Gelbe Westen jetzt auch in Ungarn?

Es ist ein genuin sozialer Protest; es wird sich zeigen, ob dieser Charakter erhalten bleibt

„Aufstand gegen Orbans Sklaverei-Gesetz“ – die Überschrift des Spiegel [1] über die Proteste in Ungarn klang martialisch. Anders als bei den Gelben Westen (häufig auch: Gelbwesten) in Frankreich wurde auch nicht von einer Querfront geredet, obwohl die ultrarechte Jobbik-Bewegung in Ungarn ganz selbstverständlicher Teil der Proteste war und ist.

Die Ungarn-Fahnen sind omnipräsent. Daneben versammeln sich in Ungarn auch Liberale mit EU-Fahnen und die versprengen Reste der ungarischen Linken und Gewerkschaften. Auslöser für die Demonstrationen waren soziale Proteste. Denn das „Sklavereigesetz“ ist nur die jüngste der kapitalfreundlichen Maßnahmen der Orban-Regierung.

Mit dieser Arbeitsrechtsnovelle wird die jährlich mögliche Überstundenzahl von 250 auf 400 erhöht. Zugleich können sich Arbeitgeber mit der Bezahlung der Zusatzarbeit künftig drei Jahre Zeit lassen statt wie bisher ein Jahr.

Orban und seine Regierung verfolgen mit dieser Politik den gleichen Zweck wie alle Austeritätspolitiker von Thatcher über Schröder bis Macron. Sie wollen den Preis der Ware Arbeitskraft senken und erhoffen sich so Vorteile in der innerkapitalistischen Konkurrenz.

Deutsche Konzerne profitieren vom Modell Orban

Konkret sieht das so aus, dass deutsche Konzerne wie BMW [2] ihre Werke nach Ungarn verlagern [3], weil sie von der konzernfreundlichen Politik profitieren.

Mit der Ideologie der Volksgemeinschaft, mit Sicherheitsdiskursen, Rassismus und Nationalismus versuchen die Rechten zu verhindern, dass sich die Beschäftigten gemeinsam organisieren, streiken und deutlich machen, dass sie eine Produzentenmacht haben. Im Fall Ungarn kommt noch ein spezifischer Antisemitismus hinzu. Prompt wird George Soros, der das spezielle Feindbild der ungarischen Rechten [4] ist, nun auch für diese Proteste verantwortlich gemacht.

Damit bewegen sie sich auf altem antisemitischem Gelände. Als vor fast 100 Jahren die ungarische Räterepublik die Hoffnung erweckte, auch in ihrem Land stünde eine Alternative zum Kapitalismus auf der Tagesordnung, reagierten die alten Mächte mit einem Antisemitismus, der sie schließlich zum Partner bei der Shoah werden ließ. Die ungarische Rechtsregierung hat viele der damaligen Protagonisten rehabilitiert.

Die österreichische Rechtsregierung, die mit ihren kapitalfreundlichen Maßnahmen ihren ungarischen Kollegen kaum nachsteht, ist in den letzten Wochen auch mit stärker werdenden sozialen Protesten konfrontiert. Sie werden medial weniger beachtet. Dagegen setzt die Rechtsregierung auf den Sicherheitsdiskurs, wie Reinhard Kreissl [5] vom Wiener Zentrum für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung [6] in einem Interview [7] erläuterte.

In Österreich haben wir gerade eine typische Konstellation: Auf der einen Seite ein Programm der neoliberalen Modernisierung, das heißt Abbau von sozialstaatlichen Rechten und Leistungen und parallel dazu eine Reihe von immer wieder aufgekochten Sicherheitsproblemen. Wir bauen den Sozialstaat ab, und zur Ablenkung bauen wir vorne große Bedrohungen auf: Ausländer, Terroristen, Migration, die Kriminalität, auch wenn sie in Wirklichkeit sinkt. Wenn ich das Sicherheitsgefühl der Menschen permanent mit Meldungen wie „Vorsicht, Ausländer!“ oder „Vorsicht, Drogensüchtige!“ bombardiere, dann führt das zu einer latenten Verunsicherung, obwohl es keinen Grund dazu gibt.

