Todestag Ulrike-Meinhof

INTERVIEW/314: Ulrikes Kampf – Spreu vom Weizen …    Heinz-Jürgen Schneider, Peter Nowak und Wolfgang Lettow im Gespräch (SB)

ulrike vaVermächtnis unbeugsamen Streits
Veranstaltung zum 40. Todestag von Ulrike Meinhof am 9. Mai 2016 in Hamburg

Auf Einladung des Netzwerks Freiheit für alle politischen Gefangenen fand am 9. Mai an der Universität Hamburg eine Veranstaltung zum 40. Todestag Ulrike Meinhofs statt. Zum Thema „Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen“ referierten und diskutierten auf dem Podium der ehemalige Anwalt Heinz-Jürgen Schneider, der Journalist Peter Nowak und der verantwortliche Redakteur der Zeitung Gefangeneninfo Wolfgang Lettow. Alle drei erklärten sich bereit, im Anschluß daran dem Schattenblick in einem gemeinsamen Gespräch einige Fragen zu beantworten.

Schattenblick (SB): Die heutige Veranstaltung stand unter dem Titel „Zum 40. Todestag Ulrike Meinhofs – Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen“. Ulrike Meinhof hat die herrschenden Verhältnisse tiefgreifend analysiert und entschieden kritisiert. Was ist für euch ihr wichtigstes Vermächtnis?
Jürgen Schneider (JS): In der Zeit des Faschismus saßen sehr viele Menschen als politische Gefangene hinter Gittern und sahen sich schwerster Repressionen ausgesetzt. Ich habe erst gestern ein Interview mit Margot Honecker gelesen, in dem sie berichtet, daß ihr Mann viele Jahre in Haft war, aber nie darüber gesprochen hat. Ich komme selbst aus der kommunistischen Bewegung und weiß, daß viele ältere Genossen, die dieses Schicksal geteilt haben, durch die Haft verändert wurden, was aber nie von ihnen oder mit ihrer Hilfe thematisiert worden ist. Sie haben Widerstand geleistet, wurden eingesperrt und gefoltert. Wäre es ihnen möglich gewesen, darüber zu sprechen, hätte das sicher manchem geholfen und Härten gemildert. Ich sehe einen Brückenschlag darin, daß Ulrike Meinhof nicht nur aus ihrer Isolationshaft berichtet, sondern das sogar zu einem Kampfmittel gemacht hat.
Peter Nowak (PN): Ulrike Meinhof und der Schriftsteller Christian Geissler gehörten zeitweise der illegalen KPD an und haben die kommunistische Geschichte bis hinein in die Halbheiten und Fehler reflektiert. Es war ein Trauma der kommunistischen Bewegung in Deutschland, gegen ihre Illegalisierung und Verfolgung nicht entschieden genug Widerstand geleistet zu haben. Ohne diesen Hintergrund des schon 1933 gescheiterten kommunistischen Widerstands wäre die Entscheidung Ulrike Meinhofs für den bewaffneten Kampf nicht vorstellbar gewesen. Christian Geissler hat diesen politischen Zusammenhang als einer der wenigen aus dieser Generation hervorgehoben und ist den RAF-Gefangenen gegenüber stets solidarisch geblieben. Das ist heute schwer zu diskutieren, weil ein Großteil selbst der radikalen Linken von der kommunistischen Geschichte kaum noch etwas weiß – und wenn, dann nur auf einer sehr abstrakten Ebene.
Wolfgang Lettow (WL): Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie bedeutsam der Widerstand der RAF-GenossInnen damals für sehr viele Menschen war. Auch wenn man nicht alles an ihren Texten wegen des jugendlichen Alters sofort verstand, fand man aber gut, was sie gemacht haben, da sie für eine Kompromißlosigkeit standen, die Mut machte. Ich selbst habe seinerzeit im Erziehungsbereich gearbeitet und bin aus diversen Projekten rausgeflogen, weil ich mich nicht anpassen wollte. Wir haben gesagt, nicht die Jugend ist kaputt, sondern die Gesellschaft macht die Menschen kaputt und wir müssen uns auf die Seite der Unterdrückten stellen. Mit Ulrike Meinhof verband uns nicht zuletzt die Idee einer revolutionären Arbeit in antistaatlichen Projekten. Diese Tendenz wurde massiv zurückgedrängt, viele Mitstreiter paßten sich dem bürgerlichen Mainstream an, bis die Fischers, Schilys und Ströbeles das Feld beherrschten und nur noch wenige an den revolutionären Idealen der 68er festhielten.

