Grüner Sozialismus statt Marktwirtschaft?

Vierteljahresschrift »Luxemburg« beleuchtet Alternativkonzepte
Die aktuelle Ausgabe der Vierteljahresschrift »Luxemburg« der gleichnamigen LINKEN-nahen Stiftung ist dem Projekt eines Grünen Sozialismus gewidmet.

Unter dem Schlagwort der Grünen Ökonomie wird mittlerweile von einem Bündnis, das von den Grünen bis zum modernistischen Flügel der Unionsparteien reicht, das Konzept eines günen Kapitalismus vorangetrieben. Dem setzten Teile der außerparlamentarischen Bewegung und die Partei die Linke das Projekt eines grünen Sozialismus entgegen. Doch was verbirgt sich hinter dem Begriff. Um diese Frage geht es schwerpunktmäßig in der aktuellen Ausgabe der Luxemburg. Zahlreiche Autoren aus dem In- und Ausland, darunter Raul Zelik, Alex Demirovic und Elmar Altvater, Ulrich Brand und Sabine Leidig stellen unsere Zugänge zu dem Thema zur Diskussion.
Die viermal jährlich von der gleichnamigen Stiftung herausgebene Publikation hat den Anspruch Gesellschaftsanalyse mit linker Praxis zu verbinden. In dem aktuellen Heft gelingt ihr das nur ansatzweise. Tatsächlich ist der Analyseteil wesentlich umfangreicher als der Praxisteil. Einige der Autoren sind sich nicht einmal sicher, ob sie den Begriff des grünen Kapitalismus verwenden wollen. Der Politologie Ulrich Brand bevorzugt den Begriff der sozialökonomischen Transformation. Mario Candaias von der RL-Stiftung beschäftigt sich mit den „gerechten Übergängen“ dazu, die Perspektiven für die Menschen liefern sollen, die von der Klimakrise am meisten betroffen sind. Dabei sei eine von demokratisch legitimierten Räten durchgeführte Planung der Ökonomie notwendig. Auch in anderen Artikeln wird als ein Kennzeichne des grünen Sozialismus die demokratische Planung genannt und darauf verwiesen, dass es keine umweltfreundliche Marktwirtschaft geben kann. Ein weiteres Merkmal des grünen Sozialismus ist die Verbindung von Ökologie und sozialen Kämpfen. Damit wird Vorstellungen in Teilen der Umweltbewegung eine Absage erteilt, die eine Verzichtslogik der Natur zuliebe propagieren. Ein weiteres Steckenpferd der Umweltbewegung kritisiert der kanadische Politikwissenschaftler Gregory Albo grundlegend. Es ist das Konzept der Regionalökonomie. Albo weist nach, dass kleinere Produktionseinheiten keineswegs umweltfreundlicher als große. Gerade im Internetzeitalter sei die Orientierung an der Lokalökonomie nicht verständlich, betont Albo, der sich für eine demokratische Planung der gesamten Ökonomie einsetzt. Mit dem Philosophen Frieder Otto Wolf kommt ein Aktivist zu Wort, der noch in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts Teil der ökosozialistischen Strömung bei den Grünen gewesen ist. Leider werden in dem Heft ökosozialistische Ansätze, die sich in den letzten 20 Jahren zunehmend außerhalb der Grünen, beispielsweise bei der Partei der Ökologischen Linken verortet haben, kaum zu Kenntnis genommen.
Wenn es um die linke Praxis geht, kommen fast ausschließend Politiker der Linkspartei zu Wort, was natürlich bei einer von der parteinahen Stiftung herausgebenen Broschüre nicht verwunderlich ist. Es wäre aber sicherlich interessant gewesen, die in den letzten Jahren unter dem Obertitel Energiekämpfe firmierenden Bewegungen in der Broschüre stärker zu Wort kommen zu lassen. Damit hätte man auch ganz praktisch den in vielen Texten formulierten Anspruch umsetzen können, dass eine sozial-ökologische Transformation nur im gleichberechtigten Bündnis von Umweltgruppen, sozialen Initiativen, kritischen Gewerkschaftern und Konsumenten durchgesetzt werden kann. In diesem Mosaiklinke genannten Bündnis wäre die Linkspartie nur ein Akteur unter vielen.

Peter Nowak
Luxemburg 3, Grüner Sozialismus, September 2012, 160 S., 10,– €, Bestellungen unter: http://www.zeitschrift-luxemburg.de/?page_id=154

Umfairteiler und Fairsenker

Vermögensabgabe, Vermögenssteuer – und schon geht es gerecht zu im Kapitalismus. Das forderten am Wochenende 40 000 Menschen während eines Aktionstags unter dem Motto »Umfairteilen«. Die Befürworter dieser Vorstellungen blamieren sich angesichts des herrschenden Klassenkampfes von oben.

Die Forderungen waren bescheiden: Vermögende sollen sich in Deutschland etwas stärker als bisher am Steueraufkommen beteiligen, eine einmalige Vermögensabgabe und eine dauerhafte Vermögenssteuer sollen eingeführt werden. Mit diesem Ziel beteiligten sich am Wochenende etwa 40 000 Menschen in über 40 Städten an einem Aktionstag unter dem Motto »Umfairteilen«. In einem Mobilisierungsvideo verdeutlichten Aktivisten ihre Vorstellung von einem fairen Kapitalismus, indem sie symbolisch Attrappen von Goldbarren und Geldsäcken zugunsten von Bildung, Pflege und Energiewende umschichteten.

Die Veranstalter sprechen erwartungsgemäß von einem »vollen Erfolg«, wie es etwa in einer Pressemitteilung von Attac heißt. Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband sieht gar einen »Durchbruch in der Gerechtigkeitsdebatte«. Auf den ersten Blick scheinen solche optimistischen Beurteilungen nicht unangebracht, schließlich gingen Menschen in fünfstelliger Zahl für mehr soziale Gerechtigkeit auf die Straße. Doch der vermeintliche Erfolg wird erheblich relativiert, wenn man bedenkt, dass an dem Bündnis zahlreiche große Gewerkschaften und Sozialverbände beteiligt waren und die Beteiligung dank des dezentralen Charakters des Aktionstages erheblich erleichtert wurde. So demonstrierten also doch nur 40 000 Menschen, und noch dazu für einen fairen Kapitalismus. Zudem waren die Veranstalter sehr daran interessiert, Grüne und SPD bloß nicht zu verärgern. So wurde in den Materialien zum Aktionstag kein kritisches Wort zur »Schuldenbremse« und der Agenda 2010 verloren.

In Hamburg sorgte die Beteiligung des Vorsitzenden der größten griechischen Oppositionspartei Syriza, Alexis Tsipras, dafür, dass die Spitzenpolitiker von SPD und Grünen die Abschlusskundgebung vorzeitig verließen. „Die Aussagen von Alexis Tsipras widersprechen unseren europapolitischen Überzeugungen“, wurden führende Hamburger Grüne in der Taz zitiert. Der Auftritt eines Redners, der mit dem Euroaustritt Wahlkampf mache, sei »ein schwieriges Signal«. In Leserkommentaren wurde darauf hingewiesen, dass der Grüne entweder keine Ahnung habe oder bewusst falsche Behauptungen verbreite. Tatsächlich sprachen sich der Linkssozialist Tsipras und die Mehrheit der Syriza im Wahlkampf vehement für einen Verbleib in der Euro-Zone, aber für eine Neuverhandlung der Schuldenvereinbarungen aus. Es waren vielmehr deutsche Politiker der Union und der FDP, die wiederholt forderten, Griechenland solle die Euro-Zone verlassen. Einige haben diese Forderung auch an die derzeitige griechische Regierung gestellt. Mit dem Streit um Tsipras’ Rede haben SPD und Grüne noch einmal deutlich gemacht, dass auch sie die Politik der Bundesregierung unterstützen, wenn es um das über Griechenland verhängte Spardiktat geht.

