Die brutale Realität der Psychiatrie

Außerparlamentarische Gruppe kritisiert die Forensik des Klinikverbundes Bremen als menschenunwürdig

»Wir behandeln Menschen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung in erheblichem Maße straffällig geworden sind. Durch die Behandlung sollen sie wieder in die Lage versetzt werden, zukünftig straffrei zu leben.« Mit diesen Worten stellt der Klinikverbund Bremen seine Dienstleistungen auf dem Gebiet der Forensik vor. Klingt auf den ersten Blick nicht weiter schlimm. Zivilgesellschaftliche Gruppen fordern jedoch die Schließung der Forensik. Sie kritisieren, die dortigen Maßnahmen verletzten die Menschenrechte der Patient*innen.

Mitte August hatte die Bremer Gesundheitsdeputation, eine Arbeitsgruppe mit Vertretern von Senat und Bürgerschaft, zu einer Sondersitzung eingeladen. Ziel war, über den Stand der 2013 von der Bremer Bürgerschaft beschlossenen Psychiatrie-Reform zu debattieren. Kritiker*innen meldeten sich auf dem Bremer Marktplatz während des Treffens lautstark zu Wort. »Wir haben den krassen Widerspruch zwischen dem von Politik- und Medizinbetrieb gezeichneten Ideal-Bild einer angeblich menschenfreundlichen, fortschrittlichen Psychiatrie in Bremen und der brutalen Realität, die Psychiatrisierte tatsächlich erleben, deutlich gemacht«, erklärte Julia Benz von der Psychiatriekritischen Gruppe Bremen gegenüber »nd«.

Die Arbeit der außerparlamentarischen Initiative sorgt in Bremen für Aufsehen bei Medien und Politik. »Gegründet hatten wir uns, nach dem eine uns bekannte Person in die Fänge der Bremer Wegschließ-Maschinerie geriet«, sagte Benz. Was diese Person wie auch die Aktivist*innen selbst erfuhren hätten, sei der Motor des Engagements gewesen. Anfang 2017 berichteten verschiedene Medien über Klagen von Patient*innen der Forensik. Ihre Vorwürfe: Man habe sie tagelang an ihre Betten fixiert und zwangmedikamentiert, anstatt geeignete Therapiemaßnahmen durchzuführen.

Die Berichte über entwürdigende Bedingungen auf der Akutaufnahmestation des Klinikums Bremen-Ost führten zu Nachfragen, auch der Bürgerschaftsfraktionen von LINKEN, SPD und den Grünen. Nachdem im Mai 2017 ein 31-Jähriger in der Forensik im Klinikum-Ost an Herzstillstand starb, wuchs die Kritik an den Zuständen noch weiter.
Derzeit ist das Thema jedoch wieder aus den Schlagzeilen. »Es gab weder personelle Konsequenzen, noch ermittelt Polizei und Staatsanwaltschaft objektiv«, sagte Benz. Auch der Umgang mit den Patient*innen sei kein anderer als vorher. Daher setzen die Aktivistin und ihre Mitstreiter*innen statt auf die die Skandalisierung von spektakulären Einzelfällen auf die bundesweite Kooperation von psychiatriekritischen Initiativen, wie der Irrenoffensive und dem Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen.

Die Gruppe knüpft damit an ein lange weitgehend vergessenes Arbeitsfeld des gesellschaftlichen Aufbruchs von 1968 an. Theoretische Kritik an der Psychiatrie und die praktische Organisierung von Psychiatriebetroffenen waren ein wesentlicher Bestand von diesem gewesen. Der Regisseur Gerd Kroske hatte jüngst mit seinem Film »Der SPK-Komplex« an diese Geschichte am Beispiel des Sozialistischen Patient*innenkollektivs aus Heidelberg erinnert.

Am Ende des Film betont Kroske, dass eine psychiatriekritische Bewegung heute kaum vorhanden, aber noch immer nötig wäre. Dass dieser Befund für Bremen nicht zutrifft, erklärt Julia Benz mit regionalen Gründen. »Bremen bricht einige Rekorde in Bezug auf Krankenhausbetten pro Einwohner und bei Zwangseinweisungen.« Doch sie verweist darauf, dass auch bundesweit die Tendenz zunimmt, abweichendes Verhalten zu psychiatrisieren. Der Fall von Gustl Mollath sei nur eines von vielen Beispiele. Der Nürnberger wurde in Bayern von Gerichten seit 2006 mehrmals in die Psychiatrie eingewiesen. Erst nach acht Jahren entließ man ihn als Justizopfer nach einem Wiederaufnahmeverfahren.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1099462.forensik-die-brutale-realitaet-der-psychiatrie.html

Peter Nowak

Von 68 reden?