SB: Liest man Ulrike Meinhofs politische Analysen, trifft man auf eine Sprache, die in ihrer Präzision und Positionierung beispielhaft ist. Ist diese sprachliche Wirkmächtigkeit verlorengegangen, oder sind euch Beispiele entsprechender Ausdrucksfähigkeit aus jüngerer Zeit bekannt?
JS: Ich kenne gar nicht so viele Texte von Ulrike Meinhof und habe die konkret erst gelesen, als sie schon die Gremliza-Zeitschrift in den 70er Jahren war. Ihre Schilderung des toten Trakts in Köln-Ossendorf ist in den Sprachbildern äußerst eingängig, und in Verbindung mit dem Vortrag Rolf Beckers war das sehr beeindruckend. Heute läuft zwar viel über Sprache, aber nicht mit einer, die du nachlesen kannst. Sie ist eher auf den erfolgreichen Auftritt in einer Talkshow fokussiert, wo du eine Minute hast, um etwas zu entwickeln, das die Leute erreicht. Das ist im Grunde längst der Standard. Ähnlich verhält es sich mit Leitartikeln, die zudem meistens nicht von Frauen, sondern von Männern geschrieben werden. Mir ist nichts bekannt, was mit der Qualität und Parteilichkeit vergleichbar wäre, in der Ulrike Meinhof geschrieben hat. Konkret war damals ja keine kleine Postille, sondern hatte zwischen 200.000 und 300.000 Leserinnen und Leser, so daß ihre Beiträge eine beachtliche Reichweite hatten. Auch von ihren Radiosendungen waren eine Menge Leute tief beeindruckt, bis hin zu Marcel Reich-Ranicki, und ich wüßte nicht, daß es da viele Nachfolgerinnen gegeben hätte.
WL: Im vollständigen Text des „Briefes aus dem toten Trakt“ ist davon die Rede, daß ein Ziel dieser Haftbedingungen die Zerstörung der Gefangenen ist. Es war damals wesentlich zu begreifen, daß es sich bei der Isolationshaft um eine sogenannte weiße Folter handelt, bei der man keine Wunden sehen kann. Zuerst war Ulrike allein, doch auch zu zweit wurde es nicht besser, denn das Kalkül bestand darin, Kleinstgruppen herzustellen, in denen die Insassen einander bekämpfen. Solche Folterforschung wurde auch im Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf betrieben. Gemeinsam mit ihrer Schwester, die sie besuchen durfte, hat Ulrike als eine der ersten erfaßt und eindrucksvoll beschrieben, was die Isolation mit ihr macht. Im heute vorherrschenden Diskurs wird hingegen geleugnet, daß es sich um eine Form der Folter handelt.
PN: Ulrike Meinhof waren Isolationsmethoden aus den Heimen und Berichte aus der Zeit des KPD-Verbots bekannt – insofern ist sie nicht völlig unvorbereitet in diese Situation gekommen. Dennoch ist es etwas ganz anderes, das selber zu erleben. Ihr Versuch, Worte für etwas zu finden, wofür es eigentlich keine gibt, mutet paradox an. So beschreibt sie beispielsweise, daß sie sich nach zwei Sätzen nicht mehr an den ersten erinnern kann. Daß sie in dieser Lage Worte gefunden hat, die es eigentlich nicht gab, macht ihren Brief um so eindrucksvoller.
SB: Jürgen, du kennst als Anwalt die Haftbedingungen damals wie heute. Kann man von einer Kontinuität sprechen oder haben Veränderungen stattgefunden?
JS: Eine Verbesserung hat es sehr lange nicht gegeben. Es gab immer Haftstatute, die sich auf den einzelnen Gefangenen bezogen, und die nicht wesentlich von den damaligen abwichen. Isolation in den unterschiedlichsten Formen ist durchgängig angewendet worden. Heute gibt es ja keine RAF-Gefangenen mehr, doch bei den kurdischen Häftlingen war es während meiner aktiven Zeit vergleichbar. Die Isolation in der Untersuchungshaft – keine Gottesdienste, Hofgang allein und so weiter – wird relativ stringent angewendet.

