Nationalbefreite Zone Bautzener Kornmarkt

Opfer werden zu Tätern: Polizei verhängte ein Alkohol- und Ausgehverbot für Geflüchtete

„Jagdzeit in Sachsen“[1] titelte der Spiegel vor fast genau 25 Jahren, als in Hoyerswerda der „hässliche Deutsche“ sein Comingout hatte. „Fünf Terror-Nächte lang haben Halbwüchsige mit Flaschengeschossen, Leuchtspurmunition und Steinen die Asylantenunterkünfte sturmreif geschossen. Nun können die Behörden, die lange tatenlos zugeschaut haben, ‚die Sicherheit der ausländischen Mitbürger‘ nicht mehr länger garantieren und lassen evakuieren“, beschrieb der Spiegel damals die Situation sehr treffend.

25 Jahre später ist wieder Jagdzeiten in Sachsen. Im knapp 35 Kilometer von Hoyerswerda entfernten Bautzen konnten die Rechte erneut einen Sieg feiern. Nachdem extrem Rechte gezielt Jagd auf Migranten gemacht haben, die sich am Bautzener Kornmarkt aufgehalten haben, wies die Polizei nicht etwa diese in die Schranken, sondern verhängte ein Alkohol- und Ausgehverbot für Geflüchtete.

„Die Polizei in Bautzen lobt sich für die Wiederherstellung der Ruhe in der Stadt. Tatsächlich hat sie den Rechtsextremen das Feld überlassen, indem sie die Flüchtlinge in ihre Unterkünfte sperrt“, beschrieb[2] der Spiegel den erneuten Sieg der Rechten in Sachsen. „Die unschönen Szenen, wie sie an den vergangenen Abenden am Kornmarkt zu sehen waren, gab es heute nicht“, wird der Bautzener Polizeidirektor Uwe Kilz zitiert[3].

Während der Spiegel aufzeigte, dass die neue Ruhe in Bautzen heißt, dass die Polizei umsetzt, was ein rechter Mob fordert, hat die Zeit die Polizei-Version[4] komplett übernommen. „Gewalt ging von alkoholisierten Asylbewerbern aus“[5] titelte die Wochenzeitung ohne jede kritische Distanz und versuchte nicht einmal zu erklären, warum dann ein Foto von einem verletzten Flüchtling unter dem Artikel zu sehen ist. Da unterschied sich die Diktion des Zeit-Artikels kaum von den Beiträgen[6] der rechtspopulistischen PI-News, in denen die rassistischen Übergriffe als Zivilcourage der Bevölkerung verklärt werden und der parteilose Bautzener Oberbürgermeister angegriffen wird, weil er in Zeitungsartikeln erklärte[7], dass Bautzen nicht zur Spielwiese gewaltbereiter Rechte werden darf.

Wenn die Zeit nicht mehr von PI-News und Junge Freiheit zu unterscheiden ist

Wenn die Zeit kaum noch von PI-News in ihrer Berichterstattung zu unterscheiden ist, muss sie sich auch nicht wundern, dass sie auch deren Leser und Kommentatoren übernimmt, die gleich von drohendem Multi-Kulti-Weltbürgerkrieg schwadronieren. So zeigt sich am Fall Bautzen, dass sich 25 Jahre nach dem Pogrom von Hoyerswerda durchaus etwas geändert hat. Selbst eine als liberal gebende Zeitung wie die Zeit beteiligt sich daran, den von Rechten Angegriffenen die Schuld zu geben, und denkt gar nicht daran, die Polizeiversion zu hinterfragen.

Dabei hätten sie dazu nur die ihnen zur Verfügung stehenden Informationen zur Grundlage nehmen können. So heißt es im letzten Abschnitt des Zeit-Artikels: „Flüchtlinge versammeln sich auch deshalb auf dem Kornmarkt, weil es dort freies WLAN gibt. Ausländerfeindliche Jugendliche versuchten, sie von dort zu vertreiben.“ Was war also die herbeigeredete Provokation und angebliche Schuld der Migranten? Dass sie sie es gewagt haben, sich auf einen zentralen Platz der Stadt zu treffen und dort das W-LAN zu nutzen, um mit ihren Freunden, Bekannten und Verwandten zu kommunizieren.