In der vergangenen Woche hatten sowohl in Griechenland als auch in Italien, Spanien und Portugal und am Sonntag schließlich auch in Frankreich Zigtausende gegen die EU-Sparpolitik protestiert. In allen Ländern wurde dabei auch das deutsche Sparmodell kritisiert. Auf diese europaweiten Proteste bezog sich während des Aktionstags vor allem das linke Bündnis »Kapitalismus fairsenken«, das mit dem Anspruch antrat, »mit kreativen Aktionen vereinfachte und verkürzte Forderungen« des Bündnisses »Umfairteilen« zu kritisieren. Dabei geht es vor allem um die Vorstellung eines fairen Kapitalismus. »Gerechtere Lebensbedingungen sind nicht durch Umverteilung zu erreichen, sondern durch Demokratisierung der Produktionsmittel und somit Vergesellschaftung der Gewinne«, heißt es im Aufruf des Bündnisses »Kapitalismus Fairsenken«, in dem Gruppen aus dem Umfeld der Interventionistischen Linken vertreten sind, die sich im Mai auch an den Blockupy-Aktionstagen in Frankfurt und bereits vorher an verschiedenen Protesten gegen die derzeitige Krisenpolitik beteiligt haben. Vom Bündnis M31, das mit dezidiert antikapitalistischen Forderungen zum europaweiten Aktionstag im März aufgerufen hatte, gab es hingegen keine Stellungnahme zum Aktionstag und den derzeitigen europaweiten Protesten.

Der Aktionstag hat noch einmal deutlich gemacht, wie nötig Kritik von links ist. Denn die Protestbewegung in Deutschland unterscheidet sich erheblich von denen anderer europäischer Länder. Während in Spanien, Griechenland und Portugal Grundsätze, wie sie vom Bündnis »Kapitalismus fairsenken« formuliert wurden, in weiten Teilen der Protestbewegung befürwortet werden, wurden sie während des Aktionstags in Deutschland nur vom äußerst linken Flügel vertreten. Die Mehrheit hängt hierzulande der Illusion von einem fairen Kapitalismus an.

Dabei hat die Bundesregierung in den vergangenen Wochen noch einmal vorgeführt, was Klassenkampf von oben ist. Der neue Entwurf des »Armuts- und Reichtumsberichts« und die Reaktionen der Bundesregierung nach der Veröffentlichung haben den Kritikern der Ideologie vom fairen Kapitalismus eigentlich beste Argumente geliefert. Die arme Bevölkerung und der öffentliche Haushalt werden ärmer, die vermögenden Schichten reicher, lautet das wenig überraschende Fazit des Berichts. So stand dem Rückgang des Nettovermögens des deutschen Staats von Anfang 1992 bis Anfang 2012 um 800 Milliarden Euro im gleichen Zeitraum die Zunahme des Nettovermögens privater Haushalte von 4,6 Billionen auf zehn Billionen gegenüber. Doch für große Teile der Bundesregierung war nicht die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich das Problem, sondern der Bericht, der diese Entwicklung in Zahlen fasst.

Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) ließ prompt mitteilen, er verweigere dem Entwurf die Zustimmung, weil dieser eine Debatte über eine stärkere Vermögensbesteuerung auslösen könnte. Dabei bemängelte Rösler vor allem einen Passus in dem Bericht, in dem von einem Prüfauftrag die Rede ist, »ob und wie über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann«. Für Rösler und die FDP scheint eine solche Frage schon den Sozialismus heraufzubeschwören. »Noch mehr Umverteilung« sei für sein Ministerium nicht zustimmungsfähig, ließ er über das Handelsblatt mitteilen.

Nicht nur seine Parteikollegen unterstützten ihn, sondern auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stimmte ihm zu. Höhere Steuern schadeten vor allem dem Mittelstand in Deutschland, lautete die Begründung. Michael Fuchs, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union, warf Arbeitsministerin Ursula von der Leyen vor, mit der Veröffentlichung des Berichts den Koalitionsvertrag zu verletzen. Finanzstaatssekretär Steffen Kampeter (CDU) entdeckte in dem Bericht gar »Linksrhetorik pur«. Innerhalb weniger Wochen wurde die Arbeitsministerin so gleich zweimal des Linksabweichlertums bezichtigt. Auch mit ihrem Vorschlag für eine Zusatzrente war sie in diesen Verdacht geraten, obwohl in ihrem Rentenmodell eine lange Lebensarbeitszeit und eine private Rentenversicherung festgeschrieben sind.

Nach der Schelte für den Armuts- und Reichtumsberichts stellte sie ohnehin klar, dass sie keinerlei Steuererhöhung anstrebe, sondern als Mittel gegen die großen Einkommensunterschiede die Förderung der privaten Spendenbereitschaft favorisiere. Sie bekannte sich also zu einer Sozialpolitik, die auf den Willen zur Wohltätigkeit statt auf soziale Rechte setzt. Solche Vorstellungen finden auch in anderen Parteien Zustimmung, von der SPD über die Grünen bis hin zur Piratenpartei. Es ist anzunehmen, dass an solchen Fragen keine Koalitionen scheitern würden. Daher ist es umso absurder, wenn auch in Teilen der sozialen Bewegung ein Jahr vor der Bundestagswahl schon wieder die längst blamierte Hoffnung von der Mehrheit links von FDP und Union beschworen wird, die dafür sorgen soll, dass der Kapitalismus etwas fairer wird.

http://jungle-world.com/artikel/2012/40/46322.html

Peter Nowak

GEFÜHRTER SPAZIERGANG DURCH DEN WEDDING

Zeitreise in ein düsteres Kapitel deutscher Geschichte

Auf die kolonialen Spuren der Stadt begibt sich ein Spaziergang, zu dem am heutigen Freitag der Verein Berlin Postkolonial durch das Afrikanische Viertel im Wedding einlädt. Damit soll daran erinnert werden, dass in dem Kiez noch immer Straßen nach berüchtigten Kolonialoffizieren wie Lüderitz, Peters und Nachtigall benannt sind.

Nach der Umbenennung des Kreuzberger Gröbenufers in May-Ayim-Ufer vor eineinhalb Jahren habe es Hoffnungen auf ein Umdenken auch im Wedding gegeben, sagte der Historiker Christian Kopp von Berlin Postkolonial der taz. „Doch bei der Bildung der aktuellen Zählgemeinschaft im Bezirk hat die SPD dem Wunsch der CDU nach einer Fortführung der Kolonialpropaganda nachgegeben“, moniert er.

Der Spaziergang ist Teil einer Veranstaltungsreihe, mit der Berlin-Postkolonial zum Jahrestag des im Oktober 1904 von dem deutschen Kolonialgeneral Lothar von Trotha verfassten Vernichtungsbefehls gegen die Herero an die kolonialen Spuren in Berlin erinnern will. Die gebe es nicht nur im Wedding, betont Kopp am Montag auf der Auftaktveranstaltung in der Werkstatt der Kulturen in Neukölln. Es befindet sich in einer Straße, die nach dem berüchtigten Kolonialgouverneur Herman Wissmann benannt ist.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=
bl&dig=2012%2F10%2F05%2Fa0147&cHash=ab8e87786250055a1c7bdc9833dde51b

Peter Nowak

Kein Pride in Belgrad

Homosexuellen-Parade bleibt auch 2012 verboten

Der bei der Berlinale preisgekrönte Film »Parada« hat die rechten Angriffe auf Homosexuelle im Jahr 2010 in Belgrad zum Thema. Darin werden ehemalige Kriegsveteranen zum Schutz des »Belgrad Pride« angeheuert – in der Realität bleibt das undenkbar. Wie schon im letzten Jahr wurde die für Samstag von Schwulen- und Lesbengruppen geplante Demonstration in Belgrad vom serbischen Ministerpräsident und Innenminister Ivica Dacic verboten.