SB: In der Veranstaltung heute wurde zum Ausdruck gebracht, daß im aktuellen Kurdenprozeß in Hamburg die Solidarität der deutschen Linken beklagenswert mangelhaft sei. Wie kommt es, daß diese Problematik hierzulande so wenig wahrgenommen wird?
JS: In den 80er Jahren war die PKK deutlich kleiner, und es gab kontroverse Diskussionen insbesondere über ihren Umgang mit Abweichlern in Deutschland. Nach dem Verbot 1993 war der Kreis nicht sehr groß, der etwas dagegen unternommen und sich solidarisch erklärt hat. Wenngleich die Entwicklung in Rojava erheblich mehr Menschen angesprochen hat, sind Vorbehalte in der deutschen Linken immer noch spürbar. Diese verweigert insbesondere einen Austausch auf Augenhöhe, so daß der kurdische Gesellschaftsentwurf mit dem Rätemodell in der hiesigen Diskussion so gut wie keine Rolle spielt. Man lehnt zwar den türkischen Staatsterrorismus ab und möchte nicht, daß Kurden vor Gericht gestellt werden, doch ihr Projekt der Selbstverwaltung wird kaum thematisiert.
SB: Müßte die Entwicklung in Rojava nicht inspirierend für eine schwächelnde deutsche Linke sein, weil die Kurdinnen und Kurden dort genau das machen, was hier viele Leute anstreben, nämlich von der Basis her Veränderungen herbeizuführen?
JS: Ein direkter Vergleich ist sicherlich schwierig, zumal die Entwicklung in Rojava unter Dauerbeschuß steht. Verglichen mit anderen Weltregionen dringen relativ wenig Informationen aus den Kurdengebieten in Nordsyrien hierher durch. Ob sich das verändert, weiß ich nicht, aber im Moment blickt die deutsche Linke eher durch einen grauen Schleier, ohne deutlich wahrzunehmen, was sich dahinter verbirgt.
PN: Linke aus anderen Ländern haben sich viel stärker mit dieser Thematik beschäftigt. Selbst der US-amerikanische Ethnologe David Graeber, der kein radikaler Linker ist, hat eine Lobeshymne auf Rojava geschrieben und einen Vergleich zur Pariser Kommune oder dem Jahr 1936 in Spanien gezogen. Hierzulande wird das eher belächelt oder mit einer Warnung vor der Übernahme neuer Modelle bedacht. Das hängt mit der Schwäche der Linken in Deutschland zusammen, während sich stärkere Bewegungen in anderen Ländern problemloser darauf beziehen.
WL: Wir stimmten früher mit dem Vietcong oder den Palästinensern nicht total überein, sahen uns aber im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind. Da war es sekundär, ob sie nun marxistisch oder maoistisch geprägt waren. Entscheidend blieb die Gleichzeitigkeit der Kämpfe. Kämpft man selber um Befreiung, toleriert man wohl eher anders politisch ausgerichtete Befreiungsbewegungen. Ich kann nicht sagen, wie in Rojava oder der Türkei der Kampf zu führen ist. Woher soll ich das wissen? Aber ich möchte, daß wir stärker werden. Wenn wir auch nicht alle Auffassungen teilen, gibt es doch gewisse Berührungspunkte, und wir wollen, daß sie sich entwickeln können.
SB: Wie konnte es dazu kommen, daß die RAF, mit der erhebliche Teile der Linken sympathisierten, später derart isoliert wurde? Welche staatlichen Strategien oder auch Empfänglichkeiten für Spaltungsversuche in der Bewegung würdet ihr da sehen?
JS: Die gern zitierten Umfrageergebnisse aus den frühen 70er Jahren haben damals sicherlich eine Berechtigung gehabt. Zehn oder zwanzig Jahre später hätte man so hohe Werte nicht mehr bekommen, das muß man ganz realistisch sagen. Ich war während des Studiums im DKP-nahen Marxistischen Studentenbund Spartakus organisiert, und bei unseren Büchertischen und Wandzeitungen im Foyer ging es hauptsächlich um Chile-Solidarität und universitäre Themen. Einen Büchertisch weiter saßen Leute, die etwas gegen den Sonderforschungsbereich an der Uni unternahmen, darunter der bekannte Rechtsanwalt Gerhard Strate. Es bildete sich ein linkes Milieu, in dem das Interesse weniger den Schriften der RAF oder dieser und jener Befreiungsaktion galt, sondern Haftbedingungen, Kriminalisierung von Anwälten, Zensur und Gesetzesverschärfungen im Mittelpunkt standen. Ich war kein Anhänger des Konzepts Stadtguerilla, aber mit dieser Antirepressionsarbeit konnte ich etwas anfangen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Strategie der RAF hat es in meinem Umfeld bei Erscheinen des Frontpapiers im Mai 1982 nicht mehr gegeben. Auch sonst in der Gesellschaft fand zu diesem Zeitpunkt keine nennenswerte kontroverse Diskussion mehr statt.
PN: Es gab eine gezielte Strategie der Repression, die sich insbesondere auf das Milieu des Nach-68er-Aufbruchs bezog. Peter Brückner, der kein Parteigänger der RAF war, aber an einem solidarischen Umgang unter Linken festgehalten hat, brachte dies ein Berufsverbot und jahrelange Drangsalierung ein. Durch diese Abschreckung sollte die RAF in den Kreisen, die mit ihr sympathisierten, isoliert werden. Schon Anfang der 70er Jahre forderten prominente Linke wie Oskar Negt, man müsse die Radikalen isolieren, was sich im Sprachgebrauch kaum noch von den Repressionsorganen unterschied. Es bedurfte wenig, um mit einem Berufsverbot sanktioniert zu werden. Oft reichte eine Unterschrift bei irgendeinem Appell oder eine Passage aus einem Lehrbuch.
SB: Wie Ulrike Meinhofs Schwester Wienke Zitzlaff im Interview mit der jungen Welt berichtet, hat sich die Elternschaft in ihrer damaligen Zeit als Schulleiterin erstaunlicherweise hinter sie gestellt.
WL: Das war bemerkenswert, wenn man bedenkt, daß damals nicht weniger als 3,5 Millionen Menschen im Staatsdienst auf ihre Gesinnung hin überprüft worden sind und zahlreiche Berufsverbote verhängt wurden. Das hat einige Menschen bis in den Selbstmord getrieben. Wenngleich natürlich einzuwenden wäre, daß man ohnehin nicht gleichzeitig Beamter und Revolutionär sein kann, bleibt doch festzuhalten, daß angesichts dieser Repression, die etlichen Leuten das Genick gebrochen hat, noch sehr viel mehr den Kopf eingezogen haben. Die RAF selbst wurde zunehmend tabuisiert und alles, was sie mittelbar betraf, kriminalisiert. Eine Veranstaltung wie die heutige an der Universität wäre damals kaum möglich gewesen.