Verändert die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse!
„Die Kugel Nummer Eins kam aus Springers Zeitungswald Ihr habt dem Mann die Groschen auch noch dafür bezahlt.“ Wolf Biermann, Drei Kugeln auf Rudi Dutschke

Was 2017 Luther war ist jetzt Marx, es ist ein runder Geburtstag und die Standortförderung gibt sich redlich Mühe, den Jubilar zu vermarkten. 2017 gab es Luther-Brötchen in der Lutherstadt Wittenberg, 2018 Marx-Bier in Trier, das sich dann doch nicht den Zusatztitel Marxstadt zugelegt hat. Es ist halt Kommerz. Und im nächsten Jahr wird der nächste Jubilar an der Reihe sein. Doch nicht nur historische Personen, sondern auch Jahreszahlen und damit verbundene geschichtliche Ereignisse geraten in die Zeitschleifen. So ist in diesem Jahr auch das 68er-Jubiläum – und das hat eine politische Botschaft. Die 68er-Bewegung hat die BRD zivilisiert, die Grundlage für die Wiedervereinigung gelegt und die heutige Stellung Deutschlands als Hegemonialmacht in der EU ist letztlich auch ein später Sieg von 68. 50 Jahre danach kämpft ein Groß- teil der Protagonist_innen um die Deutungshoheit. Schließlich ist es das letzte Jubiläum, bei dem noch viele von ihnen sehr aktiv beteiligt sind. Von Daniel Cohn-Bendit bis Gerd Coenen, Wolfgang Kraushaar und Stefan Aust wollen hier Apo-Senioren noch einmal der Nachwelt deutlich machen, wie sehr sie doch beigetragen haben zur deutschen Renaissance. Dazu haben sie zuerst die Ideen des 68er-Auf- bruchs entstellt, teilweise in ein Gegenteil verkehrt und so zum Herrschaftsinstrument gemacht. Wo es vor 50 Jahren um den Sturz der Mächtigen und den Kampf gegen Staat und Kapital ging, haben die selbsternann- ten Nachlassverwalter, es sind doch meist nur Männer, daher die männliche Form, eine neue Macht kreiert und sie sitzen heute längst in den Aufsichtsräten jener Konzerne, die sie einst bekämpft haben. Cohn-Bendit sitzt heute im Aufsichtsrat der Universität von Nanterre, die Studierende von der Polizei räumen lässt, wenn sie einen Besetzungsversuch an der Uni wagen. Cohn-Bendit ist auch stolz, zu den Beratern von Macron zugehören, des neoliberalen Präsidenten, der in Frankreich endgültig die Widerständigkeit ausmerzen will.
In Deutschland verkauft Stefan Aust, der 68-Mitläufer, zum Jubiläum des Attentats auf Rudi Dutschke seine Erinnerungen an den rechten Mordanschlag an die Tageszeitung „Die Welt“, also an den Springerkonzern, der damals nach Ansicht Tausender Apo-Anhänger_innen mit auf Dutschke geschossen hat. Nachdem 1968 ein durch die Hetze von BILD und Nationalzeitung verhetzter Mann auf den linken Studenten Dutschke geschossen hat, wurde gegen den Springerkonzern in vielen Städten demonstriert und die Auslieferung der BILD-Zeitungen blockiert. Noch Jahre später hatte Wolf Biermann, als er noch nicht zum Bettvorleger der CSU geworden war, in seinen Song „3 Schüsse auf Rudi Dutschke“, die benannt, die mit geschossen haben.

Das andere 68
50 Jahre später kennt man in Deutschland keine Täter und Opfer mehr, sondern nur noch 68er, die alle schon immer nur Deutschland größer und grüner machen wollten. Dazu müsste man erst einmal einen großen Teil der Protagonist_innen des Aufbruchs vor 50 Jahren vergessen. Sie wurden entweder weggesperrt als Militante oder auf andere Art zum Schweigen gebracht. Es waren viele. Die Jungarbeiter_innen und Lehrlinge, die sich angesteckt von der 68er-Bewegung, auch zu rühren begannen. Die proletarischen Frauen, die nicht rebellierten, um Gleichberechtigung bei der Bundeswehr und im Aufsichtsrat von Dax-Konzernen zu bekommen, den vielen radikalen Stadtteil- und Umweltinitiativen, die nicht nur die AKWs, sondern die herrschenden Klassen abschalten und damit inDeutschland anfangen wollten. Sie alle sind nicht dabei, wenn in diesem Jahr die 68er sich abfeiern, die mit dem Marsch durch die Institutionen am Ziel angekommen sind. Die herrschende Meinung ist immer die Meinung der Herrschenden, die Erkenntnis von Karl Marx wird aktuell zum 68er Jubiläum immer wieder bestätigt. Diejenigen, die sich von der Herrschaft haben kooptieren lassen, interpretieren jetzt die Geschichte. Die vielen anderen, die sich nicht haben korrumpieren lassen, sollen vergessen werden. Doch bisher gibt es noch immer die Möglichkeit das Bild eines anderen 68 zu vermitteln. Dafür steht das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) ebenso wie der Psychologieprofessor Peter Brückner, der jahrelang gegen Rufmord und Berufsverbot ankämpfen musste. Dafür steht die Lehrlingsbewegung ebenso wie die Menge heute unbekannter Jugendlicher, für die 68 auch eine ganz persönliche Befreiung war. Dieses andere 68 ist es, was Menschen heute inspirieren kann, wenn sie gegen die heutige Macht und Autorität ankämpfen.
Während 50 Jahre 68 abgefeiert wird, werden im Vergleich dazu kleine Proteste fast schon kriminalisiert und die in den Staat kooptierten 68er sind mit dabei. Kürzlich wurde in der taz studentischer Protest gegen den Historiker Jörg Baberowski, ein Vertreter der neuen wissenschaftlichen Rechten, als linke Zensurversuche abgeurteilt. Bereits im letzten Jahr wurden in der taz Kritiker_innen von Baberowski im Duktus der Neuen Rechten als Volkskommissare abgewatscht. Vor einigen Wochen folgte dann gleich auf mehreren Seiten eine Verteidigung des rechten Professors.
Umso schärfer wird auf die kleine linke ne Gruppe der studentischen Baberowski-Kritiker_innen eingedroschen. Dabei könnte man die doch als wahre Erben der 1968er bezeichnen. Die haben schließlich auch nicht gewartet, bis sie an der Reihe waren, wenn sie Kritik vorzubringen hatten. In Brandenburg an der Havel bekamen einige engagier- te Schüler_innen eine Anzeige. Sie hatten sich dagegen ausgesprochen, dass ein AfD-Politiker zum Politikertalk in ihre Schule eingeladen wird. Die hat schließlich die Auszeichnung: Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Die couragierten Schüler_innen schrieben auf ein Transparent als Protest gegen den AfD-Talk: „Schule mit Rassismus – Schulleiter ohne Courage“. Das reichte für die Anzeige.
Das zeigt, wie notwendig ein neuer gesellschaftlicher Aufbruch ist, damit die Mächtigen, ob Schuldirektor_innen, Vorarbeiter_inen oder Rektor_innen doch nicht ganz so sicher sitzen. In diesem Sinne. Es kommt darauf an, die Welt zu verändern.

Peter Nowak

Hinweis auf diesen Artikel in der jungen Welt:
https://www.jungewelt.de/artikel/334786.neu-erschienen.html
Graswurzelrevolution
Eine Aktivistin berichtet über die im April und Mai durchgeführten Räumungen auf einem besetzten Gelände bei Nantes, wo die französische Regierung jahrzehntelang Pläne für den Bau eines Großflughafens verfolgte. Anfang 2018 wurden diese aufgegeben. Michèle Winkler hält das neue bayerische Polizeiaufgabengesetz für »eindeutig verfassungswidrig«: »Der Skandal ist, dass die CSU es dennoch mit unüberbietbarer Arroganz vorgelegt und beschlossen hat.« Gisela Notz setzt den Aufbruch von 1968 und die »neuen Frauenbewegungen« der Gegenwart im Interview ins Verhältnis. »Während 50 Jahre 68 abgefeiert wird, werden im Vergleich dazu kleine Proteste fast schon kriminalisiert, und die in den Staat kooptierten 68er sind mit dabei«, meint Peter Nowak. An eine öffentliche Verbrennung von Wehrpässen vor 40 Jahren erinnert Johann Bauer.

Graswurzelrevolution, Jg. 47/Nr. 430, 24 Seiten, 3,80 Euro, Bezug: Verlag Graswurzel­revolution e. V., Vaubanallee 2, 79100 Freiburg, E-Mail: abo@graswurzel.net