Parteitag der Linken: Wie passen offene Grenzen mit realen Abschiebungen zusammen?

Die Linke zerstreitet sich auf ihren Parteitag erwartungsgemäß über offene Grenzen. Doch die Abschiebungen in von ihr mitregierten Bundesländern wurden erst am Ende ein Thema

Am Ende kam es doch noch zum Eklat auf dem Parteitag der Linken. In einer teilweise sehr emotionalen, extra anberaumten einstündigen Diskussion über die Flüchtlingsfrage[1] zeigte sich, wie sehr die Delegierten das Thema umtreibt. Es hatten sich fast 100 Delegierte für eine Wortmeldung angemeldet. Nicht mal ein Viertel konnte sich aus Zeitgründen äußern.

Es war seit Monaten vorauszusehen, dass die Flüchtlingspolitik zum Knall führen wird. Dabei bemühte man sich zwei Tage um Formelkompromisse. Es sah auch erst so aus, als könnte das gelingen.

„Bleiberecht für Alle“ oder „Bleiberecht für Menschen in Not“

Sahra Wagenknecht erklärte ausdrücklich, dass sie mit dem vom Parteivorstand eingebrachten Beschluss leben kann, weil dort nicht mehr ein Bleiberecht für alle Menschen, sondern für alle Geflüchtete gefordert wird. Nun handelt es sich hier auch wieder um viel Semantik. Denn natürlich wollen nicht alle Menschen fliehen und nur ein Bruchteil der Menschen in Not will überhaupt nach Deutschland.

Darauf wies Fabian Goldmann in einem Kommentar[2] in der Tageszeitung Neues Deutschland hin.

Von den 67 Millionen Menschen, die derzeit weltweit auf der Flucht sind, kamen im vergangenen Jahr 186.644 nach Deutschland. Rechnet man noch die 1,17 Millionen Geflüchteten aus den beiden Vorjahren hinzu, kommt man immer noch nicht auf „die ganze Welt“, sondern auf rund zwei Prozent der weltweiten Flüchtlingsbevölkerung.

Fabian Goldmann

Allerdings macht Goldmann seine Kritik an einer populistischen Äußerung der SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles fest. Doch eigentlich zielte seine Kritik auf den Flügel um Sahra Wagenknecht und so wurde sie auch punktgenau vor dem Beginn des Parteitags der Linken im Neuen Deutschland platziert.

Hier wird einer der Gründe deutlich, warum in der Linken eine Debatte um Migration so schwierig ist. Goldmann schlägt Nahles und meint Wagenknecht, die manche schon nicht mehr als rechte Sozialdemokratin sehen, sondern gleich in die Nähe der AfD stellen. Und Goldmann hat auch noch exemplarisch gezeigt, wie man in der Migrationsdebatte in der Linkspartei künstlich Konflikte schafft.

Denn die Überschrift über Goldmanns Überschrift ist natürlich polemisch gemeint, was im Text deutlich wird. „Doch wir können alle aufnehmen“ – weil nur 2% der Migranten überhaupt nach Deutschland kommen. Es ist schon erstaunlich, dass sich vor allem der realpolitische Flügel der Linken in den Fragen der Migrationspolitik als Maximalisten der Worte geriert, während seine Mitglieder in fast allen gesellschaftspolitischen Fragen ansonsten jeden Wortradikalismus bekämpfen, weil er angeblich viele potentielle Wähler abschrecke.

Würde, so ließe sich fragen, in einem sozialpolitischen Leitantrag die Überschrift auftauchen, dass nur eine kommunistische Gesellschaft – nicht zu verwechseln mit dem untergegangenen Staatskapitalismus – die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigen kann? Einem Antrag mit einer solchen Wortwahl würden nicht mal 10 Prozent der Delegierten zustimmen. Warum also in der Flüchtlingsfrage die Liebe zur Wortradikalität?

Da lohnt ein Blick in die Geschichte der Arbeiterbewegung. Schon Jahre vor Beginn des 1. Weltkriegs, als ein Großteil der sozialdemokratischen Parteien ihren Burgfrieden mit Staat und Kapital schloss, hatten bekannte Parteifunktionäre diesen Schritt vorbereitet. Sie befürworteten den Kolonialismus, wollten Frauen aus der Arbeiterbewegung ausgrenzen – und auch die Liebe zu Nation und Staat hatten sie schon entdeckt. Doch diese Verstaatlichung der Sozialdemokratie wurde durch radikal klingende Parteiprogramme verdeckt, in denen man sich scheinbar orthodox auf Marx berief. Doch sie hatten wenig mit der konkreten Parteipolitik zu tun. Daher konnte man sie zu Beginn des 1. Weltkriegs so schnell über Bord werfen. Umgekehrt schien die Burgfriedenspolitik für viele überraschend, weil sie eben nur auf die radikal klingenden Programme und weniger auf die Praxis guckten.

Warum nicht auch ein würdiges Leben für die, die nicht migrieren wollen?

In der Debatte um die Flüchtlingspolitik in der LINKEN scheint sich das Muster zu wiederholen. Das wird schon daran erkennbar, dass die Aufregung von der Person abhängt, die sich zur Migrationspolitik äußert.

Es ist absolut richtig und mit linker Programmatik kompatibel, die Bedürfnisse und Interessen der Menschen in den Aufnahmeländern ebenfalls im Blick zu haben.

Wieder so ein Satz von Sahra Wagenknecht gegen Offene Grenzen? Nein, er stammt von einen Beitrag[5] des Bundestagsabgeordneten Michael Leutert[6] in der Wochenzeitung Jungle World. Dort verteidigt Leutert ein Einwanderungsgesetz der LINKEN, das er mit formuliert hat. In einen späteren Beitrag kritisiert[7] Caren Lay[8] dieses Einwanderungsgesetz vehement und sieht es als Versuch der Revision einer angeblich libertären Programmatik in der Flüchtlingspolitik der LINKEN.

Das Thesenpapier von Fabio De Masi, Michael Leutert und anderen folgt dagegen einer anderen Agenda: nämlich die bisherige programmatische Forderung der Linkspartei nach offenen Grenzen zu revidieren. Es spricht sich erstmalig in der linken Migrationsdebatte klar für die Regulierung von Einwanderung, vor allem die Begrenzung der Arbeitsmigration im Interesse der deutschen Bevölkerung, aus. Ich bin erschrocken, wenn behauptet wird, ‚ohne Grenzmanagement stünden die Staaten hilflos gegenüber der international organisierten Kriminalität und dem Terrorismus‘ da, denn das suggeriert, dass organisierte Kriminalität offenbar ausschließlich von außen importiert wird.

Anstatt Migration und Einwanderung als Normalfall und Grundlage moderner Gesellschaften anzunehmen und positive Leitbilder für eine solidarische Einwanderungsgesellschaft zu entwerfen, werden die Bedürfnisse von Eingewanderten und Einheimischen gegeneinandergestellt. Grundlage der Argumentation ist die Unterscheidung zwischen Asylsuchenden und sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen, wie es im Mainstreamdiskurs heißt, auch wenn die Formulierung „diejenigen, (…) die lediglich ein höheres Einkommen erzielen oder einen besseren Lebensstandard genießen wollen“ versucht, diesen Begriff zu umschiffen. Eine solche Unterscheidung bedeutet im Kern nichts anderes, als von Millionen Menschen im globalen Süden paternalistisch zu fordern, doch bitte zu Hause zu bleiben und dort für Gerechtigkeit und ein besseres Leben zu kämpfen. Garniert wird dies mit der abenteuerlichen Behauptung, nur die Wohlhabenden der Herkunftsgesellschaften würden den Weg nach Europa schaffen.

Caren Lay

Lay und Leutert sind aktiv im realpolitischen Flügel der LINKEN, stehen in der Einwanderungsfrage konträr und schaffen es doch, ohne persönliche Angriffe die Kontroverse auszutragen. Hier geht es also im Grunde um den Streit, der am Sonntagmittag zur Eskalation auf dem Parteitag der LINKEN beigetragen hat. Wagenknecht hatte in ihrer Rede betont, dass sie das Asylrecht verteidigt und daher offene Grenzen für Menschen in Not befürwortet, nicht aber eine Arbeitsmigration.

Tatsächlich wird in der Debatte von allen Seiten sehr selektiv geurteilt. Auch bei den Befürwortern einer Arbeitsmigration für Alle werden die Konsequenzen für die Gesellschaften außer Acht gelassen. Schon die heute legale Arbeitsmigration im EU-Raum zeigt diese Problematiken. Viele Kinder wachsen in Rumänien und Bulgarien ohne Eltern auf, weil die in Westeuropa arbeiten und nur wenige Tage im Jahr zu Hause sind. Wenn die wenigen Ärzte und Pfleger aus dem Subsahara-Raum migrieren, wer kümmert sich dann um die Ärmsten, die eben aus Alters- und Krankheitsgründen nicht fliehen können?

Müsste eine linke Position nicht nur das Recht auf Migration, sondern auch das Recht stark machen, dass Menschen in ihren Heimatländern ein würdiges Leben führen können? Und warum macht man sich nicht auch für die Ausbildung von Geflüchteten in Deutschland stark, mit der sie in ihren Heimatländern ein würdiges Leben für sich und andere aufbauen können? Es haben viele Geflüchtete aus Syrien, aber auch aus anderen afrikanischen und asiatischen Ländern immer wieder betont, dass sie gerne zurückgingen, wenn sich für sie Lebensperspektiven bieten würden. Könnten nicht derartige Ausbildungsprogramme zu solchen Perspektiven beitragen?

Auf dem Parteitag wurde etwas nebulös auch immer wieder davon geredet, dass die Fluchtursachen bekämpft werden müssen. Aber von Ausbildungsprogrammen für Migranten, die wieder in ihre Heimatländer zurückwollen, hat man wenig gehört. Dabei wäre das im Interesse für einen nicht unerheblichen Teil der Menschen, die migrieren mussten. Was auch nicht erwähnt wurde, war die gewerkschaftliche Organisierung der Migranten.

Erst kürzlich wurde in Italien Soumaila Sacko erschossen[9], der sich gewerkschaftlich organisierte[10]. Er sammelte Blech für seine Hütte, mit der er in Italien sich selber ein Dach über dem Kopf schaffen wollte. Doch diese Biographien von Lohnabhängigen in Europa kommen auch in den moralisch grundierten Refugee-Welcome-Erzählungen einer parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken viel zu wenig vor.

Der Film Eldorado[11] ist da eine Ausnahme. Der Regisseur Markus Imhooff begleitete einen Gewerkschafter in die Hütten der ausgebeuteten Tagelöhner, die in Italien Tomaten ernten. Doch ein Großteil der Migrantengeschichten in Filmen und Theatern nimmt die Perspektive eines linksliberalen akademischen Mittelstands ein, der heute in verschiedenen Orten der Welt zu Hause ist und sich dann fragt, wo ihre Heimat ist. Das gilt auch für künstlerisch sehr gelungene Theaterstücke wie Being here – hier sein[12]. Was für eine künstlerische Arbeit, die ein linksliberales Bürgertum anspricht, das auch sonst kaum mit der realen Arbeitswelt in Berührung kommt, verständlich sein mag, ist für eine Partei, die sich rhetorisch auf die Arbeitswelt bezieht, fatal.

Werden Kipping und Wagenknecht zusammen Abschiebungen behindern?

Am Ende sind die streitenden Personen innerhalb der LINKEN doch noch gemeinsam auf die Bühne gegangen und haben einen Vorschlag für die Weiterführung der Debatte vorgestellt. So soll nicht mehr über die Medien, sondern innerhalb der Partei und ihren Gremien diskutiert werden. Es wird sich zeigen, wie lange dieser Vorsatz Bestand hat. Zudem soll eine Tagung zur Flüchtlingsfrage mit Bündnisorganisationen und Experten beraten werden. Vielleicht kommt es dann doch noch dazu, darüber zu beraten, wie denn Abschiebungen von Migranten aus Ländern mit Regierungsbeteiligung der LINKEN be- oder gar verhindert werden können.

In der nach Wagenknechts Rede erzwungenen Diskussion haben mehrere Delegierte auf diese Abschiebungen hingewiesen. Das war implizit auch eine Kritik an die vielen Realpolitikern der LINKEN, die so vehement für offene Grenzen auf dem Papier eintreten und über darüber schwiegen, dass sowohl in Berlin und Brandenburg als auch in Thüringen die Polizei weiterhin Abschiebungen mit Polizeihilfe vollzieht.

Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach, die Wagenknecht in einem emotionalen Redebeitrag sehr stark angriff, äußerte sich nicht dazu. In der anschließenden Abschlussrede erklärte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow mit dem Parteibuch der LINKEN wie sehr er diese Abschiebungen bedauert. Doch leider müssen nun mal Bundesgesetze umgesetzt werden. Daher müsse die LINKE auch da so stark werden, dass sie die Gesetze verändern kann. Das ist allerdings eine Vertagung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Viel realistischer ist es, wenn eine starke zivilgesellschaftliche Bewegung Abschiebungen real be- oder auch verhindert. Das ist auch schon mehrmals geschehen und mittlerweile wird ein solcher Widerstand vermehrt kriminalisiert[15], wie im letzten Jahr in Nürnberg[16] und kürzlich in Ellwangen[17].

Warum positioniert sich die LINKE nicht hier, anstatt über offene Grenzen zu zerstreiten? Weil es dann für die Realpolitiker um ihre Ämter geht? Wie würde die Presse reagieren, wenn sich Katja Kipping und Sahra Wagenknecht gemeinsam auf einer Blockade unterhaken, um womöglich in einem von der LINKEN mitregierten Land die Abschiebung einer Roma-Familie zu verhindern? Das wäre doch ein Thema, mit der die LINKE ganz konkret in die Abschiebemaschine eingreifen könnte.

Der Sender Phönix habe die Ausstrahlung des Films „Kreuzzug der Katharer“ abgesagt, um die kurzfristig anberaumte Diskussion der LINKEN auszustrahlen, erklärte Dietmar Bartsch stolz. Ungleich größer wäre das Medienecho, wenn die Spitzenpolitiker der LINKEN dem Vorschlag eines Delegierten folgend tatsächlich in die Abschiebemaschine eingreifen würden.

