Nicht dort, nicht hier

Nach einer Haftstrafe wegen Paragraf 129b fordert Gülaferit Ünsal soziale Rechte ein.

Mein Name ist Gülaferit Ünsal. Ich forderte mein Asyl- und Aufenthaltsrecht sowie soziale Rechte.« Mehrmals wiederholte die Frau mit den längeren dunklen Haaren diese Ansprache vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Berlin. Seit Mitte Mai hat die 48-Jährige Protestaktionen vor verschiedenen Behörden in Berlin veranstaltet. Eigentlich wollte sie auch Berlins Innensenator Andreas Geisel einen Brief mit ihren Forderungen persönlich übergeben. Doch dazu bekam sie bis heute keine Gelegenheit. Auf ihre Bitte um einen Termin hat sie nicht einmal eine Antwort erhalten.

Dabei ist Ünsal nicht freiwillig nach Berlin gekommen. 2011 war die Türkin von Griechenland nach Deutschland ausgeliefert worden, wo sie wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach dem Paragrafen 129b angeklagt wurde. 2013 wurde sie vom Berliner Kammergericht zu einer Haftstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt. Sie sei von August 2002 bis November 2003 Europachefin der in der Türkei auch bewaffnet gegen den Staat kämpfenden Revolutionären Volksbefreiungsfront-Partei (DHKP-C) gewesen, so das Gericht in der Urteilsbegründung. Die Organisation beruft sich auf Marx und Che Guevara und fand in den 1990er Jahren sowohl in den Armenvierteln der türkischen Großstädte, aber auch in der akademischen Jugend UnterstützerInnen.

»Ich arbeitete in Istanbul als Stadtplanerin und engagierte mich dort in einer Gewerkschaft. Darüber bekam ich auch Kontakt zu linken Gruppen«, berichtet Ünsal über ihre Politisierung. »Mir ging es bei meinem Engagement immer um die Rechte der Ausgebeuteten und den Kampf gegen den Faschismus, der in der Türkei lange vor Erdogan begonnen hat«, betont sie. Mit Gewalt und Terror habe sie nie etwas zu tun habt.

Auch das Berliner Kammergericht konnte ihr keine Beteiligung an militanten Aktionen nachweisen. Verurteilt wurde sie wegen des Sammelns von Spenden und des Organisieren von Konzerten. JuristInnen kritisieren seit Jahren, dass mit dem Paragraf 129b legale Handlungen als Terrorismus kriminalisiert werden können, wenn damit eine Organisation unterstützt wird, die als terroristisch klassifiziert wird. Ünsal hat in den letzten Jahren die ganze Härte dieses Gesetzes zu spüren bekommen. Sie musste ihre Haftstrafe bis zum letzten Tag verbüßen.

Wenn Ünsal von ihrer Zeit in der JVA für Frauen in Berlin berichtet, spürt man, dass sie noch immer darunter leidet. Sie berichtet von Mobbingaktionen mehrerer Mitgefangenen, von schlaflosen Nächten, weil in den Zellen neben, unter und über ihr Tag und Nacht Krach war. Eine Mitgefangene habe sie rassistisch beleidigt und ihr mehrmals ins Gesicht geschlagen. Ablenkung fand Ünsal in dieser Zeit in der Malerei. Das Hobby hat sie bis heute nicht aufgegeben. Der Berliner Künstler Thomas Killper bescheinigt ihr künstlerisches Talent und würde ihre Bilder in Berlin zeigen. Doch Ünsal hat bisher wenig Zeit gehabt, sich ihrer Kunst zu widmen.

Im Januar 2018 wurde sie aus dem Gefängnis entlassen. »Es war nur der Wechsel aus einem geschlossenen in ein offenes Gefängnis«, so ihr bitteres Resümee fünf Monate später. Eigentlich wollte sie zurück nach Griechenland, wo sie vor ihrer Auslieferung lebte. Doch Ünsal darf Deutschland nicht verlassen. Deshalb stellte sie einen Asylantrag. Doch das Berliner Ausländeramt erklärt sich für nicht zuständig. Ünsal steht weiter unter Führungsaufsicht und darf keinen Kontakt zu Organisationen aufnehmen, die der Verfassungsschutz zum Umfeld der DHKP/C rechnet. »Ich lebe in einem rechtlosen Zustand, habe keine gültigen Dokumente, bin ohne finanzielle Unterstützung und auch nicht krankenversichert«, klagt Ünsal. Sabine Schmidt (Name geändert) spricht von einer kafkaesken Situation, in der sich Ünsal befinde. Sie lebt in einer Stadt, in der sie nie leben wollte, und wird doch behandelt, als existiere sie gar nicht.

