Wie lange hält die gegenwärtige Bundesregierung noch? Diese Frage stellen sich Kommentatoren, seit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sogar auf seinen Auftritt bei der weltweiten Klimakonferenz verzichten musste, weil der Koalitionsfrieden in Berlin gefährdet war. Doch das Bündnis dürfte sich schlicht aus dem Grund noch einmal zusammenraufen, weil alle beteiligten Parteien bei möglichen Neuwahlen Einbußen zu befürchten hätten. Die FDP könnte sogar aus dem Bundestag fliegen, da sie sich in Umfragen haarscharf an der Fünf-Prozent-Grenze bewegt. Profitieren würden bei vorzeitigen Neuwahlen vor allem…
„Kampagne gegen Bürgergeld und Kindergrundsicherung: Rezession? Ja bitte!“ weiterlesenSchlagwort: Sozialchauvinismus
Haft in Berlin Lichtenberg: Arbeitszwang für »Asoziale«
Es ist wenig los an dem winterlichen Sonntagnachmittag an der Rummelsburger Bucht in Lichtenberg. Einige Kinder spielen auf einer verschneiten Wiese in der Nähe einer Graffitiwand. »Hier mussten Tausende Menschen auf den Rieselfeldern Obst und Gemüse anbauen«, sagt Thomas Irmer und zeigt auf die weite Fläche. Der Historiker forscht zur Geschichte des größten Berliner Arbeitshauses, das dort 1879 eröffnet wurde. Am Sonntagnachmittag informiert Irmer auf einem historischen Spaziergang über die wechselvolle Geschichte dieser Haftanstalten, die mehr als 100 Jahre unter sehr verschiedenen politischen Systemen Bestand hatten. Über 30 Menschen nehmen an dem Spaziergang teil, der im Rahmen der Lichtenberger ….
„Haft in Berlin Lichtenberg: Arbeitszwang für »Asoziale«“ weiterlesenViel Populismus, wenig Fakten bei der Debatte um den Sozialmissbrauch
Die Bundesregierung will den Zuwanderern aus EU-Staaten den Zugang zu Sozialleistungen erschweren. Aber die Daten zur Sachlage liefern keine Begründung für ein neues Gesetz
Auf der ersten Kabinettsitzung nach der Sommerpause befasste sich die Bundesregierung wieder einmal mit dem Thema Sozialmissbrauch. Dieses Mal sind davon nicht Hartz IV-Empfänger im Allgemeinen betroffen, die in regelmäßigen Abständen von Politik und Boulevard mit dem Begriff des Sozialmissbrauchs bedacht werden, sondern Zuwanderer.
Am vergangenen Mittwoch wurde ein Gesetzentwurf auf dem Weg gebracht, der Zuwanderern aus EU-Staaten den Zugang zu Sozialleistungen und den Aufenthalt in Deutschland erschweren soll, wenn sie erwerbslos sind.
Künftig soll Migranten aus EU-Staaten nach sechs Monaten der sichere Aufenthaltsstatus entzogen werden, wenn sie erwerbslos sind. Bei „Missbrauch von Sozialleistungen“ sollen zudem befristete Einreisesperren von bis zu fünf Jahren verhängt werden können. Außerdem will die Bundesregierung den Bezug von Kindergeld einschränken.
Es werde geprüft, ob es rechtlich möglich sei, die Höhe der Zahlungen an den üblichen Kindergeldbetrag der Aufenthaltsländer der Kinder anzupassen, so Innenminister de Maizière. Städte mit besonders hoher Zuwanderung aus EU-Mitgliedsstaaten sollen zudem eine Soforthilfe von zusätzlichen 25 Millionen Euro für Hartz-IV-Leistungen erhalten. Insgesamt sollen die Kommunen mehr als 200 Millionen Euro aus europäischen Förderprogrammen bekommen.
Keine Daten zum Sozialmissbrauch
Am Mittwoch wurde auch ein Abschlussbericht [1] der zuständigen Staatssekretäre von Arbeitsministerin Andrea Nahles und Innenminister Thomas de Maizière vorgestellt. Dabei ist bemerkenswert, dass auch dort keine Zahlen über den angeblichen Sozialmissbrauch durch EU-Bürger vorgestellt wurden.