Für die Rechten ist die pure Existenz der Geflüchteten eine Provokation. Das ist nicht besonders verwunderlich. Zum politischen Skandal wird es aber, wenn die Polizei ihren Teil dazu beiträgt, dass die Rechten bei der Errichtung der national befreien Zone Kornmarkt Erfolg haben und die Geflüchteten quasi in Schutzhaft nimmt. Zum medialen Skandal wird das dann, wenn die Zeit diesem Treiben ihren publizistischen Flankenschutz gibt und nicht mehr von PI-News, Junge Freiheit und Co. zu unterscheiden ist.

25 Jahre nach Hoyerswerda werden die Opfer einer rassistischen Hetzjagd also wieder zu Tätern gestempelt. Darauf hat die Antirassistische Initiative Berlin in einer Presseerklärung[8] hingewiesen:

Alle im Internet veröffentlichten Videos zeigen Angriffe auf Geflüchtete; der Angriff rechter Gewalttäter auf einen Rettungswagen wird von der Polizei bagatellisiert, die Hetzjagd durch die Stadt schlicht ignoriert. Die Kinder und Jugendlichen seien die Täter. Eine Phalanx aus Polizeiführung und Stadtregierung redet sich die geduldeten Pogrome in Bautzen zurecht und macht die Opfer zu Tätern. Ihre absurde Variante bringt es bis in die Tagesschau. Als verlängerter Arm des rechten Mobs verhängt die Stadt eine Ausgangssperre über die Bautzener Geflüchtetenlager, so wird ein Lager zum Knast. Sie inhaftiert Minderjährige täglich ab 19 Uhr. Die minderjährigen Geflüchteten haben es gewagt, sich gegen den rechten Mob zu verteidigen.Antirassistische Initiative Berlin

Antirassistische Initiative Berlin

Blauhelme nach Bautzen

Angesichts dieser Szenen bekommt ein viel strapaziertes Merkel-Bonmot eine ganz neue Bedeutung. In diesen Tagen zeigt sich in Bautzen, dass „wir es schaffen“, Migranten, die sich auf den Bautzener Kornmarkt aufhalten, weil sie das Internet nutzen wollen, zu Tätern zu stempeln und Rechten bei der Errichtung einer nationalbefreiten Zone publizistischen und politischen Flankenschutz geben.

Da mit der Schutzhaft für die Opfer des Rassismus die Menschenrechte der Geflüchteten massiv verletzt werden, sollte über einen Blauhelm-Einsatz in Bautzen nachgedacht werden. Dieser Vorschlag wurde in den 90er Jahren gegen die deutschen Verhältnisse in Anschlag gebracht.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49452/1.html

Anhang

Links

[0]

https://www.youtube.com/watch?v=gtoNotDK5Gk

[1]

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13492516.html

[2]

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/kommentar-zum-rechtsextremismus-in-bautzen-a-1112648.html

[3]

https://www.polizei.sachsen.de/de/MI_2016_44876.htm

[4]

http://www.facebook.com/polizeisachsen.info/videos/546871808848986/

[5]

http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-09/bautzen-minderjaehrige-fluechtlinge-alkoholverbot-polizei

[6]

http://www.pi-news.net/2016/09/michael-klonovsky-ueber-bautzen-wuerden-sie-das-tun-wenn-sie-irgendwo-asyl-suchten/

[7]

http://www.berliner-zeitung.de/politik/ob-von-bautzen–stadt-darf-nicht-zum-spielplatz-von-gewaltbereiten-rechten-werden-24748928

[8]

http://www.ari-berlin.org/aktuelles/2016-09-16-pm-bautzen-hoyerswerda.htm

Gewalt gegen Flüchtlinge eskaliert in Sachsen

Clausnitz und Bautzen sind weitere Namen auf der Liste der Orte, in denen rassistische Gewalt praktiziert wurde. Das Aufdecken des NSU hat daran nichts geändert

In den letzten Wochen gab es fast täglich Meldungen von der Zunahme rassistischer Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte[1], aber auch über Attacken auf Unterstützer von Geflüchteten. Zudem gab es in den letzten Wochen immer wieder Warnungen[2] vor der Radikalisierung der der rechten Szene.

In den letzten Tagen konnte man in Sachsen sehen, wie diese Radikalisierung aussieht. Am vergangenen Donnerstag blockierten in Clausnitz ca. 100 Menschen mit Rufen „Wir sind das Volk“ Busse, die Migranten in den Ort bringen sollten. Einige der stark verängstigen Businsassen wollten aussteigen, andere wollten nicht in den Ort bleiben. Auf Videos[3] ist zu sehen, wie einzelne Polizisten die Menschen teilweise rabiat aus dem Bus zerren.

