Widerspruch: Sowjetunion

Der französische Soziologe Charles Bettelheim kritisierte in den 70er Jahren die Sowjetunion aus einer kommunistischen Perspektive. Die Bände 3 und 4 seines Hauptwerks sind nun auch auf Deutsch erschienen.

Zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution wird uns eine Flut von Büchern erwarten, deren AutorInnen uns erklären werden, warum die Oktoberrevolution von Anfang an ein Verbrechen war. Charles Bettelheim gehörte nicht dazu. Der französische Soziologe hatte Bekanntheit errungen als linker Kritiker der Sowjetunion und des Realsozialismus und machte dabei immer deutlich, dass sein Ziel ein wirklicher Sozialismus ist. Eine Apologie der kapitalistischen Verhältnisse lag dem 1903 in Paris geborenen und dort 2006 verstorbenen engagierten Intellektuellen fern. Bettelheims besondere Stärke war seine profunde Kenntnis der ökonomischen Verhältnisse in der Sowjetunion und den realsozialistischen Staaten. Er begründete nicht moralisch, sondern mit seiner profunden Marx-Kenntnis, den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität in der realsozialistischen Ökonomie. Wer heute das nur noch antiquarisch erhältliche 1970 erschienene Buch «Ökonomisches Kalkül und Eigentumsformen» liest, bekommt eine gute Einführung in die präzise Argumentationsweise von Bettelheim. Dort weist er überzeugend nach, dass es falsch ist, Sozialismus mit Planwirtschaft und Verstaatlichung sowie Kapitalismus mit Markt gleichzusetzen. Bettelheim weist darauf hin, dass die formaljuristische Ebene noch keinen Aufschluss über die realen Produktionsverhältnisse gibt und Staatseigentum keine wirkliche Vergesellschaftung bedeutet. Es können auch in einer verstaatlichen Ökonomie kapitalistische Produktionsverhältnisse vorherrschen, so Bettelheims auf Texte von Marx und Engels gestützte Argumente.

Eine Form von Staatskapitalismus

In dem kürzlich im kleinen Berliner Verlag «Die Buchmacherei» erstmals in deutscher Sprache herausgegebenen Bände 3 und 4 seinen Monumentalwerkes «Klassenkämpfe in der UdSSR» spitzt Bettelheim seine Kritik am sowjetischen Modell fort. Er ezeichnet es als einen Staatskapitalismus, der weiterhin auf Ausbeutung von Arbeitskraft basiert. Dabei kann sich der Soziologe nicht nur auf Marx, sondern auch auf Lenin berufen. Der hat mehrmals erklärt, dass die Bolschewiki in der Sowjetunion nicht den Sozialismus aufbauen, sondern den Kapitalismus entwickeln müssen. Das war nun keine miese Finte der Bolschewiki oder gar ein Betrug an den  Massen, die die Revolution gemacht haben. Diese Entwicklung war vielmehr der tragischen Einsamkeit der Bolschewiki geschuldet. Nachdem alle anderen Räterepubliken blutig zerschlagen worden waren, sollte ausgerechnet das kapitalistisch noch kaum entwickelte Russland das Modell für den Aufbau des Sozialismus werden. Während Lenin diese Widersprüche noch benannte und sogar einmal davon sprach, dass eine neue kommunistische Partei gegründet werden müsste, die die ursprünglichen Ideen der Revolution nun gegen die Staatspartei erkämpfen müsse, haben seine NachfolgerInnen diese Widersprüche zunächst ausgeblendet und dann in der Stalin Ära blutig unterdrückt. Die ersten Opfer wurden die ArbeiterInnen und die Mitglieder der Bolschewiki. Bettelheim weist  überzeugend nach, wie mit der Etablierung eines besonderen Typs von Staatskapitalismus in der UdSSR die ArbeiterInnen mehr und mehr entmachtet wurden. Dabei macht er aber auch deutlich, dass dieser Prozess keineswegs reibungslos vor sich ging und sich grosse Teile der bolschewistischen AktivistInnen gegen diesen Kurs wehrten.

