Kann eine Volksabstimmung Stuttgart 21 retten?

Selbst die größten Optimisten unter den S21-Gegnern glauben nicht, dass in einer landesweiten Abstimmung die nötige Stimmenzahl erreicht wird. Gegner hoffen nun auf den Stresstest

 Eigentlich gab niemand mehr dem Projekt Stuttgart 21 nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg eine große Chance. Schließlich sollen die Grünen, die sich als vehemente Gegner des Stuttgarter Bahnprojekts präsentieren, den Ministerpräsidenten stellen. Einzig der Konkret-Herausgeber Hermann L. Gremliza sah es kommen: Nur die Grünen können Stuttgart 21 noch durchsetzen, schrieb er in seiner Kolumne – und er könnte wieder einmal recht behalten. Denn der Kompromiss, den Grüne und SPD in Baden-Württemberg zu dem Thema unterschrieben haben, um eine Koalition eingehen zu können, gibt den Freunden von Stuttgart 21 wieder Auftrieb.

Die Gründe liegen in den Richtlinien, nach denen in dem Bundesland Volksabstimmungen abgehalten werden können. Mindestens ein Drittel der Stimmberechtigten, das sind rund 2,5 Millionen Bürger, muss bei Gesetzesänderungen mit Ja stimmen. Selbst die größten Optimisten unter den S21-Gegnern glauben nicht, dass in einer landesweiten Abstimmung die nötige Stimmenzahl erreicht wird. Trotzdem erklärt der designierte Ministerpräsident Winfried Kretschmann unverdrossen:

„Wenn das Quorum nicht erreicht wird, ist das Ausstiegsgesetz nicht angenommen.“

Schließlich war die Volksabstimmung die Bedingung, damit die S21-Befürworter bei der SPD überhaupt einen Grünen zum Ministerpräsidenten wählen. Selbst der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer ging auf Distanz zu Kretschmann. Es sei noch nicht geklärt, was passiert, wenn sich eine Mehrheit der Bürger gegen das Projekt ausspricht, aber das Quorum für eine Volksabstimmung nicht erreicht wird. „Dann muss die Regierung gucken, wie sie weiter verfährt“, schiebt Palmer seinen Konkurrenten Kretschmann die Verantwortung zu.

Das von Palmer beschriebene Szenario ist sehr wahrscheinlich: Die S21-Befürworter müssen nur der Abstimmung fernbleiben, um das Projekt zu retten. Dann ist die Stimmenzahl der Gegner groß, aber das nötige Quorum wird nicht erreicht und S21 ist nicht nur gerettet, sondern hat durch die Volksabstimmung auch noch das Prädikat „besonders demokratisch durchgesetzt“ erhalten.

Schon nach Bekanntwerden des Kompromisses gab es wütende Reaktionen, bei den Grünen, aber auch bei parteilosen Gegnern des Bahnprojekts. Auch wenn sich in der Bewegung erste Ausdifferenzierungen bemerkbar machen, sind viele mehrheitlich realpolitisch orientiert und haben nach den Wahlen entschieden, dass die Grünen auch als Regierungspartei Teil des Protestbündnisses bleiben können.

Diese Arbeitsteilung würde schwieriger, wenn die Grünen als Regierungspartei nach der Volksabstimmung das Projekt umsetzen müssen. Auf die Fallstricke bei der Volksabstimmung haben Juristen in einer Presseerklärung ebenso hingewiesen, wie die die Gruppe der Parkschützer.

Alle hoffen auf den Stresstest

S21-Gegner setzen ihre Hoffnung jetzt in das Ergebnis des bei der Schlichtung vereinbarten Stresstestes, der eine Volksabstimmung überflüssig machen könnte.

Die Gefahr, dass die dazu passenden Ergebnisse hingemauschelt werden, sei allerdings riesengroß, befürchtet nicht nur die Linkspartei in Baden-Württemberg. Solche Spekulationen hat Bahnchef Grube selber gefördert.

Er gibt sich auch nach den Wahlen in Baden-Württemberg überzeugt, dass das Bahnprojekt gebaut wird und der Stresstest keine Hürde sein wird.

