Buchtipp: Raul Zelik: Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart

Es ist schon einige Jahre her, als Spanien an der Spitze einer EU-weiten Protestbewegung gegen die wesentlich von Deutschland ausgehende Austeritätspolitik stand. Massendemonstrationen und Platzbesetzungen in vielen spanischen Städten wurden zum Vorbild für Proteste in anderen europäischen Ländern.
Besonders wichtig war, dass in Spanien auch die gewerkschaftlichen Aktivitäten spürbar zunahmen. Höhepunkt war der transnationale Generalstreik am 12.November 2012, an dem sich Gewerkschaften aus Italien, Portugal, Griechenland und Zypern beteiligten. Hier hatten sich Ansätze einer europäischen Widerstandsbewegung entwickelt, die die Austeritätspolitik infragestellte.
Warum ging der Impuls für diese Bewegung damals vor allem von Spanien aus? Und warum konnte sich die Bewegung nicht ausbreiten? Das sind einige der Fragen, die der Politikwissenschaftler Raul Zelik in seinem neuen Buch Spanien – eine politische Geschichte der Gegenwart stellt und teilweise beantwortet. Zelik, der sich seit langem mit der linken Bewegung im Spanischen Staat beschäftigt, beginnt mit seiner Geschichtsbetrachtung Mitte der 70er Jahre, beim als transición bezeichneten Übergang vom faschistischen Francostaat zur bürgerlichen Demokratie, an dem sich die Kommunistische Partei Spaniens (PCE) maßgeblich beteiligte. Dieser Prozess ermöglichte den Institutionen des Franco-Regimes einen reibungslosen Übergang und führte zu einer massiven Enttäuschung der damals starken außerparlamentarischen Linken.
In den Folgejahren wechselten sich die Postfrankisten und die Sozialdemokraten an der Regierung ab. Marktliberalismus und Repression gegen die Reste einer linken Opposition waren die Kennzeichen der Politik beider Parteien. Ausführlich geht Zelik auf die von einer sozialdemokratischen Regierung unterstützten Todesschwadronen der GAL ein, die zwischen 1983 und 1987 in Südfrankreich 29 Menschen töteten, die dem Spektrum der baskischen Unabhängigkeitsbewegung zugerechnet wurden. «Die Attentate richteten sich gegen baskische Kneipen, JournalistInnen und Linke», beschreibt Zelik die Opfer des heute weitgehend vergessenen Staatsterrors in der Europäischen Gemeinschaft (EG). Repression und ein wirtschaftlicher Aufschwung auf Pump schien die linke Opposition in Spanien stillgelegt zu haben.
Doch nicht erst mit dem Bankenkrach und der Immobilienkrise begann die Rückkehr der Bewegungen, die Zelik mit viel Hintergrundwissen beschreibt. Die Bewegung V wie Vivenda mobilisierte bereits 2006 Tausende Menschen gegen die Wohnungsnot einkommensschwacher Mieter. «Die Bewegung, die diesen Zusammenhang sichtbar machte, entstand ähnlich wie fünf Jahre später die 15M: scheinbar aus dem Nichts», schreibt Zelik.
Fünf Jahre lang gab die 15M-Bewegung Impulse in viele europäische Länder. Zelik beschreibt Aufstieg und Niedergang der außerparlamentarischen Linken in Spanien sehr detailliert. Nachdem die Polizeirepression gegen die Platzbesetzungen immer massiver wurde, verlegten sich die Aktivisten auf den Kampf im Stadtteil.
Dort entstanden auch die Konzepte von kommunalen und später auch landesweiten Kandidaturen, um der Protestbewegung auch eine Stimme in den Parlamenten zu geben. So entstand die Partei Podemos, die mit der Parole «Den Himmel stürmen» ihre erste Wahlkampagne begann. Auf soviel illusionären Überschwang musste die Enttäuschung folgen, wenn die neue Partei in den Mühen der Ebenen reformistischer Realpolitik angelangt sein würde. Auch hier beschreibt Zelik kenntnisreich, wie schnell die Partei, die alles anders machen wollte, zu einer neuen Sozialdemokratie mutierte.
Im letzten Kapitel setzt sich Zelik differenziert mit dem Kampf der katalonischen Unabhängigkeitsbewegung auseinander. Dort sieht er viele emanzipatorische Potenziale, verschweigt aber auch die Gefahr nicht, dass am Ende nur ein bürgerlicher Nationalismus gestärkt werden könnte.
Zelik legt kein optimistisches, sondern ein realistisches Buch vor. Es ist nützlich, weil es Erfahrungen von Kämpfen mit ihren Erfolgen und Niederlagen zusammenfasst. Daraus können die zukünftigen Protestbewegungen lernen.

