Raus aus der Szene

In Berlin diskutierten radikale Linke darüber, wie sie in gesellschaftliche Kämpfe eingreifen können

„Konferenz zur Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie« lautete der vollständige Titel des Berliner Treffens, an dem vom 28. bis zum 30. April mehr als 1.000 radikale Linke aus ganz Europa teilnahmen. Eigentlich sprachen alle von der Selbermachen-Konferenz – eine politisch problematische Verkürzung. Erinnert der Begriff Selbermachen doch an die Do-it-Yourself-Bewegung, ein in subkulturellen Kreisen beliebtes Konzept, das durchaus mit neoliberalen Vorstellungen kompatibel sein kann. Der Kapitalismus bietet heute genug Nischen, in denen Menschen Gelegenheiten zum Selbermachen haben, wenn nur die
Grundprinzipien der kapitalistischen Verwertung nicht angetastet werden. Doch die Linken, die sich in Berlin trafen, suchten nach Wegen raus aus den oft subkulturellen Nischen. Ein Anspruch, der schon im Aufruf deutlich wurde. Dort heißt es: »Gemeinsam wollen wir uns Fragen stellen, auf die die außerparlamentarische Linke Antworten finden muss, will sie ein wirklicher gesellschaftlicher Faktor werden: Wie stellen wir uns Verdrängung und Gentrifizierung entgegen? Wie schaffen wir es, in den Alltagskämpfen unserer Nachbarschaften verankert zu sein? Welche Formen kann die Selbstorganisierung
von Frauen annehmen? Wie können im Betrieb und im Arbeitsalltag Prekarisierter Kämpfe gelingen? Wie wehren sich Erwerbslose gegen die Zurichtungen durch das Jobcenter? Wie sieht eine Fabrik unter Arbeiter_innenkontrolle aus? Und welche Formen von Rätedemokratie wollen wir realisieren?« Der Unterschied zum großen Autonomiekongress 1995 in Berlin ist augenfällig. Damals drehten sich die Debatten um die Frage, was das autonome »Wir« eigentlich ist. 22 Jahre später ging es darum, wie radikale Linke in gesellschaftliche Kämpfe eingreifen können. Dass es bei der diesjährigen Konferenz um die Politik im Stadtteil, im Jobcenter und auch am Arbeitsplatz ging, liegt auch an den politischen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen der letzten Jahre. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene hat das Erstarken von regressiven politischen Bewegungen dazu beigetragen, dass die außerparlamentarische Linke wieder Politik in und mit der Gesellschaft machen will. Die Politik der Agenda 2010 ebenso wie die Einführung von Bachelor und Master an den Hochschulen sind Angriffe auf die Nischen, in die sich viele radikale Linke zurückgezogen hatten. Da mit hat auch die schon immer kritisierte
autonome Szenepolitik ihre Grundlage verloren. Die meisten radikalen Linken stecken in prekären Arbeitsbedingungen, und gerade die angesagten Szenebezirke sind einer verstärkten Gentrifizierung ausgesetzt. Konnten die linken Genoss_innen vor 22 Jahren noch darüber diskutieren, ob es sinnvoll ist, wenn linke Kneipen verlängerte Wohnzimmer sind, so wird dieser Streit obsolet, wenn die Investor_innen dort Eigentumswohnungen bauen wollen. Bewegungen wie jene um die Kampagne Zwangsräumung verhindern machten auf der Konferenz deutlich, wie eine gesellschaftliche Intervention der radikalen Linken in die Gesellschaft aussehen kann. Menschen, die vorher nicht politisch aktiv waren, wurden ermutigt, sich gegen den Verlust ihrer Wohnung zu wehren. Im