nachdem kürzlich bekannt wurde, dass der Energiekonzern BP eine Studie des Instituts zu aktuellen Bürgerprotesten in Auftrag gegeben hat, ist die Einrichtung allerdings in die Kritik geraten. Institutsleiter Franz Walter warnt vor einer Verdachtskultur und betont, dass die Forschungsergebnisse nicht von BP beeinflusst gewesen seien. Freilich hat diesen Vorwurf auch niemand erhoben. Die NGO LobbyControl monierte allerdings, dass die teilnehmenden Protestgruppen nicht von Anfang an über den Auftraggeber der Studie informiert gewesen seien. Zudem dürfte das Interesse von BP an einer Studie über Umweltbewegungen nicht nur theoretischer Natur gewesen sein. Der Kontakt zwischen BP und dem Institut lief über das kmw outrage Management, das es sich laut Selbstdarstellung zur Aufgabe macht, Krisen und Risiken für das Unternehmen im Vorfeld zu erkennen und zu minimieren. Bürgerinitiativen, die gegen Projekte des Konzerns protestieren, gehören zu diesen Risiken.

Das Göttinger Demokratieindustrie hat die neueren Protestbewegungen unter den Oberbegriff Wutbürger gefasst und das Bild von nörgelnden egoistischen Rentnern gezeichnet, die die Forderung nach direkter Demokratie oft nur aus taktischen Gründen verwendet würden. Nun soll nicht behauptet werden, dass ein solches Bild von den Protestgruppen, das dem Auftraggeber BP gefallen wird, durch direkte Einflussnahme des Konzerns zustande gekommen ist. Eine direkte Einflussnahme ist auch gar nicht nötig, wenn Forscher wissen, wer ihre Studie bezahlt.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/812963.bp-konzern-sponsort-protestforscher.html
Peter Nowak

Mein Block, meine Blockade

Für die Berliner Mieterbewegung ist die Winterpause vorbei. Mehr als 400 Menschen beteiligten sich am Samstag an der ersten Demonstration im neuen Jahr. Auch eine neue Parole riefen die Aktivisten auf ihrer kurzen Route durch Kreuzberg: »Die Gülbols bleiben in der Lause, die Polizei, die geht nach Hause!« Gemeint ist die Familie Gülbol aus der Lausitzer Straße 8, die zum Symbol des neuen Berliner Mieterwiderstands geworden ist. Nach jahrelangem Rechtsstreit mit ihrem Hauseigentümer André Franell war ihnen der Mietvertrag gekündigt worden, weil sie die Fristen zur Mietnachzahlung um einige Tage versäumt hatten. Sie klagten erneut, verloren jedoch in allen Instanzen, und so wurde ein Räumungstermin angekündigt. Dergleichen passiert eigentlich jeden Tag und meistens erfährt niemand davon. Doch die Gülbols gingen an die Öffentlichkeit, eine Solidaritätsinitiative entstand und über 200 Menschen verhinderten im vergangenen Oktober mit einer Blockade die angesetzte Räumung.

Ein zweiter Termin wurde im Dezember von der Justiz abgesagt. Doch am 14. Februar dürfte es ernst werden. Das Bündnis »Zwangsräumung blockieren« ist vorbereitet und organisierte mehrere Blockadetrainings. Selbst wenn die Räumung mit Polizeigewalt durchgesetzt werden sollte, dürfte die Mieterbewegung weiter an Stärke gewinnen. In den vergangenen Wochen haben sich weitere von Räumung bedrohte Mieter in Kreuzberg an die Öffentlichkeit gewandt und konnten durch politischen Druck einige Erfolge erzielen. Auch die Berliner Blockupy-Plattform ruft zur Räumungsverhinderung auf. Eine kluge Entscheidung, wie es scheint – schließlich spüren viele Menschen die Krise gerade in Form steigender Mieten. In diesem Sinne lassen sich der Widerstand gegen die Zwangsräumung wie auch die Mieter-Protesthütte, die seit acht Monaten am Kottbusser Tor steht, als eine Form des Krisenprotests im Alltag verstehen.
http://jungle-world.com/artikel/2013/07/47151.html
Peter Nowak

Neues soziales Zentrum im alten Schulpavillon

Umsonst-Laden und viel Platz zum Diskutieren

»Was ist denn heute in meiner alten Schule los«, meint die junge Frau, als sie die vielen Menschen sah, die am Samstagabend vor dem Eingang des Geländes der Ohlauer Straße 12 in stehen. Wo bis vor einigen Jahren die Gerhard-Hauptmann-Schule ihr Domizil hatte, wird die Eröffnung eines neuen sozialen Zentrums gefeiert. Neben Veranstaltungen gibt es auch Filmvorführungen und Konzerte.

