Die Geschichte ist nicht zu Ende

FILM Der Regisseur William Perfetti blickt zurück auf 40 Jahre Hausbesetzergeschichte, von den Trebegängern Anfang der 70er bis zu den heutigen Musterhausentwicklern

„Das Rauch-Haus ist unser Haus, ihr kriegt uns hier nicht raus“, schallt es aus dem Demonstrationszug. Man trägt Parka und lange Haare und schreibt das Jahr 1971. Es geht um den Erhalt des frisch besetzten Georg-von-Rauch-Haus am Mariannenplatz, heute wohl das älteste noch existierende Berliner Hausprojekt in Selbstverwaltung. Die Szene ist ein Ausschnitt aus dem in den 70er-Jahren viel diskutierten Film „Das ist unser Haus“. Einige Szenen davon finden sich nun in einem neuen Film wieder: „20 Jahre Mauerfall – 20 Jahre Mainzer-Fall. Mit Willy unterwegs in Berlin“ heißt das Projekt, mit dem der italienische Filmemacher William Perfetti auf die fast 40-jährige Geschichte der Berliner InstandbesetzerInnenbewegung zurückblickt.

Perfetti beginnt Anfang der 70er Jahre und erinnert daran, dass es damals oft aus den Heimen geflohene Jugendliche waren, die auf Trebe gingen und Häuser besetzten. Diese Frühgeschichte der Westberliner BesetzerInennbewegung wird oft selbst von ehemaligen AktivistInnen vergessen, die erst in den frühen 80er Jahren aktiv wurden. Für Perfetti dagegen wurde damals die Stadt zum Experimentierfeld für eine andere Form von Zusammenleben, an die im kurzen sogenannten „Sommer der Anarchie“ 1990 in Ostberlin wieder angeknüpft wurde.

Videoschnipsel aus verschiedenen zeitgenössischen Filmen über die Mainzer Straße erinnern an die kurze Geschichte der besetzten Häuser vor der Räumung – etwa das Mainzer-Straßen-Fest im Sommer 1990 und einen Neonaziangriff einige Wochen zuvor. In den Kommentaren der damaligen Videos wurde immer betont, dass mit der Räumung der Mainzer Straße die gesamte soziale und alternative Bewegung Berlins diszipliniert werden sollte. Perfetti hingegen will zeigen, dass dies nicht gelungen ist – und die Räumung der Mainzer Straße nicht das Ende der Bewegung war.

Im zweiten Teil des Videos werden verschiedene Berliner Projekte vorgestellt, die seit den 90er Jahren in Berlin entstanden sind. Einige beziehen sich allerdings bewusst nicht auf die BesetzerInnenbewegung. So betont Carola Ludwig vom Friedrichshainer RAW-Tempel in der Revaler Straße, dass für sie und ihre MitstreiterInnen eine Besetzung nie zur Diskussion stand. Man habe immer auf eine enge Verbindung mit der Politik Wert gelegt. Hans-Georg Fischer, der seit 1990 in der Kreutziger Straße lebt und 1995 den Verein Southern Networks for Environment and Development (Soned) mitbegründete, zeigt am Beispiel der Kreutziger Straße 19 die Entwicklung vom besetzten Haus zum ökologischen Musterprojekt, das heute umweltfreundlich produzierten Strom an die Versorgungsunternehmen verkaufen kann.

Perfettis positive Sicht auf die Entwicklung vom Hausbesetzer zur alternativen Projekteszene wird unter den ZuschauerInnen sicher ebenso für Diskussion sorgen wie die häufigen und eigentlich für das Thema des Films überflüssigen „Tagesschau“-Ausschnitte zu Mauerfall und Wiedervereinigung.

 „20 Jahre Mauerfall – 20 Jahre Mainzer-Fall. Mit Willy unterwegs in Berlin“. Regie: William Perfetti. D 2010, 113 Min.
Ab 16. 12. um 18 Uhr im Lichtblick-Kino, Kastanienallee 77, Prenzlauer Berg. Am 18. und 19. 12. wird der Filmemacher bei den Vorführungen anwesend sein

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2010%2F12%2F15%2Fa0163&cHash=24df6d8b8d

Peter Nowak

Kunst und Arbeitswelt

Das »Potosi-Prinzip« im Haus der Kulturen

Von außen sieht es aus, als hätte sich in der kleinen Kammer jemand häuslich eingerichtet. Über dem Bett hängen Fotos, in einer Ecke steht ein Fernsehgerät. Der Raum ist eine Unterkunft chinesischer Wanderarbeiter. Die Installation ist Teil des im Erdgeschoss der Berliner IG-Metall-Ortsverwaltung nachgebauten Pekinger Museums der Wanderarbeiter. Dort wird die knapp 30jährige Geschichte der chinesischen Wanderarbeiter auf Bildtafeln, aber auch mit vielen Fotos und Utensilien, anschaulich dargestellt. Dazu gehören extra für die Wanderarbeiter gedruckte Zeitungen ebenso wie die verschiedenfarbigen Aufenthaltsgenehmigungen. Einige Exponate widmen sich der Kultur der Wanderarbeiter in mehreren Generationen. Die Jugendlichen spielen in Bands, die in ihren Texten auf ihre speziellen Probleme eingehen. Auf zahlreichen Fotos wird die Achtung vor der Arbeit beschworen. Die Ausstellung macht deutlich, dass die Wanderarbeiter in China keine vergessene Minderheit mehr sind. Mittlerweile hat die chinesische Politik erkannt, dass sie deren Probleme nicht mehr ignorieren kann. Das im Mai 2008 eröffnete Museum der Wanderarbeiter wäre ohne die Unterstützung durch die offizielle Politik nicht möglich gewesen.

 Das war nicht immer so. Noch am 17. März 2003 ist ein studentischer Wanderarbeiter von der chinesischen Polizei totgeprügelt worden, weil seine Papiere nicht in Ordnung waren. Die vom Arbeitskreis Internationalismus der Berliner IG-Metall organisierte Ausstellung macht deutlich, dass das viel gerühmte chinesische Wirtschaftswunder auf der Arbeitskraft der Wanderarbeiter beruht. Auch viele der bei uns so beliebten Videokameras und Computer wurden von ihnen hergestellt. Auf diese Aspekte wird in mehreren Begleitveranstaltungen hingewiesen.

Die Kisten, mit denen die Utensilien des chinesischen Wanderarbeitermuseums nach Berlin transportiert wurden, befinden sich im Haus der Kulturen der Welt (HdKdW). Sie sind Teil der von Alice Creischer, Max Jorge Hinderer und Andreas Siekmann kuratierten Ausstellung »Das Potosi-Prinzip«. Benannt ist sie nach der bolivarischen Stadt Potosi, im 17. Jahrhundert eine der größten Städte der Welt. Der massive Transport von Silber und Gold aus Lateinamerika nach Europa sorgte damals für einen Akkumulationsschub. Weniger bekannt ist, dass zu dieser Zeit auch Tausende von Bildern nach Europa exportiert wurden, mit denen die Verbreitung der christlichen Religion in Lateinamerika gefeiert wurde.

Im HdKdW sind einige dieser Bilder zu sehen. 25 zeitgenössische Künstler haben sich in ihren Arbeiten mit dem Verhältnis von Christianisierung, Ausbeutung der Arbeitskraft und ursprünglicher Akkumulation auseinandergesetzt. Eine Broschüre dient den Besuchern als Leitfaden für den Gang durch die komplexe Ausstellung. Während im HdKdW die Geburt des europäischen Kapitalismus künstlerisch bearbeitet wird, dokumentiert die Berliner IG-Metallverwaltungsstelle die Geburt einer neuen Arbeiterklasse.