Rechtspopulisten applaudieren Polizei

So haben die Migranten die vielbeschworene deutsche Willkommenskultur gleich von verschiedenen Seiten kennengelernt. Während sie von Einwohnern bedroht wurden, erfuhren sie von der Polizei nicht etwa Verständnis. Die Polizei rechtfertigt die Maßnahmen und gibt den Geflüchteten eine Mitschuld an den Geschehen. Haben die sich etwa zu ihrem Schutz bewaffnet und den Aktivbürgern Gewalt angedroht? In der Chronologie[4] der zuständigen Chemnitzer Polizei wird deutlich, worin die Mitschuld bestand: im Fotografieren und in Gesten.

Ab 21 Uhr:

Der Bus mit 20 Asylsuchenden wird nach Beenden der Fahrzeugblockade direkt vor den Eingang der Unterkunft gelotst. Gleichzeitig setzen sich die Versammelten in Richtung Eingang in Bewegung. Der Polizeiführer verfügt jetzt über 23 Einsatzkräfte. Aufgrund des Kräfteverhältnisses und der frei zugänglichen Örtlichkeit ist ein Fernhalten der Protestierenden vom Bus nicht möglich. Deshalb wird sich auf den unmittelbaren Eingangsbereich konzentriert. Es gibt lautstarke Protestrufe. Ein Rufer droht das Begehen einer Straftat an. Die Businsassen wollen das Fahrzeug nicht verlassen. Mit einem Dolmetscher, der die Asylbewerber bereits in der Unterkunft erwartet, versuchen die Einsatzkräfte die Ankommenden zum Aussteigen zu bewegen.

Die Lage verschärft sich, als aus dem Bus heraus die Protestierenden gefilmt werden und von einem Jungen provozierend gestikuliert wird (u.a. Zeigen des Mittelfingers). Um die Situation zu beruhigen, wird der Junge aus dem Bus in die sichere Unterkunft gebracht. Für diese Maßnahme macht sich einfacher unmittelbarer Zwang notwendig.

21.20 Uhr:

Um Angriffe gegen den Bus und die Insassen vorzubeugen, entschließt sich der Polizeiführer nach Rücksprache mit dem Vertreter des Landratsamtes, die Businsassen schnellstmöglich in die Unterkunft zu bringen. Bei zwei weiteren Ankommenden macht sich dafür ebenfalls einfacher unmittelbarer Zwang notwendig. Die anderen Asylsuchenden beziehen nach Aufforderung selbstständig ihre Unterkunft.

Für diese Stellungnahme bekam die Polizei viel Lob von den rechtspopulistischen PI-News, die sogar behauptete, der Polizeipräsident hätte ihre Einschätzung übernommen.

Dass die Unterkunft kein Schutz für die Geflüchteten ist, wird spätestens dann deutlich, als bekannt wurde, dass der Leiter der Unterkunft[5] AFD-Mitglied ist und in der Vergangenheit gegen die Willkommenskultur protestiert hatte. Hier wird auch augenfällig, wie absurd die routinierte Abwehr vonseiten verschiedener Kommunalpolitiker ist, die jetzt betonen,die gegen die Migranten Protestierenden würden gar nicht in dem Ort wohnen.

Dabei ist Clausnitz weder in Sachsen noch in anderen Bundesländern ein Einzelfall. So sorgen wochenlange Blockaden gegen Geflüchtete im Chemnitzer Stadtteil Einsiedel bundesweit für Aufmerksamkeit[6]. Sie haben sicherlich mit dazu beigetragen, dass das Konzept nun auch in andere Kommunen getragen wird.

Erinnerung an die frühen 1990er Jahre

In Bautzen wollten es die Rechten nicht bei der Blockade belassen und verübten Brandstiftung an einen Haus, das als Flüchtlingsunterkunft geplant war. Auch solche Anschläge kommen in diesen Wochen immer wieder vor. In Bautzen kam noch hinzu, dass eine Menschengruppe den Brandanschlag feierte und die Feuerwehr am Löschen hindern wollte. Dieser Vorfall wurde von vielen Politikern besonders scharf verurteilt. Denn hier werden Bilder aus den frühen 90er Jahren wach, als sich Aktivbürger und Nazis in Hoyerswerda, Rostock, Mann-Schönau und anderen Orten gemeinsam gegen Flüchtlingsunterkünfte verbündeten.