SB: Bedeutet das, daß das Thema RAF, nicht zuletzt durch eine bestimmte mediale Verarbeitung, inzwischen entsorgt ist und man heute entspannt damit umgehen kann?
WL: Nein, denn als in einer rheinland-pfälzischen Stadt eine der unsrigen entsprechende Veranstaltung geplant wurde, hat der dortige ASTA das angesichts der Thematik als unrealistisch abgewiesen. Dieser Komplex ist bei den Linken immer noch mit Angst besetzt, und tatsächlich handelt man sich für die Veröffentlichung bestimmter Aussagen wie etwa zum Tod Ulrike Meinhofs noch immer Strafverfahren ein. Andererseits habe ich mich gefreut, daß heute eine ganze Reihe von Leuten, die ich aus früheren politischen Zusammenhängen kenne, teilweise von weither angereist sind. Es besteht offensichtlich ein Bedürfnis, darüber zu reden, und es kommt wohl langsam zu einer Annäherung, sich damit auseinanderzusetzen.

SB: Die Veranstaltung hatte das selbsterklärte Ziel, sich die „revolutionäre Geschichte anzueignen und sie zu verteidigen“. Dieser Ansatz schließt insbesondere den Übertrag auf eine jüngere Generation ein, welche die damaligen Ereignisse nicht aus eigenem Erleben kennt. Unser Eindruck war jedoch, daß sich die Beiträge eher selbstreferentiell an ein älteres Publikum richteten, das mit der Thematik vertraut ist, aber die Jüngeren auf diese Weise kaum erreicht wurden.
WL: Aus dem Kreis der Studierenden hat uns der SDS insbesondere in der Raumfrage unterstützt. Daß zwei selbstverwaltete Cafés auf dem Campus und der SDS heute abend Plena hatten, dürfte dazu beigetragen haben, daß so wenig Jüngere gekommen sind. Der anwesende Genosse des SDS brachte den Einwand vor, daß ihm das alles sehr düster vorkomme und er keinen Bezug dazu herstellen könne. Wir stehen vor dem Problem, daß der damalige Diskussionsprozeß um die Verbindung von Politik und Privatem verlorengegangen ist. Der kollektive Zusammenhang läßt sich in einem kurzem Beitrag von wenigen Minuten nicht hinreichend ausführen. Unser Ansatz zu diskutieren, welche Kämpfe wir heute führen und wie wir die Auseinandersetzungen in anderen Ländern unterstützen können, hat unter diesen Umständen nicht gegriffen.