Benannt ist das Zentrum nach Irving Zola, einem Aktivisten der Behindertenbewegung in den USA. Die Namensgebung ist Programm. »Hier soll ein barrierefreier Raum entstehen, den auch Rollstuhlfahrer ohne fremde Hilfe nutzen können«, meint Michael, einer der Aktivisten des sozialen Zentrums. Schließlich ist der ehemalige Schulpavillon ebenerdig und hat keinerlei Treppen.

Ende vergangenen Jahres ist das Areal in der Ohlauer Straße besetzt worden. In dem mehrstöckigen Hauptgebäude der ehemaligen Schule haben Flüchtlinge, die seit mehreren Monaten in Berlin gegen ihre Lebensbedingungen in Deutschland protestieren, in den Wintermonaten ein Domizil gefunden. In dem Pavillon wurde ein Umsonst-Laden eingerichtet, in dem Kleidung und Haushaltsgegenstände kostenfrei angeboten werden. In den drei weiteren Räumen befinden sich Sofas, Tische und Stühle. Es soll als Treffpunkt für Initiativen aus der Nachbarschaft dienen.

»Wir haben schon seit Jahren für ein soziales Zentrum hier im Kiez gekämpft«, meine Vera. Sie erinnert daran, dass vor fast zehn Jahren ganz in der Nähe von Aktivsten des Berliner Sozialforums eine leerstehende Kita besetzt wurde. Auch sie wollten dort ein Stadtteilzentrum einrichten. Nach wochenlangen Verhandlungen scheiterte das Projekt am Veto des damaligen Innensenators Erhardt Körting.

»Mittlerweile gibt es in Kreuzberg mehrere selbstorganisierte Räume«, freut sich Vera. Sie verweist auf das von Flüchtlingen aus ganz Deutschland errichtete Zeltdorf am Oranienplatz und die Protesthütte gegen hohe Mieten am Kottbuser Tor. »Auch das Irving-Zola-Zentrum soll ein Ort werden, wo sich die Anwohner treffen und für ihre Interessen einsetzen«, betont Michael.

Am Eröffnungswochenende gab es mehrere Veranstaltungen zu der für Donnerstag angekündigten Zwangsräumung einer Familie in der Lausitzer Straße 8, die nach einem jahrelangen Rechtsstreit ihre Wohnung verlieren soll. Ein Bündnis will die Räumung mit einer Blockade zu verhindern. Das war beim ersten Räumungsversuch im Dezember gelungen. Seitdem haben auch andere Familien Probleme mit dem Vermieter öffentlich gemacht und um Unterstützung gebeten. »Ein solcher Widerstand braucht Räume zum Austausch, zur Beratung und zur Vernetzung«, begründet Vera die Einrichtung des Zentrums. Wie lange es existieren kann, wird sich bei den Gesprächen mit dem Bezirksamt zeigen. Bis März besteht eine Duldung für das gesamte Gelände.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/812590.neues-soziales-zentrum-im-alten-schulpavillon.html

Peter Nowak

Party für einen Treffpunkt im Kiez

KREUZBERG In der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule soll ein soziales Zentrum entstehen

Noch wird gehämmert in den Räumen des Irving-Zola-Hauses in der Ohlauer Straße 12 in Kreuzberg. In dem Nebengebäude der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule soll am Wochenende die Eröffnungsparty für ein neues soziales Zentrum steigen. Der Grundsatz „Do it yourself“ wird ernst genommen: Gerade ist die Bühne zusammengezimmert worden. Mehrere Menschen probieren schon mal die Stabilität aus.