Haus der Kulturen der Welt, John-Forster-Dulles-Allee 10, Mi.-Mo.: 11-19 Uhr, IG-Metall, Jakobstr. 149, Mo.-Do.: 9-18 Uhr, Fr.: 9-15 Uhr.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/185504.kunst-und-arbeitswelt.html

Peter Nowak

Kein Journalismusersatz

Als PR-Profi in eigener Sache ist Julian Assange fast unübertroffen. Schließlich hat es der Gründer von Wikileaks geschafft, diese Enthüllungsplattform innerhalb von wenigen Monaten weltweit bekannt zu machen. Spätestens nach der Veröffentlichung der Afghanistan-Dokumente und der unverhohlenen Repressionsdrohungen von führenden US-Verantwortlichen galt Wikileaks in kritischen Kreisen als einsamer Streiter für die Informationsfreiheit. Schnell war davon die Rede, dass Wikileaks im Internetzeitalter die Rolle der kritischen Medien übernommen hat. Doch wer sich genauer mit der kurzen Geschichte von Wikileaks auseinandersetzt, wird zu dem Schluss kommen, dass damit Journalismus keineswegs ersetzt oder gar überflüssig wird. Ganz im Gegenteil ist die fehlende journalistische Arbeit das größte Manko der Plattform.
So wäre es für Wikileaks ohne die Zusammenarbeit mit Spiegel, New York Times und Guardian gar nicht möglich gewesen, die Afghanistan-Dokumente zu veröffentlichen. Allerdings wurden die Zeitungen als Zuarbeiter höchstens in einer Fußnote erwähnt, während die Internetplattform den alleinigen Ruhm einheimste. Doch mittlerweile zieht Wikileaks auch die Kritik nicht nur von Kreisen auf sich, die die Veröffentlichung der Dokumente über den Afghanistankrieg ablehnen. So kritisierten Amnesty International gemeinsam mit weiteren Menschenrechtsorganisationen, dass in den bei Wikileaks veröffentlichten Dokumenten Klarnamen von Afghanen stehen, die mit den US-Militärs zusammengearbeitet haben sollen. Die Menschenrechtsorganisationen befürchten wohl nicht zu Unrecht, dass die Geouteten dadurch ins Visier von Islamisten geraten könnten.
Assange erklärte daraufhin, es würden 700.000 Dollar gebraucht, um die 15.000 Kriegsdokumente aus Afghanistan von Namen und Daten zu bereinigen, die Menschen in Gefahr bringen könnten. Auf Twitter suchten die Wikileaks-Gründer die Schuld woanders: „Die Medien übernehmen keine Verantwortung“, hieß es dort.
Doch die Kritik an den Veröffentlichungen von nicht oder schlecht redigierten Dokumenten und die Reaktion darauf zeigt einmal mehr, dass Wikileaks kein Ersatz für Journalismus ist. Die Plattform ist zudem auch gar nicht in der Lage, diese Rolle zu übernehmen. Die Leistung von Wikileaks erschöpft sich in der Bereitstellung einer technischen Infrastruktur und guter Medienarbeit in eigener Sache. Engagierten Journalismus hingegen zeichnet aus, dass er Dokumente auswertet und aufarbeitet. Deshalb haben die vielgescholtenen Medien keinen Grund sich zum Zuarbeiter und Buhmann von Wikileaks degradieren zu lassen.

aus M, Menschen Machen Medien 8/9 -2010

http://mmm.verdi.de/archiv/2010/08-09/kommentiert-aufgespiest

Peter Nowak

K.I.E.Z. To Go

Auf den Spuren des Widerstands
Wem an diesem Wochenende am späten Nachmittag im südlichen Teil des Berliner Stadtteils Friedrichshain Menschen mit altmodischer Kleidung begegnen, denen eine Menschenmenge folgt, der ist in ein Theaterstück der besonderen Art geraten. »Wege und Widerstand« lautet der Titel des Stücks, das auf den Straßen von Friedrichshain und Lichtenberg von der Künstlerinitiative K.I.E.Z. To Go aufgeführt wird. Sie besteht aus Künstlern, die in den letzten 20 Jahren nach Friedrichshain gezogen sind. Vor einigen Jahren hat die Truppe bereits die Geschichte der Gladowbande auf den Straßen von Friedrichshain inszeniert.

 Treffpunkt für ihr aktuelles Stück ist der Club Lovelite in der Simplonstraße. Dort muss sich jeder Besucher an der Kasse für eines der bereitliegenden verschiedenfarbigen Bändchen entscheiden. Sie markieren die Gruppe, mit der er in den nächsten drei Stunden die Darstellungen unterschiedlicher Schicksale aus der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt.

Die Gruppe mit dem blauen Band erlebt das Wirken der jungen Frieda Lang, deren Eltern als Widerstandskämpfer verfolgt wurden. Sehr sensibel fühlt sich die junge Schauspielerin Antje Lea Schmidt in diese Figur ein. Die erste Station ist der Helenenhof im Friedrichshainer Südkiez. Dort werden die Bewohner zu Zuschauern und manchmal auch zu Akteuren. So übertönte ein Mieter mit lauter Popmusik die Arien, die die junge Frieda im Hof zum Besten gab. Einige Ecken weiter auf einem Spielplatz verfolgten Kinder die Darbietungen hingegen mit Aufmerksamkeit. In dieser Szene kommt Frieda erstmals in Loyalitätskonflikte zwischen ihren von der Nazipropaganda beeinflussten Schulfreunden und Lehrern und ihren Eltern. Einer der Höhepunkte des Stücks ist die Auseinandersetzung zwischen Frieda und ihrer Mutter, als sie ihren Mann im Gefängnis besuchen will. Frieda, die fürchtet, dass auch die Mutter wieder verhaftet wird, will sie daran hindern.

Während sie zunächst mit ihren Eltern hadert, weil diese ihr kein Familienleben bieten können, beschließt Frieda später, sich nicht unterkriegen zu lassen. Dafür wird die Entfremdung zu ihren Freunden und Mitschülern, die die NS-Propaganda nicht in Frage stellen, immer größer. Zu einer Auseinandersetzung mit ihrem ehemaligen Schulfreund kommt es auf einem Wäschehof in Lichtenberg, als sie den bei der Hitlerjugend aufgestiegenen Johann vergeblich dazu bewegen will, eine Jüdin zu verstecken.

Auf der Tour durch den Stadtteil kreuzen sich immer wieder die Routen der verschiedenen Theatergruppen, die die Lebenswege anderer Figuren verfolgen. Nach drei Stunden kommen alle Besucher auf einem Ateliergelände in der Nähe des S-Bahnhofs Nöldnerplatz wieder zusammen. In der bewegenden Abschlussszene werden Zitate aus den letzten Briefen von politischen Gefangenen vor ihrer Hinrichtung in Plötzensee vorgelesen. Ein besonderes Theatererlebnis ist zu Ende gegangen. Am Wochenende gibt es noch einmal die Gelegenheit, sich schauspielerisch Geschichte anzueignen.