Schmidt gehört zum Solidaritätskreis Gülaferit Ünsal, in dem sich schon während ihres Prozesses einige Menschen zusammengefunden haben. Sie schrieben ihr Briefe ins Gefängnis oder besuchten sie. Als Ünsal vor drei Jahren in Hungerstreik trat, um sich gegen das Mobbing und nur unregelmäßigen Postempfang zur Wehr zu setzen, organisierte die kleine Gruppe vor dem Gefängnis Kundgebungen. Jetzt beteiligt sie sich an Ünsals Protestaktionen.

Auch die Juristin und Bundestagsabgeordnete der Grünen Canan Bayram hat Ünsal kennengelernt, als sie sich nach einem wochenlangen Hungerstreik in lebensbedrohlichen Zustand befand. Bayram besuchte sie im Gefängnis, sprach stundenlang mit ihr und erreichte mit der Gefängnisleitung einen Kompromiss, so dass Ünsal den Hungerstreik abbrach. Sie habe die Gefangene nicht als Opfer kennengelernt, sondern als politisch handelnde Frau, so Bayram. Dass Ünsal nun weiterhin als Terroristin behandelt wird und für ihre Rechte kämpfen muss, ist für Bayram unverständlich. Sie hofft auf eine humanitäre Lösung und setzt sich dafür ein, dass Ünsal eine Therapie im Berliner Zentrum für Folteropfer antreten kann. Schließlich war sie in türkischen Gefängnissen Folter ausgesetzt gewesen und in ihrer Berliner Haftzeit mehrmals mit rassistischen Angriffen und dem Mobbing von Mitgefangenen konfrontiert.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1091305.kurden-in-deutschland-nicht-dort-nicht-hier.html

Peter Nowak

Dresden: Feldversuche und Tabubrüche


In der „Ordnungszelle Sachsen“ zeigt sich, wie die sogenannte Mitte nach rechts rückt. Manche wollen Pegida und AfD noch ersetzen, manche kooperieren schon längst

Der Einheitsfeiertag am 3.Oktober wird in diesem Jahr in Dresden zelebriert[1]. Dort wird am kommenden Montag ein Aufmarsch der zerstrittenen Pegida-Bewegung erwartet. Schon Tage vorher wurden die Einheitsfeierlichkeiten mit Bombenanschlägen gegen eine Moschee und ein Gemeindehaus[2] eingeleitet.

Dass die verantwortlichen sächsischen Politiker eine auf den ersten Blick zu erkennende Fake-Meldung[3], die die Anschläge der Dresdner Antifa in die Schuhe spielen wollte, zunächst als ernst zunehmenden Tathinweis bezeichnete, wurde nicht als der Skandal hingenommen, der er ist

Genau 36 Jahre vor den Dresdner Anschlägen ereignete sich der bis heute nicht aufgeklärte Anschlag auf das Münchner Oktoberfest[4]. Sicher ist, dass er von Neonazis begangen wurde. Einer kam dabei um. Ob und wie viel Mittäter er hatte, ist bis heute Gegenstand von Spekulationen (Das Oktoberfestattentat war kein Werk eines Einzeltäters[5]). Zurzeit ermittelt die Justiz wieder. 1980 versuchten konservative Medien und der damalige Unions-Kanzlerkandidat Franz-Josef Strauß, die radikale Linke für den Anschlag verantwortlich zu machen.

Haben also die noch unbekannten Verantwortlichen für die Anschläge ganz bewusst den Jahrestag des Münchner Anschlags gewählt, um das Szenario in Sachsen zu wiederholen? Warum spielten führende sächsische Politiker so willig bei diesem Spiel mit, indem sie der auf Indymedia geposteten Fake-Meldung einer angeblichen Dresdner Antifa nicht sofort als Fälschung bezeichneten?

Feststellen kann man: Für führende sächsische Unionspolitiker steht der Feind links und der fängt bereits bei der Amadeu Antonio Stiftung[6] an. Der sächsische Unionsabgeordnete Thomas Feist bezeichnet sie als „Plattform für Linksradikale“[7] und will die Förderung überprüfen lassen.