Sie wird am Wochenende eine tragende Rolle spielen: Am Samstagabend wird dort ab 22 Uhr unter anderem die Rapperin Lena Stoehrfaktor auftreten. Am Sonntagnachmittag geht es mit Kleinkunst weiter. Alle Veranstaltungen sind kostenfrei. Die BesucherInnen spenden, was sie erübrigen können. „Das ist ein wichtiger Grundsatz im Irving-Zola-Haus. Geld soll keine Zugangsbarriere sein“, betont Michael, der die frühere Schule am 8. Dezember mit besetzt hat.

Während im Hauptgebäude Flüchtlinge aus ganz Deutschland eine Unterkunft für den Winter gefunden haben, soll der Flachbau zum „barrierefreien und selbstbestimmten Raum“ werden, so die Idee der Macher. Mittlerweile wird er von vielen sozialen Initiativen genutzt. Die ehemalige Schule ist begehrt: Auch viele andere Initiativen aus dem Kiez interessieren sich für die Räume. Die Aktivisten setzen mit der Party ein Zeichen: Sie wollen bleiben.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F02%2F09%2Fa0272&cHash=f4555ca0160b4862cfa90884b8c4ee35
Peter Nowak

Cam over: Geraten in Berlin nach den Autos jetzt die Kameras ins Visier?

Der Aufruf Cam Over beruht auf dem Konzept des autonomen Subjekts

Um die Autobrände in Berlin ist es in letzter Zeit ruhiger geworden. Dabei gibt es noch immer brennende Fahrzeuge, wobei die Frage, ob politische Motive der Hintergrund sind, oft nicht klar ist. Es gab immer wieder massive Kritik auch in linken Kreisen, ausgerechnet das Auto zum Symbol aller Übel in der Welt aufzubauen und zu meinen, ein brennendes Auto wäre nicht eher ein Problem des Besitzers und keine Schlacht gegen den Kapitalismus. Zumal die Autos, die am wenigsten bewacht und gesichert sind, bestimmt nicht den wohlhabendsten Zeitgenossen gehören. Nun scheinen sich einige Aktivisten der linken Szene ein anderes Objekt ausgesucht zu haben: die Kameras, die in den letzten Jahren im Alltag massiv zugenommen haben.

Unter dem Slogan „Cam Over 2013“ haben Unbekannte zur Zerstörung von Überwachungskameras aufgerufen. Das Motto erinnert nicht zufällig an das englische »Game over. Im Aktionsaufruf heißt es: „Ziel des Spiels ist es möglichst viele Überwachungskameras zu entwerten.“ Die Sicherheitsbehörden nahmen diese Aufrufe sehr ernst. Webseiten, die das Aktionskonzept dokumentierten oder per Video die Unbrauchbarmachung einer Kamera exemplarisch vorführten, wurden umgehend gesperrt (http://camover.blogsport.de/spielidee/), aber sind wenig später wieder online.

Sowohl auf der aktivistischen Plattform Indymedia als auch auf anderen Webseiten wurden Schreiben veröffentlicht, in denen sich Gruppen mit Fantasienamen zu vollzogenen Kameraentwertungen bekennen. Sie ziehen dort auch eine Parallel zum 16. Europäischen Polizeikongress, der vom 16. bis 20 Februar in Berlin tagt. Das zentrale Thema soll dort „Schutz und Sicherheit im digitalen Raum“ sein. Wie in den vergangenen Jahren hat sich auch 2013 ein Bündnis zusammen gefunden, das gegen diesen Polizeikongress aktiv wird.

Militante Liberale?
Der Wechsel vom Auto zur Kamera scheint für die anonymen Aktivisten zunächst nicht unlogisch. Anders als ein Auto ist eine Überwachungskamera auch gesellschaftlich viel umstrittener. Das Recht, nicht beobachtet zu werden, wird gerade in der bürgerlichen Öffentlichkeit mit Nachdruck vertreten. Anders als ein Auto kann auch kaum jemand behaupten, eine Kamera wäre eben ein persönliches Hobby. Allerdings fällt auf, dass sich die anonymen Cam-Overisten nicht einmal die Mühe gemacht zu haben, ihren Aktivismus mit einer linken Gesellschaftskritik erklären zu wollen. So heißt es in dem Cam-Over-Aufruf verbalradikal, aber ohne jegliche Argumente:

