„Vages Versprechen“

Die Berliner Senatorin für Integration, Dilek Kolat (SPD), hat behauptet, eine Einigung mit den Flüchtlingen erzielt zu haben, die am Oranienplatz und in einer Schule in Kreuzberg um ihr Bleiberecht kämpfen. Martina Mauer ist Sprecherin des Berliner Flüchtlingsrats und widerspricht dieser Darstellung. Das Gespräch wurde am 20. März geführt.

Small Talk von Peter Nowak


Warum sprechen Sie von einer Scheineinigung?

Weil anders als vom Senat dargestellt nur ein Teil der Flüchtlinge dem Papier zustimmt. Das derzeit vorliegende Angebot des Berliner Senats lässt viele Frage offen. Daher ist auch nicht für alle beteiligten Flüchtlingsgruppen erkennbar, ob das Angebot auch für sie eine Lösung ist.

Welche unterschiedlichen Flüchtlingsgruppen sind betroffen?

Fünf Gruppen waren in der Verhandlungsdelegation mit Kolat vertreten. Die Lampedusa-Flüchtlinge, die in Deutschland noch nicht registriert sind, sollen nach dem Angebot Duldungsbescheinigungen erhalten, wobei deren Geltungsdauer noch unklar ist. Doch das ist nur eine Minderheit der Flüchtlinge. Für alle Flüchtlinge, die in Deutschland einen Asylantrag gestellt und eine Wohnsitzauflage für andere Bundesländer haben, ist das Angebot nur ein vages Versprechen. Das gilt auch für die Flüchtlinge mit Duldungsstatus und Wohnsitzauflage in anderen Bundesländern und für Geflüchtete, die wegen der Dublin-Verordnung Abschiebeverfügungen in andere EU-Länder haben.

Ist es nicht problematisch, wenn die Gruppe der Geflüchteten so aufgespalten wird?

Ihre ursprüngliche Forderung war ein generelles Bleiberecht für alle. Das war politisch nicht durchsetzbar. Deshalb ging es darum, zumindest für jede Gruppe eine akzeptable Lösung zu finden. Das leistet das vorliegende Angebot jedoch nicht.

Was soll mit der besetzten Gerhard-Hauptmann-Schule geschehen?

Die Senatsverwaltung fordert jetzt neben der Räumung des Oranienplatzes de facto auch die Räumung der Gerhard-Hauptmann-Schule, obwohl die Delegation es ausdrücklich abgelehnt hat, die Verhandlungen auf die Zukunft der besetzten Schule auszuweiten.

Wie kann es zu einer Lösung kommen?

Die Gespräche zwischen den Flüchtlingen und dem Senat müssen fortgesetzt werden. Die jetzt vom Senat präsentierte Scheineinigung ist in dieser Hinsicht kontraproduktiv, weil sie die Flüchtlinge spaltet und dazu dienen könnte, medial und in der Öffentlichkeit eine polizeiliche Räumung vorzubereiten.

http://jungle-world.com/artikel/2014/13/49577.html

Interview: Peter Nowak

»Gegen die Folgen der Krise«

Am Wochenende fand in Berlin ein Netzwerktreffen von europäischen Basisgewerkschaften statt. Es wurde über Strategien des betrieblichen und so­zialen Widerstands gegen die Austeritätspolitik diskutiert. Zum Abschluss fanden Kundgebungen vor dem Sitz des DGB-Bundesvorstands und der Vertretung der Europäischen Kommission statt. Willi Hajek ist in der basisgewerkschaftlichen Bildungsarbeit tätig.

Wie ist das Netzwerk entstanden?

Es hat sich das erste Mal 2001 getroffen und seitdem jährlich in einer anderen europäischen Hauptstadt. Die Initiative ging von der französischen Basisgewerkschaft SUD und der spanischen CGT aus. Die Kontakte reichen bis ins Jahr 1995, als es in Frankreich Massenstreiks gab.

Was passiert zwischen den jährlichen Treffen?

Es gibt eine regelmäßige Koordination in verschiedenen Branchen. Besonders gut funktioniert das Netzwerk »Bahn ohne Grenzen«, an dem sich neben europäischen auch afrikanische Bahnbeschäftigte beteiligen. Auch das Netzwerk der Callcenter-Beschäftigten funk­tioniert gut, weil dort die Sprachprobleme klein sind.

Ging es bei dem Treffen auch um Beschäftigungen, die mit dem Begriff Care-Arbeit bezeichnet werden?

Ja, es gibt ein Manifest gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens, das in verschiedenen Sprachen, auch auf Deutsch, zu finden ist. Die Initiative ging von belgischen, französischen und polnischen Gewerkschaften aus. Auf dem Treffen berieten mehrere Gewerkschafterinnen der polnischen Krankenschwestern und Hebammen, wie die Kampagne gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens vorangetrieben werden kann. Leider war in der Arbeitsgruppe aus Deutschland niemand vertreten.

Gab es auch Verabredungen zu europaweiten Protesten?

Eine große Rolle spielen die »Märsche der Würde« gegen die Folgen der Krise, die am 22. März in Madrid enden. Auf der Abschlussdemonstration wird es einen Block von internationalen Unterstützern geben.

Warum endete das Netzwerktreffen mit einer Protestkundgebung vor der Zentrale des DGB-Vorstands?

Aus zwei Gründen. In Deutschland will der DGB vor allem mit der IG Metall ein Gesetz zur Tarifeinheit durchsetzen, das die Rechte von Branchen- und Basisgewerkschaften einschränken würde. In Italien, Frankreich und Spanien machen die großen Gewerkschaften Abkommen mit der Regierung. Branchen- und Basisgewerkschaften werden ignoriert, ihre Rechte teilweise massiv eingeschränkt.

http://jungle-world.com/artikel/2014/12/49537.html

Interview: Peter Nowak

»Uns wurde mit Erschießen gedroht«

Die Kritik an deutschen Geschichtsmythen provoziert in Deutschland oftmals noch immer einen rechten Shitstorm. Wie derzeit Anne Helm, Politikerin der Piratenpartei, wegen ihrer Bomber-Harris-Aktion standen vor einigen Wochen die beiden bayerischen Landtagsabgeordneten der Grünen, Sepp Duerr und Katharina Schulze, im Mittelpunkt rechter Angriffe. Sie hatten ein braunes Tuch mit der Aufschrift »Den Richtigen ein Denkmal, nicht den Altnazis! Gegen Spaenles Geschichtsklitterung« (Ludwig Spaenle ist der bayerische Kultusminister, Anm. d. Red.) über das sogenannte Denkmal für die Trümmerfrauen in München gelegt. Die Jungle World sprach mit Katharina Schulze über bayerische Geschichtspolitik und die Folgen ihrer Kritik daran.

Wieso haben Sie und Ihr Landtagskollege Sepp Dürr das Denkmal für die Trümmerfrauen verdeckt?

In München wurden – anders als in anderen großen deutschen Städten – zum weitaus überwiegenden Teil Altnazis von den US-Amerikanern zu den Aufräumarbeiten zwangsverpflichtet. Nach Informationen des Münchner Stadtarchivs waren an der Trümmerbeseitigung in der Stadt insgesamt 1 500 Personen beteiligt, davon 1 300 Männer. Sie waren zu 90 Prozent ehemalige aktive Mitglieder in NS-Organisationen. Dieser historisch unbestrittenen und von Seiten der Staatsregierung bestätigten Tatsache wurde im Zusammenhang mit der Aufstellung des Gedenksteins in keiner Weise Rechnung getragen. Das von dem Gedenkstein ausgehende Signal ist unseres Erachtens ein pauschales Dankeschön an alle Beteiligten an den Aufräumaktionen, die bei genauerem Hinsehen größtenteils mitverantwortlich waren für die Gräueltaten des »Dritten Reichs«. Damit werden die Fakten verdreht und historische Tatsachen relativiert.

Gab es denn vor der Errichtung des Denkmals eine Diskussion darüber, dass die Trümmerfrauen in München vor allem Nazimänner waren?

Die Debatte wird in München bereits seit mehr als zehn Jahren geführt. Auch im Münchner Stadtrat wurde das Thema schon mehrfach diskutiert. Vier Mal hat der Stadtrat sich gegen eine Aufstellung eines Denkmals für Trümmerfrauen auf städtischem Grund ausgesprochen. Und auch die letzte CSU-Initiative wurde 2008 abgelehnt, der Stadtrat schloss sich erneut der Feststellung der Historiker an, dass das Phänomen Trümmerfrauen in München eine untergeordnete Rolle gespielt hat und eine pauschale Ehrung deswegen höchst problematisch ist.

Wieso wurde das Denkmal dennoch errichtet?

Nachdem der Münchner Stadtrat die Aufstellung auf städtischem Grund mehrmals abgelehnt hatte, wandte sich der Verein »Dank und Gedenken der Aufbaugeneration, insbesondere der Trümmerfrauen e. V.« an die bayerische Landesregierung. Der Freistaat stellte auf der Grundlage eines Gestattungsvertrags ein Grundstück am Münchner Marstallplatz für die Errichtung des Gedenksteins zur Verfügung. Der Stein wurde im Mai 2013 aufgestellt und im September 2013 unter anderem im Beisein von Kultusminister Ludwig Spaenle eingeweiht.

