Haushaltsurteil vs. Klima-Urteil: Umweltverbände setzen verstärkt auf den Rechtsweg statt auf Straßenproteste. Reaktionen zeigen, warum das falsch ist. Ein Kommentar.

Jubel über Gerichtsurteil: Justiz als Waffe für Mensch und Umwelt?

Unter dem Strich muss bilanziert werden, dass auch hier wieder viele Diskussionen um ein Urteil geführt werden, das möglicherweise gar keinen Bestand hat. Auch hier ist wieder festzustellen, dass auch immer mehr zivilgesellschaftliche Organisationen den juristischen Weg gehen, statt auf außerparlamentarischen Druck zu setzen.

Wieder streitet die Bundesregierung über ein Gerichtsurteil. Dieses Mal dreht sich die Auseinandersetzung um die Frage, ob sie Revision gegen das Klima-Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg einlegen soll, statt – wie darin verlangt – Sofortmaßnahmen zum Klimaschutz in den Sektoren Gebäude und Verkehr zu beschließen. Das Gericht hatte damit einer Klage von …

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Streitschrift wider den Reformmythos

Rainer Balcerowiak: Die Heuchelei von der Reform. Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt.

Nach der Präsidentenwahl in Frankreich wurde der wirtschaftsliberale Emmanuel Macron von deutschen Medien und Wirtschaftsverbänden aufgefordert, möglichst schnell mit den Reformen zu beginnen. Auch wirtschaftsfreundliche Zeitungen in Frankreich drückten bereits im Vorfeld der Wahl die Hoffnung aus, Macron möge die große Wirtschaftsreform nach dem Vorbild der Agenda 2010 gelingen. «Reform wurde zum Kampfbegriff neoliberaler Ideologen, die darunter vor allem die Privatisierung und partielle Zerschlagung sozialer Sicherungssysteme, die Vermögensumverteilung nach oben und die weitgehende Befreiung der kapitalistischen Wirtschaft von regulatorischen Fesseln des Staates verstanden», schreibt der Journalist Rainer Balcerowiak in seinem kürzlich in der Edition Berolina verlegten Buch, in dem er sich dem Reformbegriff historisch, soziologisch und realpolitisch nähert.

Seine zentrale These, spätestens seit dem Ende der 1970er Jahre habe der Begriff «Reform» seine Bedeutung gewechselt, stimmt zumindest für die Geschichte der BRD. Noch in den frühen 70er Jahren wurde mit dem Begriff Reform eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen verbunden. Ein zentrales Projekt der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt war z.B. die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung.

Auch die Reform des §218 griff, wenn auch unvollständig, die Forderung der Frauenbewegung nach einer legalen Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs auf. Nach einer massiven Kampagne von Konservativen, Neonazis und den Kirchen blieb von dem ursprünglichen Entwurf allerdings nicht mehr viel übrig, weil das Bundesverfassungsgericht die Reformpläne für verfassungswidrig erklärte.

Balcerowiak zeigt, dass in der Regel Reformen, die das Leben der Mehrheit der Bevölkerung verbessern sollen, nur durchgesetzt werden können, wenn ein starker gesellschaftlicher Druck sie erzwingt. Ist der nicht oder nur schwach vorhanden, wird es keine Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung geben. Im Gegenteil, dann werden einst erkämpfte Rechte wieder kassiert, Arbeitszeiten verlängert, Löhne gekürzt.

In der Arbeiterbewegung war der Streit zwischen Anhängern eines reformistischen Wegs und den Verfechtern eines revolutionären Bruchs über ein Jahrhundert lang prägend. Balcerowiak geht auf diese wichtige Auseinandersetzung ein und fördert dabei erstaunlich aktuelle Zitate von Rosa Luxemburg über Regierungssozialisten und Gewerkschaften zutage, die sich wie Lobbyverbände des Kapitals gerieren.

Den aktuellen Regierungssozialisten, die glauben, sie seien an der Macht, wenn sie ein paar Regierungsämter besetzen, gibt er historischen Nachhilfeunterricht. Der LINKEN widmet er ein eigenes Kapitel, in dem er an verschiedenen Beispielen aus ihrer Regierungsarbeit in Berlin und Thüringen aufzeigt, wie schnell ihre Wahlversprechen Makulatur werden.

Gleich in mehreren Kapiteln entmythologisiert der Autor die Worthülse vom «Reformlager», das SPD, Grüne und LINKE umfassen soll. Kenntnisreich weist er nach, wie wenig Gemeinsamkeiten es im Detail zwischen diesen drei Parteien in der Sozial-, Wirtschafts- und Außenpolitik gibt.