Die Bilder, die es vor allem im Ausland gab, evozierten besorgte Fragen über das Wiederaufleben nazistischen Gedankenguts Wenn es jetzt wieder ähnliche Bilder gibt, könnte es erneut Reaktionen aus dem Ausland geben. Doch die empörten Reaktionen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Anschläge und Ausschreitungen der letzten Tage durchaus keine Einzelfälle waren. Das rechte Klima der Entsolidarisierung drückt sich auch in der verstärkten Zustimmung zu repressiven Maßnahmen gegen Geflüchtete aus.

Rechter Terror trotz NSU

Nachdem der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) aufgeflogen war, hofften manche Beobachter, dass der Schock die politische Situation in Deutschland so verändern würde, dass es ein Zurück zum Straßenrassismus der frühen 90er Jahren nicht geben wird. Nun kann man sich da nicht so sicher sein.

Das ist das eigentlich Erschreckende der Vorfälle von Clausnitz und Bautzen. Dass es sich hier nicht um einen abstrakt-moralischen Anspruch handelte, darauf verwies eine Tagesveranstaltung der Interventionistischen Linken[7] zum Stand des NSU-Verfahrens vor Gericht[8], aber auch zum öffentlichen Diskurs über den NSU.

Dort wurde auch deutlich, dass eine politische Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex und die Folgen mit dem pseudokritischen Geraune über immer neue Todesfälle im weiteren NSU-Umfeld[9] nichts zu tun hat. Hier wird ein Bild gezeichnet, wonach alle, die – auf welch‘ verschlungenen Wege auch immer – mit dem NSU in Verbindung standen, Todeskandidaten sind. Das mag für einen Gruselfilm taugen, nicht aber für eine ernsthafte politische Auseinandersetzung mit dem NSU.

Dabei müsste ja erst einmal klargestellt werden, dass der junge Mann, der in der letzten Woche wahrscheinlich Suizid verübte, selbst keine Verbindung zum NSU-Komplex hatte. Die einzige Verbindung war die im letzten Jahr gestorbene Freundin, deren Verbindung wiederum die Kurzzeitfreundschaft mit einem Mann war, der tatsächlich zeitweise zum NSU-Komplex gehörte.

Die Frage, wer warum Menschen töten soll, die selber gar keine kompromittierenden Aussagen machen können, weil sie nichts mit dem NSU zu tun hatten, wird dann gar nicht erst gestellt. Zudem geraten durch eine Ausgestaltung des NSU-Komplexes zu einen Gruseldrama die realen Opfer, aber auch die unterschiedlichen Akteure aus dem Blickfeld. Die Veranstaltung in Berlin hat demonstriert, dass man sich ohne solche Anklänge an Verschwörungen und Gruselfilme mit dem NSU auseinandersetzen kann, ohne die offizielle Version zu übernehmen.

So wurde eine grafische Projektion der unterschiedlichen Akteure des NSU-Komplexes vorgestellt und dabei das Augenmerk auf das Netzwerk staatlich bezahlter Spitzel sowie ihrer V-Mann-Führer gelegt. Einer dieser staatlichen Akteure ist Gordian Meyer Plath[10]. Obwohl seine Arbeit beim Referat Rechtsextremismus des VS Sachsen viele kritische Fragen hinterließ, stieg er mittlerweile zum sächsischen VS-Chef[11] auf.

Peter Nowak

http://www.heise.de/tp/artikel/47/47476/1.html

Anhang

Links

[1]

http://www.pnn.de/brandenburg-berlin/1046647/

[2]

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-10/bka-fluechtlinge-rechte-gewalt-warnung

[3]

http://www.medienservice.sachsen.de/medien/news/202136

[4]

https://www.polizei.sachsen.de/de/MI_2016_41142.htm

[5]

http://www.sueddeutsche.de/politik/thomas-hetze-clausnitz-heimleiter-demonstrierte-gegen-asylchaos-1.2872663

[6]

http://www.freiepresse.de/LOKALES/CHEMNITZ/Blockade-Lage-in-Einsiedel-spitzt-sich-zu-artikel9321039.php#

[7]

http://www.interventionistische-linke.org/termin/das-system-nsu

[8]

http://www.hebbel-am-ufer.de/programm/spielplan/interventionistische-linke-berlin-system-nsu/

[9]

http://www.heise.de/tp/artikel/47/47412/

[10]

https://www.nsu-watch.info/2013/04/von-piatos-fahrdienstleister-zum-behordenleiter-die-vernehmung-des-gordian-meyer-plath/

[11] http://www.lfv.sachsen.de