Wie erklären Sie sich, dass das bayerische Kultusministerium nach diesen langen Diskussionen die Errichtung des »Denkmals« auf staatlichem Boden ermöglicht hat?

Daran wird wieder einmal deutlich, dass die CSU keine progressive Kraft ist. Der zuständige Minister Ludwig Spaenle ist selbst Historiker und müsste um die fatale Wirkung einer falschen Erinnerungskultur eigentlich wissen. Er hat auf die Anfrage meines Kollegen Sepp Dürr im bayerischen Landtag bestätigt, dass die Situation in München nach dem Krieg unbestritten eine andere war als in anderen deutschen Städten. Ebenso betonte er in seiner Antwort, dass die Ergebnisse der lokalen Forschung in München – nämlich, dass überwiegend Akteure, die dem NS-Regime zu Dienste gewesen waren, bei der Aktion zur Trümmerbeseitigung eine Rolle gespielt haben – bei der Gesamtwürdigung des Denkmals unstrittig einen sehr wichtigen Gesichtspunkt darstellen. Trotzdem hat er der Aufstellung des Denkmals in München zugestimmt und diese Entscheidung immer wieder gegen Kritik verteidigt.

Waren Sie von den wütenden Reaktionen auf Ihre Aktion überrascht?

Die Heftigkeit der Angriffe hat mich schon überrascht. Wir hatten unsere Aktion lediglich in einen lokalen Rahmen in München geplant, denn, wie ich schon angeführt habe, gibt es diese Diskussion dort schon länger. Als dann unsere Aktion bekannt wurde, ging in den rechten Medien und Internetforen ein regelrechter Shitstorm gegen uns los. In kurzer Zeit gingen auf den Facebookseiten unzählige Kommentare ein, darunter waren offene Holocaust-Leugner und NS-Nostalgiker, die ihre Hetze und Drohungen teilweise mit Klarnamen posteten. Uns wurde mit Vergasen und Erschießen gedroht. Ich habe die Kommentare mittlerweile gelöscht, denn ich möchte den Rechten keine Plattform auf meiner Seite bieten. Davor haben wir natürlich alles gesichert und alles strafrechtlich Relevante zur Anzeige gebracht. Die Diskussion in den Medien blieb meistens weiter sachlich. Es wurden Zeitzeugen und Historiker befragt, die ebenfalls die Forschungen des Münchner Stadtarchivs bestätigten, dass die Situation in München anders war als in anderen Städten. Bei den extremen Rechten ging die Hetze jedoch weiter. Es hat mich erschüttert, dass es auch zu Aktionen gegen Einrichtungen der Grünen kam. So wurde über dem Parteibüro in Berlin-Hellersdorf ein Transparent mit der Aufschrift »Grüne Denkmalschänder« angebracht.

1997 gab es in München eine rechte Mobilisierung gegen die dort gezeigte Wehrmachtsausstellung. Daran waren CSU-Politiker ebenso beteiligt wie offene Neonazis. Ist München für solche rechten Proteste besonders geeignet?

Die öffentliche Diskussion nach unserer Aktion hat gezeigt, dass sich insbesondere rechte Kreise durch die – von ihnen selbst befeuerte – Kritik an der Denkmalsverhüllung bestätigt sehen und eine Verbindung zu einem extrem rechten Geschichts- und Gegenwartsverständnis herstellen. Gerade München als ehemalige Hauptstadt der NS-Bewegung hat eine besondere Verpflichtung, sich der eigenen geschichtlichen Verantwortung zu stellen. Im Moment befindet sich gerade das NS-Dokumentationszentrum in Bau, wofür wir Grüne mit zahlreichen Initiativen jahrelang ge­arbeitet haben. Außerdem gibt es viele Bündnisse und Initiativen, die immer zur Stelle sind, wenn in München Rechte auf die Straße gehen.

In der auf Ihrer Homepage veröffentlichten Erklärung zur Verhüllungsaktion heißt es: »Die Aufräumarbeiten in München sind nicht vergleichbar mit dem bewundernswerten Einsatz der Trümmerfrauen in anderen deutschen Städten.« Müsste nicht auch in den Städten, in denen tatsächlich Frauen den Schutt wegräumten, die Frage gestellt werden: Was haben diese im NS gemacht?

Es gibt keine Kollektivschuld, aber es darf eben genauso weder kollektiven Freispruch noch generationenübergreifende Ehrung geben. So wenig die »Achtundsechziger« pauschal ihre Väter beschuldigen durften, dürfen die Enkel heute ihre Großmütter generell freisprechen. Wer an das Nachkriegsleid und die Aufbauleistungen erinnert, ohne einen Zusammenhang zur Vorgeschichte herzustellen und zum unsäglichen Leid, das Nazi-Deutschland über Millionen anderer ­gebracht hat, verzerrt die Verhältnisse. Pauschale Ehrungen sind deswegen problematisch und die historischen Fakten müssen immer vorher genau geprüft werden. Ich halte es deswegen für geeigneter und angemessener, in anderer Form, etwa durch Ehrungen von Einzelpersönlichkeiten, der Leistungen einzelner Menschen zu gedenken.

Also müsste Ihre Aktion doch eher ein Anlass sein, den deutschen Trümmerfrauen-Mythos nicht nur in München, sondern generell in Frage zu stellen?

Wir haben uns auf die konkreten Umstände in München bezogen. Wenn sich in anderen Städten Initiativen bilden, die auf erinnerungspolitischem Feld arbeiten und sich mit dem Thema Trümmerfrauen auseinandersetzen wollen, freue ich mich über den Austausch.

http://jungle-world.com/artikel/2014/10/49463.html

Interview: Peter Nowak

„Über Ausbeutung geredet“

Seit dem 1. Februar streiken in Dresden-Neustadt drei Kellner der Szenekneipe »Trotzdem«. Wolf Meyer ist einer von ihnen und hat mit der Jungle World gesprochen.

Was ist der Grund eures Streiks?

Die Kneipeninhaberin hat drei gewerkschaftlich in der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union organisierten Kellnern zum 28. Februar gekündigt. Die FAU hat die Chefin zur Rücknahme der Kündigung und zum Abschluss eines Haustarifvertrags aufgerufen. Nachdem keine Reaktion kam, haben wir den Streik begonnen.

Weshalb wurde euch gekündigt?

Die Chefin erklärte, es habe Diebstähle im Warenlager gegeben, die an die Substanz gingen. Da mehr Leute als die drei Gekündigten als mögliche Täter in Frage kommen, sehen wir den Vorwurf als Verleumdung. Mittlerweile hat sie klargestellt, dass zu dem Lager sogar ihre Verwandten Zugang haben.

Steht die Kündigung im Zusammenhang mit eurer gewerkschaftlichen Tätigkeit?

Es ist auffallend, dass nur die drei gewerkschaftlich Organisierten gekündigt wurden, obwohl keinem ein Diebstahl nachgewiesen wurde. Wir haben uns vor einem Jahr in der FAU organisiert und im Mai 2013 eine Gehaltserhöhung von 20 Prozent durchgesetzt. Bei der nächsten Lohnverhandlung für den von uns zunächst angepeilten Mindestlohn von 8,50 Euro sind wir der Inhaberin entgegengekommen und haben vorgeschlagen, die Preise auf die Getränke leicht zu erhöhen und darüber zu informieren, dass damit höhere Löhne für die Beschäftigten bezahlt werden sollen. Die Preiserhöhung hat stattgefunden, die Information über die Lohnerhöhung auf 8,50 Euro nicht mehr.

Wie läuft der Streik ab?

Jeden Tag ab 20 Uhr organisieren wir Streikposten vor der Kneipe. Neben den FAU-Mitgliedern beteiligen sich auch viele Unterstützer.

Welche Erfahrungen habt ihr gemacht?

Die ersten zwei Streiktage hatte die Chefin die Kneipe geschlossen. Danach wurde sie mit Hilfe von Streikbrechern wieder geöffnet. Positiv sehen wir, dass im Dresdner Szenebezirk Neustadt wieder über die Ausbeutung am Arbeitsplatz geredet wird. Schließlich sind die Löhne in vielen Kneipen sehr niedrig. Die Rechte von Arbeitnehmer­innen und Arbeitnehmern werden unterlaufen. Das hat unsere Branchensektion Nahrung und Gastronomie mit einem Lohnspiegel, der auf unserer Homepage (www.libertaeres-netzwerk.org/allgemeines-syndikat/bng) zu finden ist, deutlich gemacht.

http://jungle-world.com/artikel/2014/07/49333.html

Small Talk von Peter Nowak

»Nicht der richtige Weg«

Die Arbeitsagentur Ulm hat Ende Januar Marcel Kallwass, einem 22jährigen Studenten der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA), fristlos gekündigt. Dem Rauswurf waren Auseinandersetzungen vorausgegangen. Kallwass hat mit der Jungle World gesprochen.

Was war der Anlass für Ihren Rauswurf?