Reinhard Kreissl, Wiener Zentrum für sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung

Soros oder Russland – die unterschiedlichen Verschwörungstheorien gegen die Proteste

Gegen die Gelbwesten in Frankreich reagieren die Freunde der Regierung Macron nicht mit Antisemitismus, sondern mit einer anderen Verschwörungstheorie. Danach steht Russland hinter diesen Protesten. Konkret sollen von Russland gesteuert Fake-News-Seiten für die Ausbreitung der Proteste verantwortlich sein. Darauf gab der Wiener Publizist Robert Misik in der Taz einen guten Konter [8]:

Letzteres ist sicher auch nicht falsch – aber der Glaube, eine sinistre Macht könnte Unmut nach Belieben entfachen und steuern und hinter jeder diffusen Erscheinung, die noch nicht völlig eindeutig interpretiert werden kann, stünde einer, der im Hintergrund die Fäden zieht, lappt schon sehr in Richtung Verschwörungstheorie. Die Idee von Putins Posting-Armeen ist in gewisser Weise die Verschwörungstheorie, die gegenwärtig im liberalen Zentrum beliebt ist. Sie wird eben bloß nicht Verschwörungstheorie genannt, weil die Anhänger dieser Verschwörungstheorie üblicherweise über Anhänger von Verschwörungstheorien lachen. Eine Verschwörungstheorie für Gegner von Verschwörungstheorien, was für eine praktische Sache!

Robert Misik, Taz

Es wäre tatsächlich viel gewonnen, wenn die Proteste in Ungarn nicht für unterschiedliche Formen der Kapitalherrschaft nach dem Motto „Modell Orban versus Modell Macron“ vereinnahmt werden könnten. Beide rollen dem Kapital den Teppich aus auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit.

Welcher Erfolg ist möglich?

Erfolg ist nur möglich, wenn die Proteste das gemeinsame Interesse in den Mittelpunkt stellen. Dann müssten sie die jahrelangen, auch erfolgreichen Arbeitskämpfe migrantischer Beschäftigter in der italienischen Logistikbranche als Vorläufer [9] ihrer Kämpfe begreifen. Die streikten gegen die gleiche Austeritätspolitik, die Italien zum Eldorado für das Kapital machen sollte.

Wie stark auch in liberalen Kreisen die Flüchtlingspolitik dazu genutzt werden soll, zeigten einige Kommentare zu den Protesten in Ungarn. Dort wurde argumentiert, dass es durch die migrantenfeindliche Politik kaum Arbeitslosigkeit in dem Land gibt und die Beschäftigten dadurch in einer stärkeren Position seien. Durch die neuen Gesetze soll diese Arbeitermacht unterminiert werden.

Da wird von den Liberalen offen gesagt, dass es ihnen nicht um Rechte für alle, sondern um Dumpinglöhne geht, wenn sie von Migration reden. Dagegen sollte eine soziale Bewegung das Recht aller Menschen auf ein würdiges Leben in den Mittelpunkt stellen. Dass werden zurzeit in Ungarn nur kleine Kerne der Bewegung verfechten. Sie könnten sich dann sicher auch auf die Ungarische Räterepublik [10] von vor fast 100 Jahren beziehen.

Mit einer solchen Orientierung haben sie nicht nur Jobbik, sondern auch die EU-Liberalen zum Gegner. Aber aus solchen Kernen könnte sich eine neue zeitgemäße linke Bewegung formen, die soziale Fragen mit dem Kampf gegen den Antifeminismus und Antisemitismus der Orban-Regierung verbindet.

Ihr könnte es gelingen, Arbeiter und Studierende, die gegen das Verbot der Genderforschung in Ungarn protestieren, mit kritischen Journalisten, die sich um die Pressefreiheit in dem Land sorgen, zusammenzubringen. Gelingt das nicht und behalten die EU-Liberalen die Hegemonie in der Bewegung, dann könnte sie so enden, wie zahlreich Proteste der vergangenen Jahre in Polen.