„Wenn wir uns nicht sicher wären, dass der Bahnhof den Test besteht, hätten wir uns auf das Thema nicht eingelassen. Wir stehen weiterhin voll zu Stuttgart 21.“

 http://www.heise.de/tp/blogs/8/149724

Peter Nowak

Niederlage für eine solidarische Gesellschaft

Das Hamburger Ergebnis der Volksabstimmung zur Schulreform liegt ganz im Trend der Bildungspolitik
Das Ergebnis des Hamburger Volksentscheids zur Schulreform wird in der Regel vor dem Hintergrund der politischen Parteienkonstellation in Hamburg interpretiert (Schulreform gescheitert, Regierungschef zurückgetreten). Dabei wird vor allem die Frage gestellt, ob das schwarz-grüne Bündnis nach dem Rücktritt des Regierenden Bürgermeisters noch eine Zukunft hat. Die ersten Neuwahlforderungen von SPD, FDP, aber auch der Linken bleiben in diesem Schema befangen. Auch den Hamburger Grünen hingegen fällt nichts Besseres ein, als von der CDU zu fordern, sie soll zum Koalitionsvertrag stehen.
   

Dass führende Unionspolitiker, darunter Bundesbildungsministerin Schavan, das Ergebnis des Volksentscheids ausdrücklich „als Signal für die Bildungspolitik“ begrüßen und sich damit von ihrem Hamburger Koalitionspartner distanzieren, wird von den Grünen ignoriert. Wenn nun Schavan, die bisher als entschiedene Anhängerin eines Bildungsföderalismus aufgetreten ist, vor einem bildungspolitischen Flickenteppich warnt, dann kann dies nur als Signal verstanden werden, dass die Union als Lehre aus dem Volksbegehren die Verteidigung des Bildungsprivileg der Besserverdienenden wieder zu ihrer Angelegenheit machen will.

Doppelcharakter der sozialliberalen Bildungsreform

Darum ging es der Initiative Wir wollen lernen primär. Das Lamento, dass sogenannte schwache gegenüber sogenannten starken Schülern benachteiligt werden, ist allgegenwärtig. Dass es bei den Adjektiven stark und schwach nicht um Naturgesetze, sondern um gesellschaftlich bestimmte Trennungen gibt, wird dabei gerne unterschlagen. Starke Schüler sind in der Regel die, die in einer Umgebung aufwachsen, in der sie zum Lernen motiviert werden, schwache Schüler hingegen haben diese Chance nicht.

 

Diese Unterschiede gab es in der bürgerlichen Gesellschaft seit jeher und das Ziel einer solidarischen Bildungspolitik bestand darin, die gesellschaftliche Spaltung in den Schulen, wenn nicht aufzuheben, so zumindest zu verringern. Um eine solche Schulpolitik, die in der Frage der Einführung der Gesamtschule kulminierte, entspann sich in den frühen 70er Jahren ein heftiger Schulkampf in Hessen, der mit der Politik des kürzlich gestorbenen Bildungsreformers Ludwig von Friedeburg verbunden wird. Den Bildungsreformern der frühen 70er Jahre ging es um einen leichteren Zugang von Kindern aus Arbeiterfamilien zum Abitur. Dagegen mobilisierte eine Front von CDU, konservativen Lehrer- und Elternverbänden bis hin zu großen Teilen der Medien.

Obwohl von Friedeburg schon 1974 zurücktrat und auch in seiner eigenen Partei, der SPD, als Polarisierer umstritten war, konnten sich auch seine Gegner nicht durchsetzen. Denn die Bildungsreformen waren nicht nur das Produkt einer egalitäreren Bildungspolitik, sondern knüpften auch an die Bedürfnisse einer postfordistischen Wirtschaft an. Das herkömmliche Schulsystem war nicht in der Lage, für die Erfordernisse der modernen Wirtschafts- und Arbeitswelt auszubilden. Das Schlagwort vom deutschen Bildungsnotstand machte schon Mitte der 60er Jahre die Runde und wurde dann von der APO politisiert.

Die sozialliberale Bildungsreform war stark von dem Doppelcharakter der Bildungsdebatte geprägt. Die Teile, die für eine moderne Ausbildung kompatibel waren, haben sich durchgesetzt und dabei wurden viele egalitären Vorstellungen einer grundsätzlichen Bildungsgerechtigkeit abgeschliffen. Diese Forderungen eines sozialen Lernens wurden allerdings außerhalb des parlamentarischen Raums von Gewerkschaften, Schüler- und Studierendengruppen und sozialen Bewegungen gegen die konservativen Gegner, aber auch gegen eine Sozialdemokratie vertreten, die die Bildungsreform bald gezähmt hatte.