Verhältnis zu den täglichen Zwangsräumungen sind sie weiterhin eine Minderheit. Aber dadurch ist eine Diskussion entfacht worden, die die Verantwortlichen für die Zwangsräumungen kritisiert. Besonders erfreulich war die starke Präsenz von Themen des Widerstands in der Arbeitswelt auf der Konferenz. In einer Zeit, in der DGB-Belegschaften wie die IG-Metall eindeutig die Interessen der schrumpfenden Kernarbeiter_innen in den Mittelpunkt stellen und die Leiharbeiter_innen ignorieren, bedarf es basisdemokratischer Ansätze, die die Interessen aller Arbeiter_innen in den Blick nehmen. Auf dem Kongress war der Grupo de Accion Sindical (GAS) vertreten, in der sich Arbeitsmigrant_innen aus der südeuropäischen Peripherie, vor allem aus Spanien und Portugal, in Berlin zusammen geschlossen haben. Die FAU-Betriebsgruppe der Lebenshilfe Frankfurt/Main berichtete über einen Arbeitskonflikt, bei dem schließlich die Dienstleistungsgewerk-schaft ver.di einen Tarifvertrag geschlossen und die Basisgewerkschafter_innen an den Rand gedrängt hat. Auf großes Interesse stießen die Herausgeber_innen von Rebel Roo, einer Zeitschrift von Deliveroo-Fahrer_innen im englischen Bristol. Angestoßen von der FAU hat mittlerweile auch in Deutschland eine Organisierung von Fahrradkurier_innen begonnen.
Die Redner_innen warnten allerdings vor übertriebenem Optimismus. Die Flexibilisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse bringe einen häufigen Arbeitsplatz- und Jobwechsel mit sich. Dies erschwere eine längerfristige Organisierung. Viele machen die Erfahrung, dass sie überall mit den gleichen schlechten Arbeitsbedingungen konfrontiert sind. Ein Kollege sprach von einem Lernprozess, der vielleicht dazu führen kann, dass sich die Leute irgendwann dauerhafter organisieren. Hier müsste sich die Frage anschließen, ob nicht in
der US-Linken diskutierte Konzepte, wie die Working-Center oder die Sozialen Netzwerke, einen wichtigen Beitrag bei Organisierungsprozessen im flexiblen Kapitalismus leisten können. Dort wird versucht, Kämpfe im Stadtteil, im Jobcenter und am Arbeitsplatz zu verbinden. Das könnte vielleicht Thema eines Nachfolgekongresses sein, der sich spziell mit linker Intervention in Betriebs- und sozialen Kämpfen befasst. Ein zweiter Strang auf der Konferenz war ein neuer Internationalismus. Der Zapatismus gehört schon lange zu den Steckenpferden der Autonomen. Zur aktuellen Entwicklung in Chiapas wurde ein Film gezeigt, der das Leben in den zapatistischen Gebieten zeigen sollte, aber erstaunlich widerspruchsfrei blieb. Es waren vor allem glückliche Menschen bei der Erntearbeit, in der Schule oder in den Gesundheitszentren zu sehen. Ein weiterer Schwerpunkt des neuen Internationalismus war das kurdische Rojava. Gleich auf mehreren Diskussionen berichte Ercan Ayboğa detailliert auch über die Probleme in den kurdischen Gebieten, in denen Räestrukturen eine wichtige Rolle spielen und sich die PYD als linke Partei, die diese Entwicklung erst ermöglicht hat, bewusst im Hintergrund hält. Leider blieb die Situation in Venezuela auf der Konferenz völlig ausgespart – ein Land, auf dessen Rätestrukturen und Stadtteilkomitees Dario Azzelini in seinen Büchern und Filmen hingewiesen hat. Das wäre doch eine gute Gelegenheit gewesen, auch Kontroversen offen auszutragen.