Feldversuch zur Züchtigung von Rechten in Sachsen

Zuvor hatte sich schon sein Parteifreund Alexander Krauss in der rechtskonservativen Wochenzeitung Junge Freiheit jegliche Belehrung durch die Antonio Amadeu Stiftung verbeten[8]. Damit reagierte er auf die Stiftungsvorsitzende Anetta Kahane, die erklärt hatte:

Wenn man mal einen Feldversuch machen will, wie man Nazis groß bekommt, dass die richtig machen können, was sie wollen, dann muss man sich Sachsen angucken.Anetta Kahane

Anetta Kahane

In jüngster Zeit unternimmt die sächsische CDU gerade alles, um Kahane Recht zu geben. Pünktlich zum Einheitsfeiertag legt sie gemeinsam mit der bayerischen CSU ein Leitlinienpapier vor, das für „Patriotismus und Heimatliebe“ und den Aufbau starker “ nationaler und regionaler Identitäten“ plädiert und den Anspruch erhebt, „werteorientierter Patriotismus darf nicht den Falschen überlassen werden“.

Mit den Falschen sind wohl Pegida und AfD gemeint, mit denen CSU und sächsische CDU darüber streiten wollen, wer am besten deutsche Werte vertritt. Gehört die sächsische CDU-Abgeordnete Bettina Kudla[9] nach Ansicht der Verfasser des Leitlinienpapiers schon zu den Falschen? Oder hat sie mit ihrer Tweetwarnung vor einer „Umvolkung Deutschlands“ nur dazu beigetragen, dass solche Äußerungen nicht die Falschen verwenden?

Schließlich haben ja auch führende CSU-Politiker in der Vergangenheit solche inkriminierten Begriffe verwendet, ohne einen Karriereknick zu erleiden. Auch Kudla kann weiter „vollen Einsatz für Leipzig“ zeigen, wie sie es auf ihrer Homepage androht. Ihr Tweet hat keine Folgen[10].

Anders als in der Causa Martin Hohmann, wo das Merkel-Lager in der CDU noch stark genug war, den Rechtskonservativen nach einer antisemitischen Rede aus der Partei zu werfen – heute macht er übrigens Kommunalpolitik für die AfD[11] -, kann und will man sich im Fall Kudla nicht gegen die sächsische Union stellen.

Denn die Abgeordnete mag sich im Ton vergriffen haben, in der Sache dürfte ein großer Teil der CDU-Basis mit ihr übereinstimmen. Zudem hätte Kudla ja schnell bei der AfD andocken können und so der Partei ein erstes Bundestagsmandat bescheren können.

In Sachsen wäre es ein Tabu, mit Pegida und AfD nicht zu reden

Zur „Ordnungszelle Sachsen“ gehört auch eine Strömung der Grünen, die bereits seit 1989 nach rechts weit offen war. Ihr gehört die ehemalige sächsische Grünenpolitikerin Antje Hermenau[12] an, die immer mit der Union kooperieren wollte. Seit es Pegida gibt, tritt sie als Schutzpatronin der angeblich besorgen Bürger auf.

Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sie jetzt auf AfD-Veranstaltungen ihr Buch „Die Zukunft wird anders“ vorstellt. Gerüchte, sie sei bereits der AfD beigetreten, weist sie zurück Die Annäherung muss langsamer laufen. Die sich selbst als Netzwerkerin verstehende Hermenau reiste von Dresden gleich nach Ungarn, dem Vorbild für eine rechte Machtübernahme in Europa im 21.Jahrhundert.

Zustimmung fand sie dabei beim Taz-Kommentator Peter Unfried[13], der wöchentlich dafür wirkt, dass die Grünen endlich in Deutschland ankommen sollen, was sie bereits seit mehr als 25 Jahren getan haben. In Wirklichkeit meint er damit, sie sollen nach rechts offener werden.

Bisher warb er unermüdlich für das Modell Kretschmann, doch dafür fehlen in Ostdeutschland die Grundlagen. Daher bezeichnet er Antje Hermenau als angebliche Tabubrecherin, die mit der AfD spricht und ihr vor allem zuhört. Nur wird in Sachsen mit der AfD und Pegida geredet und zugehört, seit es sie gibt.

Die Zentrale für politische Bildung lud sie sogar in ihr Büro[14]. Auch ist der Politologieprofessor Werner Patzelt längst vom Pegida-Erklärer zum Pegida-Versteher mutiert: In Sachsen ist es kein Tabu, mit Pegida und AfD zu reden, das Tabu ist vielmehr, sie ganz klar zu bekämpfen.