SB: Wäre nicht „gestern Vietnam, heute Kurdistan“ ein möglicher Anknüpfungspunkt?
JS: Als Brücke finde ich das in Ordnung – und es wurde ja auch in verschiedenen Beiträgen ausgeführt -, auch wenn man diese Kriege vielleicht nicht in jeder Hinsicht vergleichen kann und der Sieg in Kurdistan noch aussteht. Man muß jedoch berücksichtigen, daß die 70er Jahre weltweit ein Jahrzehnt des Aufbruchs waren, wenn man an Vietnam, Portugal, Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Nicaragua, Chile und andere Beispiele denkt. Insgesamt gesehen ist mir das internationale Koordinatensystem ein bißchen zu kurz gekommen. Ich habe diese Zeit nicht in düsterer Erinnerung, während für mich die 90er Jahre viel schlimmer waren. Der Schlag, der nach der Phase des Aufbruchs gekommen ist, war äußerst hart.

SB: Könntest du das etwas näher erläutern?
JS: Der Imperialismus sah sich damit konfrontiert, daß ihm eine Menge Felle weggeschwommen waren. In den befreiten afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern unterstützte er daraufhin die bewaffnete Konterrevolution. In dem Wettstreit der beiden Blöcke setzte die Reagan-Regierung das große Wettrüsten in Gang, um die Sowjetunion und ihre Verbündeten ökonomisch niederzukonkurrieren. In Westeuropa und Westdeutschland war von „mehr Demokratie wagen“ keine Rede mehr, die Repression wurde massiv durchgesetzt. Das Pendel ist nach der anderen Seite ausgeschlagen.
PN: Der Rollback in Chile war der Anfang und das Laboratorium für den Neoliberalismus, worauf diese Erfahrungen schnell und gezielt auf andere Länder übertragen wurden. Als man die Sandinisten mit dem Krieg der Contras überzog, war ihr Entwicklungsansatz in Nicaragua bald unattraktiv für die Bevölkerung. Das führte dazu, daß viele deutsche Linke meinten, man könne und solle sich auf keine Seite mehr stellen. Es gab eine Zeit, in der sich viele Linke weigerten, von „Terror“ zu sprechen. Selbst Heinrich Böll, der kein Linker im klassischen Sinne war, warnte vor der Bezichtigung der RAF als „Terrorbande“. Heute ist es selbst unter Linken fast selbstverständlich, durchgängig von Terror zu sprechen. Zudem wird der Blick auf die RAF durch die Nahost-Debatte und die damit verbundene Antisemitismus-Diskussion in hohem Maße verzerrt.
WL: In der 70er und teilweise auch noch in den 80er Jahren gab es in Deutschland eine relativ starke autonome und antikapitalistische Linke. Es kam zu Hausbesetzungen, massenhaften Demonstrationen, selbst Kongresse internationaler Finanzinstitutionen wurden verhindert. Allerdings hatte die Spaltung längst gegriffen, etwa wenn die DKP die Berufsverbote nur auf sich bezog oder erklärte, die RAF dürfe nicht von der Klassenjustiz, wohl aber von den Arbeitern verurteilt werden. Zur Zeit der RAF-Gefangenen existierte noch eine Öffentlichkeit, die sich für die Haftbedingungen interessierte. Als diese öffentliche Wahrnehmung schwand, verschärften sich die Verhältnisse in den Gefängnissen, Isolationshaft wurde geleugnet, aber weiter praktiziert.