Peter Nowak
https://www.heise.de/tp/features/Parteitag-der-Linken-Wie-passen-offene-Grenzen-mit-realen-Abschiebungen-zusammen-4075493.html

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[1] https://www.youtube.com/watch?v=cuWwA4AWdKM
[2] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1090349.obergrenze-fuer-fluechtlinge-doch-wir-koennen-alle-aufnehmen.html
[3] https://www.flickr.com/photos/die_linke/42688945811/
[4] https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/
[5] https://jungle.world/artikel/2018/20/regulieren-ist-notwendig
[6] https://www.michael-leutert.de/de/topic/3.bundestag.html
[7] https://jungle.world/artikel/2018/22/links-bleiben
[8] https://www.caren-lay.de/
[9] http://www.ilgiornale.it/news/vibo-valentia-fermato-presunto-killer-soumaila-sacko-1537727.html
[10] http://www.derstandard.de/story/2000081073354/mord-an-migrant-in-kalabrien-entflammt-tageloehnerdebatte
[11] http://www.majestic.de/eldorado/
[12] http://www.hellerau.org/being-here-2018
[13] https://www.flickr.com/photos/die_linke/42661563902/
[14] https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/
[15] https://www.heise.de/tp/features/Fall-Asef-N-Der-Rachefeldzug-3973990.html
[16] https://www.heise.de/tp/features/Fall-Asef-N-Nuernberger-Lehren-3744160.html
[17] http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.nach-polizeieinsatz-in-ellwangen-fluechtlinge-schildern-polizei-ihre-aengste.5dcc19ae-89aa-4a28-be3f-33aeec1e3ad4.html

Neuer Streit um Sahra Wagenknecht

Der kleinste gemeinsame Nenner ist der Versuch, die Macht der Politikerin zu begrenzen

Die Co-Vorsitzende der Linken, Sahra Wagenknecht ist eine viel gefragte Interviewpartnerin. Doch kaum jemand nimmt wahr, was sie zur Me-Too-Kampagne zu sagen hat und dass ihr es ein wichtigeres Anliegen ist, Frauen aus den Niedriglohngruppen zu unterstützen, als für eine Frauenquote in den Konzernzentralen einzutreten. Doch das Interview, das Sahra Wagenknecht vor wenigen Tagen der Tageszeitung Neues Deutschland gegeben hat, sorgt für Schlagzeilen. Hat sie doch dort noch mal ihre Position zur Migrationsfrage dargelegt, ihre Kritik am Parteivorstand wiederholt und auch betont, dass nicht der Mittelstand, sondern die Prekarisierten die Hauptzielgruppe ihrer Partei sein sollten.

Warum sollen die Armen aus Enttäuschung AfD wählen?

Natürlich müssen wir so viele Menschen wie möglich erreichen, vor allem solche, denen es nicht gut geht und deren Interessen von den Regierungen seit Jahren mit Füßen getreten werden. Seit der Agenda 2010 sind viele Menschen abgestürzt, sie arbeiten in Leiharbeit oder anderen Niedriglohnjobs, sie leben von Hartz IV oder schlechten Renten. Ein Teil von ihnen hat aus Enttäuschung und Wut AfD gewählt. Es ist nicht unsere Aufgabe, diese Wähler zu beschimpfen, sondern wir müssen uns fragen, warum es uns nicht gelungen ist, sie für die LINKE zu gewinnen.

Sahra Wagenknecht, Neues Deutschland

Grundsätzlich ist es natürlich richtig, dass eine linkssozialdemokratische Partei schwerpunktmäßig die Menschen anspricht, die ökonomisch an den Rand gedrängt werden. Doch warum erwähnt Wagenknecht nicht, dass die Menschen nicht einfach aus Frust und Enttäuschung mit der AfD eine Partei wählen, die noch wirtschaftsliberaler als die FDP ist?

Es wird eben von Wagenknecht nicht betont, dass Menschen eine Partei wie die AfD wählen, weil sie eine bestimmte Erklärung ihrer Lage und der Welt mit dieser Partei grundsätzlich teilen. Wer Migranten oder schlicht die „Anderen“, die angeblich nicht hierhergehören, und nicht die Parteien, die Hartz IV beschlossen haben, für die eigene schlechte soziale Lage verantwortlich macht, sollte sicher nicht beschimpft werden. Notwendig ist aber eine harte Kritik dieser Positionen. Genau diesen Punkt lässt Wagenknecht unerwähnt.

Ist es nationalistisch, eine Sozialpolitik in einem Nationalstaat zu fordern?

Dass macht es ihren Kritikern in und außerhalb er Linkspartei einfach, sie in die rechte Ecke zu stellen, was Unsinn ist. Sie ist eine linke Sozialdemokratin, die im Rahmen des Nationalstaats eine soziale Politik fordert. Dass kann und sollte man als naiv kritisieren, weil es beim heutigen Stand der globalen kapitalistischen Vernetzung kein Zurück zum keynisianistischen Sozialstaat der 1970er Jahre mehr geben kann. Aber eine solche Forderung ist nicht gleich nationalistisch.

Auch Kämpfe von Gewerkschaften finden überwiegend noch im nationalstaatlichen Rahmen statt, weil noch nicht einmal eine funktionierende europäische Gewerkschaft existiert. Wagenknecht hat auch Recht, wenn sie betont, dass soziale Probleme zur Spaltung im Kapitalismus ausgenutzt werden. Doch auch hier fällt wieder auf, dass sie richtige Aussagen durch Auslassungen zumindest deutungsfähig macht:

Es ist die herrschende Politik, die die Ärmeren in einen Interessengegensatz zu den Flüchtlingen bringt, am krassesten an den Tafeln, aber auch bei der Konkurrenz um Kita-Plätze, Niedriglohnjobs oder bezahlbare Wohnungen, von denen es viel zu wenige gibt. Oder auch an den überforderten Schulen in sozialen Brennpunkten, wo sich das Lernniveau weiter verschlechtert. Infolge der Flüchtlingskrise haben sich viele soziale Probleme verschärft, die es vorher schon gab.

Sahra Wagenknecht, Neues Deutschland

Die Konsequenz der kapitalistischen Spaltung kann aber nicht Abschottung sein, sondern der Kampf aller Menschen unabhängig von ihrer Herkunft für Wohnungen, für eine Grundsicherung, von der man leben kann etc. Genau dafür kämpfen soziale Initiativen in einigen Städten. Es ist schon merkwürdig, dass Wagenknecht diese linke Praxis nicht erwähnt. Dabei hat sie Recht, wenn sie kritisiert, dass auch in der Frage der Migration oft Moral die Analyse ersetzt und dass es die AfD stärkt, wenn Linke im Kampf gegen Rechts wirtschaftsliberale Positionen unterstützen. Das zeigte sich bei den Wahlen in den USA, aber auch in vielen anderen Ländern.

Das ND-Interview hätte also eine kritische Diskussion verdient. Doch die wird noch durch innerparteiliche Konfliktlagen erschwert: das Duo Wagenknecht/Bartsch an der Fraktionsspitze gegen die Parteiführung um Riexinger und Kipping. Diese Konfliktlage führte bei den LINKEN dazu, dass nicht von einem Streit um Positionen, sondern von einem Aufstand in der Fraktion gegen Sahra Wagenknecht die Rede ist. Etwa ein Drittel der Bundestagsabgeordneten verfasste eine Erklärung, in der sie statt einer kritischen Auseinandersetzung nur die innerparteiliche Frontlinie begradigten.

Zudem setzt sich die Logik des Verdachts fort, wo nicht ausgesprochen, sondern nur angedeutet wird. So wird Wagenknecht das Recht abgesprochen, die Parteispitze um Riexinger und Kipping zu kritisieren, ohne darauf hinzuweisen, dass die beiden Parteivorsitzenden ebenfalls nicht mit Vorwürfen gegen Wagenknecht geizen. Wenn, dann müsste schon an beide Seiten die Aufforderung gerichtet werden, die Kritik an der jeweils anderen Fraktion zu unterlassen. Dann müssten die Unterzeichner der Erklärung bei sich selber anfangen: Oder wie ist dieser Satz zu verstehen?

Wir würden es begrüßen, wenn ab sofort wieder das Bundestagswahlprogramm der Partei Grundlage auch des öffentlichen Wirkens der Fraktionsvorsitzenden wird.

Aus der Erklärung von Mitgliedern der Linksfraktion im Bundestag zu den jüngsten Äußerungen der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht

Es wird der harte Vorwurf erhoben, dass Wagenknecht nicht das Bundestagswahlprogramm zur Grundlage ihrer Arbeit macht, ohne nur zu erwähnen, an welchen Punkt sie das festmachen. Wird hier nicht die Logik der Unterstellung und des Verdachts fortgesetzt? Auffällig ist, dass in der Erklärung nicht konkret auf die Differenzen in der Einschätzung der Migration eingegangen wird, die sehr wahrscheinlich hinter diesem Vorwurf steht.

Stehen die Regierungslinken in Berlin und Thüringen auf den Boden der Programmatik der Linkspartei?

Der Grund für diese Leerstelle ist ziemlich einfach. Es geht um den kleinsten gemeinsamen Nenner, der darin besteht, den Einfluss der manchen innerparteilich zu mächtig werdenden Wagenknecht zu beschränken. Da gibt es dann Allianzen vom linken Parteiflügel, der sich schon längst von Wagenknecht emanzipiert hat, bis zu erklärten Anhängern eines engen Bündnisses zwischen SPD und Grünen. Schließlich hat die Fraktionsvorsitzende mit ihrer Feststellung, dass diese rot-rot-grüne Machtoption schon rein rechnerisch auf Bundesebene nicht besteht, eigentlich nur einen Istzsutand beschrieben. Und dass ein solches Bündnis, das bis zur letzten Bundestagswahl eine rechnerische Mehrheit im Bundestag hatte, nie realisiert wurde, zeigt eigentlich nur, dass es eine Chimäre ist.

Doch sofort meldeten sich mit Benjamin Hoff und Alexander Fischer zwei Linkenpolitiker aus Thüringen und Berlin zu Wort, die ein Loblied auf das Bündnis mit SPD und Grünen sangen. Interessant, wie sie ihrerseits mit Unterstellungen arbeiten:

Rot-Rot-Grün sei tot, werden die Fraktionsvorsitzenden der LINKEN im Bundestag zitiert. Doch während Dietmar Bartsch auf die arithmetische Realität aufmerksam macht, steckt bei Sahra Wagenknecht ein weitergehendes politisches Kalkül dahinter. Ihre Idee einer neuen „Sammlungsbewegung“ soll jenseits der und gegen die bestehenden Parteien Wirkung zeigen. Dafür muss die Option Rot-Rot-Grün, also eine Bündnispolitik dreier unterschiedlicher Parteien auf Augenhöhe, vom Tisch. Bartsch aber auch die Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger verorten die Linkspartei als „Bollwerk für Menschlichkeit“ gegen eine ständige Verschiebung des politischen Mainstreams nach rechts.

Alexander Fischer und Benjamin Hoff, Neues Deutschland

Der ihrem Realoflügel nahestehende Dietmar Bartsch spricht also nur von der Wahlarithmetik, wenn er Rot-Rot-Grün für tot erklärt, Wagenknecht aber wolle damit ihre ominöse Sammlungsbewegung befördern. Die wollen vor allem diejenigen verhindern, die dort nicht mit eingebunden sind. Dabei haben Hoff und Fischer nur mehr alten Wein in alten Schläuchen im Angebot

SPD, Grüne und LINKE sind bei Strafe ihres Bedeutungsverlustes dazu aufgerufen, den Willen und die Fähigkeit auszustrahlen, der Union das Kanzleramt zu entreißen.

Alexander Fischer und Benjamin Hoff

Da wird nicht einmal erwähnt, dass SPD und Grüne die größten Beförderer des Projekts EU-Deutschland sind, wo andere Ökonomien niederkonkurriert würden. Dass in dem von Fischer und Hoff skizzierten Projekt die Linke ein Feigenblatt neoliberaler Parteien würde und auch Ja zu Nato sagen müsste, wird natürlich nicht erwähnt. Verschwiegen wird auch, dass in dem einzigen von einem Linken regierten Bundesand Thüringen 2017 die Abschiebungen entgegen den bundesweiten Trend nicht zurück gegangen sind.

Wie passt die Forderung nach offenen Grenzen zur Regierungslinken?

Hier liegt auch der Grund für die seltsame Leerstelle in der Erklärung der Wagenknecht-Kritiker. Wenn sie der Fraktionsvorsitzenden vorwerfen, sie würde mit ihrer Kritik an der Forderung nach offenen Grenzen nicht auf dem Boden des Programms stehen, müsste doch diese Kritik der Regierungslinken noch viel mehr gemacht werden. Weil man aber das informelle Bündnis gegen die Machtambitionen Wagenknechts nicht sprengen will, bleibt man im Ungefähren. Wie man von offenen Grenzen zu Mut zur Einwanderung im Interesse des deutschen Standorts kommt, zeigte eine Taz-Kommentatorin vor wenigen Tagen: „Was noch fehlt, ist das Bewusstsein, dass Einwanderung eine Chance ist – die Bevölkerungspyramide wird zum Pilz, die Sozialsysteme brauchen junges Blut, die Wirtschaft Arbeitskräfte. Diese Chance muss man nutzen.“

Das können auch die Linksliberalen in der Linkspartei unterschreiben, doch im Kampf gegen Wagenknecht und Co. macht es sich besser, sich als Streiter für offene Grenzen zu gerieren. Eine solche Forderung ist für aber für eine Linke, die mitregieren will, ein leeres Versprechen. Etwas Bluttransfusion für die heimische Wirtschaft durch die Migration ist da schon wesentlich realitätsnäher.

Ob diese Kritiker Wagenknechts Position in der Linken gefährden könnten und ob damit die Spaltung in eine linkssozialdemokratisch-keynisanistische Sammlungsbewegung und eine linksliberale Formation, die dann irgendwann mit SPD und Grünen fusioniert, noch befördert wird, dürfte sich in den nächsten Monaten zeigen.

https://www.heise.de/tp/features/Neuer-Streit-um-Sahra-Wagenknecht-4003443.html

Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.sahra-wagenknecht.de/
[2] https://broadly.vice.com/de/article/d35z7x/frauen-haetten-allen-grund-zu-rebellieren-sahra-wagenknecht-im-interview
[3] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1083015.sahra-wagenknecht-empoerung-darf-argumente-nicht-ersetzen.html
[4] http://www.tagesspiegel.de/politik/linksfraktion-im-bundestag-aufstand-gegen-sahra-wagenknecht/21103582.html
[5] http://www.neues-deutschland.de/downloads/Erkl_rung_Wagenknecht.pdf
[6] http://www.taz.de/!5489946/
[7] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1082646.buendnis-von-spd-gruenen-und-linke-die-rot-rot-gruene-unfaehigkeit-beenden.html
[8] https://www.thueringen24.de/thueringen/article212935443/Thueringen-2017-Routine-aus-Abschiebung-und-freiwilliger-Ausreise.html
[9] http://www.taz.de/!5489566/

Geht es um Rassismus oder um Regierungsfähigkeit?

vom 26. September 2023

Der Streit in der Linkspartei ist nicht monokausal zu erklären

Nun herrscht vorerst wieder Burgfrieden in der Linkspartei. Doch wie lange er hält, ist unklar. Jedenfalls ist dem Taz-Kommentator Pascal Peucker zuzustimmen[1]:

„Geht es um Rassismus oder um Regierungsfähigkeit?“ weiterlesen

Grüne und die Jamaica-Vibes

Am Ende könnte die FDP die Grünen bremsen, wenn die mal wieder der Meinung ist, dass der deutsche Umweltstandard die Formel für die Weltrettung ist

Ob der Grüne Co-Vorsitzende Cem Özdemir [1] noch einen Nebenjob als Werbeträger für Kosmetika hat? Fast scheint es so, wenn man seine Twittermeldung[2] von vor einigen Tagen sieht. Unter dem Foto mit Tube Duschgel, das die Aufschrift „Jamaica Vibes“ trägt, schrieb der Grüne Realo: „Ich hatte keine Wahl. Einziges Duschgel heute Morgen.“

Damit schaffte es Özdemir in die Bildzeitung[3] und damit hatte er wohl einen Hauptzweck schon erreicht. Özdemir hat es wieder in die Medien geschafft und sich damit unmittelbar vor dem Parteitag der Grünen noch mal politisch positioniert. Dass Özdemir genau so wie seine Partnerin im Grünen-Vorsitz Katrin Göring Eckardt eine Koalition mit der Union präferieren, ist schon länger bekannt. Dass sie damit parteiintern keineswegs isoliert sind, ist auch kein Geheimnis.