Ich habe den hochschulinternen Mailverteiler genutzt, um mein zweites Flugblatt zu verschicken und eine Debatte unter den Studierenden anzustoßen. Inhaltlich argumentiere ich im Flugblatt, dass es eine Illusion ist, zu glauben, dass der Job beim Arbeitsamt und Jobcenter sozial ist. Der genaue Inhalt kann auf meinem Blog http://kritischerkommilitone.wordpress.com nachgelesen werden.

Wie wurde Ihre Kündigung begründet?

Wie bei den zwei Abmahnungen Ende vergangenen Jahres wurden mir Beleidigung des Arbeitgebers, Verletzung der Loyalitätspflicht und Verstoß gegen interne Vorschriften vorgeworfen. Die Agentur betrachtet die Nutzung des hochschulinternen Verteilers als rechtswidrig, da eine private Nutzung nicht erlaubt sei.

Warum haben Sie ein Studium an der HdBA begonnen?

Ich wollte Berufsberater werden, weil ich damit die Vorstellung verbunden habe, junge Menschen zu unterstützen. An der HdBA hat mir vor allem die Verbindung zwischen der akademischen Ausbildung und der Praxis gefallen.

Wann haben Sie begonnen, Kritik zu äußern?

Ich habe im Rahmen des Studiums im Jobcenter Ulm hospitiert. Dort habe ich zweimal mitbekommen, wie Erwerbslose sanktioniert wurden. Mir war sofort klar, dass es nicht der richtige Weg ist. Ich habe in der Hochschule Diskussionen über die Sanktionen angeregt. Dabei musste ich feststellen, dass viele Kommilitonen die Sanktionen befürworten.

Haben Sie deshalb die Auseinandersetzung auch außerhalb der Hochschule geführt?

Nachdem ich viele Diskussionen in der Hochschule geführt hatte und dabei an eine Grenze gestoßen war, begann ich, meine Kritik auf meinem Blog zu veröffentlichen. Damit wollte ich auch meine Solidarität mit der Hamburger Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann ausdrücken, die wegen ihrer Kritik am Hartz-IV-System vom Dienst suspendiert wurde.

Wie reagieren Sie auf die Kündigung?

Proteste gegen den Rausschmiss sind in Mannheim und Ulm geplant. Am 20. Februar wird es in Mannheim eine Diskussionsveranstaltung zum Widerstand gegen Hartz IV geben.

http://jungle-world.com/artikel/2014/06/49292.html

Small Talk von Peter Nowak

Apologie von links?

Der Finanzanalyst Guenther Sandleben wirft linken Krisentheoretikern vor, nur die Banken zu kritisieren

Guenther Sandleben ist Finanzanalyst und verfasst Bücher zu ökonomischen Themen. Kürzlich hat er im Neuen-ISP-Verlag gemeinsam mit Jakob Schäfer das Buch »Apologie von links« herausgegeben, das sich kritisch mit unterschiedlichen linken Krisentheorien auseinandersetzt. Mit Sandleben sprach Peter Nowak.

nd: In Deutschland boomt die Wirtschaft. Warum reden Sie in Ihrem Buch trotzdem von Krise?
Sandleben: Zunächst würde ich die Erzählung vom deutschen Wirtschaftsboom stark relativieren. Die Industrieproduktion hat noch nicht einmal das Vorkrisenniveau von Anfang 2008 wieder erreicht. Zudem muss man über den deutschen Tellerrand blicken. In vielen Teilen der Welt und nicht zuletzt in der europäischen Peripherie ist kein Ende der Wirtschaftskrise abzusehen. Vieles spricht dafür, dass wir hier in Deutschlands Zukunft blicken.

Worauf stützen Sie diese Prognose?
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Weltmarktkrise auch auf Deutschland durchschlägt. Schließlich ist 2009 die deutsche Wirtschaft um fast fünf Prozent geschrumpft. Der gegenwärtige kleine Aufschwung, der zum Boom hochgelobt wird, basiert auf einer riskanten Geld-, Zins- und Verschuldungspolitik. Sie erleichtert die deutschen Exporte, unterminiert aber das Vertrauen ins Geld und kann nicht endlos verlängert werden.

Sie werfen prominenten linken Ökonomen wie Rudolf Hickel, Lucas Zeise oder Michael Heinrich vor, mit ihren Krisenerklärungen eine »Apologie von links« zu betreiben. Was meinen Sie damit?
Diese Ökonomen sehen die Ursache für die Krise im Banken- und Finanzsektor und nehmen die eigentliche Warenproduktion weitgehend aus. Damit aber vergeben sie eine gute Möglichkeit, die Krise zum Anlass zu nehmen, das kapitalistische Wirtschaftssystem insgesamt zu hinterfragen. Stattdessen wird die Lösung in der Regulierung der Banken und des Finanzsektors gesehen. Damit beschönigen sie die Verhältnisse.

Was ist das größte Problem bei dieser Krisenanalyse?
Dass diese Theorie nicht sachgemäß ist. Die Kredit- und Bankenkrise ist eine Folge der kapitalistischen Überproduktionskrise und nicht deren Ursache. So war die berühmte Pleite der US-Bank Lehman Brothers die Folge der Krise im Immobilien- und Industriesektor. Weil Kredite nicht mehr bedient werden konnten, brach die Bank zusammen.

Was ist das Wesen der Überproduktionskrise?
Es wird mehr produziert als nachgefragt wird. Und zwar einerseits, weil die Investitionsgüternachfrage wegen Kapitalverwertungsschwierigkeiten plötzlich wegbricht, und andererseits, weil den Menschen Einkommen fehlt, um das Nötige zu kaufen. Ein gutes Beispiel ist die Überproduktion in der europäischen Auto- und Stahlindustrie, die mehr als 20 Prozent beträgt.

Welche Konsequenzen haben die unterschiedlichen Theorien für eine linke Antwort auf die Krise?
Wenn man die Ursache der Krise im Banken- und Finanzsektor sieht, kommt man zu Vorschlägen der Bankenregulierung, wie sie von Attac und vielen anderen Organisationen vorgetragen werden. Damit bleibt aber die kapitalistische Ökonomie, die doch gerade die katastrophale Krise verursacht hat, ausgeblendet. Teilweise werden sogar betriebliche Bündnisse gegen die Banken vorgeschlagen. Wenn man richtigerweise von der Überproduktionskrise ausgeht, dann gerät die kapitalistische Produktionsweise selbst in den Mittelpunkt der Kritik. Sie ist dafür verantwortlich, dass die Produktion von Waren eingestellt wird, weil sie sich nicht verwerten lassen, obwohl sie von den Menschen gebraucht werden. Dabei könnte die Überproduktion eine Bereicherung der Menschen bedeuten und das allgemeine Lebensniveau anheben. Hier sehe ich Perspektiven für eine überzeugende Kritik am Kapitalismus und der Formulierung von Alternativen, die bei einer Konzentration auf Banken und Finanzmärkte vergeben wird.

Aber der finanzgetriebene Kapitalismus ist doch real.
Der Realitätsgehalt liegt darin, dass in den letzten Jahrzehnten die Finanzmärkte stark angewachsen sind. Dieser Ausgangspunkt der von mir kritisierten Ökonomen ist korrekt. Doch falsch wird es, wenn diese davon ausgehen, dass der Antrieb der Profitvermehrung von dort kommt. Der liegt im Kapitalismus selber. Der Finanzsektor und die Warenproduktion bedingen einander. Es ist falsch, die Verantwortung für die Krise einseitig bei den Banken zu sehen. Das kapitalistische System als Ganzes enthält die zerstörerischen Krisenprozesse, mit all dem Elend, das daraus entsteht.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/920676.apologie-von-links.html

Interview: Peter Nowak

»Wir spüren Gegenwind«

Im Sommer nahm der Landesbezirk Hamburg der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi 300 Flüchtlinge als Mitglieder auf. Ein Gutachten der Verdi-Bundesverwaltung kam kürzlich jedoch zu dem Ergebnis, dass eine Mitgliedschaft von Flüchtlingen ohne Aufenthaltspapiere gegen die Satzung verstoße. Markus Kip vom »Arbeitskreis undokumentiertes Arbeiten« bei Verdi gehört zu den Initiatoren eines Aufrufs für eine Mitgliedschaft unabhängig vom Aufenthaltsstatus.

Wie hat Ihr Arbeitskreis im Sommer auf die Aufnahme der Flüchtlinge reagiert?

Wir sahen die Aufnahme als einen mutigen Schritt, die Gewerkschaft an ein Thema heranzuführen, dem bislang innerhalb der Organisation zu wenig Beachtung geschenkt wurde.

Welche Reaktionen gab es nun auf den Aufruf, den Ihr Arbeitskreis veröffentlicht hat?

Wir haben eine unerwartet große Resonanz erfahren. Viele Unterstützer drückten in ihren E-Mails ihre Empörung darüber aus, dass es offensichtlich keine Selbstverständlichkeit ist, dass sich Gewerkschaften auf die Seite der Entrechteten und prekär Beschäftigten stellen. Andere drückten Besorgnis aus, dass der in den vergangenen Jahren von Verdi praktizierten Solidarität mit undokumentierten Migranten die Grundlage entzogen werden könnte.

