Die kapitalistischen Verwertungszwänge sind die „Mutter aller Probleme“, nicht die Migration

Warum die Aufstehen-Bewegung trotz vieler berechtigter Kritik eine positive Rolle haben kann

Horst Seehofer hat es wieder getan. Indem er die Migration zur „Mutter aller Probleme“ erklärte, lieferte er nicht nur eine weitere Kampfansage an Merkel, wie der Publizist Albrecht von Lucke in seinem engagierten Deutschlandfunk-Interview erklärte [1].

Das eigentliche Problem besteht darin, dass er diese Kampfansage auf dem Terrain und mit den Themen der AfD führt. Es sind Bewegungen wie Pegida und Parteien wie die AfD, die alle politischen Erscheinungen auf die Migration zurückführen. Es ist daher eine Bestätigung dieser Bewegungen, wenn nun Seehofer deren Welterklärungsmodelle übernimmt. Er bedient die rechte Klientel, in dem er auf deren ideologischem Terrain bleibt und mit dafür sorgt, dass weiterhin die Migration das zentrale Thema bleibt. Davon profitieren rechte Grupperungen.

Dabei geht es nicht darum, dass nun die Politiker unter Umständen auch harsche Worte über die AfD finden. Das hat der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki [2] ebenso getan, wie der sächsische Ministerpräsident Kretschmar. Doch beide haben auch zentrale Erklärungsmuster der AfD übernommen, Kubicki, wenn er die Ursache für die rechten Aufmärsche in Chemnitz und anderswo in der angeblichen Grenzöffnung von Merkel 2015 sieht. Dabei übernimmt er schon rechte Denkmuster dadurch, dass er von einer Grenzöffnung fabuliert, die gar nicht stattgefunden hat.

Tatsächlich geht es den Kritikern darum, dass 2015 die in der EU offenen Grenzen nicht mit Panzer und Wasserwerfer gegen die Migranten verteidigt wurde. Zudem gab Kubicki so den rechtslastigen, häufig als akademischen Pegida-Versteher [3] apostrophierten Werner Patzelt die Gelegenheit, Kubicki und selbst Seehofer noch einmal von rechts zu überholen. „Wenn er damit gemeint hat, dass die Flüchtlingspolitik die Wurzel für dieses Übel ist, dann hat er Recht“, erklärte Patzelt. Hat Seehofer die Migration als Mutter aller Probleme bezeichnet, unternahm Patzelt die semantische Verschärfung, in dem er von der Mutter aller Übel sprach.

Jagdszenen oder Hetzjagd auf Chemnitzs Straßen?

Auch der sächsische Ministerpräsident bestätigt mit seiner Erklärung, dass es keine Hetzjagden und Pogrome in Chemnitz gegeben hat, die Rechten. Dabei muss man allerdings hinzufügen, dass durch manche alarmistischen Beiträge des liberal-weltoffenen Lagers die Rechten auch eher bestärkt wurden.

Es waren, worauf Albrecht von Lucke in seinem Deutschlandfunk-Interview hinwies, gut organisierte rechte Aufmärsche. Da wurde auch dafür gesorgt, dass die beim Trauermarsch anwesenden Neonazis den rechten Arm unten lassen mussten. Sie wurden vorher von ihren Führungsleuten entsprechend instruiert: „Heute sind wir Volk, nicht Gesinnung“, lautete das Motto. Also Nazis dürfen schon dabei sein, sie sollen sich nur nicht als solche zeigen.

Nun wird in den Medien diskutiert, ob in Chemnitz Jagdszenen [4] oder eine Hetzjagd [5] stattgefunden hat. Tatsächlich ist die Semantik gerade bei einer Thematik wichtig, bei der den Rechten vorgeworfen wird, mit der Sprache hetzen und spalten zu wollen. Doch all diese Beiträge bleiben auf dem Terrain der Rechten – und sie können davon profitieren, selbst wenn die sich kritisch zur AfD und ihrem Umfeld äußern.

Warum Initiativen wie Aufstehen gerade jetzt wichtig sein könnten

Dabei ginge es darum, das Diskursfeld der Rechten zu verlassen und andere Themen in die Debatte zu werfen, die durch das rechte Themensetting erfolgreich verdrängt werden. Hier könnte die kürzlich gegründete Initiative Aufstehen [6] eine positive Rolle spielen. Denn dort ist eben nicht die Migration, sondern die soziale Spaltung das zentrale Problem.