Da gelang es der rechten Regierung, die Forderungen nach Frauen- und Menschenrechten als Privilegien von Liberalen zu denunzieren und sie so einzuhegen. Zudem steht mit der Jobbik auch in Ungarn eine noch rechtere Herrschaftsvariante zum Orban-Regime bereit. Wenn die sich auch jetzt gegen Orban stellt, so darf nicht vergessen werden, dass es eine lange Kooperation zwischen beiden gab, schon 2006 als mit rechten Aufmärschen und Rundfunkbesetzungen die ebenfalls wirtschaftsliberalen Sozialdemokraten aus der Regierung vertrieben wurden [11].

Peter Nowak

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[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-proteste-gegen-viktor-orbans-sklavereigesetz-a-1244150.html
[2] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/autokonzern-bmw-baut-neues-werk-in-ungarn/22864454.html?ticket=ST-90195-x4bRTfk2OiSP9QOF0uFS-ap3
[3] https://www.nzz.ch/wirtschaft/auch-bmw-setzt-auf-ungarn-ld.1408595
[4] https://www.heise.de/tp/features/Der-ewige-Soros-4004513.html?seite=all
[5] https://www.vicesse.eu/reinhard-kreissl
[6] https://www.vicesse.eu/
[7] https://www.jungewelt.de/artikel/345570.sozialabbau-und-verunsicherung-zur-ablenkung-bauen-wir-gro%C3%9Fe-bedrohungen-auf.html
[8] http://www.taz.de/!5556273/
[9] https://de.labournet.tv/die-angst-wegschmeissen
[10] https://web.archive.org/web/20140621084341/http://www.dus.sulinet.hu/oktatas/Horthy/R%C3%A4terepublik_h.htm
[11] https://riotsinhungary.blog.hu/

Was stört die EU-Kommission an Ungarns Rechtsregierung?

In der ungarischen Opposition gibt es unterschiedliche Auffassungen zum Eingriff der EU

Lange Zeit konnte Ungarns Rechtsregierung augenscheinlich schalten und walten, wie sie wollte. Mit einer komfortablen Mehrheit im Rücken machte sie sich an den konservativen Staatsumbau. Die Proteste im Innern waren überschaubar und Kritik vom Ausland schien die Rechtskonservativen in ihrer Bunkermentalität nur zu bestärken. Doch seit sich in Ungarn die Folgen der Wirtschaftskrise bemerkbar machen und das Land dringend neue Kredite braucht, kann Ministerpräsident Viktor Orban die Kritik aus dem Ausland nicht mehr ignorieren.

Jetzt hat die EU-Kommission rechtliche Schritte gegen die ungarische Regierung eingeleitet. Gleich auf drei Feldern sieht sie das EU-Recht verletzt: bei der Unabhängigkeit der Notenbank, beim Pensionseintrittsalter von Richtern und bei der Unabhängigkeit des Datenschutzes.

Politische Beobachter gehen davon aus, dass Orban am ehesten bei der Bankreform zu Kompromissen gezwungen und bereit dafür ist. Er hat auch schon angedeutet, das Bankgesetz im Sinne der EU zu verändern. Am schwersten dürfte es der Regierung vor allem bei der Justizreform, einem Kernstück des Staatsumbaus, fallen, den Brüsseler Kritikern nachzugeben. Schließlich muss die Regierung dem eigenen Anhang gegenüber fürchten, das Gesicht zu verlieren, wenn sie einerseits gegen ausländische Einmischung polemisiert und Oppositionelle als Handlager des Auslands diffamiert, um dann selbst Brüsseler Vorgaben zu erfüllen.

Zumal mit der Jobbik-Bewegung eine rechte Opposition in Ungarn bereitsteht, die bereits Demonstrationen und Aktionen gegen die EU organisiert und Vergleiche zwischen Moskau vor 1989 und Brüssel zieht. Diese rechtspopulistischen Kräfte könnten von einer Schwächung des Orban-Regimes profitieren.