Gab es keine Kritik?

Inzwischen spüren wir auch Gegenwind. Einige können nicht verstehen, dass es reale Zugangsschwierigkeiten für Migranten mit prekärem Aufenthaltsstatus zu gewerkschaftlicher Organisation und Unterstützung gibt. Andere finden unser Vorgehen zu polarisierend

Was sagen Sie zu dem Argument, dass die Satzung der Gewerkschaft die Mitgliedschaft von Geflüchteten nicht vorsieht?

Ob diese Auslegung der Satzung in der Frage der Mitgliedschaft von Flüchtlingen beziehungsweise von Personen ohne Arbeitserlaubnis die richtige oder einzig mögliche ist, muss noch geprüft werden. In jedem Fall zeichnet sie sich durch falsche Annahmen aus.

Fordern Sie eine Satzungsänderung?

Das wird zu überlegen sein. Nun ist uns eine Diskussion zum gewerkschaftlichen Selbstverständnis wichtig angesichts der Tatsache, dass viele Lohnabhängige aus den unterschiedlichsten Gründen und auf den unterschiedlichsten Wegen in dieses Land gekommen sind. Entscheidend für uns als Initiatoren des Aufrufs ist, dass Lohnabhängige sich bei Verdi gewerkschaftlich organisieren können, um ihren Arbeitsrechten unabhängig vom Aufenthaltsstatus Geltung zu verschaffen.

http://jungle-world.com/artikel/2014/01/49075.html

Interview: Peter Nowak

»Mich hätten sie damals auch mitgenommen«

Mit einem Videoprojekt erinnern junge GewerkschafterInnen aus Berlin, Brandenburg und Sachsen an die Nazizeit

»Widerstand leisten – zu jeder Zeit und überall!« lautet das Motto einer antifaschistischen Videoreihe der IG Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen. Der Bezirksjugendsekretär der Gewerkschaft Christian Schletze-Wischmann hat das Projekt zusammen mit jungen GewerkschafterInnen initiiert. Mit ihm sprach für »nd« Peter Nowak.

nd: Wie ist die Idee zu dem Videoprojekt »Widerstand leisten – zu jeder Zeit und überall!« entstanden?

Schletze-Wischmann: Die IG Metall Jugend Berlin Brandenburg Sachsen hat ihre Tradition im Kampf gegen Nazis. Ob bei Gegendemonstration kleinerer wie größerer Naziaktivitäten, Unterstützung von Bündnissen gegen Nazis und vor allem im Rahmen unserer politischen Bildung stehen wir für eine demokratische Gewerkschaftsbewegung.

Im Kreise unserer aktiven Metaller entstand die Idee,  sich im Rahmen des 80. Jahrestags der Zerschlagung der Gewerkschaften mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Zudem sollte etwas Besonderes dazu entstehen. Es sollte eine Botschaft vor allem für die sozialen Netzwerke sein. Wir wollen einfach unseren Kollegen danken, dass sie trotz Verfolgung und Inhaftierung weiterhin Widerstand geleistet haben. Wir wollen ganz klar zum nachdenken und zum kämpfen animieren.

War es schwer, eine Genehmigung für das Drehen der Videos im ehemaligen KZ zu bekommen?
Dank der Gedenkstätte Sachsenhausen in Oranienburg konnten wir direkt vor Ort drehen und so dem Projekt eine besondere Stimmung geben.  Als Recherchegrundlage konnten wir das von   war das von Siegfried Mielke und Stefan Heinz  im Metropol.-Verlag herausgegebene Buch: „Funktionäre des Deutschen Metallarbeiterverbandes im NS-Staat. Widerstand und Verfolgung“.
Warum war der Bezug auf die historischen Widerstandskämpfer für den Kampf gegen Neonazis wichtig?
Es geht um die einfache und leicht verständliche Botschaft, dass wir aktive Gewerkschafter heutzutage, würden die Nazis an die Macht kommen, die Ersten wären, die ihrer Freiheit beraubt würden. Genau wie unsere Kollegen vor 80 Jahren. Wir spitzen es in den Videobeiträgen mit der Aussage zu: „Vor 80 Jahren hätten mich die Nazis auch mitgenommen“. Das Unterschätzen der Nazis und die von Teilen der Gewerkschaften vollzogene Anpassungsstrategie kurz vor der Zerschlagung 1933 haben dazu beigetragen, dass es im Endeffekt so leicht für die Nazis gewesen ist. Wir lernen daraus, dass konsequenter Widerstand der bessere Weg ist.
Gab es mehr Interessenten für die Sprecherrollen und nach welchen Kriterien wurden sie ausgewählt?
Wir haben uns in einem Seminar ausführlich mit den Hintergründen der Machtergreifung durch die Nazis beschäftigt und mit den Teilnehmer die Videoidee entwickelt, dass jeder einen Paten des DMV (Deutscher Metallarbeiterverband) vorstellt. Da wir mit unserem IG Metall Bezirk drei Bundesländer abdecken, haben wir geschaut, dass wir aus allen drei Bundesländern auch Kollegen vorstellen. Das haben wir dann auch mit den aktiven Metallern verbinden können, so dass nicht nur ein politischer, sondern auch ein lokaler Bezug entstand. Im Endeffekt sind wir Anfang März mit 15 Kollegen nach Oranienburg und haben 11 Folgen plus ein Hintergründe-making- of an zwei Tagen drehen können.
Welche Reaktionen gab es bisher auf die Videos?
Nur Positive. Wir freuen uns natürlich, dass wir im gesamten Themenjahr zur Zerschlagung einen eigenen besonderen Beitrag leisten konnten.

Sind Sie nur für junge Leute gedacht?
Nein. Der Widerstand gegen Nazis hat keine Altersgrenze!

Wo werden die Videos eingesetzt?
Innerhalb der IG Metall und anderer Gewerkschaften beispielswiese auf den Veranstaltungen zum 1. Mai, auf unserem youtube-Kanal www.youtube/igmbbs und auf unserer Facebook-Seite https://www.facebook.com/IgMetallJugendBerlinBrandenburgSachsen. Nach Rücksprache mit uns, können die Clips auch für Veranstaltungen verwendet werden. Wir würden uns z.B. über interessierte Schulen freuen.

Sind Nachfolgeprojekte geplant?
Die Herausforderung, dass Geschichte einen Bezug zum heutigen Leben junger Menschen hat und daraus gemeinsam eine politische Botschaft zu entwickeln, nehmen wir auch in Zukunft an.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/919135.mich-haetten-sie-damals-auch-mitgenommen.html
Interview: Peter Nowak

Rauswurf aus dem Euro riskieren

Griechisches Linksbündnis Antarsya fordert grundlegend andere Krisenpolitik

Manos Skoufoglou ist Mitglied im Nationalen Komitee des linken griechischen Bündnisses Antarsya. Die »Antikapitalistische linke 
Zusammenarbeit für den Umsturz« wurde 2009 aus zehn Einzelorganisationen gegründet. Bei der letzten Wahl des griechischen Parlaments im Juni 2012 erhielt Antarsya 0,33 Prozent der Stimmen. 
Mit Skoufoglou sprach für »nd« 
Peter Nowak.