„Die Schwachen sollen sehen, wo sie bleiben“

Der Hamburger Schulkampf hat bei allen Unterschieden im Detail mit der Debatte der 70er Jahre das Grundsätzliche gemeinsam. Es geht um die Frage, ob die Kinder der einkommensschwachen Familien, dazu gehören in erster Linie Hartz IV-Empfänger oder Menschen mit Migrationshintergrund, überhaupt Chancen für eine solidarische Bildung haben oder ob sie abgehängt werden sollen.

Führende Exponenten der Initiative „Wir wollen lernen“ haben immer wieder moniert, es werde zu viel für die „schwachen“ und zu wenig für die „starken“ Schüler getan. Es wurde auch darüber geklagt, dass die nicht darunter leiden sollen, dass es Schüler gibt, die nicht mittels Nachhilfe. ihr Schulwissen aufbessern können. Das ist eine Absage an eine Schulpolitik, die davon ausgeht, dass die „stärkeren“ Schüler die „schwächeren“ beim Lernen unterstützen können und alle davon profitieren. Zur Bildung gehört nach dieser Lesart auch das Ausbilden von sozialen Kompetenzen, wie Solidarität und gegenseitige Unterstützung. Zu Zeiten der Bildungskämpfe der siebziger Jahre waren solche Werte in großen Teilen der Gesellschaft verbreitet. Das ist aktuell nicht mehr der Fall. So liegt das Hamburger Ergebnis ganz im Trend einer Gesellschaft, in der das Prinzip „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und „Der Schwache ist selber schuld und soll den anderen nicht zur Last fallen“ zum Dogma erhoben wurde . Im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten drückt sich diese Politik ebenso aus, wie in den Maßnahmen gegen Hartz IV-Empfänger und eben jetzt auch in der Bildungspolitik.

In einer Gesellschaft, in der es als normal gilt, wenn jeder mit jedem in Konkurrenz liegt, sorgen die Eltern dafür, dass damit schon im Schulalter angefangen wird. Ein solidarisches Lernen wird als Konkurrenznachteil für die eigenen Kinder empfunden, in die nicht wenige Eltern mittels teurer Nachhilfeprogramme einiges investieren. Dass auch Eltern, die in den 70er Jahren selber durch die Bildungsreformen aus dem Arbeitermilieu in das Bildungsbürgertum aufgestiegen sind, zu den Gegnern der Primarschule gehörten, verwundert nicht. Gerade dort ist die Furcht vor dem sozialen Abstieg besonders groß.

Keine soziale Bewegung

Dass „Volkes Stimme“ wie in Hamburg gegen eine ganz große Parteienkoalition von Union, SPD, Grünen und Linkspartei, die sich für die Primärschule aussprachen, stimmte, kann nur verwundern, wer noch immer noch meint, dass „die da unten“ oder auch „der kleine Mann“ sozialer abstimmen als die politischen Parteien. Eine solche Vorstellung verkennt, wie stark die Idee der Ungleichheit und des Konkurrenzgedanken in großen Teilen der Bevölkerung Konsens sind.

So verwundert es nicht, dass neben der in Hamburg außerparlamentarischen FDP vor allem diverse rechte Gruppen und die NPD gegen die Schulreform waren. Schließlich propagieren sie seit jeher die Ungleichheit der Menschen. Sie konnten sich in Hamburg profilieren, weil die CDU aus Koalitionsraison, und weil die Schulreform auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten durchaus vernünftig war, für die Primärschule eintrat. Führende Unionspolitiker aus Sachsen und NRW haben nach dem Hamburger Ergebnis deutlich gemacht, dass sie das Thema nicht den Rechtspopulisten überlassen wollen.

Die Befürworter eines solidarischen Lernens außerhalb des Parlaments werden künftig die Möglichkeiten haben, jenseits der parteipolitischen Querelen das Konzept einer solidarischen Schule zu propagieren. Bisher waren sie in Hamburg in zwei Bündnisse gespalten. Eine größere Gruppe unterstützte den Mehrparteienkompromiss des Hamburger Senats. Ein kleines linkes Bündnis warb dafür, zweimal mit Nein zu stimmen, weil es auch den Senatskompromiss nicht akzeptabel fand. Das Ergebnis von Hamburg hat gezeigt, dass soziale Reformen trotz Unterstützung von großen Organisationen und Parteien verloren gehen, wenn es nicht gelingt, das gesellschaftliche Klima zu verändern.

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32987/1.html

Peter Nowak