»Es war mir in Deutschland zu stille«

 

Dora Dick – eine wahrhaftige Jahrhunderzeugin

Die weißhaarige Frau hat die Augen geschlossen. Man hat den Eindruck, sie würde schlafen und die Musik gar nicht hören. Doch plötzlich ist sie hellwach, bewegt ihren Kopf im Rhythmus und summt den Text mit. »Roter Wedding« und das »Solidaritätslied« – das sind die Lieder die Dora Dick mit ihren Freunden und Genossen Ende der 20er Jahre gesungen hat.

In jungen Jahren hat sie oft ihren Bruder begleitet, wenn dieser zu dem von ihrem Wohnhaus im Berliner Scheunenviertel nicht weit entfernten Bülowplatz ging. Hier trafen revolutionäre Politik und avantgardistische Kunst zusammen: Auf der einen Seite des Platzes befand sich die Parteizentrale der KPD, auf der anderen die Volksbühne. Die junge Dora lauschte den Reden der Kommunisten mit ebenso großer Begeisterung, wie sie die Auftritte der Schauspieler verfolgte. Mit einer Schaupielerin freundete sie sich an. Sie weckte das Interesse der jungen Dora für die Marxistische Abendschule (MASCH).

Auch als Dora eine Lehre als Modellschneiderin am Berliner Nollendorfplatz aufnahm, blieb sie der Muse treu, besuchte das dortige Theater. Es hatte sich unter der Leitung des Regisseurs Erwin Piscator zu einer der avantgardistischsten Bühnen Deutschlands entwickelt. An die Aufführung von »Hoppla wir leben« von Ernst Toller kann sie sich noch gut erinnern. Die Eltern allerdings waren gar nicht so begeistert, dass die Tochter lieber ins Theater ging, als sich an den jüdisch-religiösen Zeremonien zu beteiligen.

Wenn Dora Dick heute, am 5. Februar, ihren 100. Geburtstag feiert, wird keiner von ihren Jugendfreunden mehr dabei sein. Fast alle sind schon verstorben, viele sind von den Nazis ermordet worden. Als Jüdin und als Linke war Dora Dick selbst in Nazideutschland doppelt gefährdet. Ihr Bruder wurde von den Nazis 1938 wie viele Tausend längst eingebürgerte ehemalige jüdische Einwanderer aus Polen an die Grenze zurück deportiert und abgeschoben. Danach verlor sich seine Spur. Die Schwester merkte immer mehr, wie allein die NS-Gegner waren. »Es war mir in Deutschland zu still.« Dora Dick ging nach Prag und publizierte in der Exilpresse. Ins Gedächtnis eingebrannt hat sich ihr der Einmarsch der deutschen Wehrmacht. Als tschechische Bäuerin verkleidet, beobachtete sie, wie Panzer auf Panzer über die großen Straßen in die Innenstadt der tschechischen Hauptstadt einfuhren. Sie wusste, dass es für sie jetzt um Leben und Tod ging, Sie hatte keine Illusionen über den Umgang der Nazis mit emigrierten Deutschen.

Auf abenteuerliche Weise gelang ihr die Flucht nach Großbritannien. Dort war sie Mitbegründerin des »Freien Deutschen Kulturbundes (FDKB). Oscar Kokoschka, John Heartfield und Jürgen Kuczynski gehörten zu ihren Mitstreitern. In England kam auch ihr einziger Sohn zur Welt, mit dem sie nach dem Zweiten Weltkrieg zurück nach Deutschland zog. Sie setzte sich für einen demokratischen Neubeginn ein, engagierte sich in der Gewerkschaft und wurde Vorsitzende des Frauenausschusses der Westberliner IG Textil- Bekleidung.

Auch im hohen Alter verfolgt sie noch das politische Geschehen. 2007 stritt sie für die Umbenennung der nach den antisemitischen Historiker Treitschke benannten Straße in Berlin-Steglitz. Mit Sorge beobachtet sie Anzeichen von neuem Antisemitismus. »Eine Welt ohne Juden kann man sich nicht vorstellen«, sagt sie immer wieder. Sohn Antonin Dick arbeitet zur Zeit an einem Erinnerungsband, in dem er die Flucht und das Exil seiner Mutter als ihr Vermächtnis an die Nachwelt dokumentiert will.

Peter Nowak

http://www.neues-deutschland.de/artikel/190178.es-war-mir-in-deutschland-zu-stille.html?sstr=Dora|Dick


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