nd: Die griechische Regierung steht dieser Tage wieder unter besonderer Beobachtung der internationalen Kreditgeber. Der Protest gegen weitere Kürzungen und Sparmaßnahmen hat deutlich abgenommen. Hat sich die außerparlamentarische Bewegung kleinkriegen lassen?
Tatsächlich gab es nach den außerparlamentarischen Massenbewegungen von 2011 eine Ernüchterung und die Bewegung ging zurück. Doch in den letzten Wochen hat eine neue Welle begonnen. Teilweise sind Menschen wieder dabei, die schon 2011 auf der Straße waren. Aber auch neue Kräfte sind dazu gekommen. Viele der Menschen haben versucht, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. Aber sie haben erfahren müssen, dass ihnen immer neue Zumutungen abverlangt werden und sagen sich, dass es ihnen reicht.
nd: Welche Rolle spielen die Gewerkschaften heute in der Protestbewegung?
M.S.: Sie haben allein in diesem Herbst zwei Generalstreiks organisiert. Dass Problem ist aber, dass es nicht gelingt, längere Streiks zu organisieren, der  konkrete  Maßnahmen der Troika und der Regierung verhindern könnte. Ein Grund dafür ist, dass verschiedene  Gewerkschaften getrennt agieren und nicht zusammen arbeiten.
nd: Antarsya ist nicht im griechischen Parlament vertreten. Welche Rolle messen Sie sich selbst in der Opposition zur Krisenpolitik bei?
Bei Wahlen ist unser Einfluss begrenzt. Wir haben  keinen Abgeordneten im griechischen  Parlament, nur in einigen Bezirken und Städten haben wir einige wenige Sitze errungen. Doch unser Einfluss in der außerparlamentarischen Bewegung ist größer.  Schließlich arbeiten in dem in unserem Bündnis organisierten Gruppen  ca. 3000 Menschen kontinuierlich zusammen. Viele von ihnen sind in den sozialen Bewegungen  aktiv.
nd: Was ist das Ziel dieser Arbeit, wenn doch eine Regierungsbeteiligung zur Zeit ausgeschlossen ist?
Bei Antarsya  handelt sich nicht um  kein temporäres Bündnis, das nur  für eine Aktion oder Kampagne ausgerichtet ist. Wir sind aber auch keine Partei. Wir legen großen Wert auf dezentrale Strukturen.  Die Mitglieder von  Antarsya kommen  aus unterschiedlichen linken Traditionen und Hintergründen. Unser Ziel ist eine pluralistische, nichtreformistische Linke.
nd: Wie ist Ihr Verhältnis zu dem linken Bündnis Syriza?
Da wir bei den Wahlen eigenständig kandieren, sind wir hier Konkurrenten. Grundsätzlich würden  wir es natürlich begrüßen, wenn eine progressive Kraft die Regierung übernimmt und einem grundsätzlichen Bruch mit der bisherigen Politik einleitet. Das Problem ist nur, dass Syriza  ihre Versprechen nicht einhalten können wird, weil die Partei nicht zu einem grundsätzlichen Bruch mit dem Kapitalismus bereit ist.
nd.: Können Sie dafür Beispiele nennen?
Vor einigen Monaten unterstützte Syriza noch die antifaschistischen Proteste auf der Straße. Als nach dem Mord an dem linken Rapper Pavlos Fyssas zehntausende zur Zentrale der Neonazipartei Goldene Morgendämmerung zogen, haben sich sämtliche Parteien auch Syriza ferngehalten. Sie haben die Demonstration sogar im Vorfeld denunziert. Stattdessen schlug Syriza ein Treffen aller verfassungsmäßigen Parteien, einschließlich der Regierungsparteien gegen den Faschismus vor. Kürzlich stimmte Syriza einem Gesetz der Regierung zu, dass die Finanzierung von Parteien verbietet, denen Terrorismus vorgeworfen wird, obwohl hier eine Handhabe geschaffen wird, auch gegen linke Gruppierungen vorzugehen.
nd: Haben Sie auch Kritik daran, dass Syriza Griechenland in der Eurozone halten  will?
Ja, vor allem,  weil sich auch in dieser Frage die Rhetorik von Syriza gewandelt hat. Vor den letzten Wahlen wurde noch betont, dass die bisherigen  Troika-Verträge neu verhandelt werden müssen. Nun erklären führende Syriza-Politiker, sie werden alles tun, damit Griechenland den Euro behalten kann. Damit wird aber auch hier eine grundsätzliche Änderung der Politik ausgeschlossen.
nd: Fordert Antarsya einen Austritt aus der Eurozone?
M.S.:  In dieser Frage gibt es bei uns unterschiedliche Positionen. Es gibt eine Strömung bei uns,  die einen Austritt aus dem Euro fordert. Doch einig sind wir uns darin, dass wir eine Wirtschafts- und Sozialpolitik machen sollen, die mit einem Verblieb in der Eurozone nicht vereinbar ist. Wir würden es also darauf ankommen lassen, dass wir von den EU-Gremien aus der Eurozone geworfen werden. Im Rahmen eines solchen Konfliktes rechnen wir auch mit einer Solidarisierung von sozialen Bewegungen in anderen europäischen Ländern.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/917792.rauswurf-aus-dem-euro-riskieren.html
Interview: Peter Nowak

„Anlass für Verfolgung“

Antiziganistisches Ressentiment und das Stereotyp der Kindesentführung. Interview mit Markus End

KONKRET: Ende Oktober führte die (falsche) Behauptung griechische Roma hätten ein blondes Mädchen entführt, in verschiedenen europäischen Ländern zu Polizeimaßnahmen. Auch in Irland wurde einer Familie von Roma ein blondes Mädchen weggenommen. Erst nach mehreren Tagen wurde das Kind wieder zu seinen Eltern gelassen. Erleben wir gegenwärtig die Renaissance eines klassisch gewordenen rassistischen Motivs?

Markus End: Das antiziganistische Motiv des Kindesraubs ist jahrhundertealt. Es geht ursprünglich auf eine Novelle des spanischen Schriftstellers Miguel de Cervantes zurück. Spätere literarische Werke, aber auch »wissenschaftliche« Publikationen, die »Zigeunern« Kindesentführungen zuschreiben, lassen sich auf diese Quelle zurückführen.

Zum Volksmythos wurde die Mär vom »zigeunerischen« Kindesraub wohl erst im 18. und 19. Jahrhundert. Seither diente sie immer wieder zum Anlaß für Verfolgungen. Als beispielsweise 1872 die Tochter eines Domänenpächters in Stettin verschwunden war, wurden polizeiliche Kontrollen von Sinti und Roma in ganz Preußen durchgeführt.

Warum tauchen diese Mythen im 21. Jahrhundert erneut auf ?

Es muß eher festgehalten werden, daß das Stereotyp vom Kindesraub nie verschwunden, sondern latent immer vorhanden war. So behauptete 2008 eine italienische Nicht-Romni in Neapel, eine Romni habe versucht, ihr Kind zu stehlen. Dies nahm die Nachbarschaft zum Anlaß, ein anliegendes campo nomadi mit Molotowcocktails und Eisenstangen anzugreifen.

Seit mehreren Monaten hält sich in verschiedenen deutschen Städten und auf Facebook die Legende, Roma würden bei H & M oder Primark kleine Kinder in die Umkleidekabinen ziehen, sie dort umkleiden, ihnen die Haare färben und sie dann entführen.

Zeigen die Nachrichten der letzten Wochen also eine europäische Normalität?

Was die Virulenz des Stereotyps vom Kindesraub betrifft, würde ich die Frage bejahen. Aber daß Medien und Öffentlichkeit weltweit unkritisch auf diesen Vorwurf Bezug nehmen, immer explizit mit Bezug auf das »Roma-sein« der Tatverdächtigen, das ist schon ein Novum.

Auf einer Pressekonferenz in Berlin beklagte der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, das Schweigen der Politiker in dieser Angelegenheit. Gibt es keine Unterstützung für die diskriminierte Minderheit von offizieller Seite?

Rose hat recht. Mir ist in diesem konkreten Fall keine Äußerung von Personen des öffentlichen Lebens bekannt, die die mediale Behandlung dieses Vorgangs, während sie geschah, kritisiert hätten. Gleichzeitig wäre eine solche Behandlung heute gegenüber keiner anderen Minderheit in Europa denkbar.

Die Haar- und Augenfarbe spieltem in der Berichterstattung eine große Rolle. Wie erklärt sich dieser Rückfall in den Old-School-Rassismus, wo doch seit Jahren selbst in rechten Kreisen der kulturelle Rassismus dominiert?

Es könnte sein, daß es sich hier um die Folge eines antirassistischen Impetus handelt. Daß aus der »Rasse« auf das Verhalten geschlossen wird, ist – mit Recht – in die Kritik geraten und verpönt. Dies hat dazu geführt, daß Darstellungen, die Andersheit rein »phänotypisch«, aber ohne Rückschluß auf Verhalten inszenieren, heute harmloser erscheinen. Wenn in staatlichen Publikationen Roma dargestellt werden sollen, werden sie gegenwärtig verstärkt wieder mit ethnischen Zuschreibungen identifiziert. In eine solche Publikation hätte ein Foto der vermeintlich entführten Maria auch keinen Eingang gefunden.

So ist also ein fehlgeleiteter Antirassismus dafür verantwortlich, daß Eltern ihre Kinder weggenommen werden?

In dieser Form würde ich den Satz nicht unterschreiben. Ich will das mal an dem Beispiel aus Irland verdeutlichen. Dort riefen Nachbarn und Nachbarinnen die Polizei, weil sie sich nicht vorstellen konnten, daß eine Roma-Familie ein blondes Kind haben kann. Auch für die Polizei paßte das nicht. Hier stand die vermeintliche ethnische Differenz im Vordergrund, das Stereotyp lieferte lediglich eine unterstützende Erklärung. Wäre das Kind nicht blond gewesen, hätte die Polizei ja nicht auf Basis des Stereotyps einfach DNA-Tests aller Kinder der Familie durchgeführt. Darin liegt die Differenz zwischen der konkreten Praxis und der medialen Debatte. In dieser Debatte stand der Vorwurf des »Kindesraubs« im Vordergrund. Die blonden Haare fungierten lediglich als Bestätigung.

Hat der Rassismus gegen Sinti und Roma in der letzten Zeit insgesamt zugenommen, oder ist lediglich die mediale Aufmerksamkeit gewachsen?

Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten kam es zu einer Renationalisierung und -ethnisierung des Politischen. Gleichzeitig verschlechterte sich die ökonomische und soziale Situation sehr vieler Roma in diesen Staaten dramatisch, weil sie aufgrund bestehender Diskriminierung tendenziell stärker vom Zusammenbruch ganzer Industriezweige betroffen waren. In dieser Zeit haben Angriffe auf Roma und antiziganistische Diskurse in fast allen Ländern Europas stark zugenommen. Diese massive Ausprägung hat der Antiziganismus in Europa bis heute mehr oder weniger beibehalten. Daß darüber in der letzten Zeit verstärkt berichtet wird, ist einer gewachsenen medialen Aufmerksamkeit in Deutschland geschuldet.