Aufführungen am 24., 25., 26. September, 17 Uhr, Treffpunkt: Lovelite, Simplonstr. 38-40, weitere Informationen gibt es unter www.kieztogo.de

http://www.neues-deutschland.de/artikel/180280.k-i-e-z-to-go.html

Peter Nowak

Die Punktierungen haben wehgetan

HEIMKIND Bruno Schleinstein wurde durch Filme Werner Herzogs bekannt. Seine Vita, durch jahrzehntelange Aufenthalte in Anstalten geprägt, war wenig bekannt – bis er sich für die Geschichte der „Asozialen“ engagierte

Ein Gefühl der Heimatlosigkeit begleitete den Künstler Bruno Schleinstein von frühester Kindheit an. 1932 wurde er in Berlin-Friedrichshain geboren. Schon im Alter von drei Jahren wurde er in ein Heim eingewiesen, weil er als uneheliches Kind einer Prostituierten geboren worden war. Allein dieser Umstand machte ihn in den Kategorien der Zeit zu einem „Asozialen“.

Solchermaßen bereits als Kind stigmatisiert, brachte er die nächsten 23 Jahre in verschiedenen Heimen, psychiatrischen Kliniken und sogenannten Besserungsanstalten zu. Die „Stunde null“ änderte daran nicht alles. Die Wittendorfer Kliniken in Reinickendorf, die Städtische Nervenklinik Wiesengrund und die Claszeile 57 in Zehlendorf waren Stationen seiner Odyssee durch Anstalten und Heime.

Viel hat er über diese ihn prägende Zeit nicht preisgegeben. Doch in dem Wenigen, was er über sich in der dritten Person erzählte, werden seine Gefühle umso deutlicher: „Der Bruno wurde nie besucht“, lautete einer seiner Sätze. Oder: „Die Punktierungen haben dem Bruno wehgetan.“ Damit kommentierte er die Experimente, die Ärzte und Psychiater im Nationalsozialismus an den Insassen von Wiesengrund vornahmen.

„Bruno hat oft die Verbindung zwischen Zuchthaus, Arbeitshaus und Friedhof gezogen“, sagt Anne Allex. Die Erwerbslosenaktivistin und Mitbegründerin des Arbeitskreises „Marginalisierte – gestern und heute“ hat Schleinstein vor mehr als zwei Jahren kennengelernt. „Ein Mitstreiter konnte ihn dafür gewinnen, bei Veranstaltungen aufzutreten, die dem Gedenken der im Nationalsozialismus als asozial verfolgten Menschen gewidmet sind.“ Die AG Marginalisierte will dazu beitragen, dass das Schicksal dieser auch in der linken Geschichtsschreibung weitgehend ausgeblendeten Personengruppe dem Vergessen entrissen wird.

Arbeitshaus Rummelsburg

Auf der Vernissage einer von dem Arbeitskreis organisierten Ausstellung über Wohnungslose im Nationalsozialismus hat Schleinstein im Januar 2008 seine Lieder gesungen. Auch vor dem ehemaligen Berliner Arbeitshaus in Rummelsburg ist Schleinstein im selben Jahr zweimal aufgetreten. Das Arbeitshaus war 1879 gegründet worden. Im kaiserlichen Berlin diente es als Strafanstalt für Leute, die der „Bettelei“ bezichtigt wurden. Im Nationalsozialismus wurde die Anlage zum „Städtischen Arbeits- und Bewahrungshaus Berlin-Lichtenberg“ umgebaut. Unter Beteiligung der Kriminalpolizei wurden am 13. Juni 1938 im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ in ganz Deutschland mehr als 10.000 Personen als „Asoziale“ in Konzentrationslager verschleppt. Einer der Ausgangsorte dieser Aktion war das Arbeitshaus in Rummelsburg.

Begleitet von seinem Akkordeon, sang Schleinstein hier nun seine Lieder von Verfolgung und der Sehnsucht nach Freiheit. Vor sich hatte er verschiedene Glocken mit unterschiedlichen Tönen arrangiert, die er im Takt der Musik läutete. Besonders gern trug er das Lied „Die Gedanken sind frei“ vor. „Er betonte jede Silbe und legte Wert darauf, das Lied mit all seinen Strophen zu singen“, erinnert sich Anne Allex.

In dem von der Berliner Filmemacherin Andrea Behrendt erst in diesem Jahr gedrehten Film „arbeitsscheu – abnormal -asozial“ – Zur Geschichte der Berliner Arbeitshäuser“ findet sich nicht nur ein Ausschnitt von Schleinsteins Auftritt vor dem ehemaligen Arbeitshaus in Rummelsburg. Die Filmemacherin konnte ihm Statements entlocken. „Die Armen sind die Sklaven der Reichen, und die Reichen, wer weiß, was die im Keller oder sonst wo versteckt haben“, erzählt Schleinstein. Die Erfahrungen mit seiner Umwelt fasst er in die Worte: „Die Leute nehmen mich nicht für voll, weil ich anders aussehe.“ In die Kritik hat er auch Filmemacher wie Werner Herzog einbezogen, der sich in den 70er Jahren mit seinem Kaspar-Hauser-Film als Entdecker des Künstlers Bruno S. feiern ließ. „Bruno ist doch nur ein Wegwerfartikel“, war sein Kommentar zu dieser Zusammenarbeit Jahre später.

Auch über den Tod hat Schleinstein in Behrendts Doku philosophiert und die höchst originelle Ansicht beigesteuert: „Wenn die Toten singen könnten, würden sie sagen, ich bin ein Star, holt mich hier raus.“ Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass Schleinstein, der am 10. August im Alter von 78 Jahren gestorben ist, seinen Körper für Forschungszwecke an die Charité verkauft hat. Er, der so viele Jahre eingesperrt war, wollte zumindest nach dem Tod nicht wieder auf jemand warten, der ihn rausholt.

Begleitet von seinem Akkordeon, sang Schleinstein hier seine Lieder von Verfolgung und Freiheit

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2010%2F08%2F28%2Fa0205&cHash=801116a25b

Peter Nowak

Der Chronist der Hausbesetzer

FOTOGRAFIE Kaum einer war so nah an der linken Szene wie Michael Kipp. Seine Fotos sind jetzt online zu entdecken

Der Mann mittleren Alters schaut zur Seite mit gekreuzten Armen. Er fühlt sich unbehaglich, das sieht man. Neben ihm steht ein junger Typ in Lederjacke, eine Sturmhaube über den Kopf gezogen. Auch er hat die Arme verschränkt, als wolle er sein Gegenüber imitieren. Ein Plakat an der Wand hilft bei der zeitlichen Datierung: Es ist der Sommer 1981 in Westberlin; das Foto zeigt den damaligen Vizevorsitzenden der Enquetekommission „Jugendprotest im demokratischen Rechtsstaat“ Rudi Haug im schwierigen Dialog mit BesetzerInnen der Potsdamer Straße 152.

Fotografiert hat die Szene Michael Kipp. Er war in der HausbesetzerInnenbewegung vor 30 Jahren als „Mann mit der Kamera“ bekannt und auch regelmäßig für die taz unterwegs. Nachdem Kipp im September 2009 an Lungenkrebs gestorben war, brachte sein Freund Peter Schwarz sechs Umzugskartons mit Fotoabzügen und Negativen zum Umbruch-Bildarchiv. Das stellte eine Auswahl ins Internet.

Einst heiß diskutierte, heute meist vergessene Politaktionen sind hier verewigt. Etwa das Bild eines Blocks nackter, nur mit einer Sturmhaube bekleideter AktivistInnen bei einer Demonstration gegen Häuserräumungen im September 1981. Oder ein Protestzug in den Villenbezirk Grunewald einige Wochen davor. Kipps Foto einer umgekippten Polizeiwanne bei einer Straßenschlacht nach Häuserräumungen im Dezember 1980 ist in viele Zeitungen gedruckt worden. „Michael war einer der ganz wenigen Fotografen, denen die linke Szene der frühen 80er Jahre vertraute“, berichtet seine langjährige Lebensgefährtin.