Klassengesellschaft neuen Typs

Die profunden Kenntnisse der sowjetischen Verhältnisse und besonders der Ökonomie zeigen sich da, wo Bettelheim die Debatte über die BetriebsleiterInnen nachzeichnet. Die hatten nach der Revolution massiv an Autorität eingebüsst. Statt dessen haben die Arbeiterkomitees viel Einfluss gehabt, der immer mehr beschnitten wurde, doch auch dieser Prozess war keineswegs linear. Wenn die ArbeiterInnenrechte zu stark eingeschränkt wurden, initiierte die Partei wieder eine Kampagne gegen die Macht der TechnikerInnen. Zudem wurden die Gewerkschaften aufgefordert, die Interessen der ArbeiterInnen besser zu vertreten. Ob solche Kampagnen reiner Populismus waren oder ob sie auch ein Ausdruck der improvisierten Politik der Bolschewiki war, die gegenüber ihrem eigenen Selbstbild und der Propaganda oft reagierten, lässt Bettelheim offen. Sehr differenziert betrachtet Bettelheim auchdie Stachanow-Bewegung. Dabei habe es sich zu nächst um eine Initiative gehandelt, die bei Segmenten der FacharbeiterInnen entstanden ist, die die Möglichkeiten der ArbeiterInnenmacht nutzten, die es nach der Oktoberrevolution gegeben hat. Doch bald wurde diese Initiative von der Staatspartei vereinnahmt und verfälscht. Auf einmal wurden überall Stachanow-Wettbewerbe ausgerufen, die meist keinerlei Erfolge brachten. So wurde eine Initiative von unten abgewürgt. Teile des Proletariats reagierten darauf allergisch, weil damit die Arbeitsnormen erhöht wurden. Bettelheim kommt auch zu dem Schluss, dass die bolschewistische Basis durchaus aus einem Teil der FacharbeiterInnen bestand. Es gab erfolgreiche Kampagnen, um mehr ArbeiterInnen in die Partei aufzunehmen. Allerdings sei ein Teil der Neumitglieder gleich in Funktionärsposten aufgerückt und habe sich so von der proletarischen Herkunft entfernt. Bettelheim zeigt auch auf, dass das Nomenklatura-System hierarchisch gegliedert war und es unterschiedliche Zugänge zu Vergünstigungen aller Art gab. So bildete sich eine Klassengesellschaft neuen Typs heraus. Ein Teil der alten FacharbeiterInnen wurde zur Nomenklatura und beutete andere ArbeiterInnensegmente aus, die oft erst aus der Landwirtschaft mehr oder weniger  freiwillig abwanderten. Die rigide Politik gegen die Bäuerinnen und Bauern erinnert auch an die ursprüngliche Akkumulation im Kapitalismus, wo das Bauernlegen ein wichtiger Bestandteil dafür war. Diese Aspekte werden von Bettelheim in klarer Diktion benannt und werden für eine hoffentlich kontroverse Debatte sorgen.

Einfluss der Neuen Philosophie

Doch leider bleibt das Buch nicht bei einer kommunistischen Kritik an der Sowjetunion stehen. An mehreren Stellen wird der Westen gelobt und gerade im zweiten Teil wird in eindeutig totalitarismustheoretischer Art und Weise über die Sowjetunion gesprochen. Hier wird deutlich, dass das Buch zumindest im zweiten Teil zunehmend von der sogenannten Neuen Philosophie kontaminiert ist, die sich bald als Vorkämpferin des freien Westens gegen den östlichen Despotismus aufspielte. Solche Töne kommen auch bei Bettelheim vor allem im hinteren Teil des Buches vor. Da hat er sein Fachgebiet verlassen und allerlei Theoriefragmente der Neuen Philosophie verwendet, deren Ziel ein Kampf gegen alle Formen linker Politik war. Einige der in dem B uch häufig zitierten WissenschaftlerInnen haben später das berüchtigte Schwarzbuch Kommunismus herausgegeben. So zeigt sich an diesem Buch ein zweifacher Bettelheim: Der präzise argumentierende mit profunder Marx-Kenntnis operierende Ökonomund der von der Neuen Philosophie beeinflusste Totalitarismustheoretiker.

Peter Nowak

CHARLES BETTELHEIM: KLASSENKÄMPFE IN DER UDSSR – BAND 3 UND 4. DIE BUCHMACHEREI, BERLIN 2016. 24 EURO

aus: vorwärts – 20. Jan. 2017