aus: SoZ, Sozialistische Zeitung

Buchtipp: Raul Zelik: Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart

Buchtipp: Raul Zelik: Spanien. Eine politische Geschichte der Gegenwart
Berlin: Bertz+Fischer, 2018. 240 S., € 14

von Peter Nowak

Hartz-IV heißt in Italien jetzt Grundeinkommen

Mit dem „Dekret der Würde“ wird der Verarmung in Italien ein schöneres Etikett aufgeklebt

In den letzten Wochen hat Italiens Rechtsregierung vor allem durch flüchtlingsfeindliche Maßnahmen und Sprüche der Lega-Nord-Politiker Schlagzeilen gemacht. Vor allem Innenminister Salvini sorgt so immer wieder für Schlagzeilen und präsentiert sich erfolgreich als rechter Scharfmacher.

Dabei gerät in Vergessenheit, dass die Lega Nord eigentlich der kleinere Koalitionspartner ist. Die größere Regierungspartei ist die Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle – M5S), die sich brüstet, weder links noch rechts zu sein; sie gibt sich als Interessenvertreterin von prekär Beschäftigten aus, die in schnell bezahlten Arbeitsplätzen ohne Unterstützung großer Gewerkschaften leben.

Da die Pläne der Fünf-Sterne-Bewegung auch die Rücknahme einiger wirtschaftsliberaler Reformen der letzten Jahre beinhalteten, sahen EU-Gremien eine neue Krise heraufziehen. Der Regierungsantritt verzögerte sich um einige Tage, weil sich der italienische Staatspräsident als Interessenvertreter der Märkte gerierte und einen Minister wegen einiger eurokritischer Äußerungen ablehnte.

Einige Tage lang gab es den Versuch, einen EU-konformen Technokraten als italienischen Ministerpräsidenten zu installieren. Der Versuch scheiterte, weil der Kandidat das Vertrauen der EU-Gremien, aber keine Mehrheit im italienischen Parlament hatte. Zudem sahen die Eurokraten, dass ein solcher Coup sicher nicht das Vertrauen in die EU-Gremien stärken würde.

Zudem war die Lega Nord als durch und durch kapitalfreundliche Partei in dieser Frage auch ein objektiver Verbündeter der EU. Dass dann die Politiker dieser Partei in den ersten Wochen der neuen Regierung die Schlagzeilen bestimmten, sorgte für Empörung der flüchtlingsfreundlichen Milieus in ganz Europa, nicht aber auf EU-Ebene.

Schließlich ist es ein probates Mittel, soziale Forderungen zu neutralisieren, indem die Menschen mit Rassismus und Nationalismus davon überzeugt werden, dass sie nicht die Kapitalverhältnisse verändern sollen, sondern sich gegen die Menschen wenden, denen es noch schlechter geht. Ein solches Konzept funktioniert natürlich nur, wenn bei den Betroffenen schon die ideologische Disposition dafür vorhanden ist.

Versuche der Organisierung der Prekären von links

Das ist beim prekären Milieu zweifellos so. Von den großen Gewerkschaften nicht oder unzureichend vertreten, ist die Distanz zu den Traditionen der alten Arbeiterbewegung vorhanden. Vor ca. 20 Jahren versuchten Aktivisten der außerparlamentarischen Linken die Prekären in kapitalismuskritischem Sinne zu organisieren. Stichworte sind die Euromayday-Bewegung[1], die in Italien ihren Ausgang nahm[2] oder Aktivitäten wie San Prekaria[3].

Die Hoffnung der Linken bestand darin, dass hier Lohnabhängige, gerade weil sie nicht von den großen Gewerkschaften organisiert und damit auch in das repräsentative System eingehegt werden, offener für linke Vorstellungen der Selbstorganisierung sind. Es gab da durchaus Erfolge, solange die linke Bewegung in Italien und auch in den Nachbarländern im Aufschwung war.