Kipp wurde 1951 geboren. Einen großen Teil seiner Kindheit und Jugend verbrachte er in Heimen. Später wurde die außerparlamentarische Linke in Westberlin seine politische Heimat. Er war mehr am Lebensgefühl als an Theorie interessiert. „Was Rudi Dutschke gesagt hat, hat mich nicht interessiert. Lieber habe ich mit Fritz Teufel Fußball gespielt“, hat Kipp einmal erklärt.

Neben den Politaktivismus hat Kipp den Alltag in den besetzten Häusern aufgenommen. Da sieht man etwa Alternative und Autonome, die sich einem Plenum über die richtige Demostrategie streiten. Auch ein Foto vom ersten Wahlplakat der Alternativen Liste (AL) von 1979 fand sich in Kipps Nachlass: Es zeigt die Fußsohlen von drei Personen, die nur mit einem Laken bedeckt in einen Krankhausbett liegen. Kipp war Gründungsmitglied der AL; 1979 kandidierte er auf ihrer Liste für die Bezirksverordnetenversammlung Neukölln.

In den 80er Jahren gelang Kipp der berufliche Durchbruch als Fotograf. Spiegel und Stern druckten seine Fotos. 1987 arbeitete Kipp für eine Fotoagentur, die den Wahlkampf des Regierenden Bürgermeisters Eberhardt Diepgen (CDU) managte. Dieses Engagement stieß auf Kritik in der linken Szene.

Plötzlich, von einem Tag auf den anderen, beendete er seine Arbeit als Fotograf und zog zu seiner kranken Mutter. „Unmittelbarer Anlass war eine Steuerschätzung des Finanzamtes, die Kipp Schulden in vierstelliger Höhe bescherte“, erinnert sich Peter Schwarz, Kipps Mitbewohner in einem Hausprojekt in Neukölln. „Kipp vergaß, Rechnungen für seine Fotos auszustellen, und versäumte auch die Steuererklärung.“

Doch er scheint auch die plötzlichen Veränderungen in seinem Leben genossen zu haben. „Wenn Kipp Erfolg hatte, zog er sich zurück“, meint Peer Zeschmann vom Rixdorfer Café Linus, wo Kipp nach dem Tod seiner Mutter zum Stammgast wurde und von seiner Vergangenheit als Fotograf schwärmte. „Finanziell befand er sich damals auf dem Status eines Sozialhilfeempfängers. Mit Putzarbeiten besserte er seine kargen Einkünfte auf, bis er nach einem Streit Hausverbot bekam“, erinnert sich Zeschmann.

Zum Millenniumswechsel wollte Kipp noch einmal etwas Neues ausprobieren und bildete sich autodidaktisch zum Computerexperten aus. Die Lungenkrebsdiagnose machten seine Zukunftspläne zunichte. „Michael hatte auch nach vielen Krankenhausaufenthalten und gescheiterten Therapieversuchen noch einen enormen Lebenswillen“, erinnert sich Schwarz. Kipp plante in den letzten Wochen noch die Veröffentlichung seiner Fotos im Internet, doch die Krankheit war stärker. Das Umbruch-Bildarchiv hat mit der Fotogalerie nicht nur den Mann mit der Kamera, sondern auch ein Stück Westberliner Geschichte vor dem Vergessen bewahrt.

 Bilder unter www.umbruch-bildarchiv.de

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=bl&dig=2010%2F08%2F10%2Fa0150&cHash=fb3be2ec74

Peter Nowak

Wenn ein Gespräch über Spatzen zum Verbrechen wird

Es gibt viele Filme über politische Repression.  Doch der „Tag der Spatzen“ ist in vielerlei Hinsicht der außergewöhnlichste Film in diesem Genre. Schon der Beginn ist ungewöhnlich.  Die Kameraführung ist extrem langsam. Erst putzen sich mehrere Hausspatzen, dann kommt ein einzelner Sperling  ins Bild Der Filmemacher Philipp Scheffner will damit an eine wenig beachtete Episode
erinnern. Am   14. November 2005 wird im holländischen Leeuwarden ein Spatz erschossen, nachdem er 23000 Dominosteine umgeworfen hat, die für eine Ausstellung aufgebaut worden waren. Via Internet war der „Dominospatz“  weltweit bekannt geworden. Er wurde schließlich konserviert und der holländische Wachtdienst bekam Todesdrohungen. Ebenfalls am 14. November 2005 starb in Afghanistan ein deutscher Soldat bei einem Selbstmordattentat. Damit sind die beiden  Grundthemen  des Films beschrieben. Die Vögel und der Krieg.

Militär und Natur
Immer wieder führt die Kamera durch Natur, durch Wälder, die aus der Perspektive eines Vogelkundlers betrachten werden. Lustige Vögel mit langen Beinen watscheln öfter durch das Bild.  Der Filmemacher kann dabei auf eigene Erfahrungen
zurückblicken. Scheffner ist von frühester Jugend an ein begeisterter Vogelbeobachter und politisch bewusster Zeitgenosse.  Mit der Kamera wird er die Zuschauer in abgelegene scheinbar idyllische Gegenden gelotst, wo es kaum Menschen gibt. Gerade dort  trifft der Filmemacher auf militärische Einrichtungen, die möglichst wenig Publicity wünschen. Dazu gehört das nsatzführungskommando in der Henning-von-Tresckow-Kaserne in einem Wildpark bei Potsdam, wo laut eigener Homepage “Operationen gegen irreguläre Kräfte“ geprobt werden. Das Bild zeigt drei Soldaten, von denen einer ein Gewehr auf einen Menschen in ziviler Kleidung richten.     Das „Zentrum für Operative Information“, eine Bundeswehrdienststelle bei Mayen wurde bei Scheffners Vogelsuche ebenso umrundet, wie der Flughafen Büchel. Auch Militärstellen, die  mögliche Schäden auf Militärflughäfen durch Vogelflug untersuchen, werden vorgestellt.

„Wir wollen nicht in ihrem Film auftauchen“

Im Film werden auch die Schwierigkeiten dokumentiert, denen Scheffner beim Drehen seines Naturfilms  durch militärische Stellen, die argwöhnten, ausspioniert zu werden, begegnet. Als sich  Scheffner dann gar bei Bundeswehrstandorten in Afghanistan nach dem
Vogelschutz erkundigen will, wird die im Film vorgestellte Kommunikation unfreiwillig komisch. Zeigte die Pressestelle  der Bundeswehr anfangs noch verhaltenes Interesse an dem Projekt, so kam bald die Absage. Doch Scheffner gab nicht auf und nahm
immer  Kontakt auf, bis sich ein Ministerialbeamter weitere Kommunikationsversuche verbittet. Im Film sind der Emailverkehr und verschiedene Telefonate eingeblendet. Manchmal wundert man sich über Scheffners Hartnäckigkeit und seine Versuche, der Bundeswehr die Vorteile einer neuen Offenheit vor Augen zu führen.