Die sächsische Linke und ihr nationaler Flügel: „Ausgrenzender Antifaschismus ist nicht hilfreich“

Die sächsische Linkspartei hat das Glück, dass sich ihr nationaler Flügel schon in den 1990 Jahren in der PDS desavouiert hat. Die damalige Dresdner Vorsitzende Christine Ostrowski und ihr Umfeld hatten keine Probleme, mit Neonazis zu reden, was heftige Kritik innerhalb der Partei auslöste. Doch ihr Austritt erfolgte, weil sie auch noch vehement für den Verkauf von kommunalen Wohnungen in Dresden eintraten und sich dafür auch durch Parteibeschlüsse nicht beirren ließen.

Nach einem Intermezzo bei der FDP geriert sich Ostrowski nun als bekennende AfD-Wählerin[15] und Merkel-Kritikerin. Einer von Ostrowskis Mitarbeitern war Jens Lorek[16], der bei Pegida-Veranstaltungen auftritt[17] und sich zu den Bautzener Wutbürgern gesellte[18].

„Ausgrenzender Antifaschismus ist nicht hilfreich“ erklärte die damalige PDS-Politikerin Ostrowski bereits 1992[19], als sie wegen ihres Dialogs mit einem Neonazi kritisiert wurde. Sie und ihr Umfeld sind sich also treu geblieben.

Einige sind Tabubrecher und Erinnerung an die Opfer rechter Gewalt

Das Credo vom ausgrenzenden Antifaschismus, der das eigentliche Problem sei, gehört in der Ordnungszelle Sachsen mittlerweile fast zum Allgemeingut. Dem verweigern sich einige linke Gruppen[20] und ein kleiner Teil der Zivilgesellschaft, die tatsächlich ein Tabu brechen.

Sie reden nicht mit der AfD und Pegida. Sie benennen am deutschen Einheitstag die Opfer einer rechten Politik. Dazu gehört auch die Ausstellung Baustelle Europa im Kunsthaus Dresden[21]. Dort hat der in Berlin lebende Künstler Thomas Kilpper[22] mehrere Kohlezeichnungen ausgestellt, die Tatorte darstellen, an denen in den letzten 18 Monate rassistische Anschläge verübt wurden.

Ca. 300 Meter entfernt auf dem Jorge-Gomondai-Platz hat Thomas Kilpper die Installation Ein Leuchtturm für Lampedusa[23] aufgestellt, die sich dem Thema Flucht, Vertreibung und Widerstand widmet. Benannt ist der Ort nach dem ersten rassistischen Todesopfer nach der Wiedervereinigung in Dresden. Der Vertragsarbeiter aus Mosambik wurde an diesem Ort am 6. April 1991 erschlagen. Am 1. Juli 2009 wurde die in Ägypten geborene Pharmazeutin Marwa El-Sherbine im Gerichtssaal erstochen, wo sie den Täter wegen rassistischer Beleidigungen verklagt hatte[24].

Die neuen Anschläge in Dresden sind nur die weitere Begleitmusik zum Deutschen Einheitsfeiertag. Manche werden daher in Dresden am 3.Oktober ein Tabu brechen und diesen Deutschen Opfern gedenken und gegen die „Ordnungszelle Sachsen“ demonstrieren[25].

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49577/2.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[0]

https://commons.wikimedia.org/wiki/Dresden#/media/File:Canaletto_-_Dresden_seen_from_the_Right_Bank_of_the_Elbe,_beneath_the_Augusts_Bridge_-_Google_Art_Project.jpg

[1]

https://www.tag-der-deutschen-einheit.sachsen.de/

[2]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49530/

[3]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49542/

[4]

http://story.br.de/oktoberfest-attentat/

[5]

http://www.heise.de/tp/artikel/33/33015/

[6]

https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/

[7]

http://www.mdr.de/nachrichten/politik/regional/amadeu-antonio-stiftung-102.html

[8]

https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2016/cdu-politiker-krauss-sachsen-braucht-keine-belehrungen

[9]

http://www.bettinakudla.de/

[10]

http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-09/bettina-kudla-tweet-cdu-michael-grosse-broemer-gespraech

[11]

http://www.hagalil.com/2016/07/hohmann

[12]

http://antje-hermenau.de

[13]

http://www.taz.de/!5340021

[14]

http://www.tagesspiegel.de/politik/nach-pegida-pressekonferenz-landeszentrale-fuer-politische-bildung-sachsen-unter-druck/11254128.html

[15]

https://www.sachsen-depesche.de/regional/christine-ostrowski-ehem-pds,-linke-bekennt-%E2%80%9Enun-w%C3%A4hle-ich-afd%E2%80%9C.html

[16]

http://www.taz.de/!5012088

[17]

http://kontrageil.de/alltag/jens-lorek-der-neue-shootingstar-der-pegida-comedytruppe