SB: Wie lassen sich die Prozesse innerhalb der Linken, die zu diesem Bruch mit der eigenen Geschichte und ideologischen wie lebenspraktischen Ausweichmanövern geführt haben, so analysieren, daß man die vielfach erlebte und beklagte Ohnmacht überwinden könnte?
PN: Im größeren historischen Zusammenhang gesehen gab es Momente wie 1917 in Rußland oder 1936 in Spanien, wo eine organisierte Linke und eine reale Massenbewegung zusammenkamen. Es gab aber auch Einschnitte wie 1989, an denen Strömungen der Linken auf breiter Front zurückgeschlagen wurden. In den 80er Jahren radikalisierten sich Hausbesetzer, Startbahngegner und Teile der Anti-Akw-Bewegung angesichts der erfahrenen Repression, solidarisierten sich mit Gefangenen und machten sich Gedanken über revolutionäre Prozesse. Dieser reale Widerstand wurde bekämpft, in hohem Maße aber auch vereinnahmt und auf integrative Bahnen gelenkt. Engagieren sich junge Leute heute politisch, dann häufig in Bewegungen und Organisationen, die sich explizit nicht als links definieren. Die Sorge, nur ja nicht von der Linken vereinnahmt zu werden, ist weithin der Überzeugung geschuldet, daß diese historisch überholt und gescheitert sei. Statt dessen betätigt man sich gern in Organisationen wie Campact, die Engagement ohne politische Bindung vorhalten.

SB: Wie würdest du die Rolle der NGOs in diesem Zusammenhang einschätzen?
PN: Man kann nicht alle über einen Kamm scheren, da es durchaus unterschiedliche Gruppen gibt. Grundsätzlich gesehen haben die Herrschenden gelernt, daß es unproduktiv ist, sie generell als staatsfeindlich zu verdächtigen. Inzwischen werden die radikaleren ausgegrenzt und die integrativen gefördert, wobei sich für viele die Systemfrage nicht mehr stellt. Sie betreiben intensiv und erfolgreich Lobbyarbeit, bei der die vorgehaltenen Ziele nahtlos in die Beförderung eigener Organisationsinteressen übergehen. Unter der Ausflucht, die aktuellen Kräfteverhältnisse ließen nichts anderes zu, werden Kampagnen und Lobbyismus zur Ultima ratio verantwortungsbewußten politischen Handelns erklärt.

SB: Kriege, Hungersnöte, soziale Talfahrt und Flüchtlingsströme, Ressourcenschwund und Klimawandel muten derart düster an, daß eine ganze Generation depressiv werden könnte. Demgegenüber gleichen Protestbewegungen wie jene gegen TTIP mitunter einem Karneval auf der Straße, der die Begrenzung der eigenen Wirksamkeit in sich zu tragen scheint. Welche neuen und weitreichenderen Formen des Widerstands gibt es aus eurer Sicht?
PN: Ich denke, daß der Prozeß der Selbstorganisierung, der mit einer Absage an die alten Organisationsformen verbunden ist, in der jüngeren Generation sehr ernst genommen wird. Dort muß man ansetzen, um darüber zu Räten, selbstorganisierter Arbeit, Kämpfen um Wohnraum oder im Jobcenter vorzudringen. Inzwischen gibt es wieder Gruppierungen, die sich kommunistisch nennen und erkennen, daß sie unter Bedingungen schuften, die sich Arbeiter bereits in den 60er Jahren nicht mehr gefallen ließen. So können die Arbeiterbewegung und ihre erkämpften Errungenschaften wieder als bedeutsam wahrgenommen werden. Zu entsprechenden Diskussionen, die schon in den 20er Jahren geführt wurden, gibt es in jüngerer Zeit eine Flut von Büchern jüngerer linker Historikerinnen. Dies zusammengenommen ist ein hoffnungsvolles Zeichen, daß sich die Kämpfe um enge Teilbereiche auswachsen und größere Zusammenhänge erfassen könnten. Beispielsweise kritisiert das Bündnis „Ums Ganze“ die Beliebigkeit der Bewegungen, fordert die Marx-Lektüre und begrenzt Kapitalismuskritik nicht auf Kritik am Neoliberalismus.
Denkt man an den Übergang vom Webstuhl zur Dampfmaschine oder an das Fließband des Fordismus, waren damit gewaltige Umwälzungen gesellschaftlicher Regulierung verbunden, die das Bewußtsein der Menschen verändert und spezifische politische Organisationsformen hervorgebracht haben. Wir stecken mitten im Umbruch des Computerzeitalters, das sich vom Alten abgrenzt, aber das Neue noch nicht gefunden hat. Fragen der Subjektivität, Beziehungen und Problembewältigung stellen sich heute anders als noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Produktionsverhältnisse und -bedingungen weisen über den Kapitalismus hinaus, was dazu führt, daß die traditionellen Formen des Kampfes der Fabrikarbeiter und die klassischen Parteikonzepte nicht mehr greifen, während es die neuen erst noch zu entwickeln gilt.