Festnahme in Rambo-Manier
Der Höhepunkt des Filmes aber ist die Verhaftung seines Freundes Harald im Jahr 2007. Er wurde  mit 2 weiteren  Männern  von der Polizei bei einer antimilitaristischen Aktion verhaftet. Man sieht den Verhafteten nach seiner Haftverschonung  bei der Vogelbeobachtung mit dem Filmemacher ins Gespräch vertieft. Fast beiläufig berichtet Harald über die Festnahme in Rambo-Manier, bei der die Polizei erst die Fenster des Autos und dann auf die Insassen einschlug. Bei einem der Beteiligten löste diese  Festnahmesituation ein Trauma aus und er ist noch immer in ärztlicher Behandlung.  Harald berichtet auch, wie
er nach seiner Festnahme per Hubschrauber zur Bundesanwaltsschaft nach Karlsruhe transportiert wurde, dabei seine Flugangst überwunden hat und noch einmal einen Blick in deutsche Vorgärten werden konnte. Er genoss die Situation, weil er
wusste, dass er längere Zeit solche  Blicke  wissen wird. Wenn Harald dem Filmemacher dann über sein antimilitaristisches Engagement und die Prozessführung erzählt und beide gleichzeitig ins Fernrohr blicken, wirken sie selber wie zwei weise Vögel   
„Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen ist, weil sie soviel Gesagtes mit einschließt“, schrieb Brecht. Scheffner hat  mit seinem Film den Satz variiert. „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch fast ein
Verbrechen ist…“. Den Film sollte man sich nicht entgehen lassen, wenn er gelegentlich in Programmkinos und vielleicht demnächst auch mal bei Arte läuft.
Wer darauf nicht warten will, kann ihn ausleihen über das Berliner Institut für Film und Videokunst Arsenal (www.arsenal-berlin.de

Peter Nowak
„Der Tag des Spatzen“. Regie: Philip Scheffner. Essayfilm, Deutschland 2010, 104
Min. Infos zum Film im Netz: http://www.dertagdesspatzen.de/

veröffentlicht in der Publlikation Gefangeninfo http://www.gefangenen.info/

Linke ostdeutsche Opposition

 Der telegraph liefert Texte für die linke Theorie und Praxis, ohne seine Wurzeln zu verleugnen
Wenn sich eine Publikation auch 21 Jahre nach dem Umbruch von 1989 selbstbewusst »ostdeutsche Zeitschrift« nennt, werden manche Ostalgie erwarten. Doch in der aktuellen Ausgabe des telegraph wird die alte DDR nicht zurückgewünscht. Aber auch die herrschenden Verhältnisse in Deutschland und der Welt werden einer scharfen Kritik und Analyse unterzogen. Das ist ein Markenzeichen des von DDR-Oppositionellen herausgegebenen Magazins seit seiner Gründung in der Endphase der DDR. Anders als viele ihrer ehemaligen Mitstreiter haben die Herausgeber des telegraph auch heute keinen Frieden mit den Verhältnissen gemacht. Deswegen haben sie auch junge Mitarbeiter gefunden, wie den Rapper Jenz Steiner aus dem Prenzlauer Berg. Er war beim Mauerfall 13 Jahre alt und beschreibt in seinem Beitrag, wie er in den Wendejahren bei antifaschistischen Demonstrationen und in besetzten Häusern politisiert wurde. Er spricht nicht nur für sich, wenn er rückblickend über seine Generation schreibt: »Der wilde Aktionismus der Pubertät ist bei fast allen verpufft. Ihre linke, humanistische und freidenkerische Grundhaltung haben sie sich hingegen bewahrt.«

 Der Stadtsoziologe Andrej Holm beschreibt die Entwicklung des Prenzlauer Berg vom kulturanarchistischen Utopia der frühen Wendejahre zur Hochburg der Bionade-Bourgeoisie aus Sicht der Bewohner mit geringem Einkommen. Nicht alle starben aus Gram über ihre aus ökonomischen Zwängen verlassenen Wohnungen, wie der Fotograf Peter Woelck. Aber an den Stadtrand wurden viele verdrängt. »All die Aufwertungsprognosen der Vergangenheit haben sich erfüllt – aber Recht haben ist keine Kategorie des politischen Erfolges. Leider«, so Holms bitteres Resümee. Während Helmut Höge an die ostdeutsche Betriebsräteinitiative erinnert, die Anfang der 90er Jahre die Abwicklung wichtiger Industriebetriebe in der DDR nicht stoppen konnte, beschreibt Willy Hajek aktuelle Entwicklungen an der Gewerkschaftsbasis in und außerhalb des DGB.

Neben Texten, die sich mit der Entwicklung im Beitrittsgebiet befassen, schärft der telegraph auch sein theoretisches Profil, indem er durchaus streitbaren Thesen Raum gibt. So setzt sich die Philosophin Tove Soiland kritisch mit der »Entwicklung der Frauenbewegung zum Gender-Management« auseinander. Soiland verfolgt die Anfänge der Gender-Debatte zurück zu den Culture-Studies, die von britischen Marxisten in den 90er Jahren als Ergänzung zum orthodoxen Marxismus, der Feminismus und Kultur als Nebenwidersprüche wahrnahm, entwickelt wurden. Sie zeigt auf, wie im Laufe der Jahre beim Gender-Diskurs die marxistischen Wurzeln gekappt wurden. Damit sei das Gender-Management für den neoliberalen Diskurs anschlussfähig geworden, so Soiland. Zwei weitere theoretische Highlights der telegraph-Ausgabe sind die Interviews mit dem polnischen Soziologen Zygmunt Baumann und dem französischen Historiker Enzo Traverso. Baumann berichtet über sein Engagement als Kommunist in der Volksrepublik Polen, die er wegen der antisemitischen Kampagne im Jahr 1968 verlassen hat. Er bereut es auch nachträglich nicht, den Traum einer Gesellschaft ohne Armut und Unterdrückung geträumt zu haben. Traverso reflektiert im Gespräch den Wandel des Antifaschismus. Der telegraph liefert so Material für die linke Theorie und Praxis, ohne seine Wurzeln aus der linken ostdeutschen DDR-Opposition zu verleugnen.

telegraph 120/121, »Krisen und Jubiläen«, 160 Seiten, 6 Euro, www.telegraph.ostbuero.de

http://www.neues-deutschland.de/artikel/176187.linke-ostdeutsche-opposition.html

Peter Nowak

Letzte existierende Publikation der DDR-Opposition

Grundhaltung bewahrt

Der „telegraph“ ist die letzte noch existierende Publikation der DDR-Opposition. Die Redaktion befasst sich in der neuen Ausgabe mit gescheiterten Revolutionen

Wenn sich eine Publikation heutzutage als „ostdeutsche Zeitschrift“ bezeichnet, vermutet man schnell gesammelte DDR-Nostalgie und Berichte über Trabi-Gedenkfahrten. Doch im telegraph, der ebendies im Untertitel trägt, findet sich nichts von beiden. Kein Wunder, handelt es doch um die einzige noch existierende Publikation der DDR-Opposition. Sie wurde 1987 als Umweltpolitische Blätter gegründet und bestand aus hektografierten Schreibmaschinenseiten. Das ist lange her. Vor wenigen Tagen ist die neue Doppelnummer erschienen in einer Auflage von 1.000 Exemplaren. Ihr Cover ziert ein Verkehrsschild, das auf eine Sackgasse hinweist. Darunter der Satz: „Frei bis Deutsche Einheit“.

Mit dieser Fotomontage ist das Selbstverständnis der telegraph-Redaktion gut wiedergegeben. Nicht das vereinigte Deutschland, sondern eine basisdemokratische DDR ohne Deutsche Bank und Bild-Zeitung war ihr Ziel. „Im telegraph kamen die DDR-Oppositionellen zu Wort, die in den Wendemonaten Antifa-Demonstrationen organisierten und Häuser besetzten“, berichtet Dirk Teschner. Der Kurator an der Erfurter Kunsthalle ist der Einzige der fünfköpfigen Redaktion, der schon damals dabei war.