In kurzen Kapiteln beschreibt Balcerowiak die realen Bremsen jeglicher Reform im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung. Da ist an vorderster Stelle die Schuldenbremse zu nennen, mit der sich alle Sozialreformer, die ihr zustimmten, selber Fesseln angelegt haben.

Zu den ideologischen Stichwortgebern, die ein gesellschaftliches Klima erzeugt haben, in dem nicht die Kinderarmut, sondern die Staatsschulden zum Wählerköder werden, zählt der Autor neben der Bertelsmann-Stiftung und dem Institut für Soziale Marktwirtschaft (INSM) auch den Bund der Steuerzahler.

Das leicht verständlich geschriebene Buch widerlegt manche wirtschaftsliberale Mythen und ist nicht nur in Wahlzeiten ein Stück politische Gegenöffentlichkeit im besten Sinne.

Rainer Balcerowiak: Die Heuchelei von der Reform. Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt. Berlin: Edition Berolina, 2017. 144 S., 9,99 Euro

aus: Sozialistische Zeitung

Rainer Balcerowiak: Die Heuchelei von der Reform. Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt.

Peter Nowak

Rot-Grüner Haushalt in NRW gekippt

Das Urteil wird die Diskussion über die von der Politik gewollte Selbstentmachtung durch Schuldenbremsen verstärken
Der Verfassungsgerichtshof von NRW hat am 15. März den Nachtragshaushalt der rot-grünen Landesregierung wegen Überschreitung der Kreditgrenzen für verfassungswidrig erklärt.

Der Haushalt verstoße gegen den Artikel 83 Satz 2 der Landesverfassung. Dort heißt es: „Die Einnahmen aus Krediten dürfen entsprechend den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in der Regel nur bis zur Höhe der Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen in den Haushaltsplan eingestellt werden; das Nähere wird durch Gesetz geregelt.“

Das Gericht stellt in der Urteilsbegründung fest: „Von der in Art. 83 Satz 2 LV normierten Regelverschuldungsgrenze dürfe grundsätzlich nur zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abgewichen werden. Nach gefestigter Rechtsprechung müsse die Störungslage ernsthaft und nachhaltig sein oder als solche unmittelbar drohen. Die erhöhte Kreditaufnahme müsse außerdem zur Störungsabwehr geeignet und final hierauf bezogen sein.“

Im Gesetzgebungsverfahren seien keine Gesichtspunkte der konjunkturellen Entwicklung aufgezeigt worden, die eine weitere Erhöhung der Kreditaufnahme gegenüber dem Stammhaushalt trotz deutlich verbesserter Wirtschaftslage zur Störungsabwehr plausibel und nachvollziehbar machten, so das Gericht.

Die Parteien im NRW-Landtag reagierten unterschiedlich auf die Gerichtsentscheidung. Die oppositionelle FDP hat die Landesregierung aus Konsequenz auf das Urteil aufgefordert, „den Marsch in den Verschuldungsstaat zu stoppen“. Für die ebenfalls oppositionelle Linke „spielt das Urteil den Neoliberalen aller Couleur, die einen schwachen Staat und sowie Privatisierung und Sozialbbau wollen, in die Hände“. Die Linke, die die Landesregierung in bestimmten Fragen unterstützt, fordert diese auf, die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts besser darzulegen.

Die NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft geht ebenfalls weiterhin von einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts aus und bezeichnet die Folgen des Urteils für den Haushalt von NRW als gering. Allerdings wird weiterhin über baldige Neuwahlen in NRW geredet. Damit will die Landesregierung eine Mehrheit von SPD und Grünen erreichen. Ob diese Kalkulation aufgeht ist fraglich.

Selbstentmachtung durch Schuldenbremse?

Die Gerichtsentscheidung dürfte die Diskussion um die Schuldenbremsen in den Landesverfassungen neu beleben. Es sind von der Politik gewollte Bestimmungen, die zu dem Richterspruch und damit dazu führte, dass sie immer weniger Spielraum hat. In Hessen, wo ebenfalls eine 1397977 Schuldenbremse in die Verfassung eingefügt werden soll, muss die Bevölkerung am 27. März in einer Volksabstimmung darüber entscheiden.

Ein Bündnis aus verschiedenen Parteien, Gewerkschaften und sozialen Initiativen spricht sich gegen dagegen aus. Es könnte durch die Entscheidung von NRW Auftrieb bekommen. 
 http://www.heise.de/tp/blogs/8/149457

Peter Nowak