Weder Orban noch EU

Wesentlich schwieriger noch ist es für die liberale und linke ungarische Opposition, sich gegen die EU-Vorgaben zu positionieren. Von den liberalen Kräften wird das Vorgehen Brüssels weitgehend begrüßt. Dort wurde schon längerem ein Eingreifen gefordert. Manche Liberale wünschen sich noch stärkeren Druck aus den USA. Der ungarische Philosoph und Linksoppositionelle Gáspár Miklós Tamás warnt allerdings in einem Beitrag, erschienen in der liberalen ungarischen Zeitung hvg davor, im Kampf gegen Orban auf die EU zu setzen. Tamás warnt:

Das in der Vergangenheit schon so oft enttäuschte ungarische Volk könnte in der „Causa Demokratie“ nur das i-Tüpfelchen auf dem von den westlichen Mächten verordneten Sparmaßnahmenkatalog sehen. Letztere scheinen sich eher um Finanzstabilität zu sorgen. Wenn der Schutz der demokratischen Institutionen zwangsläufig mit einer Verarmung des ungarischen Volkes einhergeht, ist es nicht verwunderlich, dass sich die Bürger nicht für eine Wiederherstellung der liberalen Demokratie begeistern, die ihnen mehr Armut bringt.

Die Stichhaltigkeit seiner Argumente kann man an der EU-Kritik am ungarischen Bankengesetz deutlich machen. Die EU-Kommission wirft der ungarischen Regierung Verstöße gegen Artikel 130 des EU-Vertrags vor, der die Unabhängigkeit der nationalen Zentralbanken vorschreibt, sowie gegen Artikel 127, der bei Gesetzesänderungen Konsultationen mit der Europäischen Zentralbank (EZB) verlangt.

Im Detail bemängelt die Kommission, dass der Finanzminister direkt an den Sitzungen des geldpolitischen Rats teilnehmen kann, was der Regierung die Möglichkeit geben könnte, die Notenbank von innen zu beeinflussen. Auch müsse die Bank der Regierung vorab ihre Tagesordnung vorlegen, was vertrauliche Erörterungen behindere. Die Bezahlung des Notenbankpräsidenten werde schon jetzt, statt erst zur nächsten Amtszeit, verändert, was die Gefahr berge, dass auf diese Weise politischer Druck auf ihn ausgeübt werde. Problematisch sei auch, dass der Präsident und die Mitglieder des geldpolitischen Rats auf Ungarn und dessen Interessen vereidigt würden, obwohl der Präsident auch Mitglied des Erweiterten Rats der EZB sei.

Diese Kritik ist auch in dem Sinne zu lesen, dass die EU-Kommission die unabhängige Finanzpolitik eines Landes begrenzen oder gar verhindern will. Jede Regierung, mag sie auch durch Wahlen von der Bevölkerung legitimiert sein, die eine Banken- und Fiskalpolitik einschlägt, die nicht mit den Interessen der EU-Kernländer harmoniert, könnte sanktioniert werden.

Es ist nicht der von EU-Kommissionspräsident Barroso beschworene ominöse Geist der EU, der hier verletzt wird, sondern es sind Interessen von mächtigen Ländern in der EU, die hier tangiert werden. Die EU-Kommission hat nicht protestiert, als der griechischen Bevölkerung im Dezember vergangenen Jahres das Recht genommen wurde, über das Krisenprogramm abzustimmen. Dem griechischen Ministerpräsidenten Papandreous kostete der in populistischer Absicht gestartete Demokratieversuch das Amt.

Wenn Ungarns Liberale jetzt hoffen, dass auch Orban durch Druck aus Brüssel sein Amt verliert, stehen auch nicht Fragen zur Demokratie, sondern wirtschaftliche Interessen im Mittelpunkt. Anders als die Liberalen positioniert sich die kleine, aber in Großbetrieben verankerte Ungarische Kommunistische Arbeiterpartei in einer aktuellen Erklärung Gegen Urban, EU und IWF.
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36256/1.html
Peter Nowak