Der telegraph blieb politisch unabhängig und schloss sich keiner der in den Wendezeiten gegründeten Gruppen an, betont Teschner. Mitte der 90er Jahre, als die Redaktion eine Perspektivdebatte führte, entschied man sich trotz sinkender Absatzzahlen und Finanzierungsprobleme für das Weitermachen, weil es „keine kontinuierlich arbeitende Zeitschrift aus unserem Umfeld gab“.

1998 fiel die Entscheidung, den bisherigen Untertitel „behörden- und unternehmerunfreundlich“ durch „ostdeutsche Zeitschrift“ zu ersetzen. Es habe sich um eine politische Positionierung gehandelt, betont Teschner. „Der Untertitel wurde aber auch als Abgrenzung zu Westgruppen, wie den Wohlfahrtsausschüssen, gewählt, die alle DDR-BürgerInnen unter den Generalverdacht stellten, undemokratisch und rassistisch zu sein.“ Die Wohlfahrtsausschüsse waren ein loses Bündnis von überwiegend westdeutschen Antifagruppen und KünstlerInnen, die in den 90er Jahren mit Konzerten und politischen Veranstaltungen gegen die rechte Dominanz in verschiedenen ostdeutschen Städten agierten.
Für Kamil Majchrzak spielten bei dieser Auseinandersetzung auch Enttäuschungen und Neid von Ost- und Westlinken eine große Rolle. „Die linke Oppositionsbewegung war 1989 auf der Straße, und die Westlinke hat weitgehend zugeguckt“, skizziert der am Zentrum für Europäische Rechtspolitik (ZERP) in Bremen arbeitende Rechtswissenschaftler die Rollenverteilung. Majchrzak ist in Polen geboren und lebte mit seinen Eltern in den 80er Jahren mehrere Jahre in der DDR. Als er 1995 zum Studium nach Berlin zurückkehrte, suchte er den Kontakt zum telegraph, weil ihm der besondere Blick auf die osteuropäischen Oppositionsbewegungen sympathisch war. Majchrzak, der auch für die polnische Ausgabe der Le Monde diplomatique arbeitet, wurde 1997 Redaktionsmitglied. Er hat den telegraph zunehmend für linke Theoriedebatten geöffnet. So übersetzte er für die aktuelle Ausgabe ein Gespräch des in Polen geborenen Philosophen Zygmunt Baumann über dessen Hoffnungen und Enttäuschungen mit der Volksrepublik Polen; mit dem französischen Historiker Enzo Traverso führte er ein Interview über den Bedeutungswandel des Antifaschismus.

Ein reines Theorieorgan soll der telegraph auch in Zukunft nicht werden, betont Majchrzak. In der aktuellen Ausgabe ist der Mix aus Theorie und Praxis gelungen. Dort zieht der Stadtsoziologe Andrej Holm eine ernüchternde Bilanz von 20 Jahre Stadtsanierung in Prenzlauer Berg: „All die Aufwertungsprognosen der Vergangenheit haben sich erfüllt – aber ,recht haben‘ ist keine Kategorie des politischen Erfolges. Leider.“

Der Publizist Helmut Höge erinnert an die ostdeutsche Betriebsräteinitiative, die bis Mitte der 90er Jahre nicht immer erfolglos gegen die Abwicklung von DDR-Betrieben kämpfte. Die Geschichtsstudentin Christiane Mende wirft einen differenzierten Blick auf das Leben der ArbeitsmigrantInnen in der DDR. Obwohl für sie im wiedervereinigten Deutschland kein Platz sein sollte, haben es manche durch verschiedene Formen von Resistenz doch geschafft zu bleiben.

Zwischen Häuserkampf und Antifa
Und der Prenzlberger Blogger und Rapper Jenz Steiner beschreibt seine Politisierung als Jugendlicher in den frühen 90ern zwischen Hausbesetzungen und Antifa-Demonstrationen. „Der wilde Aktionismus der Pubertät ist bei fast allen verpufft. Ihre linke, humanistische und freidenkerische Grundhaltung haben sie sich hingegen bewahrt“, schreibt Steiner über seine Jugendfreunde von Prenzlauer Berg. Damit hätte er auch den telegraph im Jahr 2010 beschreiben können.

 telegraph 120/121: „Gescheiterte Revolutionen“. 160 Seiten, 6 €.

Bestellung über www.telegraph.ostbuero.de

http://www.taz.de/1/berlin/artikel/1/grundhaltung-bewahrt/

Peter Nowak

Versteckte Geschichten

Im Schloss Marquardt bei Potsdam wird internationale Kunst präsentiert

Angenehm kühl ist es in den Räumen von Schloss Marquardt bei Potsdam in diesen heißen Tagen. Doch das sollte nicht der einzige Grund für einen Besuch an den  nächsten Wochenenden sein.  Bis zum 12.September lädt  das Kunstprojekt Rohkunstbau mit Bildern, Filmen und Installationen zum Schauen, Staunen und gelegentlich auch zum Gruseln ein. Seit 1994 machen die Festivalmacher alte Schlösser in Potsdam zum Kunsterlebnis. „Atlantis – versteckte Geschichten“ lautet dieses Jahr das Oberthema für die 10 Arbeiten von Künstlern aus aller Welt.

Eher heiter werden die Zuschauer mit  Pferden,  Nymphen und einer Wasserquelle begrüßt. Die marokkanische  Künstlerin Wafae Ahalouch el Keriasti will damit ein Motiv von Platons Kritias visualisieren. Man kann das Kunstwerk auch ohne theoretischen Überbau einfach lustig finden. Das wird bei Mat Cloolishaws Videoinstallation Vanitas schon schwerer, wenn einem beim Betrachten eines alten Spiegels ein Totenkopf entgegenblickt.

Das Lachen vergeht einem spätestens beim Betrachten von Evader. Der israelische Künstler Ori Gesht zeichnet in dem Video  auf zwei Leinwänden den letzten  Fluchtweg von Walter Benjamin vor den Nazis nach. Wir sehen einen älteren Mann schwer atmend durch unwirtliches Gelände stapfen und dann sehen wir Bilder vom heutigen Tourismusort Port Beau, wo sich Walter Benjamin das Leben nahm.  Mit dem Thema Flucht hat Gesht, dessen Eltern sich vor den Nazis in einem Wald in der Ukraine versteckten, auch in seinen früheren Arbeiten beschäftigt.   

In eine ganz andere Atmosphäre führt uns Niklas Goldbach mit seinem Video Mandela. Er zeigt die routinierten Bewegungen des Personals im Berliner Luxushotel gleichen Namens. Selbst das aufgesetzte Lächeln wird auf Knopfdruck ein und wieder ausgeknipst, wenn sich die Personen unbeobachtet glauben. Man verlässt diese schöne neue Welt, um sich in einer von Stefan Roloff gestalteten dunklen Kapelle wiederzufinden. Doch die Kirchenfenster im gotischen Stil sind Videos, in denen Menschen aus verschiedenen Ländern Europas in ihrer Sprache kommunizieren.     In zwei Räumen präsentiert die Turiner Künstlerin Elisa Sighicelli historische Motive in ihren berühmten Lichtkästen. 

Nach dem Rundgang durch die internationale Kunst ist eine Visite des Schlossparks mit seinem See empfehlenswert.