Womit ist diese gewachsene Medienaufmerksamkeit zu erklären?

Vor allem in Deutschland ist sie die Folge einer Wahrnehmung von politischen Entwicklungen in verschiedenen EU-Ländern. Hinzu kommt, daß sich auch im Wissenschaftsbereich das Thema »Antiziganismus« als Forschungsgegenstand zu etablieren beginnt. Seit dem letzten Jahr hat die Beschäftigung mit Antiziganismus vor dem Hintergrund der sogenannten Armutsflüchtlinge noch einmal zugenommen.

Während verschiedene EU-Länder in der deutschen Medienberichterstattung im Fokus stehen, scheint der deutsche Antiziganismus für die Medien kaum eine Rolle zu spielen.

Dieser Eindruck ist richtig. In den deutschen Medien wird vor allem über Antiziganismus in anderen Ländern berichtet. Daß auch in Deutschland Menschen bei antiziganistischen Angriffen verletzt werden, daß Wohnhäuser von Sinti oder Roma angezündet wurden, daß auch in Deutschland eine weitverbreitete Alltagsdiskriminierung mit schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen besteht, sorgt in den Medien hingegen selten für Schlagzeilen. Romani Rose sagte in der Pressekonferenz am 5. November, daß Roma und Sinti sich in Deutschland tagtäglich verstecken müssen – dies sei »der schlimmste Vorwurf, den man nach Auschwitz an diese Gesellschaft richten kann«.

Halten Sie die Vergleiche mit dem Antisemitismus für berechtigt?

Es bleibt wichtig, Gemeinsamkeiten wie Unterschiede herauszuarbeiten. Bezüglich des Kinderraubmotivs sehe ich zentrale Unterschiede zum Ritualmordmotiv im Antisemitismus, insbesondere in der religiösen Komponente. Eine wichtige Gemeinsamkeit besteht allerdings darin, daß, so wie der Antisemitismus nichts über Jüdinnen und Juden aber viel über die Antisemiten aussagt, auch der Antiziganismus nichts mit dem Verhalten der als »Zigeuner« klassifizierten Menschen zu tun hat.

http://www.konkret-magazin.de/hefte/aktuelles-heft/articles/anlass-fuer-verfolgung.html

aus:  Konkret 12/2013

Interview: Peter Nowak –

Sloweniens Regierung zu neoliberaler Politik gezwungen?

Luka Mesec sieht großes Potenzial für die Linke in seinem Land

Luka Mesec ist Ökonom und leitet das Institut für Arbeitsstudien in Ljubljana. Er ist Mitbegründer der Initiative für einen demokratischen Sozialismus in Slowenien. Mit ihm sprach für »nd« Peter Nowak.

nd: Slowenien macht in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise kaum Schlagzeilen. Ist das Land von der Krise verschont geblieben?

Mesec: Keineswegs. Allerdings gibt es einige historische Besonderheiten.In Slowenien  gab es bereits Anfang  der 90er Jahre große Arbeiterproteste, die dazu geführt haben, dass die wirtschaftsliberale Schocktherapie in unserem Land im Gegensatz zu den meisten anderen osteuropäischen Ländern nicht umgesetzt wurde.  Slowenien wurde von den Sozialdemokraten durch die Transformationsperiode geleitet. Die orientierten sich damals am rheinischen Kapitalismus und stellten Deutschland als Modell heraus.

Frage: Welche Folgen hatte für das praktische Politik?
L.M.:  In Slowenien befinden sich die Bahn und die Telekommunikationsgesellschaft noch in Staatsbesitz.
Frage: Kann Slowenien heute davon profitieren, dass es sich der Schocktherapie verweigerte?
L.M.: Nein. Die konservative Regierung, die die Sozialdemokraten ablösten, forcierte die wirtschaftsliberale Politik. Mit dem  Beginn der Bankenkrise nahm die Politik der Privatisierungen zu. Es gibt  Pläne noch weitere in staatlichen Besitz befindliche Firmen zu privatisieren. So soll in Slowenien mit mehr als 20 Jahren Verspätung die neoliberale Wirtschaftspolitik umgesetzt werden, die in vielen anderen osteuropäischen Ländern aber auch in Griechenland erst zur Verschärfung der Krise und zur Verarmung großer Teile der Bevölkerung beigetragen hat.
Frage: Gab es dagegen keine Proteste?
L.M.: Doch, wir hatten in unserem Land in den letzten Monaten  die größten Proteste seit 20 Jahren. Sie richteten sich gegen die neoliberale und autoritäre Politik des rechtskonservativen Ministerpräsidenten Janez Jansa. Als seine Regierung Ende Februar 2013 durch ein Misstrauensvotum im  Parlament gestürzt wurde, war die Hoffnung auf einen Politikwechsel groß. Doch die von der maßgeblich  von der  sozialliberalen Partei Positives Serbien und den Sozialdemokratischen sowie weiteren kleineren Parteien getragene neue Regierung setzt den wirtschaftsliberalen Kurs der Rechtsregierung im Wesentlichen unverändert fort.
Frage: Warum knüpften die Sozialdemokraten nicht an die 90er Jahre an?
L.M.: Die Begründung lautet, die Zeiten hätten sich geändert und die  Rechtsregierung habe Fakten geschaffen, die auch sie nicht mehr ignorieren können. Dazu gehören die Verpflichtungen durch den EU-Beitritt und die Masstrichtkriterien.
Frage: Wie reagiert die slowenische Bevölkerung darauf, dass  vermeintlich linke Parteien die wirtschaftsliberale Politik fortsetzen?
L.M.: Es gibt eine große Enttäuschung und auch Versuche, die Proteste fortsetzen. Allerdings ist es schwieriger gegen eine von  Sozialdemokraten und Linksliberale  getragene Regierung auf die Straße zu gehen, die erklären, sie seien zu der neoliberalen Politik gezwungen, als gegen eine Rechtsregierung, die autoritär und arrogant aufgetreten ist und schon deshalb große Teile der Bevölkerung gegen sich aufgebracht hat.
Frage: Gibt es auch politische Organisationen, die sich gegen den wirtschaftsliberalen Kurs stellen?
L.M.: Ja, wir haben die Initiative für einen demokratischen Sozialismus gegründet, weil wir der Überzeugung sind, dass die Linke ein großes Potential in Slowenien hat und weil die Menschen auch organisatorisch eine Alternative wollen. Wir orientieren uns dabei an europäischen Parteien, die ebenfalls den Kampf gegen die wirtschaftsliberale Politik in den Mittelpunkt stellen, wie in Deutschland beispielsweise die Linke.
Frage:  Sehen Sie eine Alternative innerhalb der EU?
L.M.: Wir sind nicht für einen Austritt aus der EU aber  wir kämpfen für ein anderes Entwicklungsmodell in Europa. Wir diskutieren darüber, wie wir es schaffen, die Zwangsjacke der Maastrichtkriterien wieder loszuwerden.

Frage: Sind die linken Bewegungen und Parteien dazu in der Lage?
L.M.: Im Moment sicher nicht. Die linken Parteien und Bewegungen sind noch immer nationalstaatlich organsiert. Wir haben noch keine europäische Linke. Das ist momentan unsere größte Herausforderung.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/916108.sloweniens-regierung-zu-neoliberaler-politik-gezwungen.html
Interview: Peter Nowak

„Nur Befehle geben“

Die Initiative Multitude e. V. hat fast ein Jahr lang Deutschkurse für die Bewohner der Flüchtlingsunterkunft im Berliner Stadtteil Grünau angeboten. Die Firma PeWoBe, die das Heim betreibt, hat dem Verein jedoch mittlerweile untersagt, die Kurse weiterzuführen. Ein Heimbewohner, der anonym bleiben will, hat mit der Jungle World gesprochen.

Small Talk von Peter Nowak

Sie haben den von Multitude angebotene Deutschkurs besucht. Was bedeutete er für Sie?

Ich konnte mich mit niemandem unterhalten und habe deshalb mein Zimmer nie verlassen, um mir beispielsweise die Stadt anzuschauen. Daher bin ich mir wie im Gefängnis vorgekommen. Als Multitude den Deutschkurs angeboten hat, war das für mich ein großes Geschenk. Als die Initiative den Kurs nicht mehr anbieten konnte, hatte ich ein sehr schlechtes Gefühl.

Wurden die Gründe für die Einstellung des Kurses mitgeteilt?

Ich habe später erfahren, dass Multitude den Kurs nicht mehr anbieten durfte, weil sich die Initiative für die Belange der Bewohner eingesetzt und Kritik an manchen Zuständen im Heim geübt hat. Von der Heimleitung hat mich niemand darüber informiert. Das war auch nicht zu erwarten. Die ist sehr autoritär.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Ich habe mich mit einigen Mitarbeitern des Wachdienstes unterhalten und sie trotz der Sprachprobleme auch verstanden. Als die Heimleitung davon über die angebrachten Kameras erfahren hat, wurde es verboten. Der Wachdienst soll sich nicht mit den Bewohnern freundschaftlich unterhalten, sondern nur Befehle geben.