SB: Wir möchten euch abschließend um einen Ausblick in die Zukunft bitten: Wird es zum 50. Todestag Ulrike Meinhofs in zehn Jahren eine Veranstaltung wie die heutige geben und wie könnte sie aussehen?
JS: Für die Ü60-Generation muß man es nicht noch einmal machen. Aber es wäre schön, wenn jüngere Leute, die eine eigene politische Praxis haben, zu diesem Anlaß zusammenkämen und darüber diskutierten.
WL: Griechische und türkische GenossInnen, die in ihren Ländern massiver Repression ausgesetzt sind und Kämpfe führen, setzen sich intensiv mit der Geschichte der RAF auseinander. Für sie stellen sich die damit verbundenen Fragen ganz anders. In Deutschland herrscht dagegen Verdrängung auf breiter Front vor, so daß politische Analysen, die seinerzeit von vielen Leuten geteilt wurden, nicht mehr präsent sind. Das kann und wird sich hoffentlich ändern, wenn aus der Praxis geführter Auseinandersetzungen heraus wieder Bezüge zu den früheren Diskussionen und Kämpfen hergestellt werden.
PN: In zehn Jahren wird sich mit Sicherheit eine Organisation herausgeschält haben, die solche Fragen wieder diskutiert. Wie stark sie dann ist, läßt sich natürlich nicht vorhersagen. Mir sind aus Magdeburg Jugendliche aus den Unterklassen bekannt, die daran arbeiten, Theorie und Praxis zu verbinden. Kriegen sie das hin, wäre das natürlich ein sehr interessanter Ansatz. Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn in zehn Jahren die Diskussion von diesen Kreisen getragen würde und wir älteren Semester eher auf gezielte Fragen antworten. Das wäre natürlich das Beste.

SB: Jürgen, Peter und Wolfgang, wir bedanken uns für dieses Gespräch.
Bericht zur Veranstaltung „Zum 40. Todestag Ulrike Meinhofs“ in Hamburg im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT:
BERICHT/237: Ulrikes Kampf – und heute noch … (SB)
3. Juni 2016
Copyright 2016 by MA-Verlag
Elektronische Zeitung Schattenblick, ISSN 2190-6963
Nachdruck und Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.
Redaktion Schattenblick, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth
Telefon: 04837/90 26 98 · Fax: 04837/90 26 97
E-Mail: ma-verlag.redakt.schattenblick@gmx.de

Internet: www.schattenblick.de

http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0314.html

———————————————————————————————————–

INTERVIEW/314: Ulrikes Kampf – Spreu vom Weizen … Heinz-Jürgen Schneider, Peter Nowak und Wolfgang Lettow im Gespräch (SB)

Vermächtnis unbeugsamen Streits

Veranstaltung zum 40. Todestag von Ulrike Meinhof am 9. Mai 2016 in Hamburg

Auf Einladung des Netzwerks Freiheit für alle politischen Gefangenen fand am 9. Mai an der Universität Hamburg eine Veranstaltung zum 40. Todestag Ulrike Meinhofs statt. Zum Thema „Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen“ referierten und diskutierten auf dem Podium der ehemalige Anwalt Heinz-Jürgen Schneider, der Journalist Peter Nowak und der verantwortliche Redakteur der Zeitung Gefangeneninfo Wolfgang Lettow. Alle drei erklärten sich bereit, im Anschluß daran dem Schattenblick in einem gemeinsamen Gespräch einige Fragen zu beantworten.

Schattenblick (SB): Die heutige Veranstaltung stand unter dem Titel „Zum 40. Todestag Ulrike Meinhofs – Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen“. Ulrike Meinhof hat die herrschenden Verhältnisse tiefgreifend analysiert und entschieden kritisiert. Was ist für euch ihr wichtigstes Vermächtnis?