Doch, dass auch die von vielen Grünen politisch schon abgeschriebene FDP nun womöglich mit ins Regierungsboot soll, ist vielen Grünen schon schwerer zu vermitteln. Das hat aber weniger politische Gründe, im neoliberalen Staatsumbau können Grüne und FDP schließlich gut konkurrieren. Das Programm der Jamaica-Koalition in Schleswig-Holstein ist sogar für die grünennahe Taz eine sozialpolitische Bankrotterklärung[4].

Es sind eher geschmäcklerisch-kulturalistische Differenzen, die vielen Grünen ein Bündnis mit der FDP nicht leicht machen. Das gilt übrigens auch umgekehrt. Schließlich hat sich die wiedererstarke FDP die Grünen zum Lieblingsgegner aufgebaut. Es handelt sich dabei um einen Streit im liberalen Spektrum. Historisch gab es da schon lange Differenzen zwischen National- und Sozialliberalen. In der Weimarer Republik waren sie auch auf zwei Parteien aufgeteilt.

Der FDP war es zeitweise gelungen, die differenzierte liberale Szene in einer Partei zu vereinen. Das wird FDP und Grünen so schnell nicht gelingen, weil eben die kulturellen Milieus doch zu verschieden sind. Das heißt nicht, dass sie bald auch bundesweit zusammen Politik machen können.

„Ehe für Alle“ kein Hindernis für eine Jamaika-Koalition

Der Bundesparteitag der Grünen hat hier zumindest eher die Signale für eine solche Koalition gesetzt. So wurde die „Ehe für Alle“[5] zur Voraussetzung jeder Koalition mit den Grünen beschlossen. Das wird schon als möglicher Stolperstein für ein Bündnis mit der Union interpretiert. Doch längst gibt es im modernistischen Flügel der Union Stimmen, die eine Ehe für Alle im Interesse einer Koalition mit den Grünen hinzunehmen bereit sind.

Hier könnte die FDP dann ins Spiel kommen, die mit der Ehe für Alle anders als mit sozialpolitischen Forderungen keine Probleme hat. So könnten auch bei einem Großteil des grünen Spektrums die Aversionen gegen die FDP an Bedeutung verlieren Wie man seinem Umfeld ein Bündnis mit dieser Partei schmackhaft machen kann, zeigt ein Kommentar, den der Chefredakteur des Greenpeace-Magazins[6] Kurt Stukenberg vor ca. einen Monat in der taz veröffentlichte.[7]

„Die Grünen sollten mutig auf ein Jamaika-Bündnis setzen. Rechnerisch und inhaltlich wäre das die beste Wahl“, meint die publizistische Stimme einer Organisation, deren Ziel schon immer darin bestand, den Kapitalismus effektiver zu machen und mögliche Schwachstellen zu enttarnen. Stukenbergs Argumentation für ein Bündnis mit der Union und der FDP wird im Umfeld der Grünen ähnlich wiederholt.

Der Glaube an die Machtperspektive Rot-Grün dürfte selbst den unerschütterlichsten Jüngern vergangen sein, eine solche Mehrheit ist schlicht unerreichbar. Und weil Sahra Wagenknecht nicht ablässt, vom verbotenen, süßen Apfel des Populismus zu kosten, und die Linke es versäumt hat, sich realpolitisch zu erneuern, gilt auch Rot-Rot-Grün als praktisch ausgeschlossen. Ein Bündnis mit der Union hat hingegen unter vielen Funktionären und Anhängern der Grünen seinen Schrecken verloren. Auch aufgrund der Erfahrungen in Hessen und Baden-Württemberg.
Kurt Stukenberg

Im nächsten Schritt muss man jetzt auch der Kooperation mit der FDP Vorteile abgewinnen und das fällt Stukenberg nicht schwer.

Da Dreierbündnisse wahrscheinlicher werden, könnte nach der Bundestagswahl auch die FDP auf der schwarz-grünen Regierungsbank Platz nehmen. Wer dabei kulturelle Unterschiede geltend macht, sollte auch hier kühl rechnen und auf die Kernthemen schauen. Denn mit der FDP hätten die Grünen einen Verbündeten, um ihr zentrales Anliegen einer offenen Gesellschaft und solider Bürgerrechte gegenüber der CDU durchzusetzen. Die Liberalen bieten sich als Partner bei der Abschaffung der Vorratsdatenspeicherung und der Eindämmung von Onlinedurchsuchungen ebenso an wie bei der Durchsetzung der Ehe für alle.
Kurt Stukenberg

So war es eher eine Bestätigung und nicht eine Absage an eine Jamaika-Koalition, das die Grünen nun die Ehe für Alle zur Bedingung für eine Regierungsbeteiligung machten. Es wird in der Union, vor allem in der CSU, dagegen einigen Widerstand geben.

Doch, wenn es zur Abstimmung kommt, dürfte daran eine Koalition nicht scheitern. Zumal die Grünen mit ihren Forderungskatalog, der an einigen Punkten von den schon vor einigen Wochen beschlossenen 10 Punkte-Programm[8] abweicht, die Interessen des modernen deutschen Kapitalismus mustergütig ausformulieren. Ob es um den Ausstieg aus der Kohle oder den Diesel oder die Abwrackung der Tierfabriken geht, immer werden die Interesse des Standort Deutschland mit besonders viel Moralsülze überzogen.

Modell Deutschland gegen Russland und die USA

Natürlich drückt sich das auch in dem besonders innigen Bekenntnis der Grünen für die EU aus, solange diese im Interesse Deutschlands funktioniert, was auf absehbare Zeit der Fall sein wird. EU-Bestrebungen, die nicht in Deutschlands Interesse liegen, werden aus dem Grünen Umfeld besonders gerne als Populismus diffamiert. Hier wird auch eine neue grüne Totalitarismustheorie konstruiert, nach der rechte und linke Gegner einer von Deutschland dominierten EU unter das Populismusverdikt fallen.

Am Beispiel Frankreich wurde der rechte Front National und die linkssozialdemokratische Bewegung für ein unbeugsames Frankreich gleichermaßen aus dem grünen Umfeld bekämpft. Während die Grünen bei ihrer Pro-EU-Haltung immer ihre Abgrenzung zum deutschen Nationalismus betonen, wird nicht erwähnt, dass der sich in einen spezifisch deutschen EU-Nationalismus transformiert hat.

Dass mit Helmut Kohl, ein Politiker, der tief im deutschen Nationalismus verwurzelt war und in Bitburg auch die SS wieder rehabilitierte, auch bei den Grünen zum großen Europäer[9] verklärt wird, der mit großen Brimborium mit einem EU-Staatsakt beerdigt werden soll, zeigt einmal mehr, wie stark die EU ein deutsches Projekt ist.

Niemand kann es so wie die Grünen gegen Russland und die USA in Front bringen. Das ist durchaus nicht nur symbolisch gemeint. Die Grünen machen sich heute schon Gedanken, wie sie ihr EU-Projekt gegen Russland auch militärisch verteidigen wollen. Gegen die Trump-USA wurde auf den Parteitag zunächst mit SMS und Email geschossen, aber auch das kann sich noch ändern.

Die Grenzen der Offenen Gesellschaft

Wer Beispiele für die Doppelmoral der Grünen haben wollte, konnte die auf und um den Parteitag immer wieder finden. Während sich fast alle, die bei den Grünen einen Namen haben über die linke Sozialdemokratin Sahra Wagenknecht und ihre Rhetorik gegen Migranten echauffieren und sie sogar als Hindernis für ein Bündnis mit den linken Reformisten benennen, darf der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer weiter den grünen Sarrazin[10] geben.

Nachdem ihn die Kreuzberger Kandidatin für den Bundestag Cenan Bayram[11], eine der wenigen Linksgrünen, riet, doch endlich mal die Fresse zu halten, gab Palmer den Beleidigten und erntete viel Applaus[12]. Hätte Bayram diese Aufforderung an Wagenknecht gerichtet, wäre ihr der Applaus sicher gewesen.

Doch wenn man Parteikollegen wie Palmer, der es nicht als beleidigend findet, wenn er als Rechtsausleger oder Quartalsirrer bezeichnet wird, ebenso hart angeht, dann wird er als Opfer von Diffamierung uns Ausgrenzung gehätschelt. Die Doppelmoral des grünen Spektrums musste jetzt auch die grünennahe Taz feststellen.

Die hat nach dem Tod von Kohl mit einen frechen Titelbild unter dem Stichwort „Blühende Landschaften“[13] mal wieder einen Coup gelandet, für den man ihr sogar zehn Beiträge des ökoliberalen Chefkolumnisten Peter Unfried verzeiht.

Doch dass sich die Chefredaktion der Taz schon am nächsten Erscheinungstag der Zeitung für ihr Markenzeichen „frech und witzig“ mit einer so moralinsauren Erklärung entschuldigt, die sich liest, als wäre sie direkt Claudia Roth verfasst[14] lässt befürchten, dass die Zeitung auch noch ihr letztes Alleinstellungsmerkmal aufgibt und nur noch die Titanic sich dazu bekennt, nicht pietätsvoll zu sein.

Den Leserbriefen der grünennahen Klientel nach zu urteilen, ist die so viel strapazierte Offene Gesellschaft im grünennahen Bereich sehr eng. Da wird angeführt, dass man einen Mann, der „Deutschland die Wiedervereinigung schenkte“, nicht so beleidigen könne. Dabei waren in dem Beitrag zu Kohls Tod keinerlei Verbalinjurien erhalten, die bleiben Erdogan, Putin und Trump vorbehalten.

So bleibt sich das von den Grünen repräsentierte neue Deutschland doch sehr treu und das ist keinesfalls beruhigend. Man sieht sich als Ökoweltmeister umringt von lauter Umweltsündern. Dass Deutschland der Prototyp für den PKW-Export ist, bleibt ausgespart. Man ist so lange offen, wie es gegen Trump, Putin und Erdogan geht.

Witze gegen die eigenen Heroen hingegen sind noch immer Majestätsbeleidigung wie einst in Preußen. Da könnte man ja noch hoffen, dass die FDP in einer Jamaica-Koalition die Grünen bremsen, wenn es wieder mal darum geht, dass mit dem deutschen Flaschenpfand die Welt gerettet werden soll.

https://www.heise.de/tp/features/Gruene-und-die-Jamaica-Vibes-3747188.html
Peter Nowak
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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.oezdemir.de
[2] https://twitter.com/cem_oezdemir/status/875250956161753088
[3] http://www.bild.de/politik/inland/cem-oezdemir/cem-oezdemir-scherzt-auf-twitter-ueber-jamaika-koalition-52211230.bild.html
[4] http://www.taz.de/!5418380/
[5] http://www.ehefueralle.de/
[6] https://www.greenpeace-magazin.de
[7] http://www.taz.de/!5408165/
[8] https://www.gruene.de/ueber-uns/2017/10-punkte-fuer-gruenes-regieren.html
[9] http://www.zeit.de/news/2017-06/16/deutschland-oezdemir-wuerdigt-kohl-als-grossen-europaeer-16180010
[10] http://www.focus.de/politik/videos/boris-palmer-gruenen-ob-fotografiert-fluechtlinge-beim-schwarzfahren-und-kontert-shitstorm_id_7125404.html
[11] http://bayram-gruene.de/
[12] http://www.focus.de/politik/deutschland/parteitag-in-nach-fresse-halten-attacke-tuebingens-ob-boris-palmer-knoepft-sich-gruene-vor_id_7254676.html
[13] https://www.facebook.com/taz.kommune/photos/pb.171844246207985.-2207520000.1497707801./1461765807215816/?type=3&theater
[14] http://www.taz.de/!5421768

Auf der Suche nach dem deutschen Corbyn

Die Linke sieht eine Chance auf einen Wahlerfolg. SPD und Grünen möchten, dass sie aufgibt, was sie von ihnen unterscheidet

Die Reformlinke in Deutschland hat periodisch neue Idole. Sie sind immer aus dem Ausland und ihre Verfallszeit ist kurz. Alexis Tsipras war solange ein Vorbild, mit dem die Linke Hoffnung verbreiten wollte, bis er sich dem wesentlich von „Deutsch-Europa“ erzwungenen Austeritätsdiktat unterwerfen musste. Hier wird ein Paradox der Reformlinken deutlich.

Weil in einem Land, das als EU-Hegemon auftritt, die Linke aus historischen und aktuellen Gründen besonders schwer Fuß fassen kann, macht man sich Hoffnung und zieht Inspiration von anderen Ländern. Aber der Linken in Deutschland gelingt es dann nicht einmal, die deutsche Politik daran zu hindern, dass sie diese Reformhoffnungen regelmäßig austritt, wie sich am Beispiel Griechenland zeigt. Zwischenzeitlich waren spanische Podemos-Politiker zum linken Hoffnungsträger avanciert und seit einigen Tagen nimmt Jeremy Corbyn diese Rolle ein.

Der britische Sozialdemokrat hat schließlich eine beachtliche Aufholjagd bei der Wahl absolviert, die weder seine Freunde noch seine Gegner für möglich gehalten haben. Nun wird auch in der SPD gerne auf Corbyn verwiesen, um ihre Anhänger in dem Glauben zu halten, dass auch in Deutschland die Wahlen noch nicht gelaufen sind.

Nur werden die Sozialdemokraten mit dem britischen Politiker nicht so recht glücklich. Schließlich sind seine Positionen eher mit dem unter Schröder erfolgreich marginalisierten Lafontaine-Flügel vergleichbar. Das hat auch dessen neue politische Heimat erkannt.