[18]

http://www.bild.de/regional/dresden/fremdenfeindlichkeit/so-hat-die-polizei-bautzen-entschaerft-47885630.bild.html

[19]

http://jungle-world.com/artikel/2000/51/26566.html

[20]

https://nationalismusistkeinealternative.net/3-oktober-2016-gegen-die-einheitsfeier-in-dresden

[21]

http://kunsthausdresden.de

[22]

http://www.kilpper-projects.net/blog

[23]

http://www.kilpper-projects.net/blog/?p=53

[24]

http://www.tagesspiegel.de/politik/fuenf-jahre-nach-dem-mord-gedenken-an-marwa-el-sherbini/10127968.html

[25]

https://nationalismusistkeinealternative.net/3-oktober-2016-gegen-die-einheitsfeier-in-dresden

Brennender Rassismus

Nicht nur in Tröglitz gab es in den letzten Tagen Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte

Das Städtchen Tröglitz und sein ehemaliger Bürgermeister Markus Nierth wurden Anfang März 2015 bundesweit bekannt. Der Ortsbürgermeister hatte seinen Rücktritt erklärt [1], weil er von der NPD und einem Teil der Dorfbewohner heftig attackiert worden war, nachdem er für den geplanten Zuzug von Geflüchteten in den Ort eintrat. Auch nach seinem Rücktritt hatte Nierth einen Großteil der Bevölkerung in dem Ort verteidigt [2] und betont, dass sie von der NPD instrumentalisiert worden seien.

Ein Mitglied der antirassistischen Initiative „Halle gegen Rechts“ [3] bestätigte [4] im Interview mit der Jungle World, dass NPD-Funktionäre an der Hetze gegen den zurückgetretenen Bürgermeister beteiligt waren. Doch das sei nur möglich, weil ein Teil der Ortsbewohner deren rassistische Denkweise teile. Das zeigte sich auch nach dem Rücktritt von Nierth. Während dieser bundesweit als Kapitulation vor einem rechten Mob aufgefasst wurde, betonten Einwohner von Tröglitz, sie seien weiter gegen den Zuzug von Geflüchteten.

In der letzten Nacht fühlten sich bei einer solchen Stimmung einige berufen, diese Forderung umzusetzen. In der Nacht zum Samstag brannte das für die Geflüchteten vorgesehene Gebäude aus. Die Polizei Sachsen-Halle-Süd geht von einer vorsätzlichen schweren Brandstiftung [5]aus, auch ein versuchter Tötungsdelikt könne nicht ausgeschlossen werden. Bisher Unbekannte seien in das Gebäude eingebrochen und hätten in mehreren Stellen Feuer gelegt. Dabei seien mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Brandbeschleuniger zum Einsatz gekommen. Vor allem das Dach sei durch das Feuer stark beschädigt worden.

Wenn es in der Pressemitteilung der Polizei auch heißt, ein Motiv sei bisher unbekannt, sehen auch konservative Medien [6] einen Zusammenhang zwischen der rassistischen Mobilisierung vor Ort und dem Brand. Der Anschlag von Tröglitz hat durch die Berichte über die rassistische Mobilisierung nach dem Rücktritt des Bürgermeisters natürlich ein besonders großes Interesse gefunden. Doch ein Einzelfall ist es nicht.

Auch Brandanschlag auf Flüchtlingseinrichtung in Kreuzberg

Nicht in einem kleinen Ort in der Provinz, sondern mitten in Berlin-Kreuzberg, wurde vor einigen Tagen ein Brandanschlag [7]auf einen Treffpunkt der Flüchtlingsbewegung verübt (). Die Kunstinstallation Haus der 28 Türen [8] brannte [9] völlig aus.

Die Installation war von den Künstlern den Menschen gewidmet worden, die auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben an den Außengrenzen Europas ums Leben kommen. Es diente den Geflüchteten als Treffpunkt, nachdem ihr Camp am Oranienplatz geräumt worden war. Geflüchtete machten vor einigen Tagen auf einer Pressekonferenz am Ort des Brandanschlags darauf aufmerksam, dass sie in den letzten Jahren mitten in Kreuzberg häufiger Ziel solcher Attacken waren. „Es ist nur einer von zahlreichen Angriffen gegen unseren Protest: Im August 2014 wurde unser großes Versammlungszelt verbrannt, mehrmals wurden Tische und andere Materialien unseres Infopunktes zerstört und auch physische Angriffe auf Refugee-Aktivisten kamen bereits vor“, berichteten sie.