„Wir hassen Überwachungskameras. Sie waren schon seit ihrer Erfindung scheisse. In unseren Städten verfolgen sie uns mittlerweile auf Schritt und Tritt. Auf der Straße, in Läden, in Wohnhäusern und in Bus und Bahn. Permanent werden wir beäugt, überwacht, ausspioniert. Menschen und Institutionen, die es am besten überhaupt nicht geben sollte, speichern Bilder unseres Lebens und vermitteln uns den Eindruck, ständiger Kontrolle zu unterliegen. Weil wir dieser Vision schon viel zu nahe sind, jeder Moment aber der letzte sein könnte, sie zu zerstören, rufen wir zu einem Spiel auf. Ein freudiges Spiel mit einem ernsten Ziel.“

Hier wird deutlich, dass die anonymen Verfasser in der Ideologie eigentlich militante Liberale sind. So mögen ihre Aktionsformen radikal sein, die Begründung aber könnten Liberale jeglicher Couleur unterschreiben, die schließlich alle die Autonomie des bürgerlichen Subjekts hochhalten und die Überwachung als grobe Verletzung dieser Autonomie verstehen. Selten wird deutlich, dass viele, die sich als Autonome verstehen, tatsächlich die letzten Verfechter dieser bürgerlichen Autonomie sind. Dabei wird völlig ausgeblendet, dass es oft gerade Menschen mit wenig Geld sind, die an bestimmten Orten Überwachungskameras fordern. Der Grund liegt nicht darin, dass es sich hier um große Sicherheitsfanatiker halten.

Die Ängste der Subalternen werden ignoriertVielmehr haben sie einfach Angst, zu bestimmten Zeiten bestimmte Plätze aufzusuchen. Die Kameras suggerieren ihnen Sicherheit. Die Kritik, dass es dabei nur um ein Sicherheits-Placebo handelt, ist berechtigt. Aber auch in der Medizin sind Placebos nicht ganz wirkungslos. Daher ist der Kampf gegen die Kameras nicht falsch, wenn aber die konkreten Ängste von sich als schwach empfindenden Teilen der Bevölkerung ausgeblendet wird, ist es eine Angelegenheit des autonomen Bürgers, der nicht überwacht wenden und auf seine Autonomie wert legt.

Wenn dann Rentner, Frauen oder Menschen mit Handicaps nicht mehr aus dem Haus gehen, weil sie, ob begründet oder nicht, Angst vor Überfällen, Vergewaltigungen und anderen Angriffen haben, ist ein solcher Aktivismus sicher kein Beitrag dazu, dafür zu sorgen, dass die Straßen und Plätze wieder von allen genutzt werden können.

Peter Nowak

Erhitzte Gemüter

ÄRGER Hauseigentümer unterstellen Gentrifizierungsgegnern Brandstiftung

„Wir kämpfen dafür, in unseren Wohnungen bleiben zu können, und jetzt werden wir indirekt in die Nähe von Brandstiftern gerückt“, empört sich Klaus Weins, Mieter am Weichselplatz 8 in Neukölln. Er ärgert sich über ein Schreiben der Hauseigentümer an die MieterInnen. Es bringt einen Kellerbrand im Dezember mit Protesten gegen die Modernisierung des Gebäudes in Zusammenhang. Letztere gehen von MieterInnen aus, die sich zur „Initiative FuldaWeichsel“ zusammengeschlossen haben.

„Wir sind schon länger schockiert, mit welcher Vehemenz wir angegriffen und mit verkürzten und falschen Aussagen in ein übertrieben schlechtes Licht gerückt werden“, moniert die Grundstücksgemeinschaft Weichselplatz in dem Schreiben. Es sei nicht auszuschließen, dass die Brandstiftung einen „neuen Höhepunkt der Eskalation“ darstelle. Der Polizeisprecher Martin Dams bestätigte gegenüber der taz, dass das Feuer durch Brandstiftung verursacht worden sei. Für einen politischen Hintergrund gebe es aber keine Anhaltspunkte.