 Im Schloss Marquardt bei Potsdam wird internationale Kunst präsentiert

 

https://www.neues-deutschland.de/artikel/175611.versteckte-geschichten.html?sstr=Rohkunstbau

Peter  Nowak 

Die Ausstellung Rohkunstbau XVII ist bis 12. September  geöffnet Freitag   14 – 19 Uhr, Samstag und Sonntag   12 – 19 Uhr

Tag des journalistischen Schweigens in Italien

Journalisten und ihren Verbände protestieren gegen ein von der Berlusconi-Regierung geplantes Abhör- und Mediengesetz, das als Knebelgesetz bezeichnet wird
Am 9. Juli sind in Italien viele Zeitungen, darunter der Corriere della Sera, L’espresso und La Stampa, nicht erschienen. Der Grund ist ein Protesttag von Journalisten und ihren Verbänden gegen ein von der Berlusconi-Regierung geplantes Abhör- und Mediengesetz. Das Gesetz wurde im italienischen Senat schon mit der Mehrheit der Regierungskoalition verabschiedet und soll Ende Juli im Abgeordnetenhaus beraten werden.

 
Webseite des L’espresso am heutigen Freitag 

Der Protest scheint zunächst zu überraschen. Schließlich soll mit dem Gesetz das in Italien weitverbreitete Abhören von Telefonaten unterbunden und die Strafen für das Veröffentlichen von illegal abgehörten Gesprächen erhöht werden. Das umstrittene Gesetz sieht auch Haftstrafen für Journalisten und Geldbußen für Verleger vor, die bei Ermittlungen abgehörte Telefonate unerlaubt veröffentlichen. Strafen drohen zudem, wenn Dokumente von Strafverfahren publiziert werden, bevor die Untersuchungen abgeschlossen sind und der Gerichtsprozess beginnt. Journalisten, die keine Mitglieder eingetragener Journalistenvereinigungen sind, drohen Haftstrafen, wenn sie bei ihren Recherchen versteckte Kameras oder Audio-Aufnahmegeräte verwenden.

 
Online-Protest der Leser auf der Website von la Repubblica 

Hier setzt die Kritik der Pressevertreter an. Sie befürchten stärkere Restriktionen, wenn sie über Affären und Skandale berichten, in die Regierungsmitglieder verwickelt sind. Die Furcht ist nicht grundlos. Schließlich hat die italienische Regierung ihre auf den ersten Blick datenschutzfreundliche Gesetzesinitiative erst vorgelegt, nachdem mehrere Minister durch die Veröffentlichung von teilweise illegal aufgenommenen Telefonaten kompromittiert worden sind. Deshalb sprechen die Journalisten von einem Maulkorbgesetz, mit dem sich die Regierung eine rechtliche Handhabe gegen ihre Kritiker schafft.

Dieser Einschätzung schließt sich auch die Organisation Reporter ohne Grenzen an, die den Journalistenprotest [www.reporter-ohne-grenzen.de/presse/pressemitteilungen/news-nachrichten-single/article/1/rog-unterstuetzt-streik-italienischer-journalisten-gegen-abhoergesetz.html unterstützt], weil durch das Abhörgesetz „die journalistische Berufspraxis in Frage gestellt wird und die italienischen Medien daran gehindert werden, in angemessener Weise zu recherchieren“.

Hoffnung auf Fini

Trotz komfortabler Mehrheiten der Rechtskoalition ist ein Erfolg der Kritiker des Abhörgesetzes nicht ausgeschlossen. Sie könnten vom Dauerzwist zwischen Berlusconi und dem ehemaligen Vorsitzenden der italienischen Neofaschisten Fini profitieren. Im Machtkampf der beiden Rechtspolitiker hat sich Fini mehrmals kritisch über das Abhörgesetz geäußert. Als Vorsitzender der italienischen Abgeordnetenkammer kann er die Verabschiedung zumindest erheblich verzögern.

http://www.heise.de/tp/blogs/6/147990

Peter Nowak

Stattweb vorerst eingestellt

 Am 3. Juli wurde das südbadische Medienprojekt Projekt stattweb.de eingestellt. Die 1990 als Medium der Gegenöffentlichkeit gegründete »Stattzeitung« war eine der ersten linken Medienprojekte, die das Internet für ihre Präsenz nutzten. 75 Ausgaben sind als Printzeitung erschienen und im Internet finden sich ca. 8000 Newsbeitrage. Die langjährige Stattzeitung-Mitarbeiterin Barbara Schenk erklärte gegenüber ND, die Entscheidung für die Einstellung sei aus personellen Gründen erfolgt. »Ein langjähriger Mitarbeiter hat sich zurückgezogen.« Da die Internetzeitungen von der ständigen Aktualisierung leben, die Arbeit aber unentgeltlich war und man auch nicht zum Veranstaltungskalender der Region mutieren wollte, habe man sich dazu entschlossen, das Medienprojekt »einzufrieren«, so Schenk. Sollten sich Interessenten aus der Region finden, die an dem Projekt mitarbeiten wollen, könne das Stattweb jederzeit wieder reaktiviert werden, betonte sie.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/174707.bewegungsmelder.html

Peter Nowak

Linke Buchtage

Debatten über Kommunismus

Debatten über den Kommunismus scheinen gerade angesagt zu sein. In Berlin tagte am Wochenende ein mit bekannten Intellektuellen bestückter Kommunismuskongress in der Berliner Volksbühne. Auch im linken Initiativenzentrum Mehringhof wurde am Freitagabend über den Kommunismus diskutiert. Die Veranstaltung fand im Rahmen der Linken Buchtage statt, die nun zum achten Mal in Berlin vor allem theoretisch interessierte junge Leute anlockten. Neben Buchvorstellungen gab es zudem viele Podiumsdiskussionen.

»Wie heute über den Kommunismus reden?« lautete das Motto. Der Kulturwissenschaftler Robert Zwarg von der linken Leipziger Zeitschrift »Phase 2« sprach sich für einen Kommunismusbegriff aus, der auch das Glück der Individuen mit einschließt. Felicita Reuschling, ebenfalls Autorin der »Phase 2«, zeigte am Beispiel des politischen Wirkens der russischen Kommunistin und Feministin Alexandra Kollontai den wichtigen Beitrag, den die Oktoberrevolution für die Frauenemanzipation leistete. Mit der Stalinisierung sei auch hier der Rückschlag gekommen. Allerdings kritisierte Reuschling, Kollontai habe von Marx die Geringschätzung der Hausfrauenarbeit übernommen. Eine Referentin der linken Berliner Gruppe paeris stellte die Frage nach der Funktion der Infrastruktur und die Produktion im Kommunismus.

Einmal im Monat diskutiert eine Gruppe von Menschen in Berlin diese Fragen, die auch dabei helfen sollen, eine andere Gesellschaft wieder vorstellbar zu machen. In die Diskussion sollen verstärkt Aktivisten sozialer Bewegungen einbezogen werden. Ihre Themen waren auf der linken Buchmesse gut vertreten.

Joachim Bischoff und Richard Detje von der Zeitschrift »Sozialismus« sehen in der aktuellen Krise eine politische und wirtschaftliche Weichenstellung für die Zukunft. Die Zunahme prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen verschlechtere eher die Kampfbedingungen für die Betroffenen. Doch die Autoren halten auch eine andere Entwicklung für möglich: »Bei dem erreichten Stand von Überschussproduktion und Produktivitätsentwicklung sind armutsfeste Einkommen und Zeitwohlstand ebenso denkbar wie die Nutzbarmachung arbeitsorganisatorisch-technischer Potenziale und die selbstbewusste Einbringung subjektiver Kreativität.« Da stellt sich indes die Frage, wo die Bewegung ist, die diese Reformen durchsetzen kann. Vielleicht kann eine neue Marx-Lektüre nachhelfen, die der Berliner Ökonom Michael Heinrich auf einer gut besuchten Veranstaltung präsentierte. Auch der Stadtsoziologe Andrej Holm, der im Unrast-Verlag ein Buch zum Widerstand gegen die Gentrifizierung veröffentlichte, fand großes Interesse.

