„Mir geht es um Menschenrechte“

Marcel Kallwass

MUT Ein Student der Hochschule der Arbeitsagentur kritisiert seinen Ausbilder: Die Sanktionen gegen Erwerbslose sind oft falsch. Nun muss er fürchten, von der Schule geworfen zu werden

taz: Herr Kallwass, als Student an der Hochschule der Bundesanstalt für Arbeit haben Sie mehrfach die Bundesarbeitsagentur kritisiert. Warum?

Marcel Kallwass: Ich habe im Jobcenter Ulm hospitiert. Dort habe ich mitbekommen, wie Erwerbslose sanktioniert wurden. Das kann nicht der richtige Weg sein. Ich habe in der Hochschule Diskussionen über die Sanktionen angeregt. Dabei musste ich mit Erschrecken feststellen, dass viele meiner Kommilitonen Sanktionen befürworten.

Bekamen Sie Unterstützung?

Einige Studierende wurden durch meine Argumente zum Nachdenken angeregt. Sie erklären, dass sie jetzt die Sanktionen kritischer sehen. Allerdings war vielen meine Totalablehnung von Sanktionen zu radikal.

Warum haben Sie Ihre Kritik öffentlich gemacht, beispielsweise auf Ihrem Blog?

Nach den Diskussionen in der Hochschule habe ich gemerkt, dass ich an eine Grenze stoße. Also begann ich vor fünf Monaten, meine Argumente auf dem Blog „Kritischer Kommilitone“ zu veröffentlichen. Damit wollte ich meine Solidarität mit der Hamburger Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann ausdrücken, die wegen ihrer Kritik am Hartz-IV-System vom Dienst suspendiert wurde.

Bekamen Sie auch Druck?

Im Juni hatte ich den Blog eröffnet, Anfang August wurde ich vom Leiter der Hochschule zu einem ersten Gespräch eingeladen. Das war noch moderat. Nachdem ich einen offenen Brief an den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht hatte, in dem ich Vorschläge für eine Berufsberatung ohne Sanktionen machte, drohte mir die Regionaldirektion von Baden-Württemberg in Stuttgart erstmals mit einer Abmahnung. Nachdem ich auch in der Hochschule mit Flugblättern meine Kritik fortsetzte, habe ich Anfang November die erste und wenige Wochen später die zweite Abmahnung erhalten.

Gefährden Sie Ihre Karriere?

Nach intensiven Gesprächen mit meinen Eltern und FreundInnen habe ich mich entschieden, den Blog weiter zu betreiben. Ich weiß, dass das dazu führen kann, mein Studium abbrechen zu müssen. Das Risiko gehe ich ein, mir geht es um Menschenrechte.

Könnten Sie als kritischer Berufsberater nicht mehr gegen die Sanktionen tun?

Nein, ich wäre dann ein Rädchen in der Maschinerie. Auch wenn ich von der Schule geschmissen würde, wird mich die Bundesanstalt für Arbeit nicht los. Ich wäre dann selber arbeitslos und würde mich weiter gegen Hartz IV engagieren.

INTERVIEW: PETER NOWAK


22, ist Student an der Hochschule der Bundesanstalt für Arbeit in Mannheim. Nachdem er auf seinem Blog das Arbeitsamt kritisierte, wurde er gemaßregelt.

http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=in&dig=2013%2F12%2F27%2Fa0115&cHash=77df33031deebeb96fb24503a9629457

Rekord bei der Sanktionierung von Erwerbslosen

Gerade weil es der Wirtschaft in Deutschland gut geht, wächst der Druck auf Hartz-V-Empfänger ganz im Sinne der Erfinder der Agenda 2010

Noch nie haben Arbeitsagenturen so viele Sanktionen gegen Hartz IV-Empfängerverhängt wie im letzten Jahr. Die Zahl ist nach Angaben eines Sprechers der Bundesagentur für Arbeit im letzten Jahr gegenüber 2010 um 10 Prozent auf 912.000 Fälle gestiegen. Die Hauptgründe waren Nichteinhalten von Terminen beim Amt sowie der Abbruch oder das Nichtantreten einer Arbeitsplatzmaßnahme.