Jürgen Schneider (JS): In der Zeit des Faschismus saßen sehr viele Menschen als politische Gefangene hinter Gittern und sahen sich schwerster Repressionen ausgesetzt. Ich hab

INTERVIEW/314: Ulrikes Kampf – Spreu vom Weizen … Heinz-Jürgen Schneider, Peter Nowak und Wolfgang Lettow im Gespräch (SB)

Vermächtnis unbeugsamen Streits

Veranstaltung zum 40. Todestag von Ulrike Meinhof am 9. Mai 2016 in Hamburg

Auf Einladung des Netzwerks Freiheit für alle politischen Gefangenen fand am 9. Mai an der Universität Hamburg eine Veranstaltung zum 40. Todestag Ulrike Meinhofs statt. Zum Thema „Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen“ referierten und diskutierten auf dem Podium der ehemalige Anwalt Heinz-Jürgen Schneider, der Journalist Peter Nowak und der verantwortliche Redakteur der Zeitung Gefangeneninfo Wolfgang Lettow. Alle drei erklärten sich bereit, im Anschluß daran dem Schattenblick in einem gemeinsamen Gespräch einige Fragen zu beantworten.

Schattenblick (SB): Die heutige Veranstaltung stand unter dem Titel „Zum 40. Todestag Ulrike Meinhofs – Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen“. Ulrike Meinhof hat die herrschenden Verhältnisse tiefgreifend analysiert und entschieden kritisiert. Was ist für euch ihr wichtigstes Vermächtnis?

Jürgen Schneider (JS): In der Zeit des Faschismus saßen sehr viele Menschen als politische Gefangene hinter Gittern und sahen sich schwerster Repressionen ausgesetzt. Ich hab

INTERVIEW/314: Ulrikes Kampf – Spreu vom Weizen … Heinz-Jürgen Schneider, Peter Nowak und Wolfgang Lettow im Gespräch (SB)

Vermächtnis unbeugsamen Streits

Veranstaltung zum 40. Todestag von Ulrike Meinhof am 9. Mai 2016 in Hamburg

Auf Einladung des Netzwerks Freiheit für alle politischen Gefangenen fand am 9. Mai an der Universität Hamburg eine Veranstaltung zum 40. Todestag Ulrike Meinhofs statt. Zum Thema „Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen“ referierten und diskutierten auf dem Podium der ehemalige Anwalt Heinz-Jürgen Schneider, der Journalist Peter Nowak und der verantwortliche Redakteur der Zeitung Gefangeneninfo Wolfgang Lettow. Alle drei erklärten sich bereit, im Anschluß daran dem Schattenblick in einem gemeinsamen Gespräch einige Fragen zu beantworten.

Schattenblick (SB): Die heutige Veranstaltung stand unter dem Titel „Zum 40. Todestag Ulrike Meinhofs – Revolutionäre Geschichte aneignen und verteidigen“. Ulrike Meinhof hat die herrschenden Verhältnisse tiefgreifend analysiert und entschieden kritisiert. Was ist für euch ihr wichtigstes Vermächtnis?

Jürgen Schneider (JS): In der Zeit des Faschismus saßen sehr viele Menschen als politische Gefangene hinter Gittern und sahen sich schwerster Repressionen ausgesetzt. Ich hab

Standardformat
Druck- und Kopierformat

BERICHT/237: Ulrikes Kampf – und heute noch … (SB)

„Wer seine Lage erkannt hat, wie sollte der aufzuhalten sein?“
(aus Bertolt Brecht: Lob der Dialektik)

Veranstaltung zum 40. Todestag von Ulrike Meinhof am 9. Mai 2016 in Hamburg

Nein, totgeschwiegen werde Ulrike Meinhof nicht, sagte der ehemalige Anwalt Heinz-Jürgen Schneider, der auch Angeklagte der RAF verteidigt hat, eher werde sie als die klassische rote Hexe gehandelt, die in den Siedetopf der Demagogie geworfen wird. Anlaß für diese Äußerung, die den Literaturnobelpreisträger des Jahres 1972 Heinrich Böll zitiert, war eine Veranstaltung an der Universität Hamburg zum Todestag von Ulrike Meinhof, der sich am 8./9. Mai 2016 zum 40. Mal jährte. Eingeladen hatten das Netzwerk Freiheit

für alle politischen Gefangenen, Hamburg sowie bekannte und unbekannte Freund*innen von Ulrike Meinhof, auf dem Podium saßen Rolf Becker, der sich nicht nur als facettenreicher Schauspieler, hervorragender Vorleser, sondern auch als nimmermüder linker Aktivist einen Namen gemacht hat und an diesem Abend Texte von Ulrike Meinhof selbst, von Christian Geissler, Dario Fo und Franka Rame vortrug, sowie der verantwortliche Redakteur der Zeitung Gefangeneninfo Wolfgang Lettow und der Journalist