Mit den Angriffen auf den Oranienplatz soll eine Bewegung getroffen werden, die sich in den letzten Jahren gegen staatliche Repressionsversuche behauptet hat. Denn während in Orten wie Tröglitz kein Geflüchteter freiwillig gehen würde, wurde das Refugee-Camp am Oranienplatz zum Anziehungspunkt vieler Geflüchteter. Dabei kann das Leben und vor allem Überleben in den öffentlichen Zelten keineswegs romantisiert werden. Die Räumung war nur möglich, weil ein Teil der Geflüchteten zermürbt war, für motivsuchende Touristen und Aktivbürger auf dem Präsentierteller zu leben. Aber der Oranienplatz als Ort des Widerstands, der er auch nach der Räumung des Camps blieb, ist eben manchen ein Dorn im Auge, wie die Anschläge zeigen.

Die Geflüchteten haben erklärt, sie wollen auch nach dem Brandanschlag ihren Protest fortsetzen und überlegen, ob eine neue Installation dort errichtet werden soll. Vielleicht kommt ja ein Projekt zum Zuge, dass der Berliner Künstler Thomas Kilpper [10] schon vor zwei Jahren vorgeschlagen hat. Er wollte einen Leuchtturm [11] auf dem Oranienplatz nachbauen, der ein Symbol für einen Willkommensgruß für Geflüchtete und auch ein guter Treffpunkt wäre.

Rechte bedrohen Flüchtlingsunterstützer

Die Nachricht vom abgebrannten Flüchtlingstreffpunkt am Oranienplatz wurde zustimmend bei einer rechten Kundgebungam Donnerstagabend in Marzahn mit Schadenfreude kommentiert. Dazu hattenbekannte rechte Aktivisten aus Marzahn aufgerufen. Zuvor hatten sie bei einer Veranstaltung zur Einrichtung einer Unterkunft für Geflüchtete in dem Stadtteil versammelt und nach Angaben [12] von Augenzeugen Teilnehmer bedrängt und bedroht.

Auf der fast zweistündigen Kundgebung auf der Marzahner Promenade blieben die Rechten weitgehend unter sich. Doch ihre Aufrufe gegen die Unterkunft für Geflüchtete dürfte von mehr Bewohnern des Stadtteils geteilt werden. In den letzten Wochen haben die Rechten in dem Stadtteil massiv Präsenz [13] gezeigt.

Bisher wurde oft argumentiert, dass die Aufmärsche gegen Geflüchtete in diesen Wochen das Herausbilden einer rechten Zivilgesellschaft bedeute, anders als Anfang der 90er Jahre sei es nicht zu pogromartigen Auseinandersetzungen gegen Geflüchtete gekommen. Aber nicht erst die jüngsten Brandanschläge zeigen, dass die Warnungen von Antirassismusgruppen [14] berechtigt sind. Diese Aufmärsche schaffen ein Klima, in dem Anschläge gegen Geflüchtete zunehmen – in Kreuzberg ebenso wie in Tröglitz.

http://www.heise.de/tp/news/Brennender-Rassismus-2595946.html

Peter Nowak

Links:

[1]

http://www.mz-web.de/themen/ortsbuergermeister-markus-nierth,25520402,30081896.html

[2]

http://www.heute.de/zurueckgetretener-buergermeister-im-zdf-troeglitz-ist-nicht-rechtsextrem-37522108.html

[3]

http://www.halle-gegen-rechts.de/

[4]

http://jungle-world.com/artikel/2015/12/51652.html

[5]

http://www.presse.sachsen-anhalt.de/index.php?cmd=get&id=870555&identifier=794a25572307ca096833e95b8d8c96b8

[6]

http://www.focus.de/panorama/welt/brand-in-geplanter-asylbewerberunterkunft-buergermeister-vertrieben-zuendeten-beonazis-jetzt-das-fluechtlingsheim-an_id_4590732.html

[7]

http://www.rbb-online.de/panorama/beitrag/2015/03/fluechtlings-kunstprojekt–28-tueren–niedergebrannt.html

[8]

http://www.28doors.eu/

[9]

http://www.kub-berlin.org/index.php/de/37-startseite/527-die-kunstinstallation-das-haus-der-28-tueren-auf-dem-oranienplatz-in-kreuzberg-die-fluechtlingsschicksale-thematisiert-ist-niedergebrannt-worden-die-polizei-spricht-von-brandstiftung