Obwohl gleichzeitig vermeldet wurde, dass die sogenannten Betrugsfälle zurückgegangen sind, bemühte ausgerechnet die sozialdemokratische Frankfurter Rundschau sofort das Klischee vom Sozialmissbrauch, in dem sie die von den Sanktionen Betroffenen zu Arbeitsunwilligen erklärte.

Differenzierter äußerte sich eine Sprecherin der Bundesanstalt für Arbeit zu den Gründen für den Sanktionsrekord: „Je mehr offene Stellen es gibt, desto mehr Angebote können unsere Vermittler den Arbeitslosen machen und umso häufiger kommt es zu Verstößen.“ So nimmt ausgerechnet in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs der Druck auf die Erwerbslosen zu. Nicht nur in der öffentlichen Meinung wird ihnen noch mehr als sonst die Verantwortung für den Hartz-IV-Bezug gegeben. Auch auf den Jobcentern bedeuten mehr offene Stellen, dass es für Hartz-IV-Empfänger immer schwerer wird, eine Stelle abzulehnen. Einen Job zu fast jeden Preis annehmen zu müssen, war aber genau die Intention der Agenda 2010.

Insofern zeigt das Sanktionshoch deswegen kein Versagen, sondern das Funktionieren des Hartz-IV-Systems. Zudem werden die Arbeitsagenturen immer professioneller beim Verstopfen der letzten Schlupflöcher, mit denen vielleicht manche Erwerbslose in den letzten Jahren noch ein Stück weit selber entscheiden wollten, welchen Job sie zu welchem Preis und zu welchen Bedingungen annehmen wollen. Das ist der zweite Grund für den Anstieg der Sanktionen.

Ratlosigkeit der Jobcenter oder der aktiven Erwerbslosen?

Für viele aktive Erwerbslose sind die neuesten Zahlen ein Grund mehr, ihre Forderungen nach einem Stopp der Sanktionen zu erneuern. Obwohl ein Moratorium mittlerweile von Gewerkschaftern, Wissenschaftlern und Politikern unterstützt wird, wird es nicht umgesetzt. Denn damit würde der Kern der Hartz-IV-Reformen, Lohnarbeit zu fast jedem Preis annehmen zu müssen, entfallen.

Die von einer Berliner Sozialinitiative gestarteten Befragungen von Hartz-IV-Beziehern vor dem Jobcenter Neukölln haben deutlich gemacht, dass viele Betroffene neben der Behandlung am Amt, Sanktionen und Druck als ein zentrales Problem ansehen. Mit der zunehmenden Sanktionierung von Hartz-IV-Empfängern ist die Etablierung eines Niedriglohnsektors verbunden, der wiederum Auswirkungen auf die Lohnquote insgesamt hat. Wenn die Überzeugung wächst, dass alles getan werden muss, um nicht unter das Hartz-IV-Regime zu fallen, dann sind eben viele Beschäftigte zu Lohnverzicht und Mehrarbeit bereit. Auch dieser Effekt war den Verantwortlichen der Hartz-IV-Gesetze bewusst. Daher ist auch die in einer Pressemitteilung des Erwerbslosenforums Deutschland vertretene Einschätzung, dass es sich bei dem Sanktionsrekord um einen „Ausdruck der Hilf- und Konzeptlosigkeit der Jobcenter“ handelt, in Frage zu stellen. Sind nicht die Sanktionen eher ein Ausdruck der Funktion des Hartz-IV-Systems und der Hilflosigkeit der wenigen aktiven Erwerbslosengruppen?
http://www.heise.de/tp/blogs/8/151780
Peter Nowak