Die Linke sieht daher gerade im Wahlerfolg von Corbyn einen Beweis dafür, dass man eben nicht das Lied Wirtschaftsliberalismus singen muss, um gewählt zu werden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Sahra Wagenknecht, die am konsequentesten die Lafontaine-Linie in der Partei vertritt, sich nun positiv auf Corbyn bezieht[1].

Sie hatte die große Mehrheit auf dem Hannoveraner Parteitag auf ihrer Seite als sie bei ihrer Abschlussrede in den Saal rief, ihre Partei würde einen Corbyn sofort mit zum Kanzler wählen, aber sie habe keine Möglichkeit, aus einem Martin Schulz einen Jeremy Corbyn zu formen. Das ist nun keineswegs eine Absage an ein Bündnis mit der SPD und den Grünen, wenn es rechnerisch nach den nächsten Wahlen möglich ist.

Es ist eher eine Aufforderung an die SPD, sie solle, wie kurz nach der Nominierung von Schulz wieder mehr nach links blinken und selber auch ein Bündnis mit der Linken nicht ausschließen. Diese kurze Episode war nach der Saarland-Wahl beendet. Danach hat sich Schulz immer als rechter Sozialdemokrat präsentiert, mit dem es weder in der Innen- noch in der Sozial- oder Außenpolitik Experimente gibt.

Nun hat sich die Linke auf dem Parteitag für eine Gerechtigkeitswende eingesetzt (vgl. Linke: Hartz-IV abschaffen, Mindestsicherung von 1.050 Euro einführen[2]), wozu ein Ende der als Agenda 2010 bekannten Austeritätspolitik ebenso gehört wie eine armutssichere Altersrente und ein Mindestlohn von 12 Euro.

Wenn Sahra Wagenknecht polemisch vom Ende der „Betrugsrenten“ spricht, die nur die Versicherungen reich machen, wird der Graben zur SPD deutlich. Schließlich ist der Namensgeber dieser Riesterrenten ein immer noch angesehener Sozialdemokrat. Außenpolitisch positionierte sich die Linke gegen Kriegseinsätze und forderte den Abzug der Bundeswehr aus den Krisenherden dieser Welt[3].

Das aber steht dem Interesse des deutschen Imperialismus fundamental entgegen, die schließlich die späte symbolische Entnazifizierung der Bundeswehr genau deshalb veranstalten, um überall in der Welt scheinbar ohne historische Altlasten auftreten zu können. Wenn die Linke also wirklich irgendwie an einer Regierungskoalition beteiligt ist, müsste sie sich bedingungslos hinter Bundeswehr, Nato und EU stellen.


Wagenknecht als Hindernis für eine Selbstaufgabe der Linken in der Außen- und Sozialpolitik

Deshalb hatte der Taz-Kommentator Stefan Reinicke im Vorfeld des Linkspartei-Tags noch einmal den Fokus auf Wagenknecht gerichtet, die zumindest verbal deutlich macht, dass die Linke nicht über jedes Stöckchen springt, das ihr die SPD hinhält.

„Die Linkspartei bleibt derzeit unter ihren Möglichkeiten. Eigentlich gäbe es angesichts der in die Mitte strebenden Grünen und der unsicher wirkenden Sozialdemokraten Raum für eine entschlossene egalitäre, undogmatische Kraft. Doch die 8-Prozent-Partei kultiviert einen kuriosen moralischen Alleinvertretungsanspruch für das Volk und ist in Empörungsroutinen erstarrt. Solange sie den Eindruck vermittelt, dass ihr Rechthaberei wichtiger ist als politische Erfolge, ist sie unattraktiv für alle, die sich nach entschlossener linksliberaler, egalitärer Realpolitik sehnen“, schreibt[4] Reinicke.

Dabei lässt er keinen Zweifel, gegen wen sich seine Intervention richtet:

Wagenknechts überlebensgroße Rolle ist nur eine Seite der inneren Selbstblockade des politikfähigen Teils der Partei. Die kreative Fraktion der Reformer um Jan Korte und Stefan Liebich ist seit Jahren mit Katja Kipping und deren schmalem Anhang über Kreuz. Politisch ticken Reformer und Kipping in vielem ähnlich. Doch es gibt viele nie vernarbte Wunden aus vergangenen Machtscharmützeln. So ist das kreative Zentrum der Partei gelähmt. Es müsste Kipping, die Antennen ins grüne Milieu hat, ebenso umfassen wie pragmatische Westlinke, die sich von der Hassliebe zur SPD befreit haben, und jenen Teil der Ostreformer, die mehr wollen als bloß Apparate verwalten. Ein solches Bündnis könnte den Beton aufsprengen – und politikunfähige Fundis vertreiben.
Stefan Reinicke[5]

Hier wird formuliert, was sich die Reformer von Linken, SPD und Grünen wünschen: eine Linkspartei, die noch auch noch das letzte Stück überwindet, dass sie von den anderen beiden Parteien unterscheidet und die sich dadurch mittelfristig überflüssig macht.

Differenzen zwischen Wagenknecht und Bartsch?

Wenn Reinicke nun fordert, dass das Zweckbündnis zwischen Wagenknecht und Dietmar Bartsch beendet werden soll, wird die Axt an die Existenz der Linken gelegt. Denn dieses Bündnis hat dazu geführt, dass sich die Partei einigermaßen stabilisieren konnte. Nun gab und gibt Wagenknecht genügend Grund für Kritik, vor allem mit ihren immer wiederholten Äußerungen gegen Migration. Als Lafontainistin ist sie die Vertreterin eines keynsianistischen Kurses, die in der Außenpolitik noch gewisse linke Grundsätze hochhält, in der Flüchtlingspolitik aber eher rechts blinkt und damit kompatibel mit SPD und Union ist. Wenn Wagenknecht aber deswegen Nähe zur AfD unterstellt wird, wird unterschlagen, dass sie mit ihrer Migrationspolitik sich im bürgerlichen Mainstream bewegt und genau deshalb kritisiert werden muss.

Wenn Grüne, die selber ständig migrationsfeindliche Gesetze durchwinken, nun Wagenknecht wegen ihrer Äußerungen kritisieren, ist das Kalkül klar. Sie wollen wie Reinicke in Wagenknecht den Parteiflügel schwächen, der zumindest verbal noch Dissens zur herrschenden Außen- und Sozialpolitik äußert.

Die Hoffnung, dass das Zweckbündnis Wagenknecht – Bartsch aufgeweicht werden könnte, ergibt sich aus unterschiedlichen Äußerungen im Umgang mit dem SPD-Kandidaten Schulz. Während Bartsch schon erklärte, er könnte sich vorstellen, ihn mitzuwählen, wenn die Mehrheiten es hergäben, erklärt Wagenknecht, er müsste dann schon mehr nach links blinken. Doch bei aller Rhetorik sind sich sämtliche Flügel der Linken einig, dass es nur um einen reformistischen Weg geben kann.

https://www.heise.de/tp/features/Auf-der-Suche-nach-dem-deutschen-Corbyn-3740439.html

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[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article165395793/Corbyns-Erfolg-bestaerkt-Wagenknechts-Lager-im-Widerstand.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Linke-Hartz-IV-abschaffen-Mindestsicherung-von-1-050-Euro-einfuehren-3740221.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Wagenknecht-Die-Linke-kann-dieses-Land-aufmischen-3740410.html
[4] https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5416154&s=&SuchRahmen=Print/
[5] https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5416154&s=&SuchRahmen=Print/

Die Linke: Sozial für Alle?

In Berlin stellte die Linke ihr Wahlprogramm vor, während gerade in Berlin die rosa-rot-grüne Koalition in der ersten schweren Krise ist

Der Vorwahlkampf für die Bundestagswahlen ist schon überall im Gange und die Parteien versuchen, die Spannung aufrecht zu erhalten. So hat die SPD die Verkündung ihrer längst gefällten Entscheidung über die Spitzenkandidatur auch deshalb so lange hinausgeschoben, damit die Medien fleißig darüber rätseln. Die Grünen haben über ihren männlichen Part bei der Spitzenkandidatur sogar in einer Urabstimmung entscheiden lassen, die auch für eine begrenzte Spannung sorgt.

Bei der Linkspartei gibt es ein solches Spannungsmoment nicht, nachdem ein Streit über die Frage, ob ein Spitzenduo oder ein Spitzenteam die Partei in den Wahlkampf führt, mit einem Formelkompromiss beendet wurde. Die durchaus umstrittene Sahra Wagenknecht ist bei dieser Wahl die eindeutige Spitzenkandidatin und Dietmar Bartsch steht in ihrem Schatten. So wollte die Partei mit ihrem Programmparteitag deutlich machen, dass es ihr um Inhalte geht, wo andere einen Personenwahlkampf führen. Doch das Interesse am Programm der Linkspartei ist begrenzt, weil sie ja schließlich auf Bundesebene kaum Machtoptionen hat, um ihr Programm auch nur in Teilen umzusetzen.

Doch mit ihrem Programmparteitag hatte die Linke am vergangenen Wochenende auch noch besonderes Pech. Denn in allen Medien war die Rede von einer ernsten Krise im rosa-rot-grünen Berliner Bündnis, das von manchen in der Linkspartei schließlich als Testlauf für eine ähnliche bundesweite Regierungskonstellation verstanden wurde. Realistische Kräfte in- und außerhalb der Linkspartei sahen hierin eine Überfrachtung.

Doch klar ist, wenn es in Berlin schon nach wenigen Wochen kracht, ist an ein solches Bündnis auf Bundesebene, wo die Streitpunkte vor allem in der Außenpolitik viel größer sind, gar nicht zu denken. Zumal in Berlin der faktische Rausschmiss des Staatssekretärs Andrej Holm auch ganz klar das Signal setzen soll, dass Personen, die dem Kapital vielleicht dadurch gefährlich werden, dass sie nicht etwa eine Revolution anzetteln wollen, sondern schlicht und einfach auch die Investoren zur Einhaltung der Gesetze zwingen wollen, nicht geduldet werden. Holm kannte sich in den Detailfragen, den berühmten Stellschrauben, zu gut aus.

Da war den Kapitalvertretern das Risiko zu groß und Müller wusste natürlich als guter Sozialdemokrat, wo er in einer solchen Auseinandersetzung steht. Schließlich war er noch vor drei Jahren als Senator unter Klaus Wowereit dafür verantwortlich, dass er Mieter in der Berliner Beermannstraße[1], die sich gegen einen Autobahnbau wehrten, mit einem Enteignungsverfahren ihrer Rechte berauben wollte[2]. Das sorgte damals für Empörung, ist aber schon wieder vergessen.

Dass es bei der Entlassung von Holm nicht um seine kurzzeitige Stasimitarbeit und seinen missverständlichen Fragebogen ging, wird auch dadurch deutlich, dass Holm genau in dem Augenblick entlassen wurde, als sich die Aufregung darüber zu legen begann. Dazu haben auch Berichte beigetragen, die feststellen, dass dieser Fragebogen nicht den gesetzlichen Bestimmungen entsprach und daher eine Sanktionierung Holms für seine missverständlichen schon aus formalen Gründen nicht möglich und mittlerweile sowieso verjährt wäre.

Die Entlassung erfolgte also rechtzeitig, bevor die Stasikarte nicht mehr gezogen hätte. Da behielten die Unterstützer Holms Recht[3], die in den Angriffen gegen ihn einen Angriff auf eine Stadtpolitik im Interesse der Mehrheit der Mieter sah. Daher hatten auch hochrangige Nazis nach 1945 keine Schwierigkeiten, wieder in Amt und Würden zu kommen. Sie wurden dem Kapital nicht gefährlich. Einem Hans-Dietrich Genscher hat eine Parteimitgliedschaft der NSDAP sogar noch das Lob eingebracht, dass er sich danach besonders überzeugend zu einem Demokraten gewandelt habe.

Aber zum sozialdemokratischen Politiker Wilhelm Dröscher[4] schreibt seine Biografin[5] über dessen Umgang mit Nazibiographien: Er habe Entnazifizierungsverfahren ablehnend gegenübergestanden. „Hier wollte er nicht mitmachen, sondern lediglich im gegebenen Fall zur Entlastung beitragen. So ging er in der Folgezeit auch mit den vielen kleinen Tätern aus seiner Umgebung durchaus schonend um.“

Bei den erwähnten „kleinen Tätern“ handelt es sich um Menschen, die teilweise an Mord und Folter beteiligt waren. Dass heute einem Andrej Holm eine mehrmonatige Stasimitarbeit nicht verziehen wird, obwohl ihm keine konkrete Spitzeltätigkeit nachgewiesen wurde, vermittelt nur ein Signal. Ein ehemaliger Nazi, der sich auch später für Kapitalinteressen einsetzt, ist tragbar. Ein ehemaliger Stasimitarbeiter, der auch danach kapitalismuskritisch geblieben ist, hingegen nicht.

Für die Linkspartei vermittelt der Fall Holm: Es gibt keine Spielräume, auch nur die kleinsten Reformen umzusetzen, die der Mehrheit der Bevölkerung nutzen. Sie wird höchstens dazu gebraucht, um wie bei der vorigen rosa-roten Regierungskoalition in Berlin den Widerstand gegen Privatisierungen von Wohnungen und Sozialkürzungen klein zu halten.

Daher wissen alle, dass das am Wochenende beschlossene Wahlprogramm samt Finanzierungsvorschlag[6] das Programm einer Oppositionspartei ist. Nur wollte sich die Linke nicht so deutlich positionieren und es lieber allen recht machen. Die Linke wollte weder einen reinen Oppositions- noch einen Regierungswahlkampf führen.

Der Schwerpunkt des Programms ist der Wiederaufbau des Sozialstaats. Der Parteivorsitzende Bernd Riexinger, der schon als Gewerkschaftler in Stuttgart sozialpolitische Akzente setzte, forderte einen Bruch mit der Austeritätspolitik und der Politik der Sozialkürzungen, die seit mehr als 25 Jahre dominieren. Konsequenterweise fordert die Linke auch eine Rücknahme der Schuldenbremse, womit sich die Politik selber knebelt.

Zudem soll eine Finanztransaktionssteuer von 0,1 Prozent, eine Steuer auf Vermögen ab einer Million Euro von fünf Prozent sowie eine Erhöhung der Körperschafts- und die Reform der Erbschaftssteuer beschlossen werden. So könnte der Staat nach der Rechnung der Linken jährlich 180 Milliarden Euro mehr einnehmen und hätte sogar Geld für Reformen, die den Subalternen nutzen und nicht neue Zumutungen aufherrschen.

Als Gegenmittel zur vieldiskutierten Altersarmut schlägt die Linke eine Rentenversicherung vor, in die alle einzahlen müssen. Damit würde mit der aktuellen Praxis Schluss gemacht, dass Gutverdienende sich der solidarischen Finanzierung des Rentensystems durch den Eintritt in Privatversicherungen entziehen. Der Mindestlohn soll nach den Willen der Linken bei 12 Euro Stundenlohn liegen. Es handelt sich also um ein eindeutig sozialdemokratisches Regierungsprogramm, das den Sozialstaat in den Mittelpunkt stellt.