Er habe nach der Auswertung der Sicherheitshinweise entschieden, alle geplanten Versammlungen in der Hauptstadt zu verbieten, teilte das Innenministerium mit und stützte sich damit auf dieselbe Begründung wie 2011, um Kundgebungen von Schwulen und Lesben zu verbieten. Es ist die Reaktion auf Bilder von knüppelschwingenden Männern, die vor zwei Jahren brutal auf feiernde Teilnehmer einer Homosexuellenparade in Belgrad einschlugen.

Auch in diesem Jahr hatten rechte Gruppen zu Angriffen auf die Parade aufgerufen. Mit dem Verbot werden sie aber noch gestärkt. Die Maßnahme ist auch ein Affront gegen die EU. Schon 2010 übte Brüssel Kritik am mangelnden Schutz der Homosexuellen. Der EU-Berichterstatter für den serbischen EU-Beitritt, Jelko Kacin, will weiter Druck auf die serbische Regierung ausüben. »LGBT-Rechte sollten das ganze Jahr über geachtet werden. Die ersten Verurteilungen wegen Hassgewalt haben wesentliche Präzedenzfälle geschaffen«, so Kacin.

Die Organisatoren der Belgrader Parade wollen trotz des Verbots feiern, legen es aber nicht auf eine Konfrontation mit der Polizei an und werden deshalb eine Saalveranstaltung abhalten.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/800298.kein-pride-in-belgrad.html
Peter Nowak

Erwerbslose zum Bombenräumen?

Aufregung in Pirna – Jobcenter nimmt Hartz-IV-Jobverpflichtung zurück
Im Hammerpark in Pirna werden noch immer Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg vermutet. Nun sollten Erwerbslose das Gelände vom Gehölz befreien, um einer Bombenräumtruppe besseren Zugang zu dem Gelände zu verschaffen.

Bombenentschärfungen bringen immer Schlagzeilen. Jüngstes Beispiel: Die Sprengung einer US-Fünf-Zentner-Fliegerbombe, die bei Bauarbeiten im Münchener Stadtteil Schwabing entdeckt wurde. Tausende Menschen aus den umliegenden Häusern mussten einen Tag lang evakuiert werden. Weil auch die aus Brandenburg und Thüringen geholten Sprengmeister zu dem Ergebnis kamen, dass bereits ein Hammerschlag reichen könnte, um den Blindgänger zur Explosion zu bringen, wurde er unter Verwendung von Strohballen als Dämmstoff kontrolliert gesprengt – was zahlreiche Gebäude in der Umgebung in Brand setzte.
Melderecht

Weil solche Darstellungen erst vor kurzen über Bildschirme flimmerten, sorgte ein bombiges Jobangebot in Pirna auch schnell für Aufregung. Für das vom Plauener Jobcenter initiierte Projekt Zukunft e.V. wurden neun Erwerbslose zum Roden des Waldes verpflichtet.

Weil für sie als Hartz-IV-Empfänger eine Ablehnung des Jobs mit Sanktionen verbunden gewesen wäre, kann von einer Freiwilligkeit keine Rede sein. »Wer sich weigert, entsprechende Maßnahmen seitens des Jobcenters durchzuführen, muss mit massiven Sanktionen in Form von Leistungsentzug rechnen«, schreibt auch eine Anti-Hartz-Initiative.

Nach Kritik ruderten die Jobcenter-Mitarbeiter zurück und erklärten alles zu einem großen Missverständnis. Den Mitarbeitern des Jobcenter seien die Gefahren nicht bekannt, gewesen. »Hätten wir von den Bomben gewusst, hätten wir der Aktion nie zugestimmt.«

http://www.neues-deutschland.de/artikel/800332.erwerbslose-zum-bombenraeumen.html
Peter Nowak

Steinbrück wegen Nebeneinkünfte in der Kritik

In der SPD werden Forderungen nach Offenlegung der Honorare für Vorträge laut

Schon wenige Tage nach seiner Nominierung steht der designierte SPD-Kanzlerkandidat in der Kritik. Es geht um die Offenlegung seiner Nebeneinkünfte. Dass diese Forderung aus den Reihen des CSU-Vorsitzenden Seehofer kommt, ist nicht weiter verwunderlich und gehört nun mal zum Wahlkampf. Gravierender für Steinbrück ist die Tatsache, dass ähnliche Forderungen nach Transparenz auch aus den eigenen Reihen kommen.

So forderte der Vorsitzende des SPD-Arbeitnehmerflügels Klaus Barthel Steinbrück auf, seine kompletten Nebeneinkünfte und die Steuererklärung öffentlich zu machen. Eine solche Forderung aus den eigenen Reihen kann getrost als Misstrauenserklärung verstanden werden. Denn, wenn die SPD auch fast alle sozialdemokratischen Grundsätze über Bord geworfen hat, so hat sie doch den Moralismus beibehalten, der es dem Spitzenpersonal schwer macht, dicke Autos zu fahren und mit ihren hohen Eingaben allzu offen zu protzen. So etwas ist in den SPD-Ortsvereinen verpönter als die Durchsetzung einer neuen Agenda 2010.

Steinbrück muss also aufpassen, dass er die vielzitierte Parteiseele nicht zu stark strapaziert. Dabei wird er von der konservativen FAZ bestärkt, den Forderungen aus der eigenen Partei nicht nachzugeben und dem linken Flügel zu zeigen, wie viel Beinfreiheit er unter einem Kandidaten Steinbrück noch hat.

„Der linke Flügel zeigt dem Ungeliebten gleich zu Beginn seiner Kandidatur, dass er keine Schonung zu erwarten hat, jedenfalls nicht aus den eigenen Reihen. Der Angegriffene kontert, er habe seine Anzeigepflichten, denen er als Abgeordneter unterliegt, erfüllt. Mehr musste und sollte er auch nicht preisgeben“, heißt es dort. Doch politisch wird er schon, wenn nicht seiner Partei, dann doch den potentiellen Wählern, erklären müssen, warum er bei der Wirtschaftskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer einen Vortrag gehalten und dafür mindestens 7000 Euro erhalten hat. Die Kanzlei war auch am Bankenrettungsgesetz beteiligt, das Steinbrück als Bundesfinanzminister zu verantworten hatte.

Für den Ko-Vorsitzenden der Linkspartei, Bernd Riexinger, verwischen sich die Grenzen zwischen Staat und Banken auf gefährliche Weise, wenn ein Minister hochdotierte Reden bei der Kanzlei hält, mit der auch als Minister zu tun hatte.

Sind die Nebeneinkünfte wirklich nur Privatsache?

Bisher kann sich Steinbrück darauf berufen, dass seine Nebeneinkünfte aus Reden und aus Einnahmen von Buchveröffentlichungen und Aufsichtsratsmandaten juristisch wahrscheinlich nicht zu beanstanden sind. Es ist auch schon länger bekannt, dass Steinbrück zu den Rekordhaltern bei den parlamentarischen Nebenverdienern gehört. Er hat sich aber bisher auf den Standpunkt gestellt, dass die Einkünfte seine Privatsache sind. Daher hat er sich bisher auch geweigert, die genaue Höhe seiner Nebeneinkünfte anzugeben.

Auch die Frage, ob er Teile seiner Nebeneinkünfte gespendet hat, wollte er nicht beantworten. Ob er diese Linie durchhalten kann, nachdem selbst in der eigenen Partei schon Kritik laut wurde, ist fraglich. Allerdings wird auch die SPD-Basis genau überlegen, wie weit sie mit ihrer Kritik an Steinbrücks Nebeneinkünften gehen will. Schließlich könnte es sich der Kandidat noch einmal überlegen und die SPD düpieren. Scheint doch die Kandidatur finanziell für Steinbrück ein Verlustgeschäft zu sein, zumindest wenn er sich an die Zusicherung hält, künftig keine bezahlte Redeaufträge mehr anzunehmen.