Doch mit der massiven staatlichen Repression nach den G7-Protesten von Genua stieß die Bewegung an ihre Grenzen. Bald gab es einen massiven Rückgang der Aktivitäten. Neben der Repression waren auch die Mechanismen von außerparlamentarischen Bewegungen für diesen Niedergang verantwortlich. Nach einer Zeit des Aufschwungs setzt die Bewegungsflaute ein.

Dann werden oft wieder parteiförmige Formationen gesucht, die die Forderungen der außerparlamentarischen Bewegungen in die Institutionen einspeisen sollen. In Griechenland wurde die damals linkssozialistische Syriza-Partei für kurze Zeit zum Hoffnungsträger, der Menschen, die jahrelang auf der Straße gegen die Austeritätspolitik protestiert hatten.

Der Publizist Raul Zelik beschreibt in dem kürzlich bei Bertz + Fischer erschienenen Buch „Spanien – eine politische Geschichte der Gegenwart“[4], wie in Spanien Podemos zeitweilig zum Hoffnungsträger einer starken außerparlamentarischen Bewegung wurde, die an ihre Grenzen gestoßen ist.

In Italien übernahm die Fünf-Sterne-Bewegung zeitweise die Rolle, die Forderungen der Prekären parlamentarisch aufzugreifen. Zeitweise wurde die Partei, die sich immer von der Linken abgrenzte, von Personen mit einer langen linken Geschichte wie Dario Fo unterstützt. Das lag auch ihren Erfahrungen mit einer traditionellen Linken und deren Anpassung an den Neoliberalismus.

Da legte man in die neue Partei die Hoffnung, tatsächlich einen dritten Weg zwischen links und rechts zu finden. Doch ihre Anpassung an rechte Ideologeme begann nicht erst mit dem Bündnis mit der Lega Nord. In den letzten Jahren positionierten sich führende Parteipolitiker gegen Migranten und waren daher im EU-Parlament auch Teil der nationalkonservativen Fraktion im EU-Parlament.

Der schillernde Begriff der Würde

So war es auch nicht verwunderlich, dass es nur vereinzelten Widerspruch gegen die migrationsfeindliche Politik der Lega Nord bei der Fünf-Sterne-Bewegung gab. Das eigene sozialpolitische Programm gegen die prekäre Arbeit wurde nun doch noch beschlossen.

Kernpunkt ist die Korrektur des Job-Acts. Der wurde von der sozialdemokratischen italienischen Vorgängerregierung gegen den heftigen Widerstand von Gewerkschaften und der außerparlamentarischen Bewegung mit großer Zustimmung der EU-Gremien durchgesetzt. Der Job-Act bedeutete eine weitere Deregulierung des Arbeitsmarkts, die von den Urhebern natürlich damit begründet wurde, dass die italienische Wirtschaft nur so im EU-Rahmen konkurrenzfähig bleibe.

Das Gegen-Projekt „decreto dignità“ der neuen Regierung ist allerdings so verwässert, dass die Kapitalfraktionen und auch die EU-Gremien nicht mehr wirklich beunruhigt sind. Die Italienkorrespondentin der Wochenzeitung Jungle World Catrin Dingler fasst Propaganda und Realität dieses Sozialgesetzes so zusammen[5]:

Di Maio hatte in seiner Funktion als Arbeits- und Sozialminister mit seinem „decreto dignità“ (Dekret der Würde), das vorige Woche von der Abgeordnetenkammer verabschiedet wurde, kämpferisch ein „Waterloo für die Prekarisierung“ angekündigt und mit großer Emphase die Rettung der „Würde“ aller prekär Beschäftigen versprochen.

Tatsächlich werden die bestehenden Möglichkeiten zur befristeten Beschäftigung nur unwesentlich eingeschränkt, auf Druck der Lega für die Bereiche Tourismus und Landwirtschaft sogar ausgeweitet. Auch auf die im Wahlkampf versprochene Wiedereinführung des Kündigungsschutzes hat der M5S im Interesse des Koalitionspartners verzichtet, Unternehmen sollen zukünftig für ungerechtfertigte Entlassungen nur eine unwesentlich erhöhte Abfindung bezahlen.

Catrin Dingler, Jungle World

Schon der Begriff „Dekret der Würde“ zeigt an, dass es bei dem Gesetzentwurf eher um Ideologie als um reale Verbesserungen geht. Der Begriff der Würde hat mittlerweile in vielen Bewegungen Konjunktur und ist oft ein reines Surrogat.