Das Problem ist nun, dass die Linke nicht eindeutig als Oppositionspartei in den Wahlkampf geht. Damit schürt sie Illusionen, es wären auch nur relevante Teile des Programms durch eine Regierungsbeteiligung möglich. Ob der Fall Holm hier mehr Klarheit über die tatsächlichen Machtverhältnisse bringt, muss sich zeigen. Ein solches Programm könnte eine Orientierung für eine Partei sein, die in engem Kontakt mit einer außerparlamentarischen Bewegung steht, die diese und andere Forderungen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt.


Eine solche außerparlamentarische Bewegung ist heute weit und breit nicht zu entdecken. Noch vor einigen Jahren gab es unter dem Motto „Wir zahlen nicht für Eure Krise“[7] bundesweite Demonstrationen mit mäßiger Teilnahme, die aber ganz eingeschlafen sind. Auch bundesweite Studierendenproteste sind schon seit mehr als 10 Jahren Geschichte. Daher ist schwer vorstellbar, mit wem die Linke ihr Programm durchsetzen will.

Genau darüber aber müsste sie sich Gedanken machen, wenn es mehr sein sollte als ein Wahlprogramm, das bald wieder vergessen ist. Der Aufbau einer außerparlamentarischen Bewegung rund um den Kampf für den Wiederaufbau des Sozialstaats wäre auch eine Antwort auf den Rechtspopulismus, die mehr als Moral oder Antifa-Rhetorik ist. Beides hat im Fall der AfD versagt.

Gerade die Spitzenkandidatin Wagenknecht steht für diese Linie, die AfD beim Kampf um den Sozialstaat zu stellen. Ihre Zielsetzung ist es, Wähler, die einmal die Linke gewählt haben und nun zur AfD gewechselt sind, zurückzuholen. Dabei handelt sie sich Kritik jener ein, die die Linke in einen Pool mit den grünalternativen Freunden einer sogenannten Offenen Gesellschaft bringen wollen.

Mittlerweile gibt es Erklärungen ehemaliger Wähler der Linken, die wegen dieses Kurses von Sahra Wagenknecht dieses Mal der Partei nicht ihre Stimme geben wollten. So schreibt der Publizist Jan Ole Arps[8]:

Anfang Dezember hat die Linkspartei ihre Spitzenkandidat_innen für die Bundestagswahl 2017 gekürt. Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch sind es geworden. Ich gehöre zu den Wählern, die die Linkspartei damit verliert. Sahra Wagenknecht bedient systematisch rassistische Ressentiments in der Bevölkerung, und das nicht erst seit gestern. Kritik prallt an ihr ab…

Jan Ole Arps, Neues Deutschland

So recht er hat, wenn er dieses Konzept als Teil einer ausgrenzenden Politik bezeichnet, die nationalen Sozialstaatsgrenzen eigen sind, so problematisch ist der Betriff des Rassismus, den Arps gleich mehrmals verwendet.

Ein nationalstaatlicher Sozialstaatsgedanke ist eben noch kein Rassismus. Zumal Arps selber schreibt.

Sahra Wagenknecht betont, die Grenzen der Belastbarkeit seien politisch verschiebbar – „etwa durch eine Wohnungspolitik, die bezahlbaren Wohnraum schafft und auch verhindert, dass es Ghettoisierungen gibt, ganze Stadtteile mit Parallelwelten entstehen“. „Parallelgesellschaften“, noch so ein rechter Kampfbegriff.

Jan Ole Arps, Neues Deutschland

Statt dass Arps den Gedankengang von Wagenknecht genauer analysiert und vielleicht auch kritisiert, dass mehr Wohnungen, mehr Soziales, mehr Stellen auf Ämtern für alle Menschen gebraucht werden, damit die Migration gelingen kann, hängt er sich am Begriff der Parallelgesellschaften auf. Der ist allerdings nicht nur ein Kampfbegriff der Rechten, sondern in manchen Stadtteilen durchaus Realität. Es sind auch kritische Rassismusforscher und Sozialarbeiter, die davor warnen, dass durch die Austeritätspolitik, durch den Rückzug des Sozialstaats auch solche Parallelgesellschaften entstehen. Zum rechten Kampfbegriff werden sie erst, wenn die Migranten einseitig dafür verantwortlich gemacht werden. Wenn aber die Austeritätspolitik in den Fokus gerückt wird, die sowohl für Altersarmut als auch für Parallelgesellschaften verantwortlich ist, dann könnte der Begriff auch sinnvoll genutzt werden.

Auffällig ist, dass Arps immer nur von Geflüchteten und nicht von Migranten redet, was die Menschen auch zu Hilfesuchenden macht. In Wirklichkeit war es für die Mehrheit der Migranten die Entscheidung, sich wegen eines besseren Lebens und nicht wegen existentieller Verfolgung auf den Weg zu machen. Das ist durchaus ihr Recht, aber man sollte auch so ehrlich sein, dies nicht zu verschweigen.

Der Sozialaktivist Michael Prütz[9] gab in der Debatte den Gegenpart und verteidigte Wagenknecht teilweise. Er erinnerte an manche in bestimmten linken Biotopen nicht gerne gehörten Fakten:

Was bei diesen Debatten leicht vergessen wird: Ihre Ausstrahlungskraft geht weit über das traditionell linke Milieu hinaus. Wagenknechts Veranstaltungen sind überfüllt und es kommen Menschen, die sich ganz und gar nicht als links verstehen würden.

Michael Prütz

Prütz erinnert daran, dass eine Linke, die eine gesellschaftliche Kraft sein will, genau ihre Nischen verlassen muss. Dabei müsste man aber fragen, ob Wagenknecht die Linke als gesellschaftliche Kraft, als Teil einer Regierung oder einer Opposition sieht. Davon hängt auch ab, wie man ihre Politik beurteilt. Gegenwärtig peilt sie ein Wahlergebnis deutlich im zweistelligen Bereich an. Davon hängt auch ihre weitere politische Zukunft ab.

Wenn sie mit ihrem ehrgeizigen Wahlziel scheitert, wird sich die Kritik an ihrem Kurs verstärken. Für ihren Erfolg kommt die Kritik von inner- und außerhalb der Partei sicher ganz recht. So kann sich Wagenknecht als Politikerin gerieren, die auch Widerständen nicht ausweicht.

https://www.heise.de/tp/features/Die-Linke-Sozial-fuer-Alle-3596836.html

Peter Nowak


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[1] http://beermannstrasse.blogspot.de/
[2] http://www.rbb-online.de/politik/beitrag/2014/12/a100-gegner-bestzen-kleingaerten-in-alt-treptow-berlin.html
[3] http://www.holmbleibt.de
[4] http://www.wilhelm-droescher.de/vorw.html
[5] http://dietz-verlag.de/isbn/9783801204723/Wer-sagt-dass-Zwiespalt-Schwaeche-sei-Das-Leben-des-jungen-Wilhelm-Droescher-1920-ndash1948-Barbara-Droescher
[6] https://www.die-linke.de/die-linke/wahlen/wahlprogramm-2017/erster-entwurf-des-wahlprogramms-2017/
[7] http://www.heise.de/tp/news/Wir-zahlen-nicht-fuer-Eure-Krise-2021422.html
[8] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1037745.eine-linke-mit-sahra-wagenknecht-kann-ich-nicht-waehlen.html
[9] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1037755.raus-aus-dem-politischen-exil-mit-sahra-wagenknecht.html

Die Gemeinsamkeit der Friedensbewegung und ihrer Kritiker

Sie vernachlässigen die Komplexität der gegenwärtigen Konflikte. Zur Kenntnis genommen wird nur, was ins eigene Weltbild passt

„Die Waffen nieder“ – das Motto der Pazifistin Bertha von Suttner war das zentrale Motto der Demo, zu der am vergangenen Samstag mehr als 180 Organisationen aufgerufen hatten. Die Plakate mit der weißen Friedenstaube auf blauen Grund, knüpften bewusst an die 1980er Jahre an, als die Friedensbewegung in der BRD gegen die Aufstellung neuer Nato-Raketen ihren Höhepunkt erreichte. Manche träumten am Ende schon von den 1980er Jahren, als allein in Westdeutschland Hunderttausende auf die Straße gegangen sind.

Plakat zur Demonstration von Friedensdemo.org

Darunter waren sicherlich auch eine Menge Nationalisten, die eher die Souveränität Deutschlands als den Weltfrieden im Sinne hatten. In der sogenannten Havemann-Erklärung wurde schließlich bereits in den 1980er Jahren die sogenannte deutsche Frage wieder gestellt.

Die alte Friedensbewegung und der Nationalpazifismus

Und ein Alfred Mechtersheimer[1], der eigentlich rechts von der Union agierte, aber nach seinem Wechsel von der CSU zum ganz rechten Rand noch einen Umweg bei den Grünen und der Friedensbewegung genommen hatte, wurde damals auch von den sich links verstehenden Friedensfreunden mit Applaus begrüßt. Dabei redete er auf den Friedensdemonstrationen auch vor allem über deutsche Souveränität und verstand sich als Nationalpazifist. Daher kann man ihm glauben, dass er sich nicht so sehr verändert hat.

Aber auch Mechtersheimer war nicht der Pionier des Nationalpazifismus in der deutschen Friedensbewegung. Bereits in den 1950ern wurden die gerne gesehen, die nach der Niederlage Deutschlands in zwei Weltkriegen „ohne uns“ sagten, aber insgeheim hinzufügten: „Mindestens solange, bis wir wieder stark genug sind, unsere Interessen  selbstbewusst zu definieren.“ Das ist spätestens seit 1989 der Fall. Daher ist es nur verständlich, dass genauer nachgeguckt wird, wer aus welchen Gründen unter dem Friedenslabel auftritt (Der Friedenswinter ist tot! Es lebe der Friedenswinter![2] und die Entgegnung: Frieden und Querfront-Kriege[3]).

Eine solche Kritik kann eine Bewegung nur voranbringen. Dass nun mit Rainer Rupp ein Mann auf die Kritiker und Spalter verbal eindrischt[4], der die Nato für die DDR ausgekundschaftet hat, also praktisch Diener zweier autoritärer Systeme war, verwundert nicht. In diesem Weltbild wimmelt es nur von Spionen, Verrätern und Subversanten, die für alles verantwortlich sein sollen, was nicht nach Plan verläuft.

Diskussion über die Friedensbewegung geht weiter

Dass aber selbst ein Künstler wie Prinz Chaos II[5] auf der Abschlusskundgebung der Friedensdemonstration am Samstag erklärte, man habe Zeit genug für interne Diskussionen verplempert, muss dann schon verwundern. Denn natürlich geht die kritische Diskussion weiter und das ist auch ein Indiz dafür, dass die  Friedensbewegung noch nicht verloren ist.

„Die geringe Teilnehmerzahl ist das sichtbare Zeichen einer Krise der Friedensbewegung. Die Bewegung sollte das jetzt kritisch reflektieren und geeignete Schlüsse daraus ziehen“, erklärte[6] Otmar Steinbicker[7], ein langjähriger Weggefährte der Friedensbewegung, nach der Demo am Samstag. Er machte dabei auch deutlich, dass es eben nicht nur um den Friedenswinter und die Friedensmahnwachen geht.

Auf die Frage von aixpaix.de, worin er die Krise der Friedensbewegung sehe, antwortete Steinbicker[8]:

Vor allem in zwei Faktoren: 1. in einer fehlenden ernsthaften Analyse der gegenwärtigen Situation mit ihren realen Kriegen, mit ihren drohenden Kriegsgefahren, aber auch mit Chancen für die Friedensbewegung, erfolgreich zu arbeiten. 2. in einer weit verbreiteten Selbstisolation vieler Organisationen und Initiativen der Friedensbewegung. Da sind nicht wenige im Denken und Wahrnehmen in den frühen 1980er Jahren stehen geblieben.

Dort, wo keine oder kaum neue Köpfe hinzukamen, wurden nicht unbedingt neue Themen und Fragestellungen gesehen und keine neuen Aktiven geworben und einbezogen. Dort, wo das nicht gelingt, wäre Friedensbewegung irgendwann zum Aussterben verurteilt. Otmar Steinbicker[9]

Gerade die Analyse der aktuellen Situation ist ein Problem, das mit entscheidet, wie sich die Friedensbewegung entwickelt.

Was ist gemeint, wenn Frieden mit Russland gefordert wird?

Am Beispiel des Umgangs mit Russland und Syrien auf der Demonstration am Samstag kann das verdeutlicht werden. „Frieden mit Russland“ war dort eine häufige Parole. Sie war aber ganz unterschiedlich gefüllt. „Für einen eurasischen Kontinent statt Na(h)to(d)“, hatte ein junges Paar auf ein Schild geschrieben.

Dass der Begriff Eurasien von Rechten in Russland und Europa in letzter Zeit häufig verwendet wurde, sei ihnen nicht bekannt, interessiere sie aber auch nicht, erklärte das Pärchen. Die Forderung nach besseren Kontakten zu Russland war auf der Demonstration in ganz unterschiedlichen Spektren vertreten.

Der Vorsitzende der Naturfreunde[10], Michael Müller, berief sich auf die Entspannungspolitik von Willy Brandt. “ Ein neues kollektives Sicherheitssystem ist in Europa nötig“, betonte das SPD-Mitglied. Ein älterer Mann mit DKP-Fahne setzte sich auf einem Schild für ein besseres Verhältnis zwischen Russland und Deutschland ein. „Das ist für mich das antifaschistische Vermächtnis nach den Verbrechen im Nationalsozialismus in der Sowjetunion“, betonte er. Er hält es für kriegsverschärfend, dass Nato-Truppen und damit auch die Bundeswehr wieder an der russischen Grenze stehen.

Genau so unterschiedlich waren die Statements zum Syrienkonflikt. Da gab es Stimmen, die die gesamte Auseinandersetzung als Folge von Destabilisierungsversuchen durch die Nato-Staaten interpretieren. Dabei wird mal schnell unterschlagen, dass der Beginn der Syrienauseinandersetzung ein Aufstand gegen ein autoritäres Regime war.

Sahra Wagenknecht hingegen betonte in ihrer Rede[11]: „Wir sind nicht einäugig.“ Das Bomben müsse in Syrien von allen Seiten  beendet werden. Sie wandte sich aber dagegen, dabei nur Russland an den Pranger zu stellen. Dann bezog sie sich auf ein Video[12] des ehemaligen rechtskonservativen Politikers Jürgen Todenhöfer, das angeblich nachweisen soll, wie die Islamisten vom Westen unterstützt werden. Dabei ging Wagenknecht mit keinen Wort auf die Zweifel ein, die über die Echtheit des Videos bestehen (Todenhöfer spricht mit al-Nusra[13]).