Schon die Antwort [2] der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken schafft keine Aufklärung. Entweder wird auf andere Anfragen verwiesen oder es heißt dort: Aus der Tatsache, dass mit dem Beitritt von Staaten zur EU in der Regel eine verstärkte Zuwanderung aus diesen Staaten und der Anstieg der Zahl der Kindergeldberechtigten einhergehe, ließen sich keine Rückschlüsse auf einen „Missbrauch von Kindergeldbezug“ ziehen.
Ähnlich nüchtern fiel die Antwort [3] auf eine Kleine Anfrage der Grünen im bayerischen Landtag aus. Auch hier wurde entweder auf fehlende Zahlen verwiesen oder die Zahl der Verdachtsfälle war gering.
Auch das Ergebnis der Antwort [4] auf eine Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag weicht davon nicht ab. Dort wurde noch einmal betont, dass den ermittelnden Behörden nur wenige Fälle von Sozialhilfebetrugs bekannt sind. Die Grünen stellten auch Fragen zu Benachteiligungen und Diskriminierungen von zugewanderten EU-Bürgern auf dem Wohnungs- und Ausbildungsmarkt, wozu der Bundesregierung keine Daten vorlagen.
„Begriff der Armutszuwanderung diffamiert“
Angesichts dieser Daten ist die populistische Volte auffällig, mit der besonders die CSU unter dem Motto „Wer betrügt, fliegt“ [5] Töne anschlug, die sonst nur vom rechten Rand zu hören waren. Mit ähnlichen Tönen meldete sich auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Steffen Kanitz zu Wort, der auf seiner Homepage mit Blick auf seinen Wahlkreis verlautbarte [6]:
Für die Caritas und andere Sozialverbände ist schon der Begriff der Armutszuwanderung diffamierend [7].
„Die aktuelle Debatte um vermeintliche Armutszuwanderung und das betrügerische Erschleichen von Sozialleistungen durch EU-Zuwanderer macht Vorurteile und Diskriminierung salonfähig“, kritisiert Caritas-Präsident Peter Neher anlässlich des Gesetzentwurfs zur sogenannten Armutszuwanderung.
Annelie Buntenbach vom DGB-Vorstand moniert [8], dass bei der Diskussion über Sozialmissbrauch immer die Lohnabhängigen im Visier stehen und auch sanktioniert werden Die zahlreichen Unternehmer, die sich durch den „Missbrauch der Arbeitnehmerfreizügigkeit“ zusätzliche Profite sichern, blieben meist unerwähnt.
„Sarrazin pur“
Grundsätzliche Kritik an der ganzen Debatte über die Armutszuwanderung und den Sozialmissbrauch kommt von dem AK Marginalisierte Gestern und Heute [9], der am Mittwochvormittag zu einer kleinen Protestaktion vor dem Bundeskanzleramt aufgerufen hatte. Gegenüber Telepolis erklärte Dirk Stegemann vom AK Marginalisierte:
Besonders stark betroffen seien davon Roma aus Osteuropa. Stegemann verweist darauf, dass es sich dabei um eine Menschengruppe handelt, die seit Jahrhunderten diskriminiert und im Nationalsozialismus Opfer von Verfolgung und Vernichtung wurde.
Der AG Marginalisierte widmet sich seit mehreren Jahren der Verfolgung von Menschen, die arm waren, und als arbeitsscheu und sozial stigmatisiert [10] wurden. Dabei spürt er Kontinuitäten von Ausgrenzung und Verfolgung bis in die Gegenwart auf. Die Debatte über Armutszuwanderung ist für Anne Allex [11] ein aktuelles Beispiel.