Denn die Beschäftigten brauchen mehr Lohn, sichere Arbeitsverhältnisse, längere Arbeitsverträge. Das sind handfeste notfalls einklagbare Verbesserungen. Die Würde aber ist eben nicht einklagbar und kann eben auch heißen, dass die Verbesserungen ausbleiben und man dann eben stolz ist, dass die Regierung diejenigen, die noch weniger haben, weiter entrechtet.

Wenn Hartz IV-Grundeinkommen heißt

Auch die Einführung eines auch in Deutschland in sozialen Bewegungen heftig diskutierten Grundeinkommens gehört zu den Forderungen der Fünf-Sterne-Bewegung. Die erste Rechtsregierung, die ein temporäres begrenztes Grundeinkommen einführte, war die finnische.

Nun ist ja schon lange bekannt, dass es ganz unterschiedliche Konzepte unter dem Label Grundeinkommen gibt. Auch in Deutschland favorisieren besonders wirtschaftsliberale Ökonomen[6] bestimmte Grundeinkommensmodelle. An dem italienischen Modell könnten sie besonderen Gefallen finden, handelt es sich doch um eine besondere Form des Framing.

Man nimmt einen eher positiv besetzen Begriff für eine unpopuläre Maßnahme und schon ist die mediale Reaktion positiv.

Der Kölner Stadtanzeiger hat hinter die Verpackung geguckt[7]:

„Eines der besonders kritisierten Vorhaben der mal links-, mal rechtspopulistisch genannten Fünf-Sterne-Bewegung ist das so genannte Bürgergeld: Jeder Italiener erhält 780 Euro. Ein genauerer Blick jedoch zeigt: Hier handelt es sich nicht um ein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern lediglich um ein schlechteres Hartz IV, mit dessen Einführung die Regierung zudem einer Forderung der EU nachkäme.“

Kölner Stadtanzeiger

Die 780 Euro erhält ein Single, der kein weiteres Einkommen hat. Für eine vierköpfige Familie ohne Einkommen gibt es maximal 1.950 Euro, rechnet der Korrespondent des Stadtanzeigers vor. Verdient der Single-Haushalt ein wenig, dann stockt der Staat das Einkommen bis auf 780 Euro auf.

Ziel des Bürgereinkommens ist es also nur, dass die Menschen nicht zu tief unter die offizielle Armutsschwelle fallen (vgl. Bürgereinkommen in Italien – eine repressive Armenfürsorge[8]).

Dazu muss der Betroffene dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, aktiv und nachweislich nach Arbeit suchen und auf Anweisung gemeinnützige Arbeiten ausführen, sich weiterbilden. Wer drei Jobangebote ablehnt, der verliert seinen Anspruch auf ein Einkommen knapp unterhalb der Armutsgrenze.

Da werden die Spindoktoren der Schröder-Fischer-Regierung sich ärgern, dass sie nicht auf die Idee kamen, das Verarmungsprogramm Agenda 2010 „Grundeinkommen“ zu nennen. Es wird sich zeigen, ob es der rechten italienischen Regierung gelingt, mit solchen Verpackungen die Menschen ruhig zu halten.

Es läge auch an Basisgewerkschaften und linken Bewegungen, die sich für die Lebensbedingungen aller Menschen, egal wo her sie kommen interessieren, eine Alternative zu finden, die die kapitalistischen Verhältnisse tatsächlich infrage stellt.

Peter Nowak

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[1] http://www.tacticalmediafiles.net/campaigns/6410/EuroMayDay;jsessionid=1C8A4F64F806E9DED6EF792AD9C52ED5
[2] https://zero.eu/eventi/73179-mayday-2017-orgoglio-della-classe-precaria,milano/
[3] http://www.precaria.org/
[4] http://www.bertz-fischer.de/spanien.html%22
[5] https://jungle.world/index.php/artikel/2018/32/rassistische-eskalation
[6] https://www.zeit.de/wirtschaft/2017-02/thomas-straubhaar-buch-bedingungsloses-grundeinkommen-auszug
[7] https://www.ksta.de/politik/buergergeld-italien-will-grundeinkommen-einfuehren—-aehnlichkeiten-zu-hartz-iv-30518494#
[8] https://www.heise.de/tp/features/Buergereinkommen-in-Italien-eine-repressive-Armenfuersorge-4075308.html