Es besteht der Verdacht, dass der vermeintliche Islamist vom Assad-Regime gecastet wurde[14]. Genau so selbstverständlich, wie Wagenknecht das Video für ihre Beweisführung heranzieht, machen das alle, für die schon feststeht, dass es sich nur um einen Fake handeln kann.

Im Zweifel für den Zweifel ist da die beste Haltung. Zudem ist es sehr zu begrüßen, dass im Fall des Todenhöfer-Videos so kritisch nachgefragt wurde. Dass sollte allerdings bei allen Meldungen, Fotos und Videos gelten, die von welcher Seite auch immer im Syrienkonflikt genau so wie in der Ukrainekrise verbreitet werden. Es ist ja nicht nur in der Friedensbewegung so, dass gerne mal ungeprüft Dinge übernommen werden, wenn sie scheinbar ins eigene Weltbild passen.

Auch die Kritiker der Friedensbewegung sollten ihre Quellen prüfen

Auf einer Blogsport-Seite[15] werden viele verschwörungstheoretische, latent antisemitische und regressive Parolen und Plakatmotive dokumentiert. Doch die kleine antideutsche Intervention[16], die dort auch vorgestellt wurde, bleibt in ihren Parolen genau so einseitig.

Wenn es da heißt: „Befreit Syrien von Assad“ muss natürlich gefragt werden, ob das eine Einladung zu einer Militärintervention ist, die beispielsweise über eine einseitig ausgerufene Flugverbotszone ihren Anfang nehmen könnte. Es ist schon ein Unterschied, ob Teile der syrischen Bevölkerung sich mit einem Aufstand vom Assad-Regime befreien wollen, wobei nicht klar ist, wie groß dieser Teil aktuell ist, oder ob hier einem erneuten Regimechange von außen das Wort geredet wird.

Merkwürdig ist, warum ausgerechnet die Antideutsche Aktion die Islamisten in Syrien ganz vergisst. Waren es nicht einmal Antideutsche, die den Jihadismus als eine Ideologie bezeichnet haben, die in ihrer Gefahr für Freiheit und Emanzipation durchaus mit dem Nationalsozialismus vergleichbar sei? Wäre dann nicht auch ein Bündnis mit noch so unsympathischen autoritären Kräften nötig, um zunächst diese Gefahr zu besiegen?

Man kann dem Assad-Regime viele Verbrechen vorwerfen. Unstrittig ist aber, dass es kein Regime des religiösen Fanatismus gewesen ist. Auch ein Jungle World-Kommentator[17] konzentrierte sich in seiner Kritik auf die russische Syrien-Politik und moniert, dass Obama und Steinmeier dem nichts entgegensetzen. In dem Beitrag werden die Jihadisten erwähnt, aber die Tatsache, dass durch das russische Eingreifen einige Gebiete von den Islamisten zurückerobert wurden, wird nicht einmal erwähnt. Auch hier darf nicht sein, was nicht ins Weltbild passt.

„Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“, lautete der Titel eines vierseitigen Flugblattes, dass Kritiker der Friedensbewegung am Samstag auf der Demonstration verteilten. „Es ist ein Flugblatt von solchen, die nicht glauben, dass die Nato einen alten Feind wiederbelebt hat, sondern dass das Russland Putins selbst eine gefährliche Kraft auf der internationalen Bühne ist“, heißt es dort. Gegenüber der Nato wird aber eine solch klare Aussage vermisst. Oder wie ist diese Passage zu deuten?

Gerade in Syrien wäre es mehr und nicht weniger Konfliktbereitschaft, gerade auch gegenüber den im Aufruf (zur Friedensdemo, Anm. d. A) in Schutz genommen Russen, die für eine Milderung des Sterbens sorgen könnten.Flugblatt, Friedensdemo

Flugblatt, Friedensdemo

Übrigens kam das Massaker[18], das eine von Saudi-Arabien geführte Koalition im Jemen vor wenigen Tagen anrichtete, gar nicht zur Sprache. Es waren schlicht die falschen Opfer und Täter. So wie andererseits bei der Friedensdemonstration nicht erwähnt wurde, wo Moskau in der letzten Zeit konkrete Aufrüstungsschritte unternommen hat, wie bei der Kündigung des Plutoniumabkommens. Hätte die USA das Abkommen gekündigt, wäre es auf der Demo sicher thematisiert worden (Moskau und Washington: Tit for Tat[19]).

So sind sich die Friedensbewegung und ihre schärfsten Kritiker zumindest in einer Frage gleich, es wird nur das zur Kenntnis genommen, was ins eigene Weltbild passt.

Peter Nowak

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49648/2.html

Anhang

Links

[0]

http://friedensdemo.org/aufruf-zur-demonstration-am-08-10-2016-in-berlin/

[1]

http://mechtersheimer.de

[2]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49580/

[3]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49624/

[4]

http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=23187

[5]

http://www.prinzchaos.com

[6]

http://aixpaix.de/deutschland/friedensdemonstration-20161009.html

[7]

https://www.facebook.com/otmar.steinbicker

[8]

http://aixpaix.de/deutschland/friedensdemonstration-20161009.html

[9]

http://aixpaix.de/deutschland/friedensdemonstration-20161009.html

[10]

https://www.naturfreunde.de

[11]

https://www.youtube.com/watch?v=bGzhCihu2KM

[12]

https://www.youtube.com/watch?v=bGzhCihu2KM

[13]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49538/

[14]

http://www.vice.com/de/read/juergen-todenhoefer-al-qaida-interview-fake

[15]

http://friedensdemowatch.blogsport.eu

[16]

https://www.facebook.com/antideutscheaktionberlin/photos/a.542495559134014.1073741826.439862802730624/1290896574293905/?type=3&theate

[17]

http://jungle-world.com/artikel/2016/39/54929.html

[18]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49647/

[19]

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49596/

[20]

http://www.heise.de/tp/ebook/ebook_21.html

Linke EU-Kritik wieder möglich

Ein Kongress der Linkspartei in Berlin wirft Fragen auf

Nach der knappen Entscheidung für einen Brexit beim Referendum in Großbritannien brach in allen politischen Lagern zunächst das große Schweigen über die europäische Perspektive an. Nur die Rechten jubilierten. Selbst Parteien wie die FPÖ in Österreich taten so, als wäre die Entscheidung für den Brexit auch ihr Erfolg. Besonders in die Bredouille gerieten nach der strukturell rechten Entscheidung für den Brexit linke EU-Kritiker. Sollten sie aus Angst, den Rechten in die Hände zu spielen, ganz auf die eigene Kritik verzichten? Oder sollten sie im Gegenteil, ihre eigene linke Kritik stärker ausformulieren, gerade um den Rechten nicht das Monopol auf die EU-Kritik zu überlassen.

Diese Frage hat die von der Linken im Bundestag am Freitag organisierte Konferenz letztlich nicht beantwortet, die unter dem Titel „Krise der EU – Zeit für einen Neustart“ (https://www.linksfraktion.de/termine/detail/krise-der-eu-zeit-fuer-einen-linken-neustart/) offen gelassen. Die Konferenz wurde von Gregor Gysi eröffnet, der zunächst weit in die Geschichte zurückging. Er verordnete die Losung von den Vereinigten Staaten von Europa bei den Pazifisten und den NS-Gegnern. Dabei blendete er aus, dass es auch ein NS-Konzept eines unter Deutscher Hegemonie vereinigten Europas, ein Konzept, dass Brexit-Befürworter in Großbritannien sehr zur Empörung deutscher Medien in letzter Zeit immer wieder mal anführten.

Die Mär von den Millionen Migranten

Dabei waren auch von Gysi merkwürdige Thesen zu hören, wenn er mit dem Argument gegen den Bau einer Mauer zur Flüchtlingsabwehr eintrat, weil die in kurzer Zeit von Millionen Flüchtlingen gestürmt würde. Dabei scheint er nicht berücksichtigt zu haben, dass er damit selber das Bild von der „Flüchtlingsflut“ bedient, die auch unterschiedliche Rechte Gruppen bedienen.

Zudem hat Gysi nicht erklärt, woher er die empirischen Daten für diese Behauptung nimmt. In einen Passage malte der Politiker das Schreckensbild einer französischen Präsidentin Le Pen an die Wand, die in einer günstigen Stimmung ein Referendum über den EU-Austritt ihres Landes starten würde und dann wäre die Gemeinschaft endgültig tot. Die Beschwörung der Gefahr von Rechtsaußen dient meistens dazu, die Linke auf noch mehr Bündnisfähigkeit und Kompromisse mit der bürgerlichen Mitte einzustimmen und diese Absicht war bei Gysi klar erkennbar.

Wenn in der stärksten Macht der EU in Deutschland ein Politikwechsel gelänge, wäre das nach Gysis Meinung ein wichtiger Beitrag für diesen Neustart, so warb er für seine Lieblingsidee einer Regierung von SPD, Grünen und Linken.

Neustart statt radikaler EU-Kritik

Das Muster seiner Rhetorik war klar zu erkennen. Erst sparte er nicht mit klarer Kritik an der gegenwärtigen Verfasstheit der EU, um im nächsten Satz zu betonen, es gehe um einen Neustart und nicht um einen Abriss und Neubau.

Die Europäische Union sei undemokratisch, unsozial und in einer tiefen Krise, gab Gysi den scheinbar konsequenten Kritiker, um im nächsten Satz zu betonen, dass er nicht für eine Auflösung dieser EU, sondern für einen Neustart plädiere. Sein Hauptargument lautet, dass der Hauptverdienst der EU darin bestände, dass zwischen ihren Mitgliedsorganisationen keine Kriege geführt worden seien.

Auch den Euro kritisierte Gysi zunächst scharf. Er sei falsch konstruiert, betonte er mit Verweis auf seinen innerparteilichen Kontrahenten Lafontaine, der auf diese Missstände früh hingewiesen habe. Vor einer gemeinsamen Währung hätte eine Sozialunion stehen müssen, betonte Gysi. Im nächsten Augenblick warnte er allerdings vor einem Zurück zu nationalen Währungen. Also auch hier war die Absicht erkennbar, klare Missstände zu benennen, um dann vor einen radikalen Bruch zu warnen. Am Ende bekam er für die Absichtsbekundung, für ein soziales Europa zu kämpfen und die Linke in Europa zu stärken, viel Applaus.

Mit diesem Einleitungsreferat gab Gysi die Linie vor, auf der dieser Kongress beruhte. Eine auch scharfe Kritik an der Verfasstheit der EU wird dazu genutzt, um sowohl in Deutschland als auch auf europäischer Ebene einer entschiedenen Reformpolitik das Wort zu reden. Daher war es auch klar, dass Vorstellungen, wie sie im Zuge der Eurokrise durchaus nicht von radikalen Linken, sondern von Ökonomen, aber auch von Liberalen wie Soros formuliert[1] wurden, wie ein Ausscheiden Deutschlands aus dem Euro, auf der Konferenz ignoriert wurden. Solche Diskussionen passen nicht zum Bemühen, die Linke auch in Europa als konstruktive Reformkraft zu präsentieren.

Der allgemein dem linken Flügel der Linkspartei zugeordnete Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko formuliert in einem Interview[2] die Aufgabe der Linken in der europäischen Perspektivdiskussion ebenso allgemein wie nebulös: „Unsere Aufgabe ist es, darin eine alternative Form der europäischen Kooperation einzubringen.“

Auch Sahra Wagenknecht, die zu dem EU-kritischeren Teil der Linkspartei gerechnet wird, belässt es beim Aussenden widersprüchlicher Signale, die ausdeutbar sind. So forderte sie bereits unmittelbar nach der Brexit-Entscheidung einen Neustart der EU[3], kritisierte dort die schrillen Töne, mit denen die rassistische Grundierung umschrieben wird und sah im Brexit gleichzeitig sogar „die historische Chance, den Menschen ihre Stimme zurückzugeben“.

Syriza-Vertreter fehlten auf der Konferenz

Der Ausgangspunkt dieser Neustart-Diskussion war die Brexit-Entscheidung, ein Ereignis, bei dem die Linke nur eine geringe Rolle spielte. Ein Jahr zuvor gab es einen anderen linken Neustart-Versuch, der kurzzeitig viele Menschen motivierte. Das war die Wahl in Griechenland, die mit Syriza eine Partei an die Regierung brachte, die in der gleichen Europafraktion wie die Linkspartei ist. Kurzzeitig versäumte die Linkspartei es auch nicht, Tsipras als ihren Freund und Genossen herauszustellen.

Da fällt es schon auf, dass auf der Neustart-Konferenz weder Tsipras noch seine Kritiker zu finden waren. Auch der Kurzzeitfinanzminister Varofakis, der Schäuble und Co. auf die Palme brachte, aber viele in Europa mit seinem unkonventionellen Politikstil begeisterte, fehlte auf der Konferenz. Das wirft Fragen auf. Will man sich heute mit Tsipras nicht mehr zeigen, weil er dem Druck von Deutsch-Europa nicht standhalten konnte? Oder hat Tsipras kein Interesse mehr an einer zu engen Bindung an die Linkspartei. Schließlich hat er sich in letzter Zeit den europäischen Sozialdemokraten angenähert. Interessant wäre auch, ob die Neugründungsversuche von Varoufakis bei der Linkspartei eher als Konkurrenz oder als Unterstützung betrachtet werden-

Keine Experimente in Europa

Dabei dürfte sich die europäische Linke eine weitere Zersplitterung kaum leisten können. Schließlich bekam Gysi viel Applaus, als er die Schwäche der Linken auf europäischer Ebene beklagte.

Die dürfte sich auch den Einfluss der Linken auf die europäische Perspektivdiskussion auswirken. Schließlich haben auch wirtschaftsnahe Kreise den Brexit-Schock erholt und entwickeln neue Pläne für Europas Zukunft. Dazu gehören das Jaques Delors-Institut[4] in Berlin, dessen Direktor Henrik Enderlein in der Taz das Gegenprogramm zu den Plänen der Linken verkündete[5], ohne sie selber anzugreifen.

Neustart für europäische Proteste?

„Europa ist das Bindeglied zwischen dem Nationalstaat und der Globalisierung. Wer die offene Gesellschaft will, sollte Europa stärken. Und Europa stärken, das heißt nicht, das ganze EU-Projekt noch einmal neu aufzusetzen, sondern die kleinen, aber wichtigen pragmatischen Schritte zu gehen. Den großen Wurf, der alles noch einmal ganz neu und viel besser macht, wollen in der Regel nur theorieverliebte Wissenschaftler – und Populisten. Er würde Europa und Deutschland mehr schaden als nützen.“

Die wirtschaftsnahen Denkfabriken sehen das Wegbrechen Großbritanniens als Chance für eine Anpassung Europas[6], die mit den von der Linken geforderten Neustart wenig zu tun hat. So hoffen manche EU-Politiker die Militarisierung der EU nun zügiger vorantreiben zu können. Schließlich hat die britische Regierung aus Gründen der Souveränität hier eher gebremst.