Sie beklagen auch eine mangelnde Privatsphäre in dem Heim.

Die Heimleitung hat einen Schlüssel zu allen Türen und kann die Zimmer jederzeit betreten, egal ob die Bewohner anwesend sind oder nicht. Oft werden sie aufgefordert, ihr Zimmer aufzuräumen. Bei mir öffnete ein Mitarbeiter der Heimleitung den Kühlschrank und forderte mich auf, ihn zu putzen.

Können Sie das Internet im Heim nutzen?

Nein, dabei gab es eine Initiative, W-Lan im Heim einzurichten. Doch die Heimleitung hat erklärt, das sei aus technischen Gründen nicht möglich. Dabei wäre eine Internetnutzung für uns eine große Erleichterung.

Gibt es Proteste unter den Bewohnern?

Die Sprachprobleme und der ständige Wechsel der Bewohner erschweren das. Viele meiner Mitbewohner, mit denen ich mich gut verstanden habe, wurden mittlerweile abgeschoben oder in ein anderes Heim verlegt.

http://jungle-world.com/artikel/2013/47/48863.html

Interview: Peter Nowak

Im Kampf gegen die Global City

„Die Gezipark-Proteste haben ein Bewusstsein für die Probleme der Stadterneuerung geschaffen“, sagt der türkische Regisseur Imre Azem Balanli. Im Film „Ekümenopolis“ befasste er sich mit dem Recht auf Stadt-Bewegung In der Türkei. Im Interview berichtet er über die Stadtentwicklungspolitik der AKP und wie sich die jüngsten Proteste dazu verhalten.

vorwärts: In Istanbul ist die Umstrukturierung in vollem Gange und wird mit der AKP-Regierung verbunden. Welches ökonomische Modell steht dahinter?

Imre Azem Balanli: Die türkische Regierung will Istanbul zur Global City und zum führenden Finanzzentrum des Nahen Ostens machen. Der Staat schafft dafür die Gesetze und beseitigt die Hindernisse. Allerdings begann diese Entwicklung nicht erst mit der AKP-Regierung, sondern schon mit dem Militärputsch 1980. Das war der Beginn des Neoliberalismus in der Türkei.


vorwärts: Welche Auswirkungen hatte dieser Einschnitt auf die Wohnungspolitik?

Imre Azem Balanli: In den 70er Jahren war eine Wohnung in der Türkei noch eine private Investition in die Zukunft. Das hat sich in den 80er Jahren verändert. Von da an wurden Wohnungen zu Spekulationsobjekten, mit denen Profit gemacht werden konnte. Wie in vielen anderen Ländern wurde der Wohnungs- und Immobilienmarkt auch in der Türkei zum Zugpferd einer kapitalistischen Ökonomie, die komplett nach dem Import ausgerichtet ist. Während der AKP-Regierung stiegen die Auslandsschulden der Türkei enorm an. Durch die Verkäufe im Wohnungssektor soll hier ein Ausgleich geschaffen werden.

vorwärts: Welche Anreize schafft die Regierung, um die oft mit Verlust gebauten Wohnungen zu verkaufen?

Imre Azem Balanli: Wohnungen werden zunehmend an Leute im Ausland verkauft. Vor zwei Jahren wurde die Limitierung für Immobilienverkäufe ins Ausland aufgehoben. Schon ein Jahr später wurden Immobilien in Milliardenhöhe in die Golfstaaten verkauft. Zudem wird innerhalb der Türkei die Herausbildung einer kaufkräftigen Schicht gefördert, die sich einen Kauf dieser Wohnungen leisten kann. Diese Entwicklung wird vom Staat gezielt vorangetrieben und geht mit der Vertreibung der bisherigen BewohnerInnen einher, die sich die neuen, teureren Wohnungen nicht leisten können. In diesem Zusammenhang steht der Kampf gegen die Arbeitersiedlungen, die sogenannten Gecekondular.


vorwärts: Warum sind diese Siedlungen zum Hindernis für eine Globalcity geworden?

Imre Azem Balanli: Die Gecekondular wurden in den 50er und 60er Jahren von Fabrikarbeitern gebaut, weil der türkische Staat nicht über genügend Kapital verfügte. Er gab den ArbeiterInnen sogar staatliches Land, damit sie dort ein Haus bauen konnten. Dies war eine Subvention durch den Staat, mit der sie an ihn gebunden werden sollten. Allerdings wurden diese Stadtviertel oft zu Hochburgen linker Gruppen, in denen eine für den Staat unerwünschte Gegenmacht entstand, die dann mit repressiven Massnahmen bekämpft wurde. Seit der Transformation zur Dienstleistungsgesellschaft sind die ArbeiterInnen in der Stadt unerwünscht, weil sie nicht genügend Geld für den Konsum haben. Sie sollen aus der Innenstadt verschwinden. Die Politik der Stadterneuerung hat das erklärte Ziel, sie an den Stadtrand zu verdrängen.

vorwärts: Welche Schritte hat die AKP-Regierung unternommen?

Imre Azem Balanli: Die Regierung hat ein Gesetz erlassen, dass die Errichtung weiterer Gecekondular verhindert. Die staatliche Wohnungsbaubehörde wurde in ein privates Bauunternehmen umgewandelt. Obwohl Gesetze zum Denkmalschutz erlassen wurden, konnten alte Stadtviertel abgerissen werden. 2012 wurde schließlich ein Gesetz erlassen, das die Wohnungen vordergründig vor Naturkatastrophen sichern soll. Es ist heute das zentrale Instrument der Umstrukturierung.

vorwärts: Ist ein solches Gesetz angesichts der vielen Erdbeben in der Türkei nicht sinnvoll?

Imre Azem Balanli: Die AKP sorgt für die autoritäre Durchsetzung der Gesetze, die von der Hauptstadt Ankara aus zentral eingeführt werden. Dafür ist das Ministerium für Umweltschutz und Stadtplanung verantwortlich. Es hat die Möglichkeit, ohne jegliche wissenschaftliche Untersuchung ganze Stadtteile für gefährdet zu erklären und abreissen zu lassen.

vorwärts: Wie reagieren die Bewohner darauf?

Imre Azem Balanli: Sie haben keine Möglichkeit, gegen diese Entscheidungen Widerspruch einzulegen. Mittlerweile wurde ein Gesetz erlassen, das Mietern mit Bestrafung und Verhaftung droht, wenn sie eine Räumung verhindern wollen.

vorwärts: Gibt es Beweise, dass der Schutz vor Erdbeben und andere Naturkatastrophen dabei keine Rolle spielen?

Imre Azem Balanli: Ich kann ein Beispiel nennen: Für ein Geceokondu in Istanbul wurde der Abriss beschlossen. Rundherum stehen jedoch zahlreiche Hochhäuser, die nicht abgerissen wurden, obwohl sie bei einem Erdbeben noch stärker gefährdet wären – wenn die Untersuchung für die Geceokondu zutrifft. Daraus kann man schliessen, dass es nur darum geht, die niedrigen Arbeiterhäuser zum Verschwinden zu bringen.


vorwärts: Was passiert mit den Bewohnern, nachdem ihre Häuser abgerissen wurden?

Imre Azem Balanli: Wenn sie sich widersetzen, droht ihnen eine Strafe und ihr Grundstück wird enteignet. Stimmen sie einem Umzug zu, müssen sie in teurere Wohnungen am Stadtrand ziehen und verschulden sich dafür bei einer privaten Bank. Wenn sie mit zwei Monatsraten in Verzug sind, verlieren sie ihre Wohnung. Neben den hohen Mietpreisen müssen die Kosten für die Betreuung der Grünflächen, die Gebühren für den Hausmeister und Verwaltung noch extra bezahlt werden. Viele Menschen versuchen, mit zusätzlichen Jobs über die Runden zu kommen und ihre Schulden zu zahlen. Aber sie müssen erkennen, dass sie trotz aller Anstrengungen ihre Verpflichtungen nicht tragen können und ihre Wohnungen verlieren. Wir haben in unserem Film „Ekümenopolis“ gezeigt, welche Folgen dies für die Betroffenen hat. Im Film verliert eine sechsköpfige Familie ihre Wohnung. Der älteste Sohn muss mit 14 Jahren die Schule verlassen und für einen Hungerlohn in einer Textilfabrik arbeiten. Er hat keine Chance mehr auf Bildung.


vorwärts: Gibt es Widerstand von den Betroffenen?

Imre Azem Balanli: Ja, es gibt im ganzen Land immer wieder Proteste, die aber lange Zeit kaum über einen regionalen Kontext hinaus wahrgenommen wurden. Beispielsweise haben Erdbebenopfer in Van mit einem Hungerstreik dagegen protestiert, dass sie nun seit fast 15 Jahren in Barracken leben müssen. Bei einem schweren Erdbeben im Jahr 1999 wurden ihre Häuser zerstört und seither nicht wieder aufgebaut. Die Regierung reagierte auf die Proteste mit Repression.


vorwärts: Welche Rolle spielten die vom Gezipark ausgehenden Proteste in diesem Kontext?

