Die Frage nach der Herkunft

Nach einem Messerangriff auf einen Bewohner des Flüchtlingscamps am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg interessieren sich die Medien vor allem für die Herkunft des Täters.

»Windpocken im Marie-Schlei-Haus«, lautete die Überschrift eines anonymen Flugblattes, das Mitte Juni im Bezirk Reinickendorf auf Straßenlaternen prangte und sich gegen eine dort errichtete Unterkunft von Flüchtlingen richtete. Ein paar Kinder im Flüchtlingsheim waren an Windpocken erkrankt. »Erwachsene und Kinder gehen in der Umgebung herum und können andere Leute anstecken. Was kommt demnächst? Masern, TBC, Cholera?« heißt es im Pamphlet. Mittlerweile hat die Arbeiterwohlfahrt, die die Unterkunft betreibt, Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet. »So ein plumper Rassismus ist mir in meiner langjährigen Tätigkeit noch nicht begegnet«, sagte AWO-Mitarbeiterin Snezana Hummel im Gespräch mit der Taz. Große Teile der Nachbarschaft hatten sich vehement gegen die Einrichtung der Flüchtlingsunterkunft gewehrt und dabei mit rassistischen Tönen nicht gespart.

Nachdem sie die Eröffnung des Heims nicht verhindern konnten, betätigten sich einige Anwohner als Blockwarte und schickten der AWO Protokolle zu, in denen minutiös aufgelistet wird, wann sich die Kinder der Flüchtlinge auf dem nahegelegenen öffentlichen Spielplatz aufhielten. Ob die meist der gehobenen Mittelschicht angehörenden Anwohner einen bayerischen, schwäbischen oder hessischen Migrationshintergrund haben, oder ob sogar einige autochthone Berliner darunter sind, hat niemand ermittelt, in der Berichterstattung ist das kein Thema.

Die Frage der Herkunft spielte aber sehr wohl eine Rolle, nachdem es am 16. Juni auf dem Gelände des Refugee-Camp auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg zu einer Auseinandersetzung zwischen einigen Nachbarn und Bewohnern des Camps gekommen war. Auslöser war der Messerangriff eines Anwohners auf einen sudanesischen Campbewohner. »Ich sah, wie sich ein Mann, der einen Kinderwagen schob, zur Mitte des Platzes bewegte, plötzlich aber einige Schritte zurückging und den Sudanesen angriff. Ich habe den Mann am Tag darauf im Krankenhaus besucht. Er versicherte, es habe zuvor keinen Wortwechsel gegeben. Bevor ihn der Messerstich traf, habe er nur das Wort ›Scheißneger‹ gehört«, schilderte die Augenzeugin Claudia Feliziani den Tat­hergang. Kurz nach dem Vorfall versammelten sich einige jüngere Männer um das Camp und bedrohten die Bewohner. In einer Pressemitteilung der Flüchtlinge heißt es: »Es kam im Verlauf der Vorfälle zu rassistischen Provokationen von umstehenden Passanten, die ihren Beifall für den gelungenen Messerangriff ausdrückten oder gar mehr solcher Attacken forderten. Es kam auch zu tätlichen Übergriffen unter den Augen der Polizei, die nicht gegen die Aggressoren einschritt.« Die Polizei hatte neun Flüchtlinge vorübergehend festgenommen.

In einer längeren Erklärung der Campbewohner werden die Reaktionen von Polizei und Medien auf die Messerattacke kritisiert. »Es existieren viele Gerüchte, Vermutungen bzw. Spekulationen zu diesen Vorfällen. Wir als direkt Betroffene wurden dabei nur selten nach konkreten Abläufen und Fakten sowie Hintergründen und Zusammenhängen befragt«, monieren die Aktivisten. So hätten viele Medien aus einer Stellungnahme der Polizei abgeschrieben, das Opfer habe nur leichte Verletzungen davongetragen und sei schon am nächsten Tag aus dem Krankenhaus entlassen worden. Die Polizei musste die Darstellung später korrigieren. Es handelte sich um einen tiefen Messerstich, das Opfer befindet sich noch auf der Intensivstation.