[10]

http://www.kilpper-projects.net/blog/?cat=3

[11]

http://www.3sat.de/page/?source=%2Fkulturzeit%2Fthemen%2F133436%2Findex.html

[12]

http://www.asta.asfh-berlin.de/de/AntiRaFa-Referat/pm-infoveranstaltung-zu-containern-fuer-asylsuchende-nazis-drohen-massiv.html

[13]

http://gemeinsam-gegen-rassismus.net/chronik-marzahn

[14] https://www.amadeu-antonio-stift

Occupy Karlsruhe

Zentrum für Kunst und Medien zeigt Ausstellung über Protestbewegungen in aller Welt

Noch bis Ende März sind im ZKM in Karlsruhe vor allem Videodokumentationen zu sehen, die Protestaktionen aus der ganzen Welt zeigen. Darunter ist auch ein Film über Lampedusa-Flüchtlinge.

Das Foto des Stuttgarter Rentners Dietrich Wagner, der durch einen Wasserwerfereinsatz bei einer Demonstration gegen Stuttgart 21 sein Augenlicht verloren hat, wurde zum Symbol für einen Staat, der bei der Durchsetzung seiner Projekte keine Rücksichten kennt. Im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) bleiben viele Besucher besonders lang vor dem Foto stehen, auf dem Wagner blind mit blutenden Augen zu sehen ist und von zwei Helfern gestützt wird. Vielleicht, weil es eines der wenigen Zeugnisse der deutschen Protestbewegung in der umfangreichen Ausstellung »global activism« ist, die noch bis zum 30. März im Erdgeschoss des ZKM zu sehen ist. Kuratiert wurde sie vom Museumsdirektor Peter Weibel.

Schon zu Beginn überwältigt die Fülle der ausgestellten Materialien: In einem Video spricht der US-Linguist und langjährige Aktivist Noam Chomsky kritisch über die Außenpolitik der USA. Eine Dokumentation informiert über die Proteste gegen Vergewaltigungen von Frauen in Indien. Wer alle in der Ausstellung präsentierten Videoarbeiten sehen will, müsste dort mehrere Tage verbringen. Nicht nur die Fülle an Videos macht die Ausstellung in Karlsruhe zu einem guten Spiegelbild der Protestbewegungen der letzten Jahre, bei denen Handys und Videokameras zu den wichtigsten Requisiten gehörten. In der Ausstellung findet man tatsächlich Szenen von fast allen Protesten der vergangenen Jahre rund um die Welt. Vom ägyptischen Tahrir-Platz über die Occupy-Camps in den USA bis zu den jüngsten Protesten in der Ukraine wird kaum etwas ausgelassen.

Wer Videos von den Gezipark-Protesten ansehen will, muss sich tief bücken. In Zelten sind kleine Laptops aufgestellt, auf denen in einer Endlosschleife Szenen vom Protestalltag laufen. Ist die Dokumentation der Proteste schon allein Kunst? Angesichts der Überfülle des Videomaterials fällt es oft schwer, die künstlerisch bemerkenswerten Positionen zu finden. »Ein Leuchtturm für Lampedusa« des Berliner Künstlers Thomas Kilpper gehört auf jeden Fall dazu: Die Dokumentation zeigt das Leben von Geflüchteten auf der italienischen Mittelmeerinsel. Sie sprechen über ihre Erlebnisse bei der Überfahrt und trauern um die Freunde und Verwandten, die dabei gestorben sind. Mit seinem Leuchtturm will Kilpper ein Kunstwerk symbolisieren, das Leben retten kann. Der britische Künstler Mark Wallinger hat das Protestcamp des verstorbenen Friedensaktivisten Brian Haw ins ZKM geholt. Haw hatte in dem Camp seit Beginn des Irakkrieges bei jedem Wetter mehrere Jahre in der Nähe des britischen Regierungssitzes ausgeharrt. Auch der Zaun, der die Baustelle rund um den Stuttgarter Bahnhof (S21) begrenzte, hat es mit einer Vielzahl von Zetteln und Anmerkungen von Passanten ins Museum geschafft.