Viel Raum nahm auf den Linken Buchtagen Bücher zu ideologiekritischen Themen ein. Dabei geriet eine Vorstellung des Buches »Sex, Djihad und Despotie« von Thomas Maul zu einem Austausch antiislamischer Ressentiments. Der Referent führte nach einer kurzen Buchvorstellung einen Rundumschlag gegen den Islam und seine vermeintlichen Freunde in der linken und feministischen Bewegung aus. Ein Teilnehmer verstieg sich – von dieser islamischen Weltverschwörungstheorie ermutigt – unwidersprochen zu der Aussage, man müsse auch sagen dürfen, dass man die Moslems hasst.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/174013.linke-buchtage.html

Peter Nowak

Viele Klischees

China-Bilder
Räuber der Globalisierung«, »Produktpiraten«, »Diktatur«, »Klimasünder«. Die Liste der Vorwürfe der Begriffe, mit denen in deutschen Medien China beschrieben wird, ist lang. Dort sprechen offizielle Stellen mittlerweile gar von einer Verschwörung der Medien gegen die Volksrepublik China. Dieser Vorwurf sei haltlos. Doch die Berichterstattung sei an Krisen, Kriegen und Katastrophen statt an der Realität orientiert, Klischees würden zu wenig hinterfragt. »Die Arbeitswelt oder soziale Fragen kommen in der China-Berichterstattung kaum vor«, so Carole Richter. Die Erfurter Kommunikationswissenschaftlerin ist Herausgeberin der Studie »Die China-Berichterstattung in den deutschen Medien«, die am Montagabend in den Berliner Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung vorgestellt wurde. Herausgegeben wurde die Studie von der Stiftung in Kooperation mit den Universitäten Erfurt und Duisburg-Essen.

 Für die Untersuchung wurden 8700 Artikel aus führenden Printmedien, darunter der »Spiegel«, der »Focus«, die »FAZ« und die »taz«, aus dem Jahr 2008 ausgewertet. In diesem Jahr stand China wegen der Unruhen und der Unruhen in Tibet besonders im Blickfeld der Medien. Die von chinesischen Stellen formulierte Kritik an der Berichterstattung zu den Konflikten in Tibet wurde durch die Studie bestätigt. Weil es außer Aufnahmen von Gewalt ausübenden tibetischen Mönchen keine Bilder aus der Konfliktregion gab, musste das Klischeebild von der Repressionsmacht China mit Fotos prügelnder Polizisten aus Nepal bestätigt werden.

Dass über die Produktion mancher Vorurteile auch die deutschen Korrespondenten in China erstaunt sind, machte der Pekinger »taz«-Reporter Sven Hansen deutlich. Die oft besonders klischeebeladenen Überschriften seien von der Redaktion kreiert worden, auch der Korrespondent habe sie erstmals erst im Internet gesehen. Der Erfurter Kommunikationswissenschaftler Kai Hafez sieht die Gründe der Schieflagen der deutschen China-Berichterstattung auch in der zunehmenden ökonomischen Konkurrenz des asiatischen Landes für die westlichen Staaten. Dies schlage sich vor allem in der Berichterstattung auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen und Zeitschriften nieder.

Das Publikum reagierte nicht nur mit Zustimmung auf die Erfurter Studie. So wurde bemängelt, dass es keine Vergleiche über Berichte anderer Länder gibt, die ähnlich wie China in der besonderen Kritik der deutschen Medien stehen. Ein weiterer Mangel sei, dass man in der Untersuchung nicht auch Medien wie das »Neue Deutschland«, den »Freitag« oder andere linke Zeitungen einbezogen habe. Diese hätten die hiesige China-Berichterstattung in den deutschen Medien in der Vergangenheit ebenfalls kritisch beleuchtet. So spiele bei der Berichterstattung über Tibet sicherlich auch die oft distanzlose Bezugnahme auf den Dalai-Lama und das von ihm repräsentierte System in vielen deutschen Medien eine wichtige Rolle. In der Regel werde das geistige Oberhaupt der Tibeter unkritisch als »Mann des Friedens« gefeiert.

 http://www.neues-deutschland.de/artikel/173163.viele-klischees.html

„Räuber der Globalisierung“

Keine Verschwörung, aber viele Klischees: die China-Berichterstattung in deutschen Medien
2008 war China besonders oft im Fokus der deutschen Medien. Es war das Jahr der Unruhen in Tibet und der Olympischen Spiele. In China war man über diese Art von Aufmerksamkeit gar nicht erfreut und fühlte sich an den Pranger gestellt. Man verwies darauf, dass Journalisten wegen zu pekingfreundlicher Berichterstattung ausgewechselt wurden oder wie Zhang Danhong (siehe Wie frei darf die freie Meinung sein? als „politisch verwirrt“ bezeichnet. Um bei den Unruhen in Tibet die gewünschten Fotos von einer brutalen Soldateska zeigen zu können, griff man auf Aufnahmen aus Nepal zurück (siehe Edle Wilde gegen eine schießwütige Soldateska). Sogar von einer anti-chinesischen Verschwörung war daraufhin in Peking die Rede.

Diesen Vorwurf wies die Kommunikationswissenschaftlerin Carola Richter zurück, bestätigte aber, dass die deutsche Chinaberichterstattung von Klischees geprägt ist, die sie mit den K-Wörtern „Konflikte, Krisen, Katastrophen, Kriege“ zusammenfasste. Das ist auch das Ergebnis der von Richter erarbeiteten Studie „Die China-Berichterstattung in den deutschen Medien“, welche die Heinrich-Böll-Stiftung zusammen mit den mit den Universitäten Erfurt und Duisburg-Essen herausgegeben hat. Für die Studie wurden 8700 Artikel aus führenden Printmedien, darunter der Spiegel, de Focus, die FAZ und der taz aus dem Jahr 2008 ausgewertet.

„Räuber der Globalisierung“

Der Duisburger Politikwissenschaftler Thomas Heberer, der an der Studie mitgearbeitet hat, verwies auf einige besonders klischeehaften Formulierungen in deutschen Medien. Da wurden während der Olympiade Parallelen zum NS-System 1936 gezogen. Auf ökonomischen Gebiet wurde China als „Räuber der Globalisierung“ tituliert.

Hier müsste sich die Frage stellen, ob in solchen Formulierungen nicht die Aversion gegen die Wirtschafsmacht China mitschwingt, die als Konkurrent auch der EU wahrgenommen wird. Das würde auch erklären, warum ab 2004 in deutschen Medien in der Regel eine negative China-Berichterstattung vorherrschte. Der Erfurter Kommunikationswissenschaftler Kai Hafez problematisierte in seinen Beitrag zur Studie die mangelnde Einordnung der chinesischen Politik in die weltpolitische Situation durch deutschen Berichterstatter.

Wie die China-Berichterstattung auch mit innenpolitischen Diskursen korreliert, kann an der Tibet-Berichterstattung gezeigt werden. In den meisten deutschen Medien überwiegt eine völlig distanzlose Berichterstattung zum Dalai-Lama, der als der Mann des Friedens oft fast mystifiziert wird. Leider wurden in der Studie meist kleinere Zeitungen, die diese von Romantik und Mystik gespeiste Dalai-Lama-Begeisterung kritisieren (siehe „Die hiesige Tibet-Schwärmerei ist reine Projektion“) nicht berücksichtigt. Bei der Vorstellung der Studie wurde zudem moniert, dass die Internetmedien aus der Untersuchung ausgeblendet wurden.

http://www.heise.de/tp/blogs/6/147829

Peter Nowak