Doch bieten sich auch andere Angriffspunkte für Kritiker. Schon vor seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten gab es Kritik an seinen Bemühungen als Finanzminister, Sponsoren für eine Schachweltmeisterschaft zu werben, die dazu führten, dass er den Werbebrief ins Netz stellte.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152908
Peter Nowak

Homosexuellenparade in Belgrad verboten

Wie schon zuvor werden als Grund mögliche Ausschreitungen angegeben

Nach Angaben verschiedener serbischer Medien werden die Behörden eine für den kommenden Samstag geplante Homosexuellenparade in der serbischen Hauptstadt verbieten. Der offizielle Grund lautet, es bestehe die Gefahr von Auseinandersetzungen, weil rechte und nationalistische Gruppen wie die Bewegung Dveri angekündigt hatten, die Parade mit allen Mitteln zu verhindern.

Dass es die serbische Rechte nicht bei Drohungen belässt, zeigte sich in den vergangenen Jahren. Seit sich 2001 in Serbien erstmals Homosexuelle organisierten und in die Öffentlichkeit gingen, traten militante Rechte auf den Plan, um diese anzugreifen. 2010, als in Belgrad die erste große Schwulenparade stattfand, gingen Bilder von knüppelschwingenden Rechten, die tanzende Homosexuelle angreifen, um die Welt. Auch im letzten Jahr war die Parade verboten worden, ebenfalls mit der Begründung mangelnder Sicherheit.

Die Problematik ist mittlerweile auch in Deutschland einem größeren Publikum bekannt, seit der auf der Berlinale ausgezeichnete und kürzlich in den Kinos angelaufenen Film Parada diese Angriffe zum Thema gemacht hat In dem Film schützen Kriegsveteranen die Homosexuellen vor den Angriffen.

Test für die EU-Tauglichkeit Serbiens?

Davon kann im realen Alltag in Serbien keine Rede sein. Seit es die Angriffe auf die Homosexuellen gibt, versuchen diese, Unterstützer in und außerhalb des Landes zu finden. Weil die Kräfte im Inland sehr schwach sind, haben sie schon vor 10 Jahren auf die EU gesetzt. So sehen einige der Gruppen, die sich für die Rechte von Schwulen und Lesben einsetzen, den Umgang mit der Parade als eine Art Lackmuspapier auf die serbische EU-Tauglichkeit. Nachdem der prowestliche Präsident durch einen Exponenten der nationalistischen Rechten, der erst vor wenigen Jahren seinen Frieden mit der EU gemacht hat, abgelöst wurde, haben EU-Behörden diesen Standpunkt noch einmal bekräftigt. So erklärte der Berichterstatter für den serbischen EU-Beitritt Jelko Kacin: „Wir werden den Behörden in Belgrad weiterhin zureden, dass sie sicherstellen, dass die nächste Reise eines MEP zur Pride-Parade in Belgrad nicht nur für eine Pressekonferenz sein wird, so wie meine Reise letztes Jahr. LGBT-Rechte sollten das ganze Jahr über geachtet werden, und die ersten Verurteilungen wegen Hassgewalt haben wesentliche Präzedenzfälle geschaffen.“

Die Anlehnung an die EU ist aus der Sicht der schwachen demokratischen Kräfte im Land verständlich, aber keineswegs unproblematisch. Denn damit wird die diffizile Frage, wie der Umgang der EU mit Serbien zu beurteilen ist, mit der Haltung zur Schwulenparade kurzgeschlossen. Das gibt nationalistischen Gruppen die Gelegenheit, alle diejenigen, die aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen die EU-Politik ablehnen, gegen die angeblich von der EU gesponserten Homosexuellen und ihre Freunde zu mobilisieren. Umgekehrt werden damit Homosexuelle unabhängig von ihrer sozialen Situation und ihrer politischen Positionierung automatisch ins Lager der EU-Freunde gerechnet.

Die Veranstalter wolle nun die Parada nach drinnen verlegen, aber dennoch während des Tages „gewisse Ereignisse“ organisieren. Man werde nicht untägig herumsitzen, wenn das Verbot tatsächlich verhängt werden sollte.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152902
Peter Nowak

Zwei Tage Festival: den Kotti rocken

TANZ, THEATER, GRAFFITI, MUSIK

Für zwei Tage soll der Block zwischen Mariannen-, Oranien-, Adalbert- und Skalitzer Straße im Zentrum von Kreuzberg 36 zur sozialen Skulptur werden. Das ist zumindest der Anspruch des Kunstfestivals „Rock the Block“, das von der Initiative „Backjumps“ organisiert wird und am heutigen Dienstag um 19 Uhr beginnt.

Während Graffiti-KünstlerInnen eine Lichtshow auf die Außenwand der Bibliothek in der Adalbertstraße 4 projizieren, starten an der Brandmauer der Adalbertstraße Videos. Wen es angesichts des herbstlichen Wetters in geschlossene Räume zieht, der bekommt im Theaterraum in der ersten Etage der Adalberstraße 4 ein Programm präsentiert. Am 3. Oktober wird das Kulturprogramm zwischen 12 und 19 Uhr mit zahlreichen Installationen und Ausstellungen fortgesetzt. An beiden Tagen werden in vielen Kultureinrichtungen rund um das Kotti – SO 36, Monarch, Westgermany – außerdem Konzerte gespielt.

Nicht alle Einrichtungen im Kiez sind jedoch vertreten: „Wir haben von den OrganisatorInnen keine Anfrage bekommen“, sagte eine Betreiberin vom Südblock, das am Kottbusser Tor seit rund zwei Jahren kulturelle und politische Veranstaltungen organisiert. Mehr zum Programm unter www.backjumps.info.
http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort
=ba&dig=2012%2F10%2F02%2Fa0132&cHash=66fd5f85b74e3587d6e85f878fff24cf
Peter Nowak

Kann Steinbrück Merkel schlagen und ihre Politik fortsetzen?

Mit der einstimmigen Nominierung von Peer Steinbrück macht die SPD deutlich, dass sie gerne den Kanzler stellen, aber nichts ändern will

Kaum hatte der SPD-Vorstand Peer Steinbrück zum Kanzlerkandidaten nominiert, prangt auf der SPD-Homepage schon die neue Parole „Peer Steinbrück soll Kanzler werden“. Dass die Nominierung offiziell erst auf dem SPD-Parteitag im Dezember erfolgt, wird einfach unterschlagen. Vergessen sind alle Beteuerungen, dass es für solche Parolen ein Jahr vor den Wahlen viel zu früh ist. So lautete die offizielle Sprachregelung aus der SPD-Führung bis vor einigen Tagen. Da lautete der offizielle Zeitplan aber auch noch, der Kandidat werde erst nach den Landtagswahlen im Frühjahr nächsten Jahres nominiert.

Dass sich dieser Zeitplan nicht einhalten lassen würde, war längst klar. Dass dann allerdings die Nominierung so rasch erfolgte, zeigt wie stark die SPD angesichts der unverändert guten Zustimmungswerte für Merkel unter Druck geraten war. Wenn zumindest die Möglichkeit eines SPD-Kanzlers glaubwürdig aufrecht erhalten werden soll, musste die SPD nun handeln. Da war auch klar, dass Steinbrück der Gewinner war. Denn eigentlich hat die SPD nur eine Chance auf das Kanzleramt, wenn eine Koalition zwischen Grünen und FDP zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen wird. In den letzten Tagen haben FDP-Politiker aus der zweiten Reihe diese Variante in die Diskussion gebracht, vor allem um der Union, die sich schon längst auf eine große Koalition einstellt, deutlich zu machen, dass sie auch eine andere Regierungsvariante anvisieren kann.

Die Ampelkoalition überhaupt in die Diskussion gebracht zu haben, bringt der FDP auch in aktuellen Koalitionsauseinandersetzungen Punkte. Die Partei macht damit deutlich, dass mit ihr zu rechnen ist. Allerdings wird diese Variante bis zum Wahltag so vage bleiben, wie sie es jetzt ist. Außerdem werden alle Beteiligten, nicht zuletzt die FDP, nicht müde werden, eine solche Variante konsequent zu dementieren. Auch die Grünen und die SPD werden möglichst vermeiden wollen, auf Wählerfragen zu antworten, wie sie einen fairen Kapitalismus und eine Bändigung der Finanzmärkte, wie es im Steinbrück-Sprech heißt, mit der FDP durchsetzen wollen.