Peter Nowak
http://www.akweb.de/


ak | Nr. 627 | 16. Mai 2017

Relevanz selbst organisieren

GESELLSCHAFT Auf der Selbermachen-Konferenz dreht sich am Wochenende vor dem 1. Mai alles um die Selbstorganisierungsformen der linken Szene

„Selbermachen“ ist der zentrale Schlüsselbegriff einer Internationalen Konferenz, die von Freitag bis Sonntag (28.–30. April)
an verschiedenen Orten der Kreuzberger linken Szene stattfinden wird. Unterstützt wird sie von der Erwerbsloseninitiative
Basta, der Stadtteilgruppe Hände weg vom Wedding und verschiedenen Antifagruppen. Jessica Schmidt vom Vorbereitungskreis
der Konferenz nennt das Ziel der drei Tage: „Gemeinsam wollen wir uns Fragen stellen, auf die die außerparlamentarische Linke Antworten finden muss, wenn sie ein wirklicher gesellschaftlicher Faktor werden will.“ Die Konferenz rund um Selbstorganisierung
beginnt am Freitag um 17 Uhr mit einer Auftaktveranstaltung „Zur Relevanz von Rätekonzepten und Kommunen im 21. Jahrhundert“. Ercan Ayboga wird über die Erfahrungen mit kommunaler Organisierung in Kurdistan berichten. Zur gleichen Zeit beginnt ein Stadtrundgang durch das anarchistische Kreuzberg vor 1933. Das Wohnhaus des vom Sozialdemokraten zum Anarchisten gewandelten Johann Most soll dabei ebenso aufgesucht werden wie Orte, an denen einst anarchische Massenzeitungen gedruckt wurden. Am Samstag und Sonntag wird das Thema Selbstorganisation auf unterschiedliche
Alltagsbereiche heruntergebrochen. „Gesundheit und gutes Leben für alle“ lautet das Thema einer Arbeitsgruppe, in der sich gesundheitspolitische Initiativen aus verschiedenen Städten austauschen. Die Initiative Zwangsräumung wird über ihre fünfjährige Geschichte einer selbst organisierten Widerstandsform von MieterInnen berichten. Um die Erfahrungen der Selbstorganisation von ArbeiterInnen in besetzten Betrieben in Griechenland geht es in einer Fotoausstellung in Jockel’s
Biergarten in der Ratiborstraße 14c. Am Donnerstag wird dort um 19 Uhr über die aktuelle Situation in den besetzten Betrieben
diskutiert. In Arbeitsgruppen stellen sich die TeilnehmerInnen die Frage, ob Arbeit im Kollektiv und in besetzten Fabriken nicht
auch eine Form der Selbstausbeutung ist. So laden am Samstag um 19 Uhr verschiedene politische Gruppen zum Erfahrungsaustausch über Organisierungsprozesse in prekären Arbeitsverhältnissen ein. Die Konferenz endet am Sonntag,
30. April. Ein Großteil der TeilnehmerInnen will sich danach an den verschiedenen Demonstrationen rund um den 1. Mai beteiligen.
aus:

DONNERSTAG, 27. APRIL 2017 TAZ.DIE TAGESZEITUNG
PETER NOWAK

selbermachen2017.org/deu

Raus aus der Szene

Ein Kongress sucht Wege in die Selbstverwaltung

Seit fast zehn Jahren befindet sich Griechenland im Würgegriff der Troika. So lange auch wehren sich dort Linke dagegen, unter anderem mit Fabrikbesetzungen und dem Aufbau sozialer Zentren. Eine Gruppe linker Berliner Gewerkschaftler hält seit Jahren Kontakt zu den griechischen Aktivisten.

Ihre Bemühungen werden auf verschiedenen bevorstehenden Veranstaltungen eine Rolle spielen: So wird ab dem 27. April in Berlin eine Fotoausstellung über die griechischen Kämpfe informieren. Die Berliner Konferenz »Selbermachen« vom 28. bis 30. April wird speziell auf die aktuelle Situation der besetzten Fabriken in Griechenland eingehen. Organisiert wird dieses internationale Zusammentreffen von Stadtteilgruppen, Erwerbslosen- und Antifagruppen verschiedener Städte. Die »Umorientierung von einer Szene- und Kampagnenpolitik zur Basisorganisierung« wird das zentrale Motiv der Konferenz sein, so erklärt es die Vorbereitungsgruppe.

Auf der Konferenz werden auch kurdische Erfahrungen mit Selbstverwaltung diskutiert werden, ebenso wie zarte Organisierungsansätze in Deutschland. So wird dort beispielsweise das Berliner Bündnis gegen Zwangsräumungen über seine nunmehr fünfjährige Arbeit berichten. Eine Rolle wird auch das Thema der Selbstausbeutung in Kollektiven und selbstverwalteten Fabriken spielen.

100 Jahre nach der Oktoberrevolution lautet eine wichtige Frage der parteiunabhängigen Linke immer noch: Ist eine echte Selbstorganisation in kapitalistischen Gesellschaften überhaupt möglich?

Am Abend des 29.April laden verschiedene politische Gruppen zum Erfahrungsaustausch über Organisierungsprozesse in prekären Arbeitsverhältnissen ein. Unter dem Titel »Gegenmacht ohne Produzentenmacht« werden Initiativen aus Großbritannien, Berlin und Frankfurt am Main über Arbeitskämpfe berichten, in denen trotz fehlender Druckmittel Erfolge erzielt werden konnten.

www.selbermachen2017.org

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1049089.raus-aus-der-szene.html

Peter Nowak