Erwitte feiert Jubiläum

Neues Buch zu erster Fabrikbesetzung in der BRD

»Keiner, auch der Seibel nicht, keiner schiebt uns weg«. Das von der Liedermacherin Fasia Jansen umformulierte Streiklied erinnert an einen besonderen Arbeitskampf in der nordrheinwestfälischen Kleinstadt Erwitte. 150 Beschäftigte hatten dort am 10. März 1975 das Zementwerk Seibel & Söhne besetzt, um gegen Massenentlassungen zu protestieren.

40 Jahre später hat Dieter Braeg im Verlag »Die Buchmacherei« ein Buch herausgegeben, das an den bundesweit ersten Arbeitskampf erinnert, bei dem eine Belegschaft ihre Fabrik besetzt. »Das ging alles Ruck zuck. Nach fünf Minuten kam keiner mehr rein und keiner mehr raus«, erinnert sich ein beteiligter Vertrauensmann an die entscheidenden Minuten. Was die Beschäftigten nicht ahnten, war die Resonanz, die die Besetzungsaktion auslösen würde. Dass Arbeiter nicht mehr vor den Fabriktoren stehen blieben, sondern mit der Fabrikbesetzung den Einsatz von Streikbrechern verhinderten, mobilisierte am 1. Mai 1975 Tausende in das kleine konservative Erwitte.

Im Buch wird beschrieben, wie entsetzt die bürgerliche Öffentlichkeit der Stadt über die vielen roten Fahnen auf der Kundgebung war. Die Arbeiter hatten danach die Sympathie mancher Honoratioren verloren, die zwar Firmeneigner Clemens Seibel als zu autoritären Unternehmer ablehnten, aber über den Kapitalismus nicht reden wollten. Dafür hatten die Fabrikbesetzer viele neue Freunde auch außerhalb Deutschlands gewonnen. Auch die Belegschaft der französischen Uhrenfabrik Lip, die zur gleichen Zeit in Selbstverwaltung die Produktion wiederaufgenommen hatte, gehörte dazu. Nach knapp sechs Wochen beendeten die Arbeiter die Besetzung. Während lokale Protagonisten der IG Chemie-Papier-Keramik die Kollegen unterstützten, wollte der Gewerkschaftsvorstand den Konflikt in juristische Bahnen lenken.

Im Buch wird auch eine Rede des damaligen DGB-Vorsitzenden Heinz Oskar Vetter dokumentiert, in der er sich zwar von linken Unterstützern distanziert. Doch heute klingen seine Forderungen nach Zurückdrängung der Unternehmer- und Konzernmacht fast schon linksradikal. Trotz breiter Unterstützung haben die Beschäftigten den Konflikt nicht gewonnen. Viele sahen in der Entscheidung, die Besetzung nach sechs Wochen zu beenden, einen großen Fehler. Die Arbeiter gewannen viele Prozesse, doch Seibel ignorierte die Urteile. Er stellte eine neue Belegschaft zusammen und ließ einen neuen, ihm ergebenen Betriebsrat wählen.

Eine wahre Fundgrube sind die Protokolle der Frauengruppe der Beschäftigen. Sie wurde bald zum eigentlichen Motor des Arbeitskampfes. Die Frauen kritisierten die Gewerkschaftstaktik, während die Männer hilflos die Fäuste ballten. Die Frauengruppe wollte auch nicht akzeptierten, dass der Gewerkschaftsvorstand linke Gruppen, die sich mit der Besetzung solidarisierten, ausgrenzen wollte. Die Frauen beteiligten sich noch jahrelang an politischen Auseinandersetzungen. So ist das Buch nicht nur ein Zeugnis für Unionbusting vor 40 Jahren sondern auch ein Dokument einer Emanzipation im und durch den Streik.

Die Buchmacherei hat sich schon in der Vergangenheit große Verdienste bei der Dokumentierung wichtiger Arbeitskämpfe erworben. Das neue Buch kann daran anknüpfen.

Dieter Braeg (Hg.), Erwitte – »Wir halten den Betrieb besetzt«. Geschichte und Aktualität der ersten Betriebsbesetzung in der Bundesrepublik. Die Buchmacherei, Berlin. 19,90 Euro, 258 Seiten. Direktbezug: www.diebuchmacherei.de

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Peter Nowak