1,80 Meter Beinfreiheit für ein Bündnis mit der FDP?

Wenn es nach der Bundestagswahl nur eine SPD-Kanzlerschaft mit Hilfe der FDP geben kann, ist schon jetzt absehbar, dass die SPD ein solches Bündnis mittragen wird. Schließlich wird dort nicht von ungefähr ein Helmut Schmidt besonders verehrt, der immer im Bündnis mit der FDP regiert hat. Schmidt war auch einer der ersten Sozialdemokraten, der Steinbrück als Kanzlerkandidat ins Gespräch brachte. Damals gab es noch heftigen Widerspruch von der sogenannten SPD-Linken. Als vor einigen Tagen dann bekannt wurde, dass Schmidts Wunschkandidat das Rennen macht, gab es noch ein leichtes Grummeln vom SPD-Linken Stegner.

Dass Steinbrück nun vom SPD-Präsidium einstimmig nominiert wurde, zeigt nur, dass sich die SPD-Linke wie immer klaglos der Parteiraison unterordnete. Sie wird auch so handeln, wenn Steinbrück der Partei den Preis präsentiert, den die FDP für eine Koalition mit der SPD verlangen würde. Dass ist die schon berühmte Beinfreiheit von 1,80 Meter, die Steinbrück sofort für sich einforderte, wenn er die Kandidatenrolle spielt. Damit knüpft er auch nahtlos an Helmut Schmidt an, der soviel Beinfreiheit beanspruchte, dass er gegen den Willen von immer mehr Sozialdemokraten die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa durchsetzte. Die Union musste die Stationierung dann nach 1982 nur noch technisch umsetzen.

Da es anders als zu Schmidt-Zeiten wohl kaum zu einem SPD-FDP-Bündnis reichen würde, bleiben die Grünen die großen Unbekannten. Da dürfte es noch einige Verrenkungen der grünen Seele geben, aber die Trittins, Roths und Künasts dieser Republik werden mit viel Verve auch ein Bündnis mit der FDP verteidigen, wenn es die einzige Möglichkeiten dieser grünen Gründerkoalition ist, doch noch Ministerämter zu erlangen. Denn die vierzigjährigen Parteifreunde stehen schon in den Staatlöchern und wollen die Gründer auf das Altenteil verbannen.

Kann die Linkspartei von Steinbrück profitieren?

Daher ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass die SPD unter Steinbrück Merkel schlagen kann, um deren Politik fast unverändert fortzusetzen. Wo es jetzt heißt, Merkel gelingt es auch sozialdemokratische Elemente in ihr Politikkonzept zu integrieren, so würde man Steinbrück nachsagen, er kann auch christdemokratische Elemente mit berücksichtigen. Der hat schon erklärt, er wolle von der SPD enttäuschte bürgerliche Wähler ansprechen.

Das geht natürlich nur, wenn man ziemlich nahtlos an deren Vorstellungen anknüpft. Einen Gewinner der Nominierung Steinbrücks gibt es schon: die Linkspartei. Die hat sich nach ihrem letzten Parteitag mit dem Gewerkschaftler Bernd Riexinger und der Exponentin der Emanzipatorischen Linken Katja Kipping aus der Skandalberichterstattung gebracht. Wenn nun manche ostdeutsche Landespolitiker befürchten, der Partei könnte der Mief der PDS- und DDR-Vergangenheit abhanden kommen, kann das für eine neue sozialdemokratische Partei auch als Kompliment gelesen werden.

Ein Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der ein Bündnis mit der FDP zumindest nicht ausschließt, verschafft der Linken wohl mehr als 1,80 Meter Beinfreiheit, um sich eigenständig zu profilieren. Wenn sie sich nicht ganz dumm anstellt und bei der SPD als Juniorpartner anbiedert, könnte ihr das ein passables Wahlergebnis garantieren.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152892
Peter Nowak

Faire Krisenproteste in Deutschland

Der Aktionstag Umfairteilen machte auch noch einmal die große Spannbreite der Protestbewegung in der Eurozone deutlich

Im Rahmen des Aktionstages Umfairteilen haben sich in über 40 Städten in Deutschland nach Veranstalterangaben ca. 40.000 Menschen beteiligt. Die Forderungen des Aktionsages beschränkten sich im Wesentlichen darauf, dass Vermögende sich wieder mehr am Steueraufkommen beteiligen sollen. Für die Organisatoren wäre das eine faire Lösung. Konkret geht es um eine einmalige Vermögensabgabe und die Einführung einer Reichensteuer. Im Vorfeld haben Aktivisten schon symbolisch „Goldbarren“, „Münzen“ und „Geldsäcke“ zugunsten wichtiger gesellschaftlicher Bereiche wie Bildung, Pflege und Energiewende umgeschichtet.

Durchbruch in der Gerechtigkeitsdebatte?

Die Veranstalter sehen den Aktionstag erwartungsgemäß als vollen Erfolg, wie es in einer Pressemitteilung von Attac heißt. Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband spricht von einem Durchbruch in der Gerechtigkeitsdebatte.

Nun scheinen solche optimistischen Beurteilungen nicht unangebracht, wenn Menschen in fünfstelliger Zahl in Deutschland für mehr soziale Gerechtigkeit auf die Straße gehen. Wenn man aber bedenkt, dass an dem Bündnis zahlreiche große Gewerkschaften und Sozialverbände beteiligt waren und dass wegen des dezentralen Charakters des Aktionstages eine Beteiligung erheblich erleichtert wurde, relativiert sich der „Erfolg“ beträchtlich.

Man kann daher auch sagen, dass nur 40.000 Menschen für mehr Gerechtigkeit auf die Straße gehen, obwohl der erst vor wenigen Tagen bekannt gewordene neue Armuts- und Reichtumsbericht die besten Argumente für das Bündnis geliefert hat. Zudem hat die Bundesregierung noch zusätzlich eine Steilvorlage geliefert, weil sie sich darüber gestritten hat, ob der Bericht überhaupt veröffentlicht werden soll, weil er doch Argumente für eine Debatte um Steuererhöhungen für Vermögende biete. Für die FDP aber auch große Teile der Union aber ist das fast schon Sozialismus.

Zudem wurde in den Forderungen zum Aktionstag kein kritisches Wort zur Schuldenbremse verloren, weil man damit schließlich den Mehrheitsflügel von SPD und Grünen verärgert hätte. Doch so viel Entgegenkommen wurde von den Hamburger Sozialdemokraten und Grünen nicht belohnt. Sie störten sich daran, dass in der Hansestadt auch der Vorsitzende der größten griechischen Oppositionspartei Syriza, Alexis Tsipras, redete. Sie beließen es dabei nicht mit einer Presserklärung sondern verließen die Kundgebung vor seiner Rede.

Der Auftritt eines Redners, der mit der Idee eines Euroaustritts Wahlkampf macht, sei „ein schwieriges Signal“, wird ein führender Hamburger Grüner von der taz zitiert. Leser haben sofort darauf hingewiesen, dass der Grüne entweder keine Ahnung hat oder bewusst falsche Behauptungen verbreitet. Denn Tsipras und die Mehrheit der Syriza haben sich im Wahlkampf vehement für ein Verbleiben in der Eurozone, aber für eine Neuverhandlung der Schuldenvereinbarungen ausgesprochen. Es waren vielmehr Politiker der Union und der FDP, die sofort erklärten, dann müsse Griechenland den Euro verlassen, einige haben diese Forderung auch an die aktuelle griechische Regierung gestellt. Mit diesem Streit haben zumindest SPD und Grüne deutlich gemacht, dass für sie Solidarität mit der von der wesentlich von Deutschland initiieren EU-Sparpolitik nicht infrage kommt.

Fairteilen oder fairsenken?