Imre Azem Balanli: Die Proteste waren ein kollektiver Protest dagegen, dass aus Profitgründen in den öffentlichen Raum eingegriffen wird. Jahrelang waren sie isoliert und fanden keine landesweite Beachtung. Der Geziprotest hat ein Bewusstsein für die Probleme der Stadterneuerung geschaffen und die Bedeutung der öffentlichen Grünflächen deutlich gemacht. Vier Jahre nach dem großen Erdbeben von 1999 hatte die Regierung einen Bericht in Auftrag gegeben, in dem Massnahmen aufgelistet sind, die die Folgen eines erneuten Erdbebens für die Bewohner verringern sollen. Unbebaute städtische Flächen wie Stadien und Parks sollten als Treff- und Sammelpunkte der BewohnerInnen nach einem Erdbeben fungieren. Im Bericht waren mehr als 400 solcher Flächen in Istanbul vorgesehen. Im Jahr 2012 wurde die Hälfte dieser Plätze bebaut. Weitere sollen folgen. Der Gezipark ist einer dieser städtischen Plätze, die laut dem Bericht nicht bebaut werden sollten. Er wurde weltweit zu einem Symbol des Widerstands.


vorwärts: Was ist von den Protesten geblieben?

Imre Azem Balanli: Im ganzen Land haben sich neue Initiativen gebildet. Allein in Istanbul gibt es mehr als 60 Stadtteilforen. Ihre Hauptforderung ist die Rücknahme des Gesetzes zum Abriss von Stadtvierteln wegen dem Schutz vor Naturkatastrophen.


vorwärts: Ist die Dynamik der Anfangstage nicht zum Erliegen gekommen?

Imre Azem Balanli: Es wurden auch die Grenzen und Probleme dieses Widerstands deutlich. Dazu gehörte die Konfrontation zwischen Wohnungseigentümern und Mietern. In Stadtteilen, in denen der Alltagswiderstand schwach entwickelt ist, gibt es auch kaum Möglichkeiten sich gegen die Vertreibung aus den Wohnungen zu organisieren.

vorwärts: Wie ist das Verhältnis der neuen Bewegung zur radikalen Linken in der Türkei, die schon vor den Gezi-Protesten gegen Umstrukturierung aktiv war?

Imre Azem Balanli: Die linken Gruppen haben den Widerstand in den Stadtteilen mit aufgebaut, in denen sie aktiv sind. In der Bewegung des Geziparks und des Taksimplatzes arbeiten die unterschiedlichsten Gruppen solidarisch zusammen. Als in der letzten Woche der junge Kommunist Hasan Ferit Gedik in einem Istanbuler Gecekondu von der Polizei erschossen wurde, protestieren sämtliche Teile der Bewegung.

vorwärts: Sie haben in Berlin einen Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Wohnen in der Krise“ gehalten. Welche Bedeutung hat die Vernetzung des Mieterwiderstands?

Imre Azem Balanli: Die Politik der Verdrängung einkommensschwacher Menschen ist ein weltweites Problem. Schon daraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass sich die Bewegungen in den unterschiedlichen Ländern austauschen und voneinander lernen. Ich sehe das als einen doppelseitigen Prozess.
Interview: Peter Nowak

Quelle:
vorwärts – die sozialistische zeitung.
Nr. 39/40 – 69. Jahrgang – 8. November 2013, S. 6

»Die Politik will die Arbeiter an den Stadtrand verdrängen«

Der Regisseur Imre Azem Balanli über die Politik der Stadterneuerung in der Türkei und die Rolle der Proteste im Gezipark

Imre Azem Balanli ist Regisseur des Dokumentarfilms über Istanbul »Ekümenopolis«.

In der letzten Woche hielt er im Rahmen der Veranstaltungsreihe Wohnen in der Krise einen Vortrag http://www.bmgev.de/politik/veranstaltungsreihe-13.html.

Über die Verdrängung von Arbeitern aus der Innenstadt der türkischen Metropole und die Aktualität der Proteste im Gezipark vom Mai sprach mit ihm Peter Nowak.

nd: Die AKP-Regierung ist dabei, Istanbul komplett zu erneuern. Welches ökonomische Modell steht dahinter?

Balanli: Die türkische Regierung will Istanbul zur Globalcity und zum führenden Finanzzentrumdes Nahen Osten zu machen. Der Staat schafft dafür die Gesetze und beseitigt die Hindernisse. Dazu gehören die Arbeitersiedlungen, die sogenannten Gecekondular.

nd: Warum sind sie ein Hindernis für eine Globalcity ?
I.B. : Die Gecekondular  wurden in den 50er und 60er Jahren von Fabrikarbeitern gebaut, weil der türkische Staat nicht genügend Kapital hatte. Er gab den Arbeitern sogar staatliches Land, damit sie dort bauen konnten. Seit  dem Aufkommen der Dienstleistungsgesellschaft sind die Arbeiter in der Stadt unerwünscht, weil sie nicht genügend Geld zum Konsumieren haben. Sie sollen aus der Innenstadt verschwinden. Die Politik der Stadterneuerung hat das erklärte Ziel, sie an den Stadtrand zu verdrängen.

nd : Welche Schritte hat die AKP-Regierung unternommen ?
I.B.:  Sie hat ein Gesetz  erlassen, dass die Errichtung  weiterer  Gecekondular verhindert.    Die staatliche Wohnungsbaubehörde wurde in ein privates Bauunternehmen umgewandelt.  Obwohl Gesetze zum Denkmalschutz erlassen wurden,  konnten alte Stadtviertel abgerissen werden. 2012 wurde schließlich ein Gesetz erlassen, dass die Wohnungen vor Naturkatastrophen sichern soll. Es ist heute das zentrale Instrument der Umstrukturierung.
nd : Ist ein solches Gesetz angesichts der vielen Erdbeben in der Türkei nicht sinnvoll?
I.B. :  Die AKP sorgt für die autoritäre Durchführung der Gesetze, die von der Hauptstadt Ankara zentral durchgeführt werden. Dafür ist das Ministerium für Umweltschutz und Stadtplanung verantwortlich. Es hat die Möglichkeit,  ohne jegliche wissenschaftliche Untersuchung ganze Stadtteile als gefährdet zu erklären und abreißen zu lassen.
nd : Wie können sich die Bewohner dagegen wehren?
I.B. : Sie haben keine Möglichkeit, gegen diese Entscheidungen Widerspruch einzulegen. Mittlerweile wurde ein Gesetz erlassen, dass Mietern mit Bestrafung und Verhaftung droht, wenn sie die Räumung zu verhindern wollen.

nd : Gibt es Beweise, dass  dabei der Schutz vor Erdbeben und andere Naturkatastrophen dabei keine Rolle spielen?
I.B. : Ich kann ihnen ein Beispiel nennen. Ein Geceokondu in Istanbul war von zahlreichen Hochhäusern umgeben. Doch die wurden nicht abgerissen, obwohl sie bei einen Erdbeben wesentlich gefährdeter werden. Nur die niedrigen Arbeiterhäuser sollen verschwinden.
nd : Was passiert mit den Bewohnern?
I.B. : Wenn sie sich widersetzen, droht ihnen Bestrafung und ihr Grundstück wird enteignet. Wenn sie einen Umzug zustimmen, müssen sie in teuere Wohnungen am Stadtrand ziehen und verschulden sich bei einer privaten Bank. Wenn sie mit zwei Monatsraten in Verzug sind, verlieren sie ihre Wohnung.

nd :  Stehen die vom Gezipark ausgehenden Proteste in diesem Kontext?
I.B. : Ja, es war ein kollektiver Protest dagegen, dass  aus Profitgründen in den öffentlichen Raum eingegriffen wird. Der Geziprotest hat  ein Bewusstsein  für die Probleme der Stadterneuerung geschaffen.
nd : Was ist heute von den Protesten geblieben ?
I.B. :  Im ganzen Land haben sich Initiativen gebildet.  Allein in Istanbul gibt es mehr als 60 Stadtteilforen. Ihre  Hauptforderung ist die Rücknahme des Gesetzes zum Abriss von Stadtviertel wegen dem Schutz vor Naturkatastrophen.
nd : Wie ist das Verhältnis der neuen Bewegung zur radikalen Linken in der Türkei, die schon vor den Gezi-Protesten gegen Umstrukturierung  aktiv waren?
I.B. : Die linken Gruppen haben den Widerstand in den Stadtteilen mitaufgebaut, in denen sie aktiv sind. In der  Bewegung des Geziparks und des Taksimplatzes arbeiten die unterschiedlichen Gruppen solidarisch zusammen.        Als  in der letzten Woche der junge Kommunist  Hasan Ferit Gedik in einen Istanbuler  Gecekondu von der Polizei erschossen wurde, protestieren sämtliche Teile der Bewegung.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/836159.die-politik-will-die-arbeiter-an-den-stadtrand-verdraengen.html
Interview : Peter Nowak