Das ist natürlich eine derart beliebige Aussage, dass sie von Teilen der CDU ebenso unterschrieben werden kann wie von einem großen Teil der Reformlinken. Dass nun vor allem von den Grünen und der SPD Politiker dabei sind, die in ihrer Partei nichts oder nichts mehr zu sagen haben, könnte auch darauf hindeuten, dass es sich um eine von vielen Initiativen handelt, die nach ihrer Gründung bald wieder vergessen sind. Oder wer redet noch über die mit viel publizistischem Aufwand vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yaroufakis initiierte DIEM-Bewegung?

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Aufstehen wie in den frühen 1990er Jahren die Komitees für Gerechtigkeit am Ende damit enden, dass auf den Listen der Linken einige Parteilose kandidieren. Aber das ist nicht das Entscheidende. Aufstehen wird keine Revolution anführen und das ist auch gar nicht das Ziel.

Aber es gibt auch einen positiven Moment der Gründung, nämlich dass die politische Diskursebene gewechselt wurde. Es handelt sich hier nicht um eine linke Debatte, sondern um eine, in der Linke mitdiskutieren und Akzente setzen können, ganz im Gegensatz zur Migrationsdebatte, in der sogar gegenüber den Rechten kritische Beiträge auf deren Terrain verbleiben. Bei der Aufstehen-Debatte könnte man auch den Gedanken einbringen, dass es nicht um die Erörterung einer sozialen Frage gehen kann, sondern um die Frage, ob sich die Mehrheit der Menschen den Kapitalismus noch leisten kann und will.

Dann wären wir auf einer Diskursebene, die sowohl Liberale als auch Rechte aller Couleur meiden wie der Teufel das Weihwasser. Denn dann müssten sie sich ja die Frage gefallen lassen, warum sie in Deutschland eine staatlich geförderte Verarmungspolitik vorantreiben, die Stefan Dietl in dem kürzlich im Unrast-Verlag erschienenen Buch „Prekäre Arbeitswelten“ [7] knapp und prägnant beschreibt.

Wie sehr auch die AfD ein solches Thema vermeidet, wurde auf einer Konferenz zur Zukunft der Rente im brandenburgischen Neuenhagen deutlich. Aktuell streiten in der AfD Marktradikale und völkische Nationalisten, wie hoch der Anteil des Sozialstaats dabei sein soll. Der dort als Parteiunabhängiger eingeladene Jürgen Elsässer warnte davor, dass sich die AfD an der Rentenfrage zerstreite, und wusste Rat. Die Partei solle weniger auf das Materielle schauen, sondern die Debatte auf die Sicherheit lenken. Viele Senioren würden unter den Veränderungen der modernen Gesellschaft leiden. Und wenn eine Partei dann die gute alte Zeit vor 50 oder auch 80 Jahren beschwört, sind sie schon zufrieden auch mit wenig Rente.

Hier zeigte Elsässer deutlich, welche Rolle die Diskurse über Law and Order, Kriminalität und Einwanderung haben. Niemand redet dann mehr davon, warum in einer Gesellschaft, in der die Produktivkräfte so weit entwickelt sind, dass ein schönes Leben für alle keine Utopie mehr sein müsste, Menschen allen Alters Flaschen sammeln müssen. Die Rechten aller Parteien reden dann von angeblichen Geldern, die Migranten bekommen. Aber nicht die Migranten, sondern die Politiker aller Couleur haben die gesetzlichen Grundlagen für die Altersarmut geschaffen, unter anderen durch die Schaffung eines Niedriglohnsektors, der natürlich auch Minirenten erzeugt.

Wie das Kapital in der Mietenpolitik den Klassenkampf von oben führt

Oder gehen wir auf das Feld der Mietenpolitik. Es ist noch keine zwei Wochen her, da bekamen wir einen sehr plastischen Anschauungsunterricht im Klassenkampf von oben auf dem Feld der Mieten- und Wohnungspolitik. Der Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums empfahl Marktwirtschaft pur und forderte ein Ende der sowieso wirkungslosen Mietpreisbremse. Freie Fahrt für die Investoren hieß die Devise. Der Taz-Kommentator Martin Reeh fand die passenden Worte [8]:

Krisenzeiten bieten stets Chancen, die Gesellschaft zu verändern. Die hohe Arbeitslosenquote und das Loch in den Rentenkassen wurden in den nuller Jahren genutzt, um das vergleichsweise egalitäre deutsche Sozialmodell zu zerstören. Nun steht der noch immer relativ egalitäre Wohnungsmarkt zur Disposition.