Erst in der letzten Woche sind sowohl in Griechenland, aber auch in Italien, Spanien und Portugal Zigtausende gegen die EU-Sparpolitik auf die Straße gegangen. Darauf haben sich innerhalb des Aktionstages vor allem linke Bündnisse bezogen, die zu den Protesten aufriefen, aber die Diktion des Aktionstages kritisierten. Dazu gehört vor allem ein Zusammenschluss, der unter dem Motto Kapitalismus fairsenken den Anspruch formuliert hat, „mit kreativen Aktionen auf vereinfachte und verkürzte Forderungen“ des Umfairteilenbündnisses hinzuweisen. Es wendet sich vor allem gegen die Vorstellung eines fairen Kapitalismus. „Gerechtere Lebensbedingungen sind nicht durch Umverteilung zu erreichen, sondern durch Demokratisierung der Produktionsmittel und somit Vergesellschaftung der Gewinne“, heißt es dort.

In dem Bündnis Kapitalismus Fairsenken sind auch Gruppen aus dem Umfeld der Interventionistischen Linken vertreten, die sich im Mai an den Blockupy-Aktionstagen in Frankfurt/Main und auch vorher an verschiedenen Krisenprotestaktionen beteiligt haben. Der bundesweite Aktionstag hat auch noch einmal deutlich gemacht, wie weit die Protestbewegungen im europäischen Rahmen voneinander entfernt sind. In Spanien, Griechenland und Portugal sind Grundsätze, wie sie Kapitalismus Fairsenken formuliert, in weiten Teilen der Protestbewegung Konsens, in Deutschland ist es der linke Flügel beim Aktionstag.

http://www.heise.de/tp/blogs/8/152883
Peter Nowak

Proeuropäische Marktnische

EUROPAmedien: Internetmagazin »The European« jetzt auch als Printzeitung

»Warum gibt’s eigentlich keine europäische Tageszeitung?« Mit dieser Frage begann 2007 in einem Pariser Park die Idee einer Zeitung, die nicht mehr aus nationaler, sondern aus europäischer Perspektive berichtet.« So zumindest schildert der Journalist Tobias Sauer die Entstehungsgeschichte eines Medienprojekts, das seit drei Jahren als Internetmagazin firmiert und seit wenigen Tagen auch am Kiosk als Printausgabe erworben werden kann. Auf der Titelseite der ersten Ausgabe des »European« weist die Überschrift »Utopia – Unsere Welt in 100 Jahren« weit in die Zukunft. Die Themen der Ausgabe orientieren sich hingegen auf die nähere Zukunft. Da wird eine Vorausschau auf die USA im Jahr 2016 gewagt und für eine mögliche Koalition zwischen Union und Piraten mit der »Halloween-Koalition« schon ein neuer Begriff kreiert.

Die Zeitungsmacher betonen ihre parteipolitische Unabhängigkeit. »Von Sahra Wagenknecht, Gregor Gysi über Cem Özdemir, Christian Wulff und Erika Steinbach sind Vertreter aller im Bundestag vertretenen Parteien in dem Debattenmagazin zu finden«, heißt es in einer Redaktionsnotiz. »Den argumentativen Diskurs gewinnt der, der wahrhaftig und wohlbegründet seinen Standpunkt vertritt. Diese Diskursivität ist ein wichtiges Kennzeichen der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte«, begründet dies die Redaktion.

Doch bei aller Diskursfreudigkeit hat das Projekt klare politische Grundsätze vor allem auf sozialpolitischem Gebiet. So hat der »European«-Chefredakteur Alexander Görlach in einem Positionspapier klargestellt, dass in der Zeitung nicht über die Höhe der Hartz-IV-Sätze, wohl aber über den Wert der Arbeit diskutiert werde. Dort bekannt er sich auch zu einem europäischen Elitenprojekt. »Bei The European sollen Entscheider zu Wort kommen, deren Stimmen wirklich wichtig sind«, skizzierte er die Zielgruppe.

Dass sich die Zeitung nicht an Europas Prekäre und Erwerbslose wendet, wird auch im Preis deutlich. Die Printausgabe kostet acht Euro. Geplant ist eine viermonatige Erscheinungswiese in einer Auflage von 50 000 Exemplaren. »Wir glauben, dass das Projekt kommerziell überlebensfähig sein muss. Leute müssen bereit sein, dafür Geld zu bezahlen«, begründet Daniel Freund den hohen Preis.

Ob es die zahlkräftigen Leser für das europäische Elitenprojekt findet, ist offen. Davon aber wird abhängen, ob Görlachs Wunsch in Erfüllung geht, der »The European« zwischen den Magazinen »Cicero« und »Brand Eins« verorten möchte.

http://www.neues-deutschland.de/rubrik/medienkolumne/

Peter Nowak

Häftlinge als Arbeitskräfte?

Axel Köhler-Schnura ist Konzernkritiker und Vorstand der ethecon-Stiftung


nd: Warum startete ethecon eine Kampagne gegen die Ausbeutung Strafgefangener?

Köhler-Schnura: 2011 wurde die US-Menschenrechtsaktivistin Angela Davis u. a. für ihren unermüdlichen Kampf gegen den gefängnisindustriellen Komplex mit dem ethecon Blue Planet Award geehrt. Großkonzerne lassen zu Minimalkosten in Haftanstalten produzieren. Die Häftlinge erhalten in der Regel nur einen geringen, manchmal gar keinen Lohn. Nebenkosten wie die Gesundheitsvorsorge oder besondere Sicherungen des Arbeitsplatzes entfallen. Stattdessen genießen die Konzerne zusätzliche Steuervorteile für die Beschäftigung von Gefängnisinsassen. Auch in Deutschland gibt es Bestrebungen, das Gefängniswesen in dieser Weise zu »reformieren«. Da wollen wir Öffentlichkeit herstellen.

BP setzte nach der Ölkatastrophe am Golf von Mexiko Gefangene ein. Eine übliche Praxis?
Der Einsatz Strafgefangener außerhalb von Haftanstalten hat in den USA eine jahrhundertelange Tradition. Aktuell sitzen in den USA 2,3 Millionen Menschen im Gefängnis. Das ist etwa ein Viertel aller Gefängnisinsassen weltweit. Davon arbeiten in den USA bis zu eine Million in Vollzeit. Auch die Tatsache, dass der Einsatz von Häftlingen für BP organisatorisch keine Herausforderung für die Gefängnisbetreiber war, zeigt, dass die »Nutzung« dieser Arbeitskräfte jenseits der Gefängnismauern nichts Außergewöhnliches ist. Besonders zynisch allerdings war, dass BP die Gefangenen umsonst für sich arbeiten ließ, während die ortsansässige Bevölkerung durch die Ölkatastrophe in die Arbeitslosigkeit getrieben wurde und vor dem Ruin stand.

Wie sieht die Situation in Deutschland aus?
In Deutschland gibt es leider kaum Öffentlichkeit für das Thema. Dabei lud bereits 1995 die Berliner Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit zum ersten Spatenstich für ein privat finanziertes Gefängnis. 2004 wurde gemeldet, dass in Hessen erstmals die Führung einer Haftanstalt komplett in private Hände gelegt wurde. Die Justizvollzugsanstalt Burg in Sachsen-Anhalt wird vom Baukonzern Bilfinger Berger betrieben. Dass Konzerne auch hierzulande keine Hemmungen haben, von Zwangsarbeit zu profitieren, zeigen die Beispiele von IKEA, Quelle und Neckermann, die schon in den 1970ern und 1980ern Insassen von DDR-Gefängnissen für sich produzieren ließen.

Welche Schritte sind im Rahmen der ethecon-Kampagne geplant?

Wir sind keine Aktionsgruppe, sondern eine Stiftung. Wir wollen mit unserer Kampagne einen grundlegenden Anstoß geben, das Thema ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen, informieren mit einem Flugblatt und sammeln Unterschriften. Wir wenden uns mit einem Protestbrief an die US-Regierung und mit einem Offenen Brief an den Bundestag. Wir bitten um Aufklärung, wie weit fortgeschritten die Entwicklung in Deutschland bereits ist und was geplant ist, sowohl in Bezug auf die Arbeit von Strafgefangenen für Konzerne als auch auf die Privatisierung von Gefängnissen.