Eine linke Europapolitik sollte auch diese Projekte nicht aus den Augen verlieren. Und sie sollten einen Neustart Europas nicht in erster Linie als Kooperation von Institutionen begreifen sondern als Lernprozess, wie es möglich ist, auf europäischer Ebene gemeinsame Proteste, Streiks und Arbeitskämpfe zu koordinieren.

Wie schlecht es damit bis heute bestellt ist, zeigte sich an der Nichtreaktion auf den Tod von Abd Elsalarm Ahmed Eldanf, der in der Nacht vom 14. auf den 15. September als Streikposten von Streikbrechern überfahren und tödlich verletzt wurde. Während in Italien Tausende Menschen dagegen protestierten, gab es in Deutschland überhaupt keine Reaktionen. Dabei richten sich die Arbeitskämpfe in der norditalienischen Logistikindustrie[7] gegen Konzerne, die in allen europäischen Ländern vertreten sind. Gemeinsame Proteste auf europäischer Ebene wären ein wichtiges Signal für einen linken europäischen Neustart. Bezeichnend, dass diese Aspekte bei der parlamentarischen Linken nicht erwähnt wurden.

http://www.heise.de/tp/artikel/49/49508/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/nachrichten/george-soros-eine-eurozone-ohne-deutschland-haette-weniger-probleme/8043396-2.html

[2]

http://www.jungewelt.de/2016/09-23/005.php

[3]

http://www.sahra-wagenknecht.de/de/article/2377.referendum-in-gro%C3%9Fbritannien-zeit-f%C3%BCr-einen-neustart-der-eu.html

[4]

http://www.delorsinstitut.de/

[5]

http://www.taz.de/!5339040/

[6]

http://www.delorsinstitut.de/publikationen/alle-publikationen/brexit-als-chance-fuer-eine-konstitutionelle-reform-der-eu/

[7]

http://de.labournet.tv/video/6673/der-kampf-der-logistikarbeiterinnen-italien

Abschied von dem Mythos einer linken Mehrheit, aber nicht vom Mitregieren

Die Linkspartei muss angesichts des Aufstiegs der AfD von einigen Lebenslügen Abschied nehmen, will aber vom Mitregieren nicht lassen

Der Tortenwurf auf Sahra Wagenknecht[1] gleich zu Beginn des Parteitags der Linken sorgte bei der FAZ wieder einmal für alte Reflexe. Die Jagd auf die außerparlamentarische Linke, die sich auch noch mal ganz pragmatisch eine Veranstaltung von der der Linkspartei nahestehenden Rosa Luxemburg Stiftung finanzieren lasse, wurde eröffnet[2]: „Denn sie wissen, wer die Torte warf.“

Wie üblich, wenn es zur Jagd auf Linke geht, wurde natürlich keine Stellungnahme von ihnen eingeholt. Die von der FAZ in den Mittelpunkt gerückte antifaschistische Jugendzeitung http://www.heise.de/tp/artikel/48/48385/1.html3] dementierte die Vorwürfe:

Aber während des Parteitags hatten alle unsere Redaktionsmitglieder anderes zu tun: Am See sitzen, die nächste Ausgabe planen, Demos organisieren, feiern gehen. Kurzum: Wir waren’s nicht.

Angeblich hat sich einer der Tortenwerfer für diese Zeitung als Journalist akkreditieren lassen. Doch unabhängig davon, wer jetzt dafür verantwortlich war, die Parteitagsregie könnte sich für die Aktion bedanken. So konnten nämlich gar nicht erst interne Streitereien über der Frage aufbrechen, ob Sahra Wagenknecht mit ihrer Annäherung an die Regierungsparteien in der Flüchtlingsfrage nicht den Parteikonsens verlassen hat.

Genau eine solche Debatte wurde auch dadurch verhindert, dass die Tortenwerfer in ihrem Erklärungstext Wagenknecht in die Nähe der AfD gerückt hatten. Das führte zu einer Solidarisierung mit der umstrittenen Politikerin und verhinderte eine Diskussion. Ob die Unfähigkeit, die Politik der Regierungspartei, aber auch der Grünen in der Flüchtlingsfrage zu kritisieren und stattdessen den Popanz AfD aufzubauen, auch damit zu tun hat, dass die Verfasser gegen eine Annäherung an SPD und Grüne gar nichts haben, bleibt offen. Das zeigte sich auch im Anschluss an den Parteitag.

Der Mythos von der Mehrheit links der Union

So warf der Taz-Korrespondent Stefan Reinicke[4] der Linkspartei „intellektuelle Erstarrung“ vor und begründete dies damit, dass die Partei nicht aus Furcht vor einem Erstarken der AfD jegliche eigenen Vorstellungen aufgegeben und sich gleich zum Wurmfortsatz von SPD und Grünen gemacht hat.

„Die Linkspartei bekriegt die SPD lieber als sie klug und pragmatisch von links unter Druck zu setzen. Damit ist Rot-Rot-Grün vom Tisch“, legt Reinecke die alte Platte von der Mehrheit links von der Union auf. Tatsächlich war diese ominöse Mehrheit schon immer das Stöckchen über dass die Linkspartei springen sollte.

Um Teil dieser ominösen Mehrheit zu werden, sollte sie Nato und Marktwirtschaft offiziell anerkennen und sich damit endgültig überflüssig machen. Dabei weiß auch Reinecke, dass an der Linkspartei noch nie ein solches Bündnis gescheitert ist. In Hessen waren es SPD-Abweichler, die eine solche Konstellation scheitern ließen. Dort wären unter Minister Hermann Scheer[5] vielleicht einige reformerische Ansätze im Energiesektor herausgekommen und genau das störte die SPD-Atomlobby so sehr, dass sie dieses Bündnis verhinderten.

Seit einigen Jahren ist klar, dass die Grünen eher ein Bündnis mit der Union als mit der Linkspartei anstreben. Dass die SPD nicht im Sinn hat, eine Mehrheit links von der Union zur Geltung zu bringen, zeigt sich ganz klar im Bundestag. Noch gäbe es dort eine rechnerische Mehrheit von SPD, Grünen und Linkspartei. Auf deren Parteitag wurde daher die SPD aufgerufen, diese Mehrheit für die Umsetzung einiger sozialer Reformschritte zu nutzen, beispielsweise die Senkung des Rentenalters.

Dafür bräuchte es keine formale Koalition. Aber ein solches Herangehen könnte zeigen, ob ein Reformbündnis jenseits der Union mehr als Gerede ist. Aktuell wird ein solches Bündnis in Portugal praktiziert. Die SPD und auch die Grünen werden allerdings in dieser Legislaturperiode nichts dafür tun. Und nach den nächsten Bundestagswahlen ist unwahrscheinlich, dass es noch eine rechnerische Mehrheit dieser drei Parteien gibt.

Trotzdem haben führende Politiker der Linkspartei immer wieder betont, dass an ihnen solche Kooperationen nicht scheitern werden – dass sie aber auf bestimmte Grundsätze gestützt werden müssten. Wenn das in der Taz so interpretiert wird, als sehe die Linkspartei in der SPD den Hauptfeind, so ist das schlicht unzutreffend. Es hat sich nur in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, dass die SPD im Zweifel immer lieber ein Bündnis mit der Union als mit der Linkspartei anstreben wird. Da bleibt der Linkspartei gar nicht anders übrig, als sich auf die eigene Kraft zu stützen, die bekanntlich nicht sehr stark ist.

Weder Merkel noch AfD

Dass auf dem Parteitag mehrmals betont wurde, dass sich die Linkspartei klar von der AfD abgrenze, ohne sich um Merkel zu scharen, könnte Folge eines Lernprozesses sein. Die Linke hat damit nur die Realitäten zur Kenntnis genommen. Denn die Unterschiede von der Merkel-Linie zum Rechtspopulismus sind längst nicht so gravierend, wie es medial suggeriert wird. Wenn dann Linkspartei-Politiker wie Sahra Wagenknecht darauf verweisen, dass es die Politik dieser und vorherhergehender Bundesregierungen war, die zur Entsolidarisierung und Ausgrenzung beigetragen und damit die AfD gestärkt hat, dann ist das schlicht die Benennung von Fakten.

Es war die Bundesregierung in unterschiedlichen Konstellationen, die mit der Politik der Agenda 2010 den Rechtspopulismus in Deutschland einläuteten und ihn auch schon praktizierten, bevor die AfD gegründet wurde. Die Herausbildung eines eigenen linken Pools jenseits von Merkel und AfD müsste daher die Losung sein. Das Problem für die Linkspartei ist aber, dass sie diesen Kurs nicht durchhalten kann und will, weil sie dann auch die Koalition in Thüringen infrage stellen müsste. Doch das kommt für die Partei nicht in die Tüte.

Schließlich sieht sie es als großen Erfolg, einen eigenen Ministerpräsidenten zu haben Die Thüringische Vorsitzende der Linkspartei Susanne Hennig-Wellsow[6] machte sich auf dem Parteitag zur Anwältin dieser Koalition. Die Partei solle ihren „politischen Handlungsspielraum bis zur letzten Sekunde ausnutzen“. Unter Buhrufen bekannte sie: „Ja, Thüringen muss auch abschieben.“ Die Weisung von Ministerpräsident Bodo Ramelow, bei der Durchsetzung solcher Maßnahmen keine Familien zu trennen und Kinder nicht nachts aus dem Bett zu holen, werde nicht immer befolgt. Da die „juristischen Mittel begrenzt“ seien, sei hier die Gesellschaft gefordert, so Hennig-Wellsow.

Nun existiert schon längst ein gesellschaftlicher Widerstand gegen diese Abschiebungen im von der Linkspartei regierten Thüringen. Am 11. Mai wurde sogar für eine Stunde in Jena ein Büro der Linkspartei auch aus Protest gegen die Abschiebepolitik besetzt[7]. Anders als die Tortenaktion gegen Wagenknecht fand diese Aktion aber viel weniger öffentliche Aufmerksamkeit, wie auch die reale Abschiebepolitik mit Beteiligung der Linkspartei weniger empört als eine Äußerung von Wagenknecht .

Besonders heuchlerisch ist es, wenn Politiker der Grünen wie deren sächsischer Parteivorsitzende Jürgen Kasek auf Twitter[8] Verständnis für den Tortenangriff auf Wagenknecht signalisieren, obwohl die Partei überall, wo sie Einfluss hat, an der Verschärfung des Asylrechts beteiligt ist.

Alle, die ihr ein willigeres Mitregieren empfehlen, wissen genau, dass sie dann von den Grünen nicht mehr unterschieden werden kann und so ihr linksreformistisches Profil endgültig verliert. Das hat sie in den letzten Monaten etwas polieren können, als ein Teil des linken Flügels der Piraten begann, die Linkspartei kritisch zu unterstützen, nachdem sie selber mit einer eigenen Partei gescheitert waren.

Mehrere ihrer Protagonisten kandieren auf der Liste der Linken wie Anke Domscheit- Berg[9]. Sie können der Linkspartei dabei helfen, sich von ihrer doppelten traditionssozialdemokratischen Erblast aus WASG und SED zu emanzipieren. Vorstellungen von einer Welt mit weniger Lohnarbeit sowie feministische und antirassistische Ansätze werden sich eher in diesen Kreisen finden. Andererseits zeigt auch das Loblied, das Domscheit-Berg auf die Selbstständigkeit singt, dass auf wirtschaftlichem Gebiet damit eher das realpolitische Lager in der Partei gestärkt wird.

Auch nach dem Parteitag geht der Spagat weiter: Obwohl alle wissen, dass es die linke Mehrheit jenseits der Union nicht gibt, halten sie sich immer wieder eine Tür zum Mitregieren offen. Gregor Gysi, der kurz vor dem Parteitag mediengerecht seinen Part gespielt hat, die Partei zu schelten, wenn er nicht mehr die erste Rolle spielt, aber mittlerweile damit leben muss, dass sein Resonanzraum begrenzt ist, hat bereits eine Kooperation mit der Union auf Länderebene ins Gespräch gebracht[10].

Die Reaktionen in seiner Partei interessierten ihn scheinbar nicht. Da ihm nicht eine besondere Redezeit eingeräumt wurde, ist er auf dem Parteitag nicht anwesend gewesen[11]. Dass Gysi wie Oskar Lafontaine, die sich lange Zeit für unersetzbar hielten, nun aus dem Schmollwinkel Ratschläge und Kritik austeilen und sich in der Partei niemand mehr groß darüber aufregt, kann tatsächlich als ein kleiner Emanzipationsprozess der Linkspartei bewertet werden.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48385/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48368/

[2]

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-linkspartei-sollte-wissen-wer-auf-sahra-wagenknecht-losgegangen-ist-14258655.html

[3]

http://strassenauszucker.blogsport.de/

[4]

http://www.taz.de/!5304844

[5]

http://www.hermannscheer.de/

[6]

http://www.susannehennig.de/

[7]

https://linksunten.indymedia.org/de/node/178706

[8]

https://twitter.com/jkasek?lang=de

[9]

http://ankedomscheitberg.de/

[10]

http://www.faz.net/aktuell/politik/wahl-in-sachsen-anhalt/gregor-gysi-schlaegt-cdu-linke-koalition-fuer-sachsen-anhalt-vor-14127817.html

[11]

http://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_politik/article155802258/Gregor-Gysi-fehlt-bei-Parteitag.html

Torte auf Sahra Wagenknecht …

…hier übt die junge SPD

Eigentlich kann sich die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei Sahra Wagenknecht[1] bei der antifaschistischen Initiative „Torten für Menschenfeinde“ bedanken. Schließlich war Wagenknecht auch parteiintern heftig kritisiert worden, weil sie bei straffälligen Flüchtlingen das Gastrecht verwirkt sah und Obergrenzen für Geflüchtete vorschlug. Damit befindet sie sich im Widerspruch zum gegenwärtigen Parteiprogramm der Linken.

In einem Antrag[2] zum Parteitag gegen das „Obergrenzen-Gerede“ wurde Wagenknecht sogar indirekt der Rücktritt nahegelegt.

Nach dem Tortenangriff auf Wagenknecht haben solche Initiativen keine Chancen mehr. Selbst parteiinterne Kritiker wie die Co-Vorsitzende Katja Kipping stellen sich nun demonstrativ hinter Wagenknecht. Dabei wurde der Tortenangriff – der auch von Linkspartei durchaus als lustig empfunden wird, wenn der politische Gegner betroffen ist – zur Gewalt hochstilisiert und die Phrasenmaschine lief auf Hochtouren. „Das war nicht nur ein Angriff auf Sahra, das war ein Angriff auf uns alle“, erklärte Kipping und erntete großen Applaus. Wagenknechts Kompagnon im Fraktionsvorstand verstieg sich zur Aussage, dass der Tortenangriff hinterhältig und asozial gewesen sei.