Martin Reeh

Er benennt auch, wie der weitere Umbau der Gesellschaft im Sinne der Kapitalbesitzer vorangetrieben wird und wer darunter leidet:

Je mehr das Wohnungsthema in den Fokus gerät, desto deutlicher wird, dass es auch um einen ideologischen Kampf geht: Liberalen gilt der Mieter als der neue Hartz-IV-Empfänger – als einer, der es nicht geschafft hat, sich eine Eigentumswohnung zuzulegen. Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt schrieb diese Woche, in den Szenekiezen Berlins liege der Mieteranteil jenseits der 95 Prozent. „Armselig“ nannte Poschardt das. Liberalen gilt der Mieter als der neue Hartz-IV-Empfänger – als einer, der es nicht zu einer Eigentumswohnung gebracht hat. Dabei könnten gerade Liberale Mietverhältnisse als Ausdruck von Freiheit verstehen – als Möglichkeit, sich relativ schnell nach eigenen Wünschen zu verändern. Das Berlin, das Poschardt so liebt, wäre ohne einen großen Anteil an günstigen Mietwohnungen nicht denkbar. Auch bundesweit hat die Wirtschaft von günstigen Mieten profitiert. Der Umzug für einen neuen Job fiel dadurch wesentlich leichter.

Martin Reeh

Nun könnte man fragen, wo bleiben die Demonstrationen vor dem Bundeswirtschaftsministerium, aus dessen Hause ja die Empfehlungen kamen? Warum gehen aus Protest [9] gegen den am 21.9. geplanten Wohnungsgipfel von Heimatminister Seehofer nicht Zehntausende auf die Straße? Ein Grund liegt daran, dass die Rechten mit dem Diskursfeld Migration diese Themen in den Hintergrund gedrängt haben.

Wo über Zuwanderung, über die, die dazu gehören und die angeblich nicht mal das Existenzminimum verdient haben sollen, geredet wird, geraten die Kapitalverbände und ihre Hand- und Kopflanger aus dem Blick, die beim Umbau zum marktgerechten Staat dann freie Hand haben. Wenn nun Seehofer die Migration zum zentralen Problem erklärt, trägt er ganz bewusst dazu bei, dass über die Zumutungen des Kapitalismus nicht mehr geredet wird.

Wenn nur noch über Diskriminierung und nicht mehr über Ausbeutung geredet wird

Aber auch ein Teil des sich selbst als weltoffen bezeichnenden Lagers hat kein Interesse daran. Das wird auch an Reaktionen dieses Lagers auf die Aufstehen-Initiative deutlich.

So erklärte der Jusovorsitzende Kevin Kühnert der Deutschen Presse-Agentur, der Aufruf umschiffe politische Fragen, etwa einen Konflikt zwischen Verteilungspolitik und Identitätspolitik, bei der es um gesellschaftliche Bedürfnisse bestimmter Gruppen gehe. Haltungsfragen auszuklammern und erstmal in einem Online-Forum zu diskutieren ist aber nicht basisdemokratisch, sondern beliebig, so seine Kritik.

Kühnert gehört wie viele im Umfeld von SPD und Grünen zu denen, die nur noch über Diskriminierung, nicht mehr aber über Ausbeutung reden wollen. Damit argumentieren sie im Einklang mit Kapitalverbänden, für die Diversity und Vielfalt Standortvorteile sind, höhere Löhne und Senkung der Arbeitsstunden hingegen nicht. In den USA hat man schon wesentlich länger Erfahrungen, wie man mit dem Diskurs über kapitalkonforme Antidiskriminierungsmaßnahmen von kapitalistischer Ausbeutung schweigen kann. Der Journalist Bernhard Pirkl führt [10] in der Jungle World in die US-Debatte ein:


Kritik an affirmative action kommt aber auch von der amerikanischen Linken. Das Geschwisterpaar Barbara [11] und Karen Fields [12] etwa argumentiert [13], dass Antidiskriminierungsmaßnahmen dazu führten, dass mit ihrer Art der Thematisierung sozialer Disproportionalität die ökonomische Ungleichheit als Faktor aus dem Blick geriete. Auf das Bildungssystem bezogen lautet ihr Argument: Die Änderung der Zusammensetzung der Studentenschaft in den Hochschulen lässt die Grundstruktur der Ungleichheit im Bildungssystem nicht nur intakt, mehr noch, der Diskurs um diversity lässt diese Ungleichheit als selbstverständliche erscheinen. Die Frage, warum überhaupt Knappheit an Studienplätzen und Jobs besteht, werde erst gar nicht gestellt, wenn nur über deren Verteilung gestritten werde, was eine gewisse Folgerichtigkeit habe, denn anders als race sei class, das Reden über Klassen, in der amerikanischen Gesellschaft stark tabuisiert.