Wer unterstützt die Kampagne?
Bisher unterstützt uns vor allem die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt bei unserer Arbeit. Wir hoffen darauf, dass andere das Thema aufgreifen und vorantreiben. Wir freuen uns über jeden, der Interesse daran hat, diese verhängnisvolle Entwicklung zu stoppen.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/239868.haeftlinge-als-arbeitskraefte.html

Interview: Peter Nowak

„Heinz Buschkowsky schlägt Alarm“

Entfacht Buschkowsky erneut die von Sarrazin ausgelöste Debatte?

Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky gehört zu den bekanntesten Berliner SPD-Politikern. Die Hauptstadt-SPD weiß diese Beliebtheit zu schätzen und stellt sich immer wieder vor Wahlen sehr öffentlichkeitswirksam hinter Buschkowsky, auch wenn der aus seiner politischen und persönlichen Freundschaft mit dem umstrittenen ehemaligen Berliner Senator Sarrazin nie einen Hehl gemacht hat. Lediglich dessen Rückgriff auf die Eugenik hatte Buschkowsky schon auf den Höhepunkt der Sarrazin-Debatte kritisiert. Nun hat Buschkowsky mit „Neukölln ist überall“ selber ein Buch veröffentlicht, das durchaus zu einer Debatte „Sarrazin Light“ führen könnte.

Im Stil von Sarrazin

Die Werbekampagne des Ullstein-Verlags ist durchaus darauf angelegt. Wird doch Buschkowsky ganz im Sarrazin-Stil als Autor vorgestellt, der sagt, was viele denken, aber angeblich nur wenige sagen. So heißt es dort:

„Heinz Buschkowsky schlägt Alarm: Zoff auf den Straßen, hohe Arbeitslosigkeit, Überfremdungsängste bei der einheimischen Bevölkerung das ist die Realität in Berlins Problembezirk Nr. 1. Doch Neukölln ist überall. Buschkowsky sagt, was sich in Deutschland dringend ändern muss.“

Als hätte es nicht bereits 2006 den Film Knallhart gegeben, der mit dem gleichen Gestus beworben wurde. Auch damals ging es um „Migrantengewalt in Neukölln“ und Buschkowsky hatte es verstanden, den Film zu einer Breitseite gegen naive Multikulti-Anhänger zu machen. Tatsächlich hat das Multikulti-Konzept Kritik verdient, weil es Menschen an die Herkunft und ihre daran verknüpfte Kulturen festnageln will. Doch in diesem Sinne ist Buschkowsky wie viele seiner Anhänger selber Kulturalist. Das macht sich schon daran fest, dass er Menschen, die teilweise in Deutschland geboren wurden und auch oft die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, als Migranten beschreibt, denen er, wenn sie sich nicht in Deutschland integrieren wollen, gerne beim Kofferpacken helfen würde.

Das ist nur ein Beispiel für den Buschkowskyschen Populismus, der sein Buch auch in den verschiedenen Ultrarechtsgruppen und Medien attraktiv macht. So hat sich der ehemalige NPD-Vorsitzende Voigt in einem aktuellen Gerichtsverfahren wegen Volksverhetzung in seiner Verteidigungsstrategie auf Buschkowskys Buch berufen.

Mittlerweile wird in verschiedenen Medien wie dem Freitag und der Taz über darüber diskutiert, wie viel Rassismus in Buschkowskys neuen Buch steckt. Freitag-Redakteurin Verena Schmitt-Roschmann sieht in dem Buch die Fortsetzung des „Stummsinns“, den Sarrazin vorgemacht hat. Alke Wirth sieht hingegen in Buschkowskys Buch den Rassismus des Kleinbürgers am Werk, gesteht ihm allerdings zu, als Politiker pragmatischer zu agieren denn als Buchautor und will in ihm keinen zweiten Sarrazin erkennen. Tatsächlich kalkuliert das Buch den Skandal ein und der Autor kann sich sofort als verfolgte Unschuld inszenieren, wenn der Vorwurf des Rassismus und Rechtspopulismus kommt. Genau darin aber besteht die Strategie vieler Rechtspopulisten.

Soziale Probleme kulturalisiert

Bisher gibt es bei den Buschkowsky-Kritikern eine wenig beachtete Gemeinsamkeit mit den Gegnern von Sarrazin. Sie verweisen auf rassistische Textstellen und vergessen die soziale Dimension. Wie Sarrazin hat sich auch der Neuköllner Bürgermeister schon öfter über freche Erwerbslose ausgelassen, deren einziges Ziel nicht Arbeit um jeden Preis sei

Wenn er jetzt schreibt, dass Integration eine Bringschuld sei, dass die „einheimische“ Bevölkerung ihr Land im Großen und Ganzen eigentlich ganz gut finde und von Zugewanderten, auch denen der 2. und 3. Generation, eine Anpassung an die hiesigen Lebensweisen erwarte, dann grenzt er auch alle die Menschen mit aus, die die Zustände hier überhaupt nicht gut finden. Gerade in Neukölln boomt der Niedriglohnsektor und die Zahl der Hartz IV-Empfänger mit und ohne Lohnarbeit steigt. Davon sind Menschen betroffen, deren Eltern nach Deutschland eingewandert sind, aber auch alte Neuköllner und zunehmend auch die sogenannten jungen Kreativen, die nach Nordneukölln ziehen.

In diesem Sinne bekommt der Slogan „Neukölln ist überall“ eine ganz neue Bedeutung. Es ist ein Labor für schlechte Arbeitsbedingungen, Niedriglohn und Hartz IV. Doch Buschkowsky versteht es genau wie Sarrazin, diese sozialen Zustände mit den sich daraus ergebenden Problemen zu kulturalisieren, indem er den Jugendlichen, deren Vater eingewandert ist, zum Problem erklärt und nicht die sozialen Verhältnisse, die auch die Menschen tangieren, die schon seit Generationen hier leben. Diese Aufteilung wird von dem Großteil der Betroffenen nachvollzogen. Das ist der Grund von Buschkowskys Beliebtheit über Neukölln hinaus. In der Ignorierung dieser sozialen Dimension besteht auch der blinde Fleck vieler Buschkowsky- und Sarrazin-Kritiker.
http://www.heise.de/tp/blogs/8/152853
Peter Nowak

Monate auf Visa warten?

Sevim Dagdelen moniert lange Wartezeiten für die Visa nach Deutschland

nd: Sie monieren lange Wartezeiten für die Visa nach Deutschland. In welchen Ländern dauert es besonders lange – und wie lang muss man sich dort gedulden?
Dagdelen: Besonders betroffen sind beispielsweise Russland und China, aber auch die Ukraine oder Ägypten. Die Wartezeit etwa in Shanghai und Kairo beträgt neun, in Moskau, Nowosibirsk oder Peking inzwischen fünf und sechs Wochen. In Kiew sind es sogar 11 Wochen bei normalen Besuchsreisen. Dazu muss man wissen, dass allein Moskau, Nowosibirsk, Shanghai und Peking mit weit über 500 000 Anträgen mehr als ein Viertel aller Visaanträge ausmachen. In Russland ist die Zahl der zu bearbeitenden Visaanträge pro Mitarbeiter/in zuletzt um 15 Prozent gestiegen.

Was ist der Grund? Abschreckung – oder Ineffektivität nach der teilweisen Privatisierung der Visaerteilung?
Lange Wartezeiten schrecken ab, zumal wenn ein großer finanzieller und zeitlicher Aufwand mit fraglichem Ausgang betrieben werden muss. Die Erteilungspraxis ist überaus streng. Bei den Hauptherkunftsländern von Asylsuchenden und afrikanischen Staaten gibt es Ablehnungsquoten von einem Drittel bis über 50 Prozent. Familienbesuche und der wichtige zivilgesellschaftliche Austausch werden durch diese restriktive Visapraxis behindert. Aber auch die wirtschaftlichen Beziehungen werden erschwert. Die Teil-Privatisierung des Visumverfahrens ist für die Betroffenen mit erheblichen Mehrkosten verbunden. »Externe Dienstleister« sollen nach EU-Vorgaben eigentlich nur als »letztes Mittel« zum Zuge kommen. Hiervon kann aber keine Rede sein, wenn die Bundesregierung nicht einmal genügend Personal in den Botschaften einsetzt wie etwa in Russland.