Nun hat die Initiative „Torten für Menschenfeinde“ in einem Schreiben[3], in dem sie die Aktion begründete, verdeutlich, dass sie keine Freunde der Linkspartei sind. Dort wird Wagenknecht als Gallionsfigur für all das bezeichnet, „was die Linkspartei für uns unerträglich macht“.

Dass sie Gespräche mit Pegidagagängern nicht ausschließt, wird ihr dort ebenso angekreidet, wie die Worte ihres Ehemanns Oskar Lafontaine aus den19 90er Jahren, als der von Fremdarbeitern in Deutschland schwadronierte.

Nun muss sich eine emanzipatorische Initiative schon fragen, ob sich eine Ehefrau für die Worte und Taten ihres Ehemannes mit verantworten muss. Auch eine Passage in Wagenknechts neustem Buch[4] wird in dem Schreiben angeführt, in dem sie Unterschiede und Kultur und Sprache als Kriterien dafür einführt, dass eine Einheit nicht funktioniert.

Hier werden tatsächlich Ideologeme verbreitet, die nicht weit von völkischen Vorstellungen sind. Schließlich wird hier negiert, dass es schon immer unterschiedliche Kulturen und Sprachen gab und erst der Nationalismus durch Ein- und Ausgrenzung für die Homogenität sorgte, die auch Wagenknecht anscheinend als erstrebenswert bezeichnet.

Wagenknecht gleich Beatrice von Storch?

Ein Schwachpunkt in der Erklärung aber ist der durchgehende Versuch, Wagenknecht wegen solcher Positionen in die Nähe der AfD und deren Spitzenpolitikern Beatrice von Storch zu rücken. Gleich am Beginn heißt es, dass die beiden nicht nur eine, dass jede von linken Kritikern eine Torte ins Gesicht bekam. Vielmehr wird beiden Politikern vorgeworfen, den „Volkszorn in politische Forderungen zu übersetzen“.

Dabei wird ausgeblendet, dass man Wagenknecht viel eher vorwerfen könnte, dass ihre Positionen nahe an SPD, Grünen und auch der Union liegen, die schließlich seit Jahrzehnten permanent das Asylrecht und die Situation für Geflüchtete verschärft haben. Die Linkspartei hat mit Einschluss von Wagenknecht gegen diese Verschärfungen gestimmt. Es ist aber eine auffallende Leerstelle in dem Text, dass jede Kritik an der Flüchtlingspolitik dieser Parteien fehlt und daher so getan wird, als gebe es nur Linkspartei und AfD.

Die Unfähigkeit einer außerparlamentarischen Linken, Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft zu formulieren, ohne die AfD immer gleich zum absolut Bösen aufzubauen, ist kein Zufall. Dahinter steht die Vorstellung, dass Antifaschismus der einzige Bezugspunkt linker Politik ist. Ein solches Politikverständnis landet letztlich doch wieder bei aller linken Rhetorik bei SPD und Grünen als kleineres Übel.

Wenn der SPD-Vize Ralf Stegner Wagenknecht erst kürzlich in einen Interview[5] bescheinigte, in „manchen Positionen näher bei der AfD-Vorsitzenden Petry als bei der SPD“ zu stehen, muss man sich schon fragen, ob die Menschenfreunde nicht in einigen Jahren ihren Platz in der Sozialdemokratie oder bei den Grünen gefunden haben, die sie heute schon nicht kritisieren können oder wollen.

http://www.heise.de/tp/artikel/48/48368/1.html

Peter Nowak

Anhang

Links

[1]

http://www.sahra-wagenknecht.de/

[2]

https://emanzipatorischelinke.files.wordpress.com/2016/04/fort-mit-dem-damoklesschwert-der-ausweisung1.pdf

[3]

https://twitter.com/thodenk/status/736496851206189056

[4]

http://www.sahra-wagenknecht.de

[5]

http://www.deutschlandfunk.de/stegner-spd-ampel-koalition-besser-als-rot-rot-gruen.447.de.html?drn:news_id=618242

Wird Gysi der Sprecher der parlamentarischen Opposition?

Links

[1]

http://www.fr-online.de/politik/die-linke–gysi-setzt-sich-gegen-wagenknecht-durch-,1472596,24568108.html

[2]

http://www.die-linke.de/partei/zusammenschluesse/kommunistische_plattform_der_partei_die_linke/

[3]

http://www.welt.de/politik/deutschland/article120675601/Konservative-SPD-Politiker-wollen-Schwarz-Gruen.html

[4]

http://www.linksfraktion.de/folder/kontaktstelle-soziale-bewegungen-linken-aufbruch/).

[5]

http://www.die-linke.de/politik/aktionen/blockupy2013/

[6]

http://www.freitag.de/inhaltsverzeichnis

[7]

http://zimmermann2013.de/

[8]

https://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=sw&dig=2013%2F10%2F11%2Fa0158&cHash=130e769ba60c2e0206a9d264794e17ab

Rückkehr zur DM mit links?

Oskar Lafontaine hat mit seiner Forderung nach Abwicklung des Euros seine Partei aufgeschreckt. Doch auch seine Kritiker müssten die Herausforderung annehmen und eine nichtpopulistische linke Eurokritik formulieren

Auch in der Linkspartei werden manche schon insgeheim jubiliert haben, als Oskar Lafontaine vor einigen Wochen erklärt hat, sich nicht mehr um ein Bundestagsmandat zu bewerben. Es wurde gerätselt, ob sich der Altsozialdemokrat, ohne den die Linkspartei nie zustande gekommen wäre, wohl aufs Altenteil zurückziehen wird. Als Mann von Gestern wurde er schließlich von seinen Kritikern in und außerhalb der Linkspartei schon lange bezeichnet.

Doch jetzt sorgt Lafontaine mit einem Beitrag für Diskussionen, der in der Überschrift wenig aufregend klingt. „Wir brauchen wieder ein europäisches Währungssystem“, lautet der Titel. Der Beitrag beginnt mit einer realistischen Analyse der aktuellen ökonomischen Situation in der Eurozone, wobei auch die Rolle der deutschen Politik kritisch betrachtet wird.

„Die Deutschen haben noch nicht erkannt, dass die Südeuropäer einschließlich Frankreichs angesichts der wirtschaftlichen Misere früher oder später gezwungen sind, sich gegen die deutsche Hegemonie zur Wehr zu setzen. Insbesondere das deutsche Lohndumping, das von Anfang der Währungsunion an ein Verstoß gegen den Geist der Verträge war, setzt sie unter Druck. Merkel wird aus ihrem selbstgerechten Schlaf erwachen, wenn die unter dem deutschen Lohndumping leidenden europäischen Länder sich verbünden, um eine Wende in der Krise zu Lasten der deutschen Exportwirtschaft zu erzwingen.“

Daraufhin erklärt Lafontaine, dass eine einheitliche Währung eine Chance gehabt hätte, wenn in allen EU-Ländern eine „produktivitätsorientierte Lohnpolitik“ betrieben worden wäre. Deshalb habe auch er als Politiker von SPD die Einführung des Euro mitgetragen. Da er mittlerweile zu der Auffassung gekommen sei, dass die Kräfteverhältnisse für eine solche Politik nicht vorhanden sind, spricht sich Lafontaine nun für einen Ausstieg aus den Euro aus.

„Wenn reale Auf- und Abwertungen auf diesem Wege nicht möglich sind, muss man die einheitliche Währung aufgeben und zu einem System zurückkehren, das, wie beim Vorläufer der Währungsunion, dem Europäischen Währungssystem, Auf- und Abwertungen erlaubt. Im Kern geht es darum, kontrollierte Abwertung und kontrollierte Aufwertung über ein von der EU getragenes Wechselkursregime wieder möglich zu machen.“

Populismus oder Realismus?

Damit hat Lafontaine, ohne in seinem Text das Wort Deutsche Mark zu erwähnen, als erster prominenter Politiker der Linken den Austritt aus dem Euro befürwortet. Sofort kam Widerspruch auch aus seiner eigenen Partei. Vor allem der Realoflügel warnte vor einem neuen Populismus und betonte, dass die Linke nicht antieuropäisch werden dürfe. Auch der Co-Vorsitzende der Linken Bernd Riexinger, der bei seiner Wahl von vielen Medien vorschnell als Lafontaine-Statthalter abgetan wurde, betonte, dass seine Partei gegen die Troika-Politik, aber für den Euro sei.

Manche Medien sahen schon eine Spaltung der Linken an dieser Frage heraufziehen. Tatsächlich hat die Debatte für die Linkspartei eine große Brisanz. Sie könnte ihr einen existenzgefährdenden Streit bescheren, sie könnte der Linken aber auch ein Themenfeld öffnen, mit dem sie Zustimmung gewinnen kann. Denn es ist auffällig, dass sich auf dem linken Feld keine klare Positionierung gegen den Euro findet. Dafür gibt seit Jahren Organisationen auf dem rechten Feld, die gegen den Euro mobilisieren.

Sie sind in der Regel überzeugte Wirtschaftsliberale und monieren, dass Deutschland für den Euro eine starke Währung aufgegeben hat. „Deutschland braucht den Euro nicht, der Euro braucht Deutschland“, könnte eine solche rechte Eurokritik knapp zusammengefasst werden. Ist also Lafontaine auf diesen Zug aufgesprungen, wie seine Kritiker vermuten?

Wenn man seine politische Biographie überfliegt, gäbe es dafür viele Anzeichen. War nicht Lafontaine noch als führender SPD-Politiker an der faktischen Abschaffung des Asylrechts beteiligt? Hat er nicht in einer regelmäßigen Bild-Kolumne seine Anschlussfähigkeit an den rechten Populismus unter Beweis gestellt? Hat er nicht Verständnis für den Frankfurter Polizeipräsidenten Daxner geäußert, als der einem Kindesentführer mit Folter drohte? Nahm er nicht als frischgebackener Linkspartei-Politiker den Begriff „Fremdarbeiter“ in den Mund – und das nicht, wie es Linke in den 1970er Jahren taten, in kritischer Absicht?

In dieser Reihe wäre Lafontaines Positionierung gegen den Euro ein weiterer Versuch, ein Thema aufzugreifen, das in großen Teilen der Bevölkerung diskutiert wird, und damit für die Linke Stimmen zu holen? Es wäre naiv zu glauben, dass diese Motivation bei Lafontaines neuester Initiative keine Rolle spielt. Schließlich hat das Thema Austritt aus dem Euro durch die Gründung der „Alternative für Deutschland“ auf der politischen Ebene eine neue Dynamik bekommen.

In Umfragen stellte sich bald heraus, dass sich nicht nur Wähler der Union und der FDP, sondern auch der Linken vorstellen könnten, das nächste Mal bei dieser Partei ihr Kreuz zu machen. Das ist nur auf den ersten Blick verwunderlich. Ein Teil der Wähler der Linken machen ihr Kreuz bei der Formation, die sich als Auffangbecken für Protestimmen darstellt. So sind zur Hochzeit der Piraten nicht wenig Linke zu der vermeintlich neueren Protestpartei übergewechselt.

Herausforderung einer linken Eurokritik

Da nun die AfD ihren Widerstand gegen den Euro ins Zentrum stellt, wird ihr schon mal nachgesehen, dass sie ein radikal wirtschaftsliberales Programm besitzt. Solange alle anderen relevanten politischen Gruppierungen den Euro verteidigen, profitiert die AfD davon. Daher wäre das Beste, was ihr passieren könnte eine politische Ausgrenzung vor den Wahlen, so dass sich die Partei mit dem Image des Tabubrechers besser vor den Wählern verkaufen konnte.

Daher warnte auch Sarah Wagenknecht davor, die AfD vorschnell in eine populistische Ecke zu stellen. In dem Interview sagte Wagenknecht, dass es bei der Kritik an den Euro-Rettungspaketen Gemeinsamkeiten mit der Linken gäbe, betonte allerdings auch:

„Aber für potenzielle Linke-Wähler ist eine Partei, für die Niedriglöhne und Altersarmut kein Thema sind und in deren Vorstand Leute arbeiten, die öffentlich darüber nachdenken, Arbeitslosen das Wahlrecht zu entziehen, bei näherem Hinsehen ganz sicher nicht wählbar. Je bekannter diese Seite der AfD wird, desto mehr werden die Menschen das merken.“

Wahrscheinlich ist, dass Lafontaine mit seinem Vorstoß der AfD von links Konkurrenz machen will. Damit reagiert er erst einmal wie jeder Parteipolitiker, der Themen, die in der Bevölkerung diskutiert werden, aufgreift und für seine Partei nutzen will. Dass Lafontaine die Debatte aufgegriffen hat, ist daher nicht besonders überraschend. Interessant wird dann die Diskussion über Essentials einer linken Eurokritik. Denn dann würde sich schnell zeigen, dass die Eurokritik des AfD und einer Linken sich fundamental unterscheiden. Daher ist es auch irritierend, dass Wagenknecht diese Unterschiede nicht klar herausarbeitet.

Während die Wirtschaftsliberalen mit dem Euroaustritt eine starke DM oder einen Nord-Euro anstreben, müsste eine linke Eurokritik ähnlich wie der Investmentbanker Soros argumentieren, dass Deutschland den Euro verlassen solle, damit die Länder an der europäischen Peripherie wieder Luft zum Atmen haben. In Lafontaines Test sind Passagen enthalten, die eine solche Schlussfolgerung plausibel machen. Dass Lafontaine mit seinem Gespür für „Volkes Stimme“ zumal im Wahlkampf aber eine Positionierung gegen den deutschen Standort vornehmen würde, und genau das wäre eine linke Euro-Kritik in Deutschland, ist wenig wahrscheinlich. Es dürfte dann eine Position herauskommen, wie sie Wagenknecht in Bezug auf den AfD formulierte.

„Die Leute fragen zu Recht: Warum sollen wir dafür zahlen, dass in Spanien Banken oder Irland gerettet werden? Wobei meist verschwiegen wird, dass wir damit am Ende auch deutsche Banken retten.“

Weil Wahlslogans kurz und prägnant sein sollten, wird der letzte Satz dann auch von links wegfallen. Gerade, weil die Kritiker Lafontaines mit ihrer Populismuskritik wahrscheinlich nicht falsch liegen, müssten sie aber die Herausforderung annehmen und endlich eine linke Euro-Kritik formulieren. Denn die Position, man wolle den Euro verteidigen und sozial gestalten, ist es sicher nicht. Weil die Kräfteverhältnisse dazu momentan nicht vorhanden sind, könnte eine solche Position auch als Verteidigung des deutschen Standorts mit eingeschaltetenm linken Blinker bezeichnet werden.

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Peter Nowak