Die langjährige Aktivistin der Erwerbslosenbewegung gehört zu den Mitbegründern des AK Marginalisierte. Sie verteilt vor dem Bundeskanzleramt Flyer gegen den geplanten Gesetzentwurf zum angeblichen Sozialmissbrauch. Gegenüber Telepolis sagt sie:
Dass der Kreis der Protestierenden am Mittwoch klein geblieben ist, wundert die wenigen Aktivisten nicht. Die Proteste werden wachsen, wenn der Gesetzesentwurf im Bundestag und dann im Bundesrat verhandelt wird, ist Stegemann überzeugt.
Auch den juristischen Weg hält er nicht für aussichtslos. Er könne sich nicht vorstellen, dass die geplanten Einreisesperren verfassungskonform sind.
Auch Susanne Wagner erwartet in den nächsten Wochen noch heftige Diskussionen und Proteste gegen die geplanten Regelungen. Sie erinnert an die Proteste gegen den Buchautor Thilo Sarrazin, der in den letzten Jahren mit Thesen gegen Sozialmissbrauch und Armutszuwanderung für Schlagzeilen sorgte.
Damals hätten sich in vielen Städten Bündnisse gegen Sozialchauvinismus [12] gegründet. „Was die Bundesregierung jetzt plant, ist genau das was Sarrazin forderte“, betont Wagner. Sie befürchtet, dass von der Debatte Parteien rechts von der Union bei den Landtagswahlen in Sachsen profitieren können. Sie könnten sich bestätigt sehen, wenn die Kampagne gegen einen angeblichen Sozialmissbrauch, die sie seit Jahren führen, jetzt auch von der Bundesregierung aufgegriffen wird.
http://www.heise.de/tp/news/Viel-Populismus-wenig-Fakten-bei-der-Debatte-um-den-Sozialmissbrauch-2304853.html
Peter Nowak
Links:
[1]
[2]
[3]
[4]
[5]
[6]
[7]
[8]
[9]
[10]
[11]
[12]
Nach oben ducken, nach unten knüppeln
Sozialchauvinistische Reflexe nehmen in Deutschland zu, auch in den unteren Bereichen der Gesellschaft. Sie sind Ausdruck einer autoritären Form der Krisenbewältigung.
In den letzten Monaten haben sich in verschiedenen Städten Bündnisse gegen Sozialchauvinismus gegründet. Sie haben damit einen bisher in der linken Debatte weniger bekannten Begriff in die Öffentlichkeit gebracht. Auf einem von dem Berliner Bündnis erstellten Plakat wird Sozialchauvinismus als „eine Krisenideologie“ bezeichnet, „die mit Feindseligkeit gegen alle verbunden ist, die nicht ins Idealbild einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft passen“. Oft versuchen Träger dieser Ideologie, damit die eigene Nützlichkeit in der Gesellschaft aufzuwerten. Fast jeder wird im Alltag schon auf sozialchauvinistische Phänomene gestoßen sein.
Ein Beispiel aus dem Nahverkehr
Bevor der Zeitungsverkäufer überhaupt begonnen hat, in der Berliner U-Bahn seinen Spruch aufzusagen, wird er von einem Fahrgast aus dem Waggon mit einer Schimpfkanonade bedacht: Ob man in der Bahn, als zahlender Kunde, denn immer mit diesen Versagern belästigt werden müsse. Dafür erntet der Mann mittleren Alters, Typ Vertreter, bei anderen Fahrgästen Zustimmung. Da nützt es nichts, dass der Verkäufer mittels eines Ausweises am Revers die Rechtmäßigkeit seiner Arbeit dokumentieren will. Auch seine Distanzierung von denen, die seinen Berufsstand in ein schlechtes Licht rückten, weil sie nicht berechtigt seien, Zeitungen zu verkaufen und den verständlichen Zorn des Publikums auf sich zögen, haben wenig Erfolg.