In einer Erklärung stellten AktivistInnen klar, dass Brandstiftung in einem Wohnhaus völlig indiskutabel sei. Die anonymen AutorInnen wehren sich auch dagegen, den Kellerbrand mit der Sabotageaktion gegen einen Fahrstuhl im September in Verbindung zu setzen. Dafür hatten unbekannte GentrifizierungskritikerInnen im Internet die Verantwortung übernommen. Inzwischen hat die Initiative FuldaWeichsel begonnen, Unterschriften gegen den Einbau einer Videokamera im Treppenhaus zu sammeln.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F01%2F31%2Fa0202&cHash=dc7ef58c118ad74c3ccc5aded854ae25

Peter Nowak

Anwohner wollen mitbestimmen

Ein Bauprojekt im Friedrichshainer Südkiez sorgt für massiven Unmut

Bis auf den letzten Platz war der Pavillon im Innenhof der Schule am Traveplatz in Friedrichshain besetzt. Eltern mit ihren Kindern waren ebenso vertreten wie Rentner und Jugendliche und bildeten so einen Querschnitt der Bewohner im südlichen Teil von Friedrichshain. Sie wollten sich über ein Bauprojekt informieren, das seit Wochen für Diskussionen sorgt. 550 Wohnungen sollen auf dem 26 000 Quadratmeter großen Gelände der ehemaligen Autozubehörfabrik Freudenberg zwischen Boxhagener Straße und Weserstraße gebaut werden.

Gleich zu Beginn der Informationsveranstaltung in der vergangenen Woche wurden die unterschiedlichen Meinungen zu dem Projekt deutlich. Der Geschäftsführer der Bauwert Investment Gruppe Jürgen Leibfried, der für das Projekt verantwortlich ist, lobte die gute Kooperation zwischen Bewohnern, dem Bezirk und dem Investor. Zudem sei es Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Grüne) zu verdanken, dass auf dem neuen Areal neben Wohnungen im oberen Preissegment auch Sozialwohnungen für Mieter mit geringen Einkommen geplant werden. Zudem überlasse der Investor dem Bezirk Bauland für eine Kita.

Leibfried verwies weiterhin darauf, dass seine Firma mit der Abtragung von giftigem Boden auf dem Gelände, das noch eine ökologische Altlast der Vorwendezeit gewesen sei, in Vorleistung gegangen sei. Nicht nur im Lob über das gelungene Konzept waren sich Investor und Bürgermeister einig. Beide begründeten das Bauvorhaben mit dem Bevölkerungszuzug in Berlin. Allein im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg würden in den nächsten Jahren Tausende weitere Wohnungen benötigt.

Ein Großteil der Bewohner blieb skeptisch und mochte in das Selbstlob von Politik und Investor nicht mit einstimmen. Die Gründe waren höchst unterschiedlich. Einige Eltern im Saal bezeichneten die Schulsituation im Friedrichshainer Südkiez als katastrophal und befürchteten eine weitere Verschärfung durch den Wohnungsneubau.

Wie groß das Misstrauen ist, zeigte sich an einer Kontroverse um die Einladungen zu dem Treffen, die einige Nachbarn nicht erhalten hatten. Schließlich stellte sich heraus, dass die versandten Briefe vielleicht deshalb nicht überall ankamen, weil sie als Werbesendung deklariert nicht überall gesteckt werden durften. Einige Bewohner hinterfragten grundsätzlich, warum die letzte große Freifläche im Bezirk von einem Großinvestor bebaut werden soll.

Zu den Kritikern gehört auch der Architekt Carsten Joost, der gemeinsam mit der Nachbarschaftsinitiative die Ideenwerkstatt Traveplatz Freudenbergareal gegründet hat. Die Initiative verteilte auf der Veranstaltung einen Brief, der einen sehr kritischen Blick auf die bisherige Planung des Areals wirft. Es sei unverständlich, dass das Vorhaben schon im Vorfeld gefeiert werde, meinte Joost. Er befürchtet, dass sich das Projekt zu einer Geldmaschine für den Investor entwickelt. Dass die Kritik von vielen Anwesenden geteilt werde, zeigte der Applaus, den Joost und andere an der Ideenwerkstatt Beteiligte bekamen. Ob sie sich mit ihrer Forderung durchsetzen können, die gesamte Planung zu dem Areal auf den Prüfstand zu stellen, bleibt offen. Allerdings hat auch Bürgermeister Schulz mehrmals betont, dass man mit der Planung noch ganz am Anfang stehe und in dem Stadtteil die Realisierung eines solchen Projekts in der Regel 18 Monate benötige.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/810980.anwohner-wollen-mitbestimmen.html

Peter Nowak