Sie sehen durch die Verzögerungen bei der Visavergabe das EU-Recht verletzt.
Es geht um Artikel 9 Absatz 2 des Visakodex. Dabei handelt es sich um eine verbindliche Verordnung der EU aus dem Jahre 2009. Danach müssen Auslandsvertretungen Antragstellenden innerhalb von zwei Wochen einen Termin zur Beantragung eines Schengen-Visums geben. Diese Frist kann nur in Ausnahmefällen überschritten werden. Bei der deutschen Visapraxis kann von einer Ausnahme aber keine Rede sein, wie die deutlichen Fristüberschreitungen, zum Teil über Monate hinweg, zeigen. Die Bundesregierung versucht, sich mit Verweisen auf saisonale Schwankungen und Reisestoßzeiten zu rechtfertigen. Ein Handbuch zum Visakodex sieht allerdings vor, dass die Personalkapazitäten so anzupassen sind, dass die Frist auch in Stoßzeiten eingehalten werden kann. Da die Bundesregierung das nicht tut, habe ich Beschwerde bei der EU-Kommission eingelegt und Zahlenmaterial über die untragbaren Zustände in wichtigen deutschen Botschaften übermittelt.

Könnten die Visa nicht einfach abgeschafft werden?
Tatsächlich ist für die LINKE die Beseitigung der Visumspflicht noch immer die beste Erleichterung. Damit stehen wir parlamentarisch allerdings allein. Deshalb fordern wir die Bundesregierung zumindest zu einer grundlegenden Korrektur und Liberalisierung der Visapolitik auf. Die Visaregeln und Anforderungen im Verfahren müssen so weit wie möglich gelockert, das Personal aufgestockt und das Verfahren insgesamt erleichtert werden.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/239705.monate-auf-visa-warten.html
Interview: Peter Nowak

»Unser Weg ist nicht der einzig wahre«

Kaum eine Erwerbslosengruppe hält so lange durch wie die ALSO in Oldenburg – ein Gespräch über die Gründe
Die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) feiert ihr 30-jähriges Bestehen, was in der Erwerbslosenbewegung eine Rarität ist. PETER NOWAK sprach für »nd« mit dem ALSO-Aktivisten MICHAEL BÄTTIG, was sie anders machen, als andere Gruppen. Bättig ist seit Jahren bei der Gruppe aktiv.

nd: Wieso gibt es die ALSO seit 30 Jahren, während viele andere Erwerbslosengruppen immer wieder zerfallen? Was machen Sie anders?
Bättig: Das liegt an unserer Organisationsform: Wir kämpfen für kommunale Zuschüsse, organisieren Spenden und nutzen das Geld für eine unabhängige Sozialberatung in einem eigenen sozialen Zentrum mit moderner Infrastruktur. Wir sind undogmatisch und offen und behaupten nicht, unser Weg sei der einzig wahre. Deshalb stecken wir unsere Kraft auch mehr in unsere Organisation, Aktionen und Vernetzung als in die Kritik an Anderen. Wir haben uns zu einem Projekt entwickelt, das vielleicht ein kleines Beispiel für Selbstorganisation mit dem Ziel einer gerechten und solidarischen Gesellschaft sein könnte.

Hat sich Ihre Arbeit durch Hartz IV geändert?
Als die Arbeitsmarktreformen eingeführt wurden, sind Erwerbslosigkeit, Armut und Ausgrenzung für einen historischen Moment zur zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzung geworden. Hartz IV fasst alle Erwerbslosen in den Jobcentern zusammen und wirft die Frage auf, unter welchen Bedingungen Menschen in dieser Gesellschaft leben, arbeiten und wohnen sollen. Aber über die Ausdehnung von Arbeit in jeder Form und um jeden Preis bis in die letzten Winkel der Gesellschaft werden sie gleichzeitig stigmatisiert, mobilisiert und wieder auseinandergetrieben. Es ist nicht nur die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die weitere Prekarisierung der Arbeit, sondern die systematisch und flächendeckend betriebene Ausmerzung jeglicher »Nicht-Arbeit« aus unser aller Leben, mit der Hartz IV auch zur Desorganisation solidarischer, antikapitalistischer Projekte beigetragen hat. Selbst bei mehr als fünf Millionen Erwerbslosen hat kein Mensch mehr Zeit.

Ihre Gruppe begleitet Erwerbslose zu Terminen im Jobcenter. Welche Erfahrungen machen Sie dabei?
Begleitaktionen sind Prozesse der Selbstermächtigung und Selbstorganisation. Die Anwesenheit einer weiteren Person hilft, vorenthaltene Leistungen durchzusetzen. Die Aktionen sind praktische Demonstration von Gegenmacht und Aufklärung: Fiese Sachbearbeiter werden in ihre Schranken verwiesen, und die entwürdigende Alltagsmassenverwaltung der Jobcenter wird für einen Moment aufgebrochen. Das stärkt das Selbstbewusstsein, gibt Würde zurück. Im glücklichen Fall führen die Aktionen dazu, dass sich die Leute in Zukunft gegenseitig begleiten. Im unglücklichen Fall werden sie beim nächsten »Alleingang« zusammengefaltet und ziehen daraus die übliche Lehre, »dass man besser die Fresse hält«. Begleitaktionen hätten das Potenzial zu einer breiteren gesellschaftlichen Bewegung über die Jobcenter hinaus. Darüber müsste eigentlich bundesweit nachgedacht werden.

Die ALSO hat vor zwei Jahren maßgeblich die Demonstration »Krach schlagen statt Kohldampf schieben« organisiert und dafür ungewöhnliche Bündnispartner wie die Milchbauern gewonnen, die über niedrige Milchpreise klagen. Was ist Ihr Resümé?
Wir haben uns neu bewegt. Bündnisse von Erwerbslosennetzwerken mit der Ökologiebewegung, mit kämpferischen Bauern und kritischen Verbraucherverbänden hat es vorher so nicht gegeben. Wir haben dadurch politisch die Verbindung von Hartz-IV-Regelsätzen und Niedrigeinkommen mit Fragen ökologischer Lebensmittelproduktion und -verteilung hergestellt. Dass die Form der industriellen Nahrungsmittelproduktion, die Zerstörung der Umwelt und die Ausbeutung der endlichen Ressourcen weltweit zu Schranken bei der vollständigen Aneignung von äußerer Natur und menschlicher Arbeitskraft geworden sind, zeigt ein Blick in jede Tageszeitung. Aber das ist nur eine Chance, der Rückenwind, der bläst: Ob daraus eine internationale Protestbewegung wird, liegt auch an uns.

Müsste sich die Erwerbslosenbewegung europaweit vernetzen?

Mit über 18 Millionen ist die Zahl der Erwerbslosen ist der EU auf ein neues Rekordniveau gestiegen. In Spanien und Griechenland ist jeder Vierte erwerbslos, bei Jugendlichen ist es jeder Zweite. Es wäre schön, wenn von deutschen Erwerbslosennetzwerken Signale der Solidarität in diese Länder gesendet und aus diesen Ländern empfangen werden könnten. Am besten sind gemeinsame Aktionen wie etwa Blockaden vor einschlägigen Institutionen. Vielleicht führt die weitere soziale und ökonomische Entwicklung in Europa dazu, dass sich so etwas entwickelt. Es wäre naiv zu glauben, dass Deutschland weiter eine Insel der Glückseligen bleiben kann.
http://www.neues-deutschland.de/artikel/239756.unser-weg-ist-nicht-der-einzig-wahre.html
Interview: Peter Nowak