Man braucht Zeit für die Ausstellung, und man wird in der Fülle interessante Entdeckungen machen. Auch ein Besuch der ersten Etage des ZKM lohnt sich: Dort hängen Fotos des Berliner Fotografen Julian Röder, der seit vielen Jahren internationale Proteste künstlerisch begleitet.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/925288.occupy-karlsruhe.html

Peter Nowak

Bis 30. März, ZKM Karlsruhe, Mi-Fr 10-18 Uhr, Sa-So 11-18 Uhr. www.global-activism.de/exhibition-ausstellung

Leben und Sterben auf Lampedusa

Links

[1]

http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlingskatastrophe-vor-lampedusa-harte-fragen-an-die-nato-1.1128734

[2]

http://www.centrobalducci.org/easyne2/LYT.aspx?Code=BALD&IDLYT=359&ST=SQL&SQL=ID_Documento=1454

[3]

http://vmv.ch/joomla/index.php?option=com_content&task=view&id=746&Itemid=42

[4]

http://lampedusa-in-hamburg.tk

[5]

http://www.art-magazin.de/div/heftarchiv/2012/2/EGOWTEGWPOWPWPOGSOPOTACS/%22Die-Wirklichkeit-ist-manchmal-st%E4rker-als-die-Kunst%22

[6]

http://www.isaacjulien.com/home

[7]

http://www.isaacjulien.com/mediadetail.php?project=27&type=images

[8]

http://www.villaromana.org/front_content.php?idart=174

[9]

http://www.kilpper-projects.de/blog/

http://www.heise.de/tp/blogs/8/155071

Das Volk ruft laut und vernehmlich „Hallo!“

SPEAKERS‘ CORNER Am Rosa-Luxemburg-Platz hat der Künstler Thomas Kilpper ein Megafon aufgebaut. Passanten ergreifen das Wort

Auf der Wiese vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz sitzt am Samstagnachmittag eine Gruppe von Menschen und lauscht einem Redner. Er spricht durch ein trichterförmiges Megafon, das dort auf einem Holzpodest aufgebaut ist und mit seinen bunten Farben sofort auffällt. Immer wieder steigen Neugierige auf das Podest und sprechen in den Trichter. „Willkommen in Berlin“, sagt eine Frau erst so leise, dass es kaum zu verstehen ist. Unterstützt von ihren FreundInnen wiederholt sie den Satz zweimal. Jetzt ist er auf dem gesamten Platz zu hören. Menschen bleiben stehen und zücken ihre Handykamera, andere wollen selber in den großen Trichter sprechen.

Das ist ganz im Sinne des Künstlers Thomas Kilpper, der in der vergangenen Woche mit seinem MEGAphone-Projekt einen Speakers‘ Corner auf dem Rosa-Luxemburg-Platz eingerichtet hat. Kilpper, der in der kleinen Lichtenberger Galerie „after the butcher“ seit Jahren gesellschaftskritische Kunst ausstellt, hat den Ort bewusst gewählt. Der Künstler erinnert daran, dass der heutige Rosa-Luxemburg-Platz in der Weimarer Republik als Sitz der KPD-Zentrale Ausgangspunkt großer linker Protestdemonstrationen war. Im Jahr 1913 richtete sich die Volksbühne unter dem Motto: „Die Kunst dem Volke“ mit ihrem Programm an all jene Menschen, die bisher aus dem Theater ausgeschlossen blieben.

Unverständliche Laute

100 Jahre später will Kilpper mit seinem Kunstprojekt die aktuellen Machtverhältnisse hinterfragen. „Wer kommt in unserer Gesellschaft zu Wort? Wer verschafft sich Gehör? Wer ergreift die Initiative im Sinne gesellschaftlicher Veränderung?“, erklärt er sein Anliegen.

Nicht nur Passanten nutzen den Trichter. An manchen Tagen tragen auch KünstlerInnen Texte vor. Am vergangenen Mittwoch las etwa Katja von Helldorff Ausschnitte aus wenig bekannten Briefen Rosa Luxemburgs vor, in denen sie sich an dem kleinen Ausschnitt Natur vor den vergitterten Fenstern ihrer Gefängniszelle freut.

An diesem Samstag lässt sich Achim Lengerer auf dem Podest nieder. Er liest aus historischen Dokumenten. Die zeigen, wie die ostdeutsche Stasi und westdeutsche Apo-Studierende aus unterschiedlichen Gründen 1970 die Aufführung des von dem Dramatiker Peter Weiss geschriebenen Stücks „Trotzki im Exil“ verhindern wollten.

Solche anspruchsvollen Texte sind auf dem Platz aber die Ausnahme. Die Stimme des Volkes klingt ansonsten auch mal schlicht: Die Mehrheit der Menschen schickt Grüße, Hallo-Rufe und manchmal auch einfach nur unverständliche Laute über das Megafon. Das ist noch bis Ende August möglich, dann wird der Trichter voraussichtlich wieder abgebaut.
taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ba&dig=2013%2F08%2F19%2Fa0112&cHash=3f7699273f12504c7daa038630fdda0b

Peter Nowak