In ihrer Erklärung wenden sich die Campbewohner »gegen jeden Versuch einer pauschalen negativen Zuschreibung, die mit Bezug auf eine vermeintliche Herkunft, Religion, Lebensweise oder den sozialen Status direkt oder indirekt ganze Bevölkerungsgruppen stigmatisieren, kriminalisieren und ausgrenzen soll«. Während in den Erklärungen der Campbewohner und ihrer Unterstützer zu den Angriffen dieser Grundsatz eingehalten wurde, war in einem Großteil der Medien sofort von einer Auseinandersetzung zwischen türkischen Migranten und den Flüchtlingen die Rede. Dabei wird oft die rassistische Gewalt gegen die Campbewohner ausgeblendet. Stattdessen werden beide Gruppen ethnisiert. Es würde wohl kaum jemand von einem Mann mit schwäbischen oder hessischen Wurzeln sprechen. Aber Menschen, die in der Türkei oder in einem anderen nichtdeutschen Land geboren sind, bleiben nach dieser Lesart bis zum Lebensende Fremde. Ihr Handeln wird dann oftmals mit der vermeintlichen Kultur in deren Herkunftsländern zu erklären versucht, auch wenn sie dort nie gelebt haben. Damit wird die Verantwortung der deutschen Gesellschaft für Rassismus und Ausgrenzung geleugnet.

Gerüchte wurden nach den Angriffen auf die Campbewohner allerdings auch auf linken Internetseiten verbreitet. Dazu gehört die nicht bestätigte Behauptung, dass die ultranationalistischen türkischen Grauen Wölfe dafür verantwortlich sein sollen. Linke türkische und kurdische Vereine weisen seit langem darauf hin, dass auch in Kreuzberg Anhänger diverser rechter türkischer Organisationen leben. Aber auch hier ist der Anteil der Unorganisierten mit einem rechten Weltbild groß. Sie könnten sich auch an der Forderung des Berliner CDU-Politikers Kurt Wansner orientieren, der seit Monaten für eine Räumung des Camps am Oranienplatzes plädiert. Nach den Angriffen hat er gemeinsam mit dem als Anwohner vorgestellten Sirket Birenci unter den Augen eines Reporters der BZ eine Unterschriftenkampagne gegen das Flüchtlingscamp unter dem Motto »Wir wollen unseren Platz zurück« initiiert. Auch in der Taz wurde bereits vor Monaten in einem Kommentar moniert, dass durch das Camp öffentlicher Raum zweckentfremdet werde. Da muss auch nicht verwundert, dass in der Zeitung ein mit »Frau Müller-Üzgül« unterschriebener Leserbrief abgedruckt war, der den rassistischen Angriff relativiert. »Die Schuldfrage ist aus meiner Sicht müßig, aber der Zustand ist für Anwohner egal welcher Nation oder Herkunft nicht zumutbar. Der Konflikt ist durch eine Dauerdemonstration dieser Art vorprogrammiert und wird in Kauf genommen.«

Dass die Opfer rassistischer Gewalt zu Tätern gemacht werden, ist in Deutschland nichts Neues. Dass solche Äußerungen auch von Menschen kommen, deren Nachnamen nicht Müller oder Schulz lauten, kann nur jene überraschen, die immer noch vom Leitbild einer ethnisch reinen deutschen Gesellschaft oder vom romantisierten Bild einer multikulturellen Gesellschaft ausgehen. Vor mehr als 20 Jahren wurden die Bewohner der von einem deutschen Mob angegriffenen Flüchtlingseinrichtungen von Politik und Medien als das eigentliche Problem hingestellt. Die Refugees aber lassen sich nicht zu Opfern machen. Am Wochenende haben etwa 100 Flüchtlinge in München im Anschluss an eine »Non Citizen«-Demonstration auf einen zentralen Platz ein Camp errichtet und einen Hungerstreik für gleiche Rechte begonnen.

http://jungle-world.com/artikel/2013/26/47977.html
Peter Nowak