So bekommt man in einer Alltagsszene illustrativ vorgeführt, wie der Sozialchauvinismus funktioniert. Menschen, die Probleme haben, in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft vom Rand wegzukommen, bekommen den Zorn derer ab, die selbst nur ein Rad im Getriebe sind. Ihre Angepasstheit demonstrieren sie durch freche Sprüche in Richtung derer, die in der sozialen Hackordnung noch weiter unten stehen. An ihnen wird die Aggression ausgelassen, die sich beim tagtäglichen Katzbuckeln vor dem Chef oder Vorarbeiter oder auch nur vor dem Kollegen, der eine Stufe höher gerückt ist, angesammelt hat. Auch der Gescholtene traut sich nicht, einer solchen Behandlung zu widersprechen. Stattdessen versucht er sich als produktives Mitglied der kapitalistischen Leistungsgesellschaft zu präsentieren, indem er auf die „schwarzen Schafe“ verweist, die nicht so gut funktionieren würden.
Was hier beispielhaft dargestellt wurde, findet sich in allen Poren der Gesellschaft. Oft genug sind die Akteure Menschen, die selbst am Rand der kapitalistischen Leistungsgesellschaft leben, also allen Grund hätten, dagegen aufzubegehren. Doch mit Sozialchauvinismus grenzen sie sich von anderen ab. Das kann die erwerbslose Nachbarin sein, die sich zu ihrem ALG II noch etwas dazu verdient und beim Jobcenter denunziert wird. Das kann der nichtdeutsche Leiharbeiter sein, der von Kollegen im selben Betrieb geschnitten und diskriminiert wird.
Geteilte Solidarität
Die Soziologen Hajo Holst und Ingo Matuschek von der Universität Jena zeigen anhand eines Betriebs mit ca. 6.000 Beschäftigten und starker IG-Metall-Verankerung auf, wie ein betriebswirtschaftliches Denken, das sich vor allem um die Rettung des Standorts dreht, zur Entsolidarisierung gegenüber Erwerbslosen und LeiharbeiterInnen führt. Diese werden von einer Mehrheit der Befragten nur unter dem Aspekt des Nutzens für den Betrieb gesehen. Holst und Matuschek erklären dieses Verhalten vor dem Hintergrund verstärkter Fragmentierungen in der Arbeitswelt und der Identifikation mit dem eigenen Betriebsstandort.
„Allerdings ist das normativ ‚Gute‘ des eigenen Betriebs permanent bedroht. Insbesondere die langjährig Beschäftigten sind sich bewusst, dass die das hohe Maß an Identifikation und Loyalität befördernden positiven Merkmale des Standorts auf eigenen, immer wieder neu zu erbringenden Flexibilitätsleistungen beruhen“, schreiben die Soziologen in einem kürzlich erschienenen Buch. [1] Und weiter: „Auf dieser Basis hat sich in der Belegschaft eine ‚kompetitive‘ Solidarität herausgebildet, die zwar einer solidarischen Gleichbehandlung aller Beschäftigten das Wort redet, die aber von jeden einzelnen entsprechende Leistungen einfordert“.
Zur positiven Identifikation mit dem Betrieb gehört auch die Bereitschaft, sich mehr als nötig zu engagieren, um zum Erfolg des Unternehmens beizutragen. In dieser Sichtweise gehören Leiharbeiter nicht zur Betriebsfamilie. Deswegen hat ein Großteil der Belegschaft auch keine Probleme damit, dass diese weniger verdienen und weniger Rechte haben. Sogar die Forderung nach mehr Druck auf Erwerbslose, damit diese jede Arbeit annehmen, ist aus der Belegschaft häufiger zu hören. Auch hier spielt der Leistungsbegriff eine wichtige Rolle. Wer bereit ist, zum Wohl des Bosses zu buckeln, der verlangt das auch für die Allgemeinheit. So rücken Erwerbslose, die für ihre Rechte kämpfen und nicht bereit sind, ihre Arbeitskraft um jeden Preis zu verkaufen, schnell in die Nähe von Leistungsverweigerern. Und für solche, das ist das Fazit von Holst und Matuschek, „wird die Luft unter den Kollegen dünner“.