Bernhard Pirkl

Die Kritik an einer kapitalgenehmen Antidiskriminierungspolitik bedeutet nicht, dass eine Politik der Stärkung (empowering) von Minderheiten falsch ist, sondern dass sie nicht mehr nach der Melodie des Kapitals spielen soll. Zudem soll neben Diskriminierung wieder über Ausbeutung geredet werden, wobei eben wichtig zu betonen ist, dass kapitalistische Ausbeutung nicht einfach an andere Unterdrückungsformen aneinandergereiht werden kann:


Der amerikanische Literaturwissenschaftler Walter Benn Michaels hat auf einen grundlegenden Fehler dieser methodischen, additiven Symmetrierung hingewiesen, der darin besteht, dass dabei kaschiert wird, dass die Analysekategorie class einer anderen Logik gehorcht als Identitätskategorien wie race und gender beziehungsweise sexuelle Orientierung: Erkennt man die normierenden Disziplinartechniken, die zur Demütigung von beispielsweise Homosexuellen beitragen, als illegitim oder beseitigt sie sogar, dann bedeutet dies auch das Ende des Stigmas und damit perspektivisch auch der Unterdrückung. Behandelte man nun Klasse – wie es in der Theorie des „Klassismus“ auch tatsächlich geschieht – analog dazu als ein Problem der Diskriminierung einer Identität, so muss man feststellen, dass arme Menschen auch ohne das Stigma Armut unterdrückt bleiben.

Bernhard Pirkl

Wenn jetzt Teile des weltoffenen liberalen Lagers die Aufstehen-Bewegung mit dem gar nicht überprüfbaren Argument diskreditieren wollen, die wäre bei der zivilgesellschaftlichen Bewegung in und um Chemnitz nicht dabei gewesen, könnte man zurückfragen. Wann habt ihr einen Streik unterstützt oder Erwerbslose auf das Amt begleitet?

Wenn es Aufstehen gelingt, einen neuen Diskurs über Ungleichheit ohne Ethnisierung zu etablieren, hätte sie ihre Aufgabe erfüllt. Den Satz, die Mutter aller Probleme in Deutschland wie in der Welt ist die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft, kann man von Seehofer nicht erwarten. Aber es liegt an denen, die sich an der Debatte beteiligen, auch an denen, die wie der Autor, bestimmt nicht Teil dieser Sammlungsbewegung werden wollen, ob sich ein solches Motto gegen die Seehofers, Gaulands etc. durchsetzen kann.

Peter Nowak

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[1] https://www.deutschlandfunk.de/von-lucke-ueber-seehofer-das-ist-die-kampfansage-an-die.1939.de.html?drn:news_id=922038
[2] https://www.focus.de/politik/deutschland/wegen-satz-wir-schaffen-das-kubicki-gibt-merkel-mitschuld-fuer-chemnitz-krawalle-politik-experte-gibt-ihm-recht_id_9525637.html
[3] https://www.heise.de/tp/news/Ist-Patzelt-Pegida-Erklaerer-oder-versteher-2542334.html
[4] https://www.freiepresse.de/chemnitz/chemnitz-darum-sprechen-wir-nicht-von-hetzjagd-artikel10299149
[5] https://www.deutschlandfunk.de/von-lucke-ueber-seehofer-das-ist-die-kampfansage-an-die.1939.de.html?drn:news_id=922038
[6] https://www.aufstehen.de/
[7] https://www.unrast-verlag.de/component/content/article/79-pressestimmen/3106-neues-deutschland-ueber-prekaere-arbeitswelten
[8] http://www.taz.de/!5527891/
[9] http://berlin.zwangsraeumungverhindern.org/
[10] https://jungle.world/artikel/2018/34/race-class-confusion
[11] https://www.pbs.org/race/000_About/002_04-background-02-02.htm
[12] https://www.versobooks.com/authors/1740-karen-e-fields
[13] https://www.versobooks.com/books/1645-racecraft

Staatlich geförderte Unsicherheit


Ein Buch über prekäre Arbeit spart nicht mit Kritik an Gewerkschafte
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»Vor 15 Jahren, am 14. März 2003, verkündete Gerhard Schröder in einer Regierungserklärung die Pläne der rot-grünen Bundesregierung zur Umstrukturierung des Sozialsystems und des Arbeitsmarktes, die später unter dem Namen Agenda 2010 bekannt werden sollten.« Mit dieser historischen Reminiszenz leitet Stefan Dietl sein kürzlich im Unrast-Verlag erschienenen Buch »Prekäre Arbeitswelten – von digitalen Tagelöhnern bis zur Generation Praktikum« ein. Schließlich war die Agenda 2010 der Schlüssel für die Prekarisierung des Arbeitsmarktes. Sie war politisch gewollt und kein unbeabsichtigter Kollateralschaden, macht Dietl immer wieder deutlich.

Leiharbeit, Werkverträge, Minijobs, Befristungen – fast 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten inzwischen in derlei prekären Arbeitsverhältnissen. Für die Betroffenen bedeuten sie häufig niedrige Löhne, geringe soziale Absicherung und ständige Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes.

In seinem Buch stellt Stefan Dietl zunächst neuere Formen der Prekarität vor. Von der »kapazitätsorientierten variablen Arbeitszeit« – Teilzeitarbeit auf Abruf – bis zur Gig-Ökonomie. bei der kleine Aufträge kurzfristig an unabhängige Freiberufler oder geringfügig Beschäftigte vergeben werden, reichen die Arbeitsverhältnisse, die den Lohnabhängigen Rechte vorenthalten, die sie in den letzten Jahrzehnten erkämpft haben. Ein eigenes Kapitel widmet sich den Wanderarbeiter*innen, deren Zahl in den letzten Jahren stark zugenommen hat.

Im zweiten Teil des Buches stehen die Formen von atypischen Beschäftigungsverhältnissen im Mittelpunkt, die seit Einführung der Agenda 2010 boomen. Dabei zeigt Dietl, wie kreativ gesetzliche Bestimmungen umgangen werden. »So stellen immer mehr Unternehmen nur noch Praktikumsplätze zur Verfügung, wenn Bewerber*innen sich zuvor bescheinigen lassen, dass es sich um ein Pflichtpraktikum handelt – obwohl sie sich eigentlich um ein mindestlohnpflichtiges, freiwilliges Praktikum beworben haben.« In einem eigenen Kapitel zeigt Dietl, dass der Mindestlohn wegen seiner Ausnahmeregelungen für viele prekär Beschäftigte keine Verbesserungen bringt. Nur die Selbstorganisation der Betroffenen könne ihre Situation verbessern, betont er.

Obwohl seit Jahren bei ver.di aktiv, spart Dietl nicht mit Kritik an den Gewerkschaften. So erinnert er an die gewerkschaftlichen Vertreter*innen in der Hartz-IV-Kommission und kritisiert die Entscheidung, einen Tarifvertrag für Leiharbeiter*innen zu schließen, der dem Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit zuwiderläuft. Auch im Umgang mit dem wachsenden Heer von Haushaltshilfen sieht Dietl Defizite. Statt auf die Organisierung der Betroffenen setze man auf staatliches Durchgreifen gegen Schwarzarbeit.

Im letzten Kapitel zeigt Dietl, wie sich Beschäftigte gegen prekäre Arbeitsverhältnisse wehren. Als herausragendes Beispiel erwähnt er einen Streik im Bremer Mercedes-Werk gegen die Einführung von Leiharbeit von 2012. Der lokale IG-Metall-Vorstand lehnte damals jede Unterstützung ab. Auch weitere Beispiele von Widerstand prekär Beschäftigter – mit Unterstützung der Basisgewerkschaft FAU, aber auch von DGB-Gewerkschaften – werden benannt und können Leser*innen Anregungen geben.

Stefan Dietl: Prekäre Arbeitswelten. Von digitalen Tagelöhnern bis zur Generation Praktikum, Unrast Verlag 2018, 72 Seiten, 7,80 Eu

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1098952.staatlich-gefoerderte-unsicherheit.html

Peter Nowak