Ein neues Feindbild
Die Diskussion um den Sozialchauvinismus hat durch die mittlerweile mehr als ein Jahr alte Debatte um Thilo Sarrazin (SPD) an Bedeutung gewonnen. Der ehemalige Berliner Senator und Deutsche-Bank-Manager hatte mit seinen Äußerungen nicht in erster Linie muslimische MigrantInnen im Visier, wie es in großen Teilen der linksliberalen Medien nahegelegt wird. Zu seinem Feindbild zählen vielmehr alle, die dem Standort Deutschland aus seiner Sicht nicht nützen, wie in einem von Sebastian Friedrich herausgegebenen Sammelband herausgearbeitet wird. [2] Betroffen davon sind ALG-II-EmpfängerInnen ebenso wie migrantische Jugendliche. Das hat Sarrazin bereits in seiner Zeit als Berliner Senator immer wieder deutlich gemacht. Seine Person ist dabei nur der „Lautsprecher“ eines Sozialchauvinismus, der Teile der Elite mit „Bild-Lesern“ zusammenschweißt.
So hat der sich selbst als „Neo-Aristokrat“ bezeichnende Philosoph Peter Sloterdijk die sozialchauvinistische Grundannahme in einem FAZ-Aufsatz in Reinform dargeboten. Während im ökonomischen Altertum die Reichen auf Kosten der Armen gelebt hätten, würden in der „ökonomischen Moderne die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven“ leben. Die Leistungsträger und die Unproduktiven sind zentrale Kategorien im sozialchauvinistischen Diskurs. Letztere werden auch gerne als „Transferbezieher“ abgewertet. Damit können Erwerbslose genau so gemeint sein wie Aufstocker, aber auch ganze Staaten wie Griechenland im EU-Diskurs. So wurde der „Transferbezieher“, der angeblich nicht von eigener Arbeit lebe, zum neuen Feindbild.
Hetze gegen die Chavs
Sozialchauvinistisches Denken kann sich mit Unterdrückung auf „ethnischer“ Grundlage verknüpfen. Das zeigt sich in den vielerorts um sich greifenden Angriffen gegen Roma und Sinti. Den Angegriffenen wird vorgeworfen, nicht leistungsbereit genug zu sein. Wie sich solche rassistische Stereotypen wiederum mit dem Hass auf das Proletariat verbinden kann, wenn dieses nicht angepasst und eingehegt in die bürgerliche Gesellschaft ist, zeigt sich in Großbritannien am Siegeszug des Begriffs „Chavs“, der wahrscheinlich von „Chaavi“, dem Roma-Wort für „Kind“, abgeleitet wurde. Er tauchte vor knapp zehn Jahren in der Öffentlichkeit auf und wurde immer populärer.
„Er kam zuerst in der Bedeutung von ‚junger Angehöriger der Arbeiterklasse in legerer Freizeitkleidung‘ in den Wortschatz. Aber es schwangen immer auch hasserfüllte, klassenbezogene Bedeutungen mit, ein Chav war gleichbedeutend mit ‚antisozialem Verhalten‘, Geschmacklosigkeit und Nutzlosigkeit“, schreibt der Historiker Owen Jones. Er hat kürzlich ein Buch über die Dämonisierung der Arbeiterklasse geschrieben. [3] Nun hat die Kampagne gegen die Chavs ein neues Beispiel geschaffen: Als im Spätsommer in britischen Städten Riots ausgebrochen waren, erreichte die Hetze ihren Höhepunkt. „Plünderer sind Abschaum“, diese Parole, die bei den Aufräumarbeiten des patriotischen Mittelstands zu sehen war, wurde im öffentlichen Diskurs weitgehend Konsens. Für viele waren diese Plünderer mit den Chavs identisch.
Jones zeigt auch auf, wie die Kampagne gegen die Unterklasse und die Ideologie vom Ende der Arbeiterklasse verschmelzen. Das Klischee vom Chav tauchte zu einer Zeit auf, als Journalistinnen und Politiker aller Couleur behaupteten, wir alle – auch die vermeintlich aufstrebende Arbeiterklasse – seien nun Mittelschicht. Mit einer großen Ausnahme: All das, was von der alten Arbeiterklasse übrig war, wurde zum problematischen Rest degradiert. So schrieb der rechtsstehende Journalist Simon Heffer: „Was früher einmal die ehrbare Arbeiterklasse genannt wurde, ist fast ausgestorben. Was Soziologen als Arbeiterklasse zu bezeichnen pflegten, arbeitet dieser Tage normalerweise überhaupt nicht, sondern wird vom Sozialstaat unterhalten.“ Sie habe sich stattdessen zu einer „verkommenen Unterschicht“, dem Prekariat, entwickelt. „Wer außerhalb von Mittelschichtbritannien bleibt, ist selbst schuld daran“, fasst Jones diese Propaganda zusammen, die keineswegs Großbritannien vorbehalten ist.
Der normale Wahnsinn
Dass ganze Menschengruppen als faule, unproduktive „Schmarotzer“ beschimpft werden, ist in Deutschland seit Langem bekannt. Diese Hetze erlebt immer wieder Konjunkturen, etwa wenn diese durch das Zusammenspiel von Boulevard und Politik die Form einer Kampagne annimmt. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Interview des ehemaligen FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle, in dem er gegen die „spätrömische Dekadenz“ in unserer Gesellschaft wetterte. Es war nur der Startschuss für eine neue Kampagne gegen Erwerbslose, eine der vielen, die zur Verfestigung des Hartz-Regimes beitragen.
Mit der Kategorie des Sozialchauvinismus werden diese Unterdrückungsmechanismen sozial verortet. So kann verhindert werden, dass daraus ein rein moralisierender Diskurs entsteht, wie es beim Rassismus oft der Fall ist. Der Kampf gegen Sozialchauvinismus und Rassismus ist aber vor allem ein Eingriff in soziale Praxen und kann völlig unterschiedliche Formen annehmen. Dass man auch gegen sozialchauvinistische Spaltungen streiken kann, machten finnische Stahlkocher in diesem Sommer deutlich. Sie traten in den Ausstand, um polnische Leiharbeiter bei ihrem Kampf für gleiche Löhne und Arbeitsbedingungen gegen den deutschen Konzern Beroa zu unterstützen. Der mehrtägige Solidaritätsstreik setzte die Bosse schnell unter Druck. Ein Beroa-Vertreter sagte daraufhin zu, dass das Unternehmen sich zukünftig an die finnischen Gesetze und die vertraglich vereinbarten Bestimmungen halten werde. Der Umgang mit den Leiharbeitern, der in Finnland für Empörung sorge, sei in mitteleuropäischen Ländern üblich, rechtfertigte er sich noch.
Damit hat der Beroa-Vertreter ein wahres und vernichtendes Urteil über die solidarische Kampffähigkeit und -bereitschaft auch der DGB-Gewerkschaften ausgesprochen. Eine Auseinandersetzung mit sozialchauvinistischen Ideologien und Tendenzen, die sich auch unter Lohnabhängigen und Erwerbslosen verbreitet sind, ist unbedingt notwendig. Dagegen hilft nur die Entwicklung von kollektiver Solidaritätsarbeit und Gegenwehr im Alltag. So wird bei Begleitaktionen von Erwerbslosen im Jobcenter eben nicht nach „guten“ und „schlechten“ Erwerbslosen unterschieden und die gesellschaftliche Spaltung reproduziert. Dadurch kann ein politisches Bewusstsein entstehen, das Sozialchauvinismus zurückdrängt. Ganz verschwinden wird er so schnell nicht, aber zumindest könnte ein Klima erzeugt werden, indem die Mehrausbeutung von Leiharbeitern nicht mehr zum mitteleuropäischen Standard gerechnet wird.
Peter Nowak
Literatur zum Thema
[1] Sebastian Friedrich (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der Sarrazindebatte, Münster 2011.
[2] Thomas Haipeter & Klaus Dörre (Hg.): Gewerkschaftliche Modernisierung, Frankfurt a.M. 2011, u.a. mit dem Beitrag von Hajo Holst & Ingo Matuschek.
[3] Owen Jones: Chavs. The Demonization of the Working Class, London 2011.
http://www.direkteaktion.org/208/nach-oben